Читать книгу Veyron Swift und das Grabmal der Engel - Tobias Fischer - Страница 4

Dinner in London

Оглавление

Als Tom Packard den Motor des uralten babyblauen VW Käfers abstellte, musste er daran denken, welch weitreichende Ereignisse ihm bevorstanden. Noch zwölf Tage, bis sein Leben eine vollkommen neue Wendung nahm. Am 14. September würde er mit seinem Studium anfangen — und in diesem Zusammenhang zweifellos sein Zuhause, 111 Wisteria Road, verlassen. Fünf Jahre unter einem Dach mit Veyron Swift fänden dann ein Ende; wahrscheinlich für immer.

Wie jedes Mal, wenn er sich diese Tatsache bewusstmachte, bildete sich ein Kloß in seinem Hals. Sechs lange Wochen hatte er die dunkelrote Backsteinfassade des alten Gemäuers nicht mehr zu Gesicht bekommen. Die Staubschicht in seinem Dachgeschosszimmer musste entsprechend dick sein. Seit Beginn der Ferien lebte er in der kleinen WG seiner Freundin. Der Umzug war ihm komischerweise nicht schwergefallen. Aber gut, in den Armen von Vanessa fiel ihm so manches nicht schwer. Jetzt, wo das Ende der Ferien in greifbare Nähe rückte, wirkte der endgültige Abschied aus der Wisteria Road jedoch irgendwie unwirklich.

Als er den Käfer jetzt vor dem Treppenaufgang parkte, begann er sich zu fragen, ob er sein altes Leben wirklich auf Dauer hinter sich lassen könnte. Er stieg aus, huschte die Treppen zur Haustür hinauf und sperrte auf. Seltsam, wie schwer ihm das fiel, als hätte der Schlüssel innerhalb von Sekunden enorm an Gewicht zugelegt. Einmal tief Luft geholt, dann fühlte er sich imstande, Veyron Swift gegenüberzutreten.

Es war mucksmäuschenstill im Haus. Ungewöhnlich, wie Tom fand. Normalerweise hörte er die Bohlen des ersten Stocks knarzen, wenn Veyron in seinem Zimmer auf und ab ging. Oder es lief Musik, wenn er sich zu entspannen versuchte. Selten war es totenstill; vor allem nicht um die Mittagszeit. Vielleicht hatte Veyron eine depressive Phase. Dann verbrachte er die meiste Zeit regungslos auf der Couch im Wohnzimmer. Solche apathischen Zustände waren selten, das wusste Tom. Meistens traten sie ein, wenn es nichts gab, dass irgendwie das Interesse seines Patenonkels wecken konnte — und zwar rein gar nichts.

Gerade als ihm diese Gedanken kamen, brach ein furchtbarer Lärm los. Es ratterte und donnerte, als würde jemand einen Schwarm Bowlingkugeln über den Boden rollen lassen, gefolgt von mehrfachem Türzuschlagen. Sein Herz machte einen erschrockenen Satz. Ein Kampf! Sein Patenonkel war in Gefahr!

Tom bog scharf in Richtung Wohnzimmer ab.

Gleich hinter der Tür versperrte ihm plötzlich eine Wand aus Holz den Weg. Spiegelglatt und nachtschwarz lackiert, wies sie ansonsten keine Besonderheiten auf. Und sie war nicht die Einzige ihrer Art. Sehr schnell stellte er fest, dass sich Wand an Wand reihte und einen furchtbar engen Korridor bildeten, gerade breit genug, damit ein Mensch hindurch passte.

»Was soll denn das wieder?«, rief Tom, ehe er sich links an der ersten Wand vorbei quetschte. Der Korridor bog scharf nach rechts und nach nur einem Meter in gleich zwei Richtungen ab. Ein Labyrinth. Nicht zu fassen! Veyron hatte das ganze Wohnzimmer in ein Labyrinth verwandelt.

»Wo bin ich?« Das war Veyrons Stimme. Sie schien von irgendwo hinter den Holzwänden zu kommen.

»Keine Ahnung. Was soll das? Ist Ihnen langweilig?« Als Antwort erhielt Tom nur ein listiges Kichern. Es kam von rechts, also schlug Tom diesen Weg ein. Plötzlich rumpelte es, als würden Schreibtischrollen in Bewegung versetzt.

Tom fluchte, als von links eine Holzwand heranschoss und ihm den Weg versperrte. Gleichzeitig wurden auch anderswo die Wände lebendig, schoben sich hin und her. Hinter ihm schnitt eine Wand den Korridor ab, eine andere öffnete dafür links von ihm einen neuen.

»Immer hereinspaziert«, forderte ihn Veyrons Stimme auf. Tom schnaubte. Sein Patenonkel stand ihm gegenüber, vielleicht vier Meter entfernt, die Hände in die Taschen seines weinroten Morgenmantels gestopft. Kopfschüttelnd machte Tom einen Schritt auf ihn zu.

»Mann, was für ein Mist ist das denn wieder? Und warum — Autsch!«

Der Aufprall war hart, drohte ihm fast die Nase zu brechen. Fluchend wich Tom zurück, nur um festzustellen, dass er gegen eine Spiegelwand geknallt war. Sofort wurde sie in Bewegung versetzt, schob sich zur Seite, zusammen mit einem Dutzend weiterer Wände. Veyrons Labyrinth änderte sich aufs Neue. Toms Geduld neigte sich ihrem Ende.

»Veyron, das ist nicht lustig!«

»Kommt auf die Perspektive an.«

Tom trat nach der nächstbesten Holzwand. »Das sag ich dazu!«

»Das war ein Fehler, mein Lieber.«

Mit einem lauten Plopp schoss rechts von ihm ein Airbag aus der Wand. Tom wich zurück, nur um jetzt auch von der anderen Seite von einem Airbag angegriffen zu werden. Weitere Kunststoffbeutel ploppten aus den Wänden, blähten sich zischend auf. In Rekordzeit war Tom umzingelt. Er verlor die Bodenhaftung, hing hilflos zwischen den Airbags fest. »Veyron!«

»Die reinste Mausefalle, oder?«

»Lassen Sie mich runter!«

Ein Moment verging. Nichts passierte. Tom fürchtete, er müsste seinen Paten am Ende auch noch höflich darum bitten. Gerade öffnete er die Lippen, als die Luft zischend aus den Airbags entwich. Motorengeräusche wurden laut, es rumpelte und ratterte an allen Ecken und Enden. Wand für Wand schob sich das Labyrinth zur Seite. Erst jetzt entdeckte Tom die Schienen, die kreuz und quer über den Boden verliefen, sah die Aufhänger an der Decke. Es mussten an die dreißig Wände sein, die nun wie in Paradestellung an der Ostwand des Wohnzimmers zum Stehen kamen. Das gesamte Mobiliar hatte dafür weichen müssen: Die Bücherregale, der Tisch, die alte Besuchercouch. Allein der große Ohrensessel stand noch mitten im Zimmer, auf seinem Polster ein vergnügt dreinblickender Veyron Swift im Morgenmantel.

»Erstaunlich, nicht wahr? Meine neueste Kreation.« Veyron grinste von einem Ohr zum anderen.

Tom holte tief Luft. »Verrücktes Zeug, meinten Sie wohl. Was um alles in der Welt soll das?«

Die Kritik in Toms Worten überging Veyron vollkommen. »Eine Absicherung. Die Wände bilden automatisch ein Labyrinth, sobald der Haustürsensor meldet, dass es einen unbefugten Zutritt gibt. Der Vorgang dauert weniger als dreißig Sekunden. Die Zusammenstellung des Labyrinths ändert sich nach einem bestimmten Algorithmus alle paar Minuten. Auf diese Weise werden Eindringlinge beschäftigt, während ich entweder die Flucht ergreifen oder Gegenmaßnahmen einleiten kann.« Noch immer wurde seine dunkle Stimme von kindlicher Begeisterung beherrscht.

»Wo sind die Möbel hin, die ganzen Bücher?«

»Oben in deinem Zimmer. Da du es nicht mehr benötigst, habe ich es kurzerhand zum Lagerraum umfunktioniert. Wimille und ich konnten noch keine Lösung ausarbeiten, wie wir die Einrichtung in das Labyrinth integrieren, ohne sie dabei zu zerstören.«

Tom schüttelte fassungslos den Kopf. »Das Alleinsein bekommt Ihnen wohl nicht gut, was? Sie haben viel zu viel Zeit für Blödsinn! Gibt es denn nicht irgendwelche Klienten, die Ihre Hilfe brauchen? Keine Trolle oder wenigstens ein Poltergeist?«

Veyron seufzte. »Leider nein. Die reinste Ebbe. Wie es aussieht, traut sich selbst der kleinste Kobold nicht aus seinem Versteck. Andererseits kommt mir dieser Zwangsurlaub sehr entgegen. Das verschafft mir die Zeit, mich um bislang aufgeschobene Probleme zu kümmern. Die Heimatverteidigung etwa. Meine jüngsten Erlebnisse in Deutschland führten Wimille und mich zu der Erkenntnis, dass wir uns gegen eventuelle Angriffe besser wappnen müssen.«

Genau so etwas wollte Tom jedoch gar nicht hören. »Ich dachte, mein Käfer ist bereits kugelsicher.«

Für diesen Standpunkt hatte Veyron lediglich ein müdes Lächeln übrig.

»Dieser übermotorisierte, mit Funkpeilsendern und elektronischen Abwehrwaffen versehene VW Käfer, den dir mein Bruder zu deinem achtzehnten Geburtstag vermachte, ist allein für deinen Schutz gedacht, Tom. Ich hielt es für nötig, die bisherigen Abwehrmechanismen dieses Hauses auf den neuesten Stand zu bringen.«

Tom rieb sich mit beiden Händen das Gesicht, um wieder mehr Klarheit zu bekommen. Vielleicht hat Veyron ja recht, sagte er sich. Er war noch immer zu wütend wegen des Labyrinth-Streichs, um das Ganze rationell zu betrachten.

»Weil wir gerade von Angriffen sprechen: Haben Sie etwas gegen die Zaltianna Trading Company unternehmen können? Sie waren jetzt drei Monate lang auf der ganzen Welt unterwegs. Ihre letzte Nachricht kam vor sechs Wochen aus Berlin, dass Sie Lautenthal ausfindig gemacht haben. Soweit ich weiß, ist der Mann später gestorben. Also, was ist da draußen los, Veyron?«

»Es gibt leider nichts Gutes zu berichten, Tom. Nach Lautenthals Ermordung gab es keinen Grund, noch länger in Berlin zu verweilen. Die Dinge, die ich in Erfahrung zu bringen hoffte, blieben mir durch sein unzeitiges Ableben leider verschlossen.«

Tom warf erneut einen skeptischen Blick auf die in Reih und Glied stehenden Labyrinthwände. Ich bin ganz eindeutig lange nicht mehr hier gewesen, befand er. Was würde Veyron nur alles anstellen, wenn er in ein paar Tagen gar nicht mehr hierher zurückkehrte? Eine Katastrophe ließ sich nur vermeiden, wenn man Veyron mit einem neuen Fall beschäftigte.

»Was ist mit Mrs. Tippleston und den Briefen, die ihr verstorbener Mann angeblich aus dem Jenseits schickt?«

»Der hinterhältige Versuch ihres Neffen, an ihr Erbe zu gelangen. Ein Fall meisterhafter Handschriftenfälschung. Da konnte sogar ich noch etwas lernen.«

»Der Fall mit dem Geisterhund aus Dartmoor?«

»Wurde schon vor langer Zeit von jemand anderem gelöst.«

»Was ist mit dem ehemaligen Coast Guard-Offizier, der angab, das Schrat-Piraten für den Tod seiner Frau verantwortlich wären?«

»Schon längst geklärt. Der Mann folgt jetzt einer Aufgabe, in welcher er seine Erfahrungen mit den Schraten nutzbringend umsetzen kann.«

Tom seufzte. Verzweifelt suchte er nach der alten Couch, wollte sich in die Polster fallen lassen. Aber Veyron hatte ja alles nach oben geräumt.

»Mann, wenn wir nicht bald was für Sie zu tun finden, wird das hier noch ein Irrenhaus. Gibt es denn überhaupt gar keinen ungelösten Fall?«

»Lediglich der Fall mit dem Grabmal der Engel.«

»Und was ist das?«

»Bislang hauptsächlich eine Sackgasse. Hier …«

Er warf Tom einen kleinen goldenen Gegenstand zu. Instinktiv fing er ihn auf und drehte ihn neugierig zwischen den Fingern. Es war ein altmodischer Schlüssel, mit auffälligem Doppelbart.

»Ich kann dir sagen, dass dieser Schlüssel in kein Schließfach dieser Welt passt. Er öffnet keine Türen, keine Schränke und keinen Safe, der irgendjemand bekannt wäre«, sagte Veyron.

Tom schürzte die Lippen. »Vielleicht ist er für kein Schloss auf dieser Welt, Veyron. Gehört er nach Elderwelt?«, fragte er, während er den Schlüssel zurückgab. Sofort steckte ihn Veyron wieder in die Hosentasche.

»Davon ist auszugehen. Lautenthal trug ihn bei sich. Ich habe versucht herauszufinden, was man in unserer Welt über das Grabmal der Engel weiß. Sämtliche Bücher, die ich finden konnte, geben jedoch keinen Hinweis darauf. Eine weitere Reise nach Elderwelt scheint mir unabdingbar.«

Das brachte Tom abermals zum Seufzen. Seit zweieinhalb Jahren hatte er nichts mehr von Elderwelt gehört oder gesehen. Vanessa wollte nichts davon wissen. Tom dagegen brannte darauf, wieder dorthin zurückzukehren. Am liebsten hätte er sofort seinen Rucksack gepackt und wäre mit Veyron losgezogen. Doch so einfach wie früher war das jetzt nicht mehr. Bald begann für ihn ein neuer Lebensabschnitt. Die Zeit für Abenteuer war vorbei.

»Veyron«, sagte er und hielt inne, während er nach den richtigen Worten suchte. »Ich fürchte, ich kann Sie diesmal nicht begleiten. In ein paar Tagen beginnt mein Studium.«

»Stimmt«, sagte Veyron. »Physik und Chemie.«

Tom seufzte. »Nein, Politik- und Medienwissenschaften.«

Veyron winkte ab. »Zeitverschwendung. Physik und Chemie sind für unsere Unternehmungen sehr viel nützlicher. Oder wenigstens Medizin.«

»Veyron!«, schimpfte Tom. »Ich studiere das, was ich für richtig halte und mit dem ich meine Zukunft bestreiten will. Ich werde nicht immer Ihr Assistent sein, irgendwann muss ich auf eigenen Beinen stehen. Es bleibt dabei: Politik und Medienwissenschaften. Punkt.«

Nun war es an Veyron zu seufzen. Er rutschte tiefer in seinen Sessel und faltete die Hände zusammen.

»Du hast recht, es ist dein Leben, und es wird Zeit, dass du selbstständig wirst. Nur eine letzte Pflicht muss ich dir noch abringen, bevor sich unsere Wege trennen. Nichts Schlimmes, nur eine Kleinigkeit.«

Tom zuckte mit den Schultern. Kleinigkeiten sollten kein Problem sein.

»Sie hat mich heute Abend zum Dinner eingeladen. Wir gehen ins beste Lokal der ganzen Stadt«, führte Veyron weiter aus. »Und du kommst mit.«

Tom verstand.

Sie.

Jane Willkins, die wahrscheinlich großartigste, tapferste und nachsichtigste Frau, die es auf diesem Planeten gab. Vor über zwei Jahren hatte Veyron zugegeben, dass er in Jane verliebt war. Eine unmögliche Liebe, wie Tom fand. Veyron, der eigensinnige, egoistische, kaltherzige Schnelldenker, und die wundervolle Jane? Das passte zusammen wie Kaffee und Essiggurken, wie Hund und Katz, wie E-Bass und Flöte. Aber so war die Liebe eben. Er selbst musste es am besten wissen. Schlimm fand er nur, dass er allein sich über Veyrons Liebe im Bilde befand. Sein Patenonkel hatte sich nicht ein einziges Mal getraut, Jane die Wahrheit zu offenbaren. Doch wenn das Herz rief, warum sollte man diesem Ruf dann nicht folgen? Selbst für einen menschlichen Roboter wie Veyron Swift mochte die Liebe einige Überraschungen parat halten. Wenn er nur endlich den Mut dazu finden würde.

»Super«, rief Tom grinsend. »Dann können Sie Jane endlich beichten, was Sie für sie empfinden.«

Veyron riss entsetzt die Augen auf. »Das ist vollkommen ausgeschlossen!«

»Blödsinn. Mann, sagen Sie es ihr einfach! Schauen Sie sich an: Sie tragen seit zwei Jahren helle Hemden, weil Jane die besser gefallen als das schwarze Zeug, das sonst in Ihrem Schrank hängt. Sie wissen genau, wie Jane ihren Kaffee trinkt und lesen ihr auch sonst nahezu jeden Wunsch von den Lippen. Veyron, letztes Jahr haben Sie Janes Freundeskreis zusammengetrommelt und ihr über einhundert Luftballons mit Geburtstagsglückwünschen in die Wohnung geschmuggelt. Sie lieben Jane und müssen es ihr endlich sagen.«

Der Art nach, wie Veyron seine hohe Stirn in Falten legte, schien er tatsächlich darüber nachzudenken. Über seine Lippen flog ein flüchtiges Lächeln, ehe er den Kopf schüttelte.

»Ich verstehe, dass du es gut mit mir meinst, Tom. Aber ein solches Geständnis gegenüber Jane ist mit einem unkalkulierbaren Risiko verbunden. Den Ausgang vermag ich nicht zu ermessen. Es besteht die Gefahr, dass unser hart errungenes gutes Verhältnis dauerhaften Schaden nimmt. Es scheint mir daher wenig ratsam, dies aufs Spiel zu setzen, nur weil meine Hormone vorübergehend schwerer zu kontrollieren sind als üblich. Um zu garantieren, dass ich weder etwas Unüberlegtes sage oder gar tue, kommst du mit. Es genügt, wenn wir alle einen netten, unterhaltsamen Abend verbringen.«

Mehr wollte Veyron zu diesem Thema nicht sagen. Wie eine Sprungfeder schnellte er aus dem Sessel und verschwand nach oben in sein Arbeitszimmer. Kopfschüttelnd ließ sich Tom in die alten Polster fallen. Zuerst der Streich mit dem Labyrinth, und nun stand ihm auch noch ein gezwungen fröhlicher Gesellschaftsabend bevor.

»Toll, echt toll. Das kann ja was werden«, maulte er.

Tom schickte seiner Freundin eine Nachricht, dass er erst spät heimkommen würde und er und Veyron zu einem Dinner eingeladen seien.

Um kurz vor Sieben fuhren sie mit Toms Käfer in die Stadt; schön gemächlich, genau wie Veyron es vorgab. Offenbar galt es einen Zeitplan einzuhalten; typisch für Veyron. Tom konnte es dagegen nicht schnell genug gehen. Zwar mochte sein Patenonkel Maßnahmen ergriffen haben, um das Dinner in einen Plauderabend zu verwandeln, aber Tom war dennoch neugierig, wie sich sein Patenonkel Jane gegenüber verhalten würde. Vielleicht bot sich sogar die Gelegenheit, Veyrons Absichten zu sabotieren. Er wollte einfach, dass Veyron Farbe bekannte; das war überfällig.

»Immer schön langsam, Tom«, mahnte Veyron seinen Patensohn, wenn der Tachometer nur wenig mehr als die erlaubte Geschwindigkeit anzeigte. »Du weißt, dass mehr als neunzig Prozent von Wimilles Umbauten von den Behörden nicht gern gesehen werden. Stell dir vor, die Polizei entdeckt die Schleudersitze, den Nebelwerfer oder den Enterhaken.«

»Ihr Bruder ist doch selber schuld, wenn er mir so ein Auto zum Geschenk macht«, tat Tom das Ganze ab.

Veyron warf ihm einen sehr vorwurfsvollen Blick zu. »Es war schwierig genug, Wimille auszureden, dir nicht einen Panzer zu schenken. Dieser Wagen war der beste Kompromiss, auf den er sich einließ.«

Tom hob entschuldigend die Hände. Wie er inzwischen wusste, war Wimille Swift ganz schwer in Susan, Toms Mutter, verliebt gewesen. Ihren Sohn betrachtete er daher beinahe wie eine Reliquie, wie etwas Heiliges. Genau wie Veyron versuchte Wimille ihn so gut es ging zu beschützen. Aber gleich einen Panzer? Das war verrückt!

»Sie und Ihr Bruder.« Tom seufzte. »Keine Sorge, ich pass schon auf. Immer ganz langsam; aber nicht zu langsam. Ich will auf keinen Fall, dass Sie dieses Date heute verpassen.«

»Das will ich auch nicht. Pünktlich wäre rechtzeitig genug. Alles ist exakt geplant«, sagte Veyron ernst.

Nach vierzig Minuten Fahrt durch halb London kamen sie am Ziel an. Tom staunte nicht schlecht. Das Atelier in der West Street, eines der Top-Ten-Restaurants der Stadt, vielleicht sogar der Welt. Deswegen hatte Veyron also darauf bestanden, dass sie beide sich richtig in Schale warfen. Tom musste seinen besten Anzug aus dem Schrank holen und sein widerspenstiges rotes Haar über eine halbe Stunde lang mit Wasser und Gel zähmen.

»Wow, ist ja irre. Es muss etwas Besonderes zu feiern geben«, sagte Tom.

Natürlich musste Veyron sofort korrigierend das Wort ergreifen. »Das Atelier war mein Vorschlag. Jane meinte, ich dürfte mir das Lokal aussuchen. Ich muss zugeben, dass mir das sehr gelegen kam.«

Tom fand das auf Veyrons sehr spezielle Art fast schon rührend. Sie parkten das Auto und betraten das Restaurant. »Wow.« Veyrons Wahl war hervorragend gewesen. Tom kam es vor, als beträte er den Palast eines asiatischen Kaisers. Der hohe Saal, die Tische aus edlem Holz, die Stühle mit rotem Leder überzogen, sogar die Wände waren mit Bambuselementen verziert. Dazu die gedimmte Beleuchtung, die geheimnisvolle Schatten warf. Ein Ort, der nicht nur köstliche Speisen verhieß, sondern Abenteuer versprach. Hier trafen sich nicht nur die Reichen und Schönen, sondern auch Agenten und Spione. Ein einmaliger Abend schien schon jetzt garantiert.

Sofort kam ein Ober, der ihnen einen Tisch für vier Personen zuwies. Veyron bedankte sich. Seiner Natur entsprechend wählte er den Platz, der ihm den besten Überblick über das ganze Restaurant bot. Tom fand andere Dinge im Moment weitaus interessanter. Zum Beispiel den Blick in die Speisekarte. Der ließ ihn regelrecht das Wasser im Mund zusammenlaufen.

»Sie wissen, dass das heute teuer für Sie wird?«, fragte er Veyron glucksend.

Sein Patenonkel saß stocksteif auf seinem Stuhl, die Hände gefaltet, während seine Blicke den Raum absuchten.

»Geld spielt keine Rolle, Tom. Wie spät ist es?«

»Nur die Ruhe, Veyron. Noch nicht mal acht. Jane kommt bestimmt. Wir sind ja erst seit ein paar Minuten hier.«

»Ich weiß.«

Tom musste lächeln. »Sie sind nervös, oder?«

Veyron bedachte ihn mit einem überraschten Blick. »Nein, ich habe jedoch eben beobachtet, wie der Gast von Tisch dreiundzwanzig heimlich das Besteck in seiner Hosentasche hat verschwinden lassen. Dann sind da diese Frau und dieser Mann an Tisch zwölf, die sich über vollkommen belangloses Zeug unterhalten. Es ist kein Pärchen, sondern eine Mutter mit ihrem Sohn. Sie ist Witwe, das verrät mir der Ehering, den sie an einer Kette um den Hals trägt. Er ist identisch mit dem Ring an ihrem Finger. Ihr Gegenüber kann daher wohl nur ihr Sohn sein, wenn man bedenkt, wie wenig er sein Äußeres pflegt und sie, die feine Lady, darüber hinwegsieht. Sieh nur, wie er Interesse heuchelt. Seine Körperhaltung verrät dagegen Ungeduld und Desinteresse. Vermutlich trifft er sich nur mit ihr, um sein Erbe zu sichern. Irgendetwas hat er vor, das verrät mir das unruhige Trippeln seiner Schuhe, das er vor ihr zu verbergen versucht. Vielleicht will er sie ermorden? Auch an Tisch achtzehn findet ein Drama statt. Ein älterer Herr und eine junge Frau — seine Geliebte. Er trägt einen Ehering, sie dagegen nicht. Abgesehen davon ist sie mindestens zwanzig Jahre jünger als er. Sie ist definitiv nicht seine Tochter, es gibt weniger als zwanzig Prozent äußerliche Gemeinsamkeiten. Die beiden sind sich wohl einig, sich zu trennen. Zumindest deuten die langen Gesichter, die sie machen, darauf hin. Nicht zu vergessen die Tatsache, dass beide noch keinen einzigen Bissen zu sich genommen haben«, ratterte Veyron mit schneller Stimme los. Tom hatte Mühe, den ganzen Ausführungen zu folgen. Er schloss die Augen und schüttelte den Kopf.

»Veyron«, rief er. »Wir sitzen hier gerademal seit zwei Minuten! Gibt es denn irgendetwas, das Sie noch nicht wahrgenommen haben?«

»Nein. Das ist der Fluch meines hochsensiblen Wahrnehmungsvermögens. Wie spät ist es?«

Tom wollte darauf eben etwas erwidern, als eine neue Stimme seine Aufmerksamkeit erregte.

»Hoffentlich nicht zu spät?« Wie von Geisterhand stand plötzlich Jane Willkins vor dem Tisch. Tom fielen vor Staunen fast die Augen aus dem Kopf. Jane trug ein armfreies Abendkleid aus Satin. Mit den silbernen Perlen in ihrem hochgesteckten dunklen Haar, sah sie aus wie eine Königin. Veyron erhob sich höflich und rückte den Stuhl zur Seite, auf dem Jane Platz nehmen sollte.

»Einen wundervollen guten Abend, Jane. Sie sehen bezaubernd aus, falls ich das erwähnen darf«, sagte Veyron. Sie lächelte etwas verschämt und wandte sich zur Seite.

»Norman!«, rief sie. Auf ihren Wink setzte sich ein Mann in Bewegung. Der Angesprochene hatte sich die ganze Zeit mit einem Pärchen an Tisch vierzehn unterhalten. Jetzt wandte er sich Jane zu und grinste; ein gutaussehender Kerl, hochgewachsen und mit breiten Schultern. Seine Schritte zeugten von der Energie und Dynamik, die schwarze Gelfrisur von einer gewissen Eitelkeit. Ohne Zögern trat er jetzt an Janes Seite. Norman überragte sie um gut einen Kopf, sie musste regelrecht zu ihm aufblicken. Seine Augen musterten Tom und Veyron neugierig.

»Darf ich dir meine Freunde vorstellen?«, sagte Jane zu Norman und ergriff seine Rechte. Freundlich lächelte er Tom und Veyron entgegen.

»Das sind Tom Packard und sein Patenonkel, Veyron Swift. Veyron, Tom — das ist Norman Oates, mein Freund.«

Augenblicklich fiel Veyron zurück auf seinen Stuhl. Immerhin gelang es ihm, seine Verblüffung durch ein geschäftsmäßiges Lächeln zu verbergen. Tom wusste dagegen nicht, was er sagen oder tun sollte. Das war ein richtiger Schock!

Jane und Norman setzten sich zu ihnen und falteten die Speisekarte auf.

»Das ist schön, Willkins, eine richtig tolle Sache«, meinte Veyron. Für einen kurzen Moment schlich sich ein diabolisches Lächeln auf seine schmalen Lippen. »Schade ist lediglich, dass es nicht lange halten wird.«

Tom konnte spüren, wie ihm die Hitze ins Gesicht stieg. Er unterdrückte einen plötzlichen Hustenreiz. Was tut Veyron denn da?

Oates hob neugierig seine Augenbrauen, während sich Janes Augen fassungslos weiteten. »W … wi … wie meinen Sie das?«, wollte Oates wissen. Das Misstrauen in seiner Stimme war nicht zu überhören.

Tom biss sich auf die Lippe. »Ach, ihr kennt ja Veyron. Er sieht ja ständig irgendwelche Sachen.«

Doch Veyron Swift befand sich auf Kriegspfad mit Oates. Er wollte gar nichts verharmlosen. Mit sichtlicher Freude an der eigenen Boshaftigkeit lehnte er sich zurück. »Eine Schlussfolgerung aus meiner Beobachtung, nehmen Sie es nicht persönlich, Norman«, sagte er, während sich seine Hände bedrohlich langsam zusammenfalteten.

Tom hielt die Luft an. Oates und Veyron stierten sich an, ihre Blicke fochten ein stilles Duell aus. Anders als Veyron ahnte Oates nicht im Geringsten, mit welchem Gegner er es hier zu tun hatte; Veyron dagegen schien seinen Feind schon binnen Sekunden durchschaut zu haben.

»Sie gingen in Eton aufs College und haben in Cambridge studiert. Sie bewegen sich in hoher Gesellschaft, was Sie sehr genießen und in Folge sehr stolz darauf sind, dem elitären Zirkel Großbritanniens anzugehören. Zu Ihren Freunden zählen mitunter die reichsten und mächtigsten Frauen und Männer Londons. Sie sind ein Kosmopolit und reisen sehr viel, zumeist geschäftlich, zuletzt in den Süden. Jane Willkins dagegen stammt aus einfachen Verhältnissen, ihr Großvater ist ein Farmer aus Watford. Als gewöhnliche Polizistin verdient sie im Jahr etwa das, was Sie wohl im Monat an Lohn einstreichen. Sie hat weder studiert noch eine höhere Schule besucht. Von daher wird sie es sehr schwer haben, innerhalb der Gesellschaft, in der Sie sich bewegen, Akzeptanz zu finden.«

Tom wusste nicht, welche Farbe sein Gesicht inzwischen angenommen haben musste. Wahrscheinlich war es von rot zu grün und dann zu kreidebleich gewechselt. Hatte Veyron denn vollkommen den Verstand verloren?

Oates Finger krallten sich in die Speisekarte, sein Kopf war hochrot. Jane starrte kommentarlos auf die Tischplatte. Es war ihr sichtlich peinlich.

»Woher wissen Sie das alles? Soweit ich weiß, sind wir beide uns nie zuvor begegnet. Und Jane hat mir verraten, dass Sie mich Ihnen gegenüber noch nie erwähnt hat«, schimpfte Oates zornig.

Wenn ich die Zähne noch fester zusammenbeiße, werden sie zerbrechen, dachte Tom verzweifelt. Dieser Idiot von Oates lieferte Veyron munter weiter Munition für diese Schlacht.

»Sie tragen die schwarz-türkis gestreifte Krawatte eines Old-Etonian, der Siegelring an Ihrem linken Ringfinger trägt das Wappen der Cambridge-Universität. Dass Sie heute Abend sowohl Krawatte als auch Ring tragen, macht deutlich, wie stolz Sie auf Ihren Werdegang sind. Ihre enge Verbundenheit zu Eton und Cambridge lässt zudem keinen anderen Schluss zu, dass Sie sich im Kreise Gleichgesinnter bewegen, ehemaliger Kommilitonen, viele davon Wissenschaftler, Wirtschaftslenker oder Politiker — die Elite des Vereinten Königreichs eben. Dann zu Ihrem Einkommen: Der maßgeschneiderte Anzug, die sündhaft teure Uhr, die Lacklederschuhe — das Paar für rund zweitausend Pfund — alles nagelneu, keine Kratzer, keine Schrammen. Die Sohlen Ihrer Schuhe sind auf keiner Seite abgetreten. Ihr ganzes Outfit dürfte in etwa das gekostet haben, was Willkins in vier Monaten verdient. Zuletzt zu Ihrer Reisetätigkeit: Ihre Handrücken sind gebräunt, die Haut unter dem Ärmel erkennbar blasser. Sie hatten offenbar keine Zeit für ein Sonnenbad, weswegen nur eine Geschäftsreise in den Süden als Erklärung in Frage kommt. Alles in allem lässt sich also schlussfolgern, dass Sie zur Upper Class gehören. Es ist bekannt, welche Vorbehalte dort gegenüber Mitgliedern des niederen Standes gehegt werden. Folglich wird es Jane als Ihre Freundin nicht einfach haben«, erläuterte Veyron so emotionsfrei wie eh und je.

Alles nur Fassade, wusste Tom. Innerlich brodelte es in Veyron, und wenn seine Augen Blitze hätten schießen können, wäre Norman Oates nur noch ein Häuflein Asche — und Veyron war mit dem Kerl noch längst nicht fertig.

»Angesichts der Tatsache, dass Sie Ihren persönlichen Status und Erfolg mit solch pathologischem Zwang nach außen tragen, steht es außer Frage, dass Sie innerhalb Ihrer Gesellschaft unter enormen Erwartungsdruck stehen. Da Sie es sich langfristig weder mit Ihren reichen Freunden noch mit Ihrer Familie verscherzen wollen, bleibt nur eine einzige Frage bezüglich Ihres Beziehungsstatus zu Jane übrig: Wann geben Sie ihr den Laufpass?«

Im nächsten Moment stand Jane auf, nahm die Vase vom Nachbarstisch und schüttete Veyron das Wasser ins Gesicht. Tom zuckte zusammen. Sie zitterte wie Espenlaub, Tränen kullerten ihre Wangen hinunter.

»Sie sind das allergrößte Schwein der Welt! Sie Scheißkerl, Sie elender Drecksack!«, heulte sie, wirbelte herum und stürmte davon.

Oates, ebenfalls zitternd, brauchte einen Moment, ehe er aufstand. Es kostete ihn sichtlich Kraft, irgendwelche Worte zu finden.

»Ich bringe Jane besser nachhause«, stammelte er. Veyron starrte ihn nur grimmig an. Das Wasser, das von seiner scharfen Nase tropfte, schien er nicht einmal zu bemerken.

»Alle Achtung, Mister Swift«, meinte Oates zum Abschied noch. »Alle Achtung. Sie sind ein Monster, Sir.«

»Sie haben nicht die leiseste Vorstellung«, zischte Veyron.

Gedemütigt und geschlagen wie ein Straßenköter, zog Oates von dannen. Tom blieb nichts anderes zu tun, als erstmal tief durchzuatmen.

»Alle Achtung, Mister Swift«, wiederholte er Oates Worte. »Und wieder einmal haben Sie eine glückliche Beziehung zerstört.«

Veyron zuckte mit den Schultern und schlug die Speisekarte auf. »Ich habe lediglich das Unvermeidliche beschleunigt.«

»Super gemacht! Jane hasst Sie jetzt.«

»Vorübergehend. Zumindest weiß sie jetzt, woran sie bei Oates wirklich ist. Wenn er einen Rest Anstand besitzt, verschwindet er und lässt sich nie wieder blicken.«

»Ich bezweifle, dass Jane das genauso sieht. Sie wollte mit Ihnen ihr Glück teilen, und Sie haben es zerstört.«

Veyron nahm eine Serviette und tupfte sich das Gesicht trocken. »Zugegeben: Vielleicht war der Zeitpunkt meiner Enthüllungen etwas unpassend«, lenkte er ein.

»Sie sind eifersüchtig«, hielt ihm Tom vor. Immerhin rang das Veyron ein Schnauben ab. Plötzlich hieb er mit der Faust auf den Tisch. Tom erschrak.

»Lass dir gesagt sein, mein lieber Tom: Die Liebe ist eine Krankheit! Lass die Finger davon, das ist nur etwas, wenn man jung ist. Für mich ist es zu spät.« Veyron, zitternd von seinem plötzlichen Ausbruch, legte den Kopf in den Nacken und blickte hinauf zur Decke des Lokals.

»Ich bin jung«, versuchte Tom die Spannung zu entschärfen. Veyron seufzte abermals. Erst nach einem Moment, schaute er ihn an.

»In der Tat. Darf ich dir eine Empfehlung geben? Nutze jede Gelegenheit, die sich dir bietet. Halte niemals etwas zurück, wofür es keinen guten Grund gibt. Trau dich, wenn dir etwas auf dem Herzen liegt. Werde niemals so wie ich.« Seine dunkle Stimme klang jetzt regelrecht melancholisch.

»Keine Angst, habe ich nicht vor«, platzte es aus Tom heraus. Im gleichen Moment wollte er sich dafür ohrfeigen. Doch Veyron nahm diese Gemeinheit mit einem Lächeln hin.

»Andere Väter haben auch schöne Töchter, wissen Sie?«, meinte Tom.

»Ach, tatsächlich? Kurios. Ich dachte immer, du wärst mein Schutzbefohlener und nicht umgekehrt.«

»Veyron, Sie müssen wirklich noch viel lernen. Also, was ist jetzt? Wollen Sie noch was bestellen, oder verkriechen Sie sich lieber in Selbstmitleid?«

Veyron klappte die Speisekarte zu. Schlagartig kehrten Ernst und Konzentration in sein hageres Gesicht zurück.

»Pünktlich auf die Minute«, stellte er fest und nickte zum Eingangsbereich. Tom musste sich umdrehen, um etwas erkennen zu können. Eine Gruppe feiner Herrschaften hatte sich dort eingefunden. Die Damen in eleganten Abendroben, die Herren im Smoking. Bodyguards standen um sie herum, bullige Typen, die sich von niemandem beeindrucken ließen. Zwei Ober und einer der Manager des Restaurants eilten zu den Herrschaften und begrüßten sie mit überschwänglicher Freundlichkeit.

»Wer sind die?«, wollte Tom wissen.

»Das sind Lady Matilda und ihr Gemahl Harold, der Lord Barstowe. Dann haben wir da noch Emiliano Torrini, seine heutige Geliebte, und nicht zu vergessen: Baron Avron Zaltic, Ernest Noble und Friedrich Wilhelm Maximilian von Schreck-Murnau nebst weiblicher Begleitung«, erklärte Veyron. Auf Toms obligatorische Frage wartete er gar nicht erst, als er fortfuhr. »Das ist das Direktorium der Zaltianna Trading Company.« Ein sardonisches Lächeln huschte ihm über die Lippen. »Es sind alles Vampire.«

Beinahe hätte Toms Herz ausgesetzt. Keuchend krallte er sich in die Tischplatte und starrte schleunigst in eine andere Richtung. Die Anführer der ZTC — obendrein Vampire! Da fehlte nur noch der Teufel als Aufsichtsratsvorsitzender!

»Veyron, was tun die hier?«, flüsterte Tom. Er kam nicht darum zuzugeben, dass ihn plötzliche Angst befiel.

»Vorzüglich dinieren, nehme ich an«, gab Veyron lapidar zurück. »Vampire trinken ja nicht nur Blut. Sie empfinden wie wir Appetit und wissen etwas Köstliches zu schätzen.«

In Seelenruhe beobachteten Tom und Veyron, wie die Kellner die Vampir-Gesellschaft in den hinteren Teil des Restaurants führten und dort die Treppe nach oben in den ersten Stock. Klar, das ZTC-Direktorium feierte in einem eigenen Bereich des Lokals, nicht inmitten der Sterblichen.

»Das meinte ich nicht«, maulte Tom, um wieder auf seine Sorgen zurückzukommen.

»Wimille hat herausgefunden, dass die ZTC den ganzen ersten Stock des Atelier für sich gebucht hat«, ließ Veyron die Katze schließlich aus dem Sack. Tom traf die Erkenntnis wie ein Blitzschlag.

»Ach, deswegen sind wir heute hier! Sie sind wirklich ein Aas, wissen Sie das? Ich dachte, Sie wollten Jane in ein besonderes Restaurant ausführen, dabei ging es Ihnen die ganze Zeit nur um die ZTC!«

Veyron zuckte mit den Schultern. »Teilweise. Ich dachte mir, warum das Angenehme nicht mit dem Nützlichen verbinden? Man muss Synergieeffekte nutzen, wenn sie sich ergeben. Ich hoffte, Jane würde uns zur Seite stehen. Unerwarteter Weise sind wir zwei jetzt auf uns allein gestellt«, versuchte er sich zu rechtfertigen.

Tom atmete entnervt aus. »Und da wundern Sie sich, warum das mit den Dates zwischen Ihnen und Jane nie klappt? Mann, ich glaub ich tick’ aus.« Er seufzte. »Okay, zurück zur Sache. Was haben Sie vor?«

Plötzlich trat ein Ober zu ihnen, der Getränke servierte, die sie gar nicht bestellt hatten.

»Die Gespräche abhören, die meine Wanzen aufzeichnen«, raunte ihm der Mann als Antwort zu, als habe er sie ganze Zeit belauscht. Tom zuckte unwillkürlich zusammen. Es dauerte einen Moment, bis er den Ober erkannte. Hochgewachsen und hager, die Wangen eingefallen und die Stirn hoch und kahl — aber die gleichen blitzenden Augen und die prominente Adlernase wie Veyron. Es war Wimille Swift.

Tom wollte ihn eben begrüßen, als er schon Veyrons Hand auf der Schulter spürte. Das Zeichen, sich ruhig zu verhalten und still zu sein.

»Ich habe alle Tische verwanzt, ehe diese Vampire eintrafen. Besser ihr zwei beeilt euch, die Wanzen sind extrem klein und praktisch unauffindbar. Allerdings ist ihre Sendereichweite eingeschränkt, ebenso die Nutzungsdauer«, erklärte Wimille leise, während er den elektronischen Bestellblock zückte und etwas eingab.

Wimille war der vielleicht genialste Tüftler der Welt, obendrein wohl einer der weltbesten Hacker und Softwareentwickler. Ihm fehlte allerdings Veyrons Sinn für Abenteuer und Herausforderungen. Wenn jedoch irgendwo einzigartige technische Lösungen erforderlich waren, konnte man sich auf Wimille verlassen. Während ihres letzten Abenteuers in Elderwelt hatte der ältere Bruder Veyrons wahre Wunder vollbracht.

»Vielen Dank, Wim. Wird es bis zu den Toiletten reichen?«

»Allemal, Vey. Aber seid vorsichtig. Mir ist bei so vielen Vampiren auf einen Haufen nicht besonders wohl.«

Veyron nickte seinem Bruder zu, der den Bestellblock wegsteckte und dann in Richtung Küchen verschwand. Ganz unauffällig hatte er zwei kleine Ohrstöpsel hinterlassen. Veyron nahm sie an sich und reichte einen an Tom. Dessen Verstand versuchte noch, die vielen Fragen zu ordnen, die ihm gerade wirr durch den Kopf schossen.

»Wie kommt denn Ihr Bruder eigentlich hierher?«

»Er hat sich beworben, mit den besten Empfehlungen des Claridge’s. Natürlich eine Fälschung, jedoch absolut glaubhaft. Normalerweise beteiligt sich Wimille nie an meinen Fällen, aber seit geraumer Zeit scheint er Gefallen an Abenteuern gefunden zu haben«, erklärte Veyron. In verwundeter Geste hob er die Augenbrauen, als könnte er es selbst nicht recht glauben. Schließlich zuckte er mit den Achseln und stand auf.

»Wir gehen jetzt auf die Toilette im Obergeschoss und hören uns an, was die Zaltianna Trading Company zu erzählen weiß«, entschied Veyron. Ohne auf Toms Antwort zu warten, eilte er durch das Restaurant und verschwand die Treppe hinauf. Tom trank noch einen Schluck, ehe er seinem Patenonkel folgte. Stufe für Stufe nahm er die Treppe in den ersten Stock, spürte, wie sein Herz schneller schlug. Ein ganzer Saal voller Vampire. Ihm war noch gut in Erinnerung, welch mörderische Kraft diese Kreaturen besaßen und wie schnell sie sein konnten. Anders als in vergangenen Fällen waren Veyron und er diesmal komplett unbewaffnet.

Oben angekommen, musste er sich erst einmal orientieren, da es in drei Richtungen ging. Zu den Toiletten ging es nach links, aber der Weg geradeaus schien ihm viel interessanter. Zwei breitschultrige Bodyguards blockierten dort mit verschränkten Armen den Eingang zum Speisesaal. Was dort wohl vor sich ging? Anstatt Veyrons Anweisungen nachzukommen, steuerte Tom neugierig in diese Richtung. Veyron ist ja auf Position, da kann es nicht schaden, wenn sich einer von uns einen Eindruck vor Ort verschafft, dachte er. Hinter dem Eingang lag eine Garderobe, und erst danach erweiterte sich der Raum in den oberen Saal. Soweit Tom es erkennen konnte, war der obere Saal viel dunkler. Das Licht war bis auf ein Minimum gedimmt, Tische und Stühle in Schwarz gehalten, und anstelle von Holz und Bambus dominierten hier oben Stahl- und Glaselemente die Einrichtung. Er hörte helles Frauengelächter und das Murmeln dunkler Männerstimmen. Sehen konnte er von den vampirischen Gästen nicht viel. Dazu müsste er an den beiden Bodyguards vorbei — das wollte er dann lieber doch nicht riskieren.

»Zu den Toiletten geht’s da lang?«, fragte er die beiden Männer. Sie zuckten nicht mal mit den Mundwinkeln. »Okay, ich finde sie schon selbst. Danke«, murrte Tom gespielt eingeschnappt. Wieder keinerlei Reaktion von den Bodyguards. Vollkommen professionelle Typen, entschied er. Warum hat Veyron das Daring-Schwert nicht mitgenommen? Die magische Waffe aus Elderwelt war das Einzige, was ihnen im Ernstfall gegen Vampire helfen könnte.

Mit einem Gefühl von Schutzlosigkeit drehte er den beiden Kerlen den Rücken zu und schlug den Weg links zu den Toiletten ein. Hoffentlich waren Wimilles Wanzen wirklich so klein und unauffindbar. Falls die Vampire spitzbekamen, dass sie belauscht wurden, wäre der Teufel los.

Eben wandte sich Tom in Richtung der Toiletten, als er aus den Augenwinkeln ein Pärchen die Treppe hochkommen sah. Der junge Mann schien nicht viel älter als Tom zu sein, aber ungleich muskulöser, was sein enges Sakko nur schlecht verbergen konnte. Seine Begleiterin, eine engelhafte Schönheit mit hochgestecktem blondem Haar kicherte leise über etwas, was ihr Freund wohl eben geflüstert haben musste. Auf ihren High Heels war sie beinahe einen halben Kopf größer als ihr Begleiter. Wollten die beiden auch auf die Toilette? Womöglich gemeinsam? Das käme jetzt aber verdammt unpassend.

Seine Sorgen wurden im Nu zerstreut; auf die denkbar brutalste Art und Weise. Die Frau öffnete ihre Handtasche, holte zwei dünne Holzbolzen heraus. Ihrem Freund drückte sie ein grünes Ei in die Hand. Tom brauchte eine Sekunde, um zu begreifen, dass es sich um eine Handgranate handelte. Der junge Mann zog den Splint und schleuderte sie den beiden Vampir-Bodyguards entgegen. Toms Herz blieb beinahe stehen, als es knallte und sich beißender Rauch ausbreitete, gefolgt von einem scharfen Geruch, der in der Nase brannte. Instinktiv riss sich Tom den Arm vor das Gesicht und suchte nach Deckung. Durch die dünnen Rauchschleier sah er, wie die Blondine die Bodyguards ansprang. Noch während die versuchten, sich zu wehren, rammte sie dem Linken einen Bolzen in die Brust, dann parierte sie die Faust des zweiten Bodyguards und versenkte den zweiten Bolzen mit nur einem Hieb in dessen Brust. Durch den furchtbaren Gestank regelrecht gelähmt, konnten die Vampir-Bodyguards kaum etwas tun. Beide brachen augenblicklich zusammen. Der Kerl mit dem Sakko stürmte plötzlich vor, eine zweite Handgranate in den Händen.

»Tod der ZTC! Tod allen Vampiren!«, brüllte er, als er über die reglosen Körper der Bodyguards hinwegsprang. Die Blondine folgte ihm sofort. Wieder explodierte eine Granate, neuerlicher Gestank breitete sich aus. Ein Anschlag auf die ZTC-Führung! Was sollte er, Tom, tun?

Hinter ihm flog die Tür zu den Toiletten auf. Veyron sprang regelrecht heraus, packte Tom an der Schulter.

»Auf geht’s, Tom! Wir müssen eingreifen!« Veyron zerrte Tom hinter sich her. Eingreifen, aber womit? Ohne Daring-Schwert oder wenigstens einer Schusswaffe konnten sie es weder mit den beiden Attentätern geschweige denn mit den Vampiren aufnehmen. Leichtfüßig wie eine Gazelle sprang Veyron über die Leichen der Bodyguards hinweg. Tom folgte ihm stolpernd. Ihm fiel auf, wie Haut und Fleisch der toten Vampire in Rekordtempo austrockneten und aufrissen. Kleine Flammen lechzten aus ihren Körpern. Sie verbrannten zu Asche.

Die Führungsköpfe der ZTC befanden sich jedoch noch am Leben. Durch den Angriff auf ihre Bodyguards gewarnt, hatten sie sich in Deckung geworfen, sämtliche Tische und Stühle zwischen sich und das Attentäter-Pärchen gebracht. Die beiden jungen Killer lauerten zusammengekauert hinter einem umgestoßenen Tisch, mit nichts anderem bewaffnet als Holzpflöcken. Das kam Tom glatt wie Selbstmord vor. Der Anschlag war gescheitert, soviel stand fest. Jetzt ging es darum, die beiden Attentäter zu schnappen.

Plötzlich knallte ein Schuss. Wimille Swift stand im Türrahmen, in seiner Rechten ein rauchender Marine-Revolver. Augenblicklich riss Veyron seinem Bruder die Waffe aus der Hand, richtete sie auf die beiden Killer.

Durch Wimilles Warnschuss aufgeschreckt, wurden sich die Attentäter ihrer neuen Gegner bewusst. Bevor Veyron feuern konnte, sprang die Blondine über den Tisch hinweg, als wäre es die leichteste Übung der Welt. Blitzschnell war sie auf der anderen Seite des Speisesaals, warf sich mit voller Wucht gegen das nächstbeste Fenster. Es zersprang augenblicklich. Die Killerin verschwand in der Tiefe. Ihr Partner wartete keine Sekunde länger. Brüllend warf er sich den Swift-Brüdern entgegen, stieß sie zur Seite und entkam hinaus auf den Flur. Doch Tom heftete sich ihm sofort an die Fersen. Der Attentäter hastete die Treppe so schnell nach unten, dass er beinahe stürzte. Ohne zurückzublicken, stürmte er durch das Lokal, zielstrebig dem Ausgang entgegen. An der Tür holte Tom ihn ein, streckte die Arme nach ihm aus, bekam sein Sakko zu fassen. Brüllend fuhr der Killer herum, versuchte zuzuschlagen. Fast instinktiv blockte Tom den Schlag ab, um seinerseits die Fäuste sprechen zu lassen. Zwei schnelle Hiebe, und der Kerl flog durch den Eingang nach draußen auf das Pflaster des Gehsteigs. Mit der Wildheit eines Raubtiers setzte ihm Tom nach. Sein Gegner war jedoch alles andere als unerfahren. Geschickt schlug er mit den Beinen aus, brachte Tom zu Fall und stürzte sich auf ihn. Eine Weile rangen sie gegeneinander, wälzten sich im Dreck der Straße. Endlich bekam Tom das Gesicht des Killers genauer zu sehen. Der Anblick seines Feindes ließ ihn keuchen.

»Owain?«

Owain Grady, einer von vier Jugendlichen, die Veyron zwei Jahre zuvor in Elderwelt gerettet hatte. Ein Berg aus Fragen türmte sich in Toms Verstand, als er in Owains eiskalte Augen starrte. Seinem Gegner fehlte diese Empathie jedoch. Als er Tom seinerseits erkannte, strengte er sich nur noch mehr an, sich aus seinem Griff zu befreien. Tom hatte jedoch nicht die Absicht, Owain entkommen zu lassen. Erst mussten hier ein paar Fragen beantwortet werden.

Ein heftiger Tritt in die Seite bereitete seinem Vorhaben ein Ende. Was immer ihn auch getroffen hatte, es riss ihn von Owain fort und fegte ihn quer über den Gehsteig. Verwundert und mit dröhnendem Schädel blickte Tom auf. Erst jetzt sah er, wie ein Motorrad neben Owain zum Stehen gekommen war — eine feuerrote Rennmaschine. Die Fahrerin war anhand ihrer High Heels und der zerfetzten Abendrobe unschwer als Owains mörderische Partnerin auszumachen. Glassplitter steckten in ihren Armen und Beinen, doch schien sie diese Verletzungen nicht einmal zu spüren. Ohne Tom noch einen weiteren Blick zuzuwerfen, schwang sich Owain auf die Maschine. Der Motor heulte laut auf und mit irrsinnigem Tempo jagten die beiden davon.

Mit stechenden Schmerzen – nahezu überall – rappelte sich Tom auf, hinkte in die Richtung, in welche das Motorrad verschwunden war. Im gleichen Augenblick kamen Veyron und Wimille aus dem Atelier.

»Es war Owain«, japste Tom. »Owain Grady, einer der vier …«

»Ich erinnere mich an ihn«, unterbrach ihn Veyron sofort. »Hast du dir das Kennzeichen der Maschine gemerkt?«

»Nein. Wie denn auch? Dieses Weib hat mich vier Meter weit durch die Luft getreten.«

»Es wäre sowieso nutzlos. Sie werden die Maschine so schnell wie möglich loswerden«, sprang Wimille Tom zur Seite. Veyron sagte nichts darauf.

»Wie kann diese Hexe den Sturz aus dem Fenster nur überlebt haben? Sie müsste auf der Straße liegen, mit gebrochenen Knochen und aus tausend Wunden blutend«, meinte Tom, als er hinauf zur zerstörten Scheibe blickte.

»Eine berechtigte Frage. So schnell wie sie war, wäre es möglich, dass sie zur selben Spezies gehört wie ihre Opfer«, meinte Veyron. Er hob den Kopf, als in der Ferne Polizeisirenen laut wurden.

»Nun, das war zu befürchten«, seufzte er. »Schnell, lasst uns noch ein paar Beweise sichten, ehe die Idioten von der Spurensicherung alles eintüten und wir keinen Zugriff mehr darauf haben.«

Alle drei kehrten sie ins Restaurant zurück. Sämtliche Gäste standen in einer Ecke zusammengedrängt, manche kreidebleich, andere zitternd. Dem Personal ging es kaum besser. Es wurde geflüstert und mit Kopfnicken oder Fingerzeigen auf Veyron, Wimille und Tom gedeutet. Für einige mochten sie Helden sein, welche Terroristen in die Flucht geschlagen hatten, andere hielten sie vielleicht für Wichtigtuer, die andere nur in unnötige Gefahr brachten. Tom kannte das inzwischen zu Genüge. Aber so ganz konnte er sich immer noch nicht daran gewöhnen. Wimille und er folgten Veyron die Treppe hinauf in den Speisesaal des Obergeschosses. Die Führungselite der ZTC, inzwischen wieder beruhigt, hing entweder an ihren sündhaft teuren Smartphones, um Manager, Sicherheitspersonal und Anwälte anzurufen. Die anderen verhielten sich nicht anders als die menschlichen Gäste unten. Schock und Schrecken stand in den Gesichtern der Damen und Herren geschrieben. Vampire, die um ihr Leben fürchteten; ein seltsamer verstörender Anblick.

Veyron bückte sich einem der beiden toten Bodyguards. Ihre Körper waren inzwischen weitgehend zu Asche zerfallen. Nur noch schwarze Knochen ragten aus einem Haufen Staub. In wenigen Minuten wäre von den beiden Männern nichts mehr übrig. Veyron griff in seine Hosentasche und holte ein Taschentuch heraus. Vorsichtig zog er damit den hölzernen Bolzen aus den schwarzen Rippenknochen des toten Bodyguards. Dünn wie ein Bleistift und kaum länger hatte diese Waffe den Vampir mitten ins Herz getroffen.

»Eines steht fest. Owain und seine Begleiterin wissen genau, wie man Vampire zur Strecke bringt. Zuerst die Granaten, um die beiden zu lähmen, und dann ein zielsicherer Stich ins Herz«, sagte Veyron, während er den Bolzen mehrfach herumdrehte, um ihn genauestens zu untersuchen.

»KB«, las er eine kleine Inschrift am hinteren Ende des Schafts vor. »Ein Kürzel. Womöglich für den Hersteller oder eine Botschaft an die Opfer«, spekulierte er.

»Auf meinem ist ein kleines Symbol eingraviert«, meldete sich Wimille neben ihnen. Veyrons Bruder hatte sich über den zweiten Leichnam gebeugt und ganz ohne jede Vorsicht den Bolzen mit den Fingern herausgezogen.

Neugierig suchte Tom etwas Ähnliches auf Veyrons Bolzen. »Auf unserem ist auch eines; aber nur schwer zu erkennen.«

Ohne zu zögern ließ Veyron den Armbrustbolzen in der Innentasche seines Jacketts verschwinden. »Den untersuchen wir genauer«, entschied er. »Kehren wir in die Wisteria Road zurück und beginnen mit unseren Nachforschungen«, meinte er einen Moment später.

Von unten hörte Tom, wie Autos auf der Straße scharf bremsten. Hastig wurde die Eingangstür geöffnet, Stimmen erklangen, Schritte kamen die Treppen herauf.

»Nicht schon wieder Sie!«, hörte er die unangenehm hohe Stimme von Detective-Sergeant Bob Palmer vom CID, noch ehe er den Polizeioffizier erkannte. Der hagere Mann mit dem schmalen Gesicht, dem kurz geschorenen grauem Haar und der kleinen Brille auf der Nase musterte Tom und die Swift-Brüder ungehalten.

»Wenn Sie im Spiel sind, bleibt es nie bei einem einfachen Mord«, schimpfte Palmer.

Veyron setzte sich ein freches Lächeln auf.

»Einfache Morde existieren grundsätzlich nicht, Sergeant Palmer. Wenn Sie die Zeugen im ersten Stock befragen, werden Sie jedoch erfahren, dass es gar keinen Mord gegeben hat, nur den Überfall zweier Fanatiker, welche einen Groll gegen die ZTC hegen. Es wurden Stinkbomben geworfen und ein wenig gezündelt. Ganz gleich, was Ihnen die hohen Herren da oben erzählen werden, lassen Sie auf jeden Fall Abstriche von den beiden Aschehaufen im Garderobenbereich nehmen. Soviel zu meinen heutigen Ratschlägen. Sollten Sie Tom oder mich noch für eine genauere Zeugenvernehmung benötigen, kennen Sie meine Anschrift: 111 Wisteria Road. Kommst du jetzt, Tom? Wir haben noch einen Haufen Arbeit vor uns.« Veyron wandte sich in Richtung Ausgang.

Veyron Swift und das Grabmal der Engel

Подняться наверх