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Die Apfelinsel

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Ein weiteres Mal breitete sich zu ihren Füßen eine neue Landschaft aus. Auf den ersten Blick schien sie dem schottischen Boden nicht unähnlich: Saftiges Gras, das sich über runde Hügel legte und die Flanken naher Berge hinaufwuchs, unterbrochen von dunklen Wäldern. Ein Zeichen von Zivilisation gab es auch in diesem Land nicht. Keine Häuser, keine Straßen, keine Zäune, keinerlei Vieh; nicht einziges Schaf im Umkreis.

»Ich habe euch gewarnt«, erklang Veyrons Stimme hinter Tom. Sichtlich ungehalten baute er sich vor ihnen auf. »Ihr habt den falschen Astbogen erwischt.«

Tom hob entschuldigend die Hände und schaute sich weiter um. Die Gegend war ruhig, die Luft herbstlich frisch. Von Monstern keine Spur. Erleichtert drehte er sich um, nur um dann schockiert die Augen aufzureißen. Der Linde fehlte die Krone, der meterdicke Stamm war ab einer Höhe von zwei Metern gefällt. Von den sechs Astbogen gab es noch drei, die intakt waren. Erschrocken taumelte Tom zurück.

»Der Baum! Man hat den Baum zerstört!«

»Sehr schön, Tom«, lobte Veyron mit hörbarem Sarkasmus. »Du bist zum Glück noch in der Lage, das Offensichtliche festzustellen.«

»Heißt das, wir können nicht mehr nach Hause?«, fragte Vanessa ängstlich. Ihre Panik hatte sie noch immer nicht ganz unter Kontrolle.

Veyron schüttelte den Kopf. »Der uralte Zauber der Illauri scheint trotz der Grausamkeiten, die man der Linde hier angetan hat, nicht verflogen zu sein. Ansonsten wären wir gar nicht erst hierher gelangt.« Blitzschnell lief er um den Baum herum und sah sich den Stumpf genauer an. »Es gab wohl mehrere Versuche, ihn ganz und gar umzuhauen. Die Einkerbungen hier unten beweisen es. Das Haupttor ist unbrauchbar. Von hier aus kommen wir also nicht zurück zur einsamen Insel. Unabhängig davon funktionieren die Tore der Bogen noch«, resümierte er. Dann trat er mit den Schuhen in die Kerben und hangelte sich am Stamm nach oben, bis er auf dem Stumpf stand.

»Man hat den Baum vor vielen Jahren gefällt, die Stelle ist verwittert und mit Moos überwachsen. Aus den Löchern wächst Gras«, rief er den zweien zu. »Vermutlich war es einfacher, den Baum von oben nach unten niederzumachen. Seine Basis ist zu dick für jede normale Säge und für einen Holzfäller eine Mammutaufgabe. Die Frage ist natürlich, weswegen man aufhörte«, fuhr er fort. Nachdenklich ging er in die Hocke, schien über etwas nachzudenken. Eben wollte ihn Tom nach etwas fragen, als Veyron wieder aufsprang, seine Augen in die Ferne gerichtet.

»Was sehen Sie?«, fragte Vanessa.

»Zivilisation, Miss Sutton. Ein paar Wegstunden von hier. Es scheint ein Minenbetrieb zu sein.«

Tom fällte die Entscheidung. »Gut, dann gehen wir dahin und sehen uns das an. Vielleicht kann man uns dort etwas zum Grabmal der Engel erzählen.«

Veyron sprang von dem hohen Stumpf herunter, ein zufriedenes Lächeln auf den schmalen Lippen. »Endlich der richtige Tatendrang, Tom. Ich konnte kein Anzeichen von Militär oder moderner Technologie ausmachen. Die Häuser bei der Mine sind armselig. Aber das werdet ihr bald selbst aus nächster Nähe feststellen können. Dennoch: Halte das Daring-Schwert rufbereit, Tom. Die Wahrscheinlichkeit, dass man uns nicht mit Freundlichkeit empfängt, scheint mir durchaus hoch.«

Nach ein paar Kilometern fanden sie eine primitive Straße, kaum mehr als plattgestampfter Boden, übersät mit uralten Kratern ausgetrockneter Regenpfützen. In welchem Land Elderwelts sie sich auch befanden, von ordentlichem Straßenbau schien man hier nichts zu wissen. Die wenigen Einwohner, die ihnen unterwegs begegneten, kleideten sich sehr einfach. Die Männer trugen einfarbige, knielange Tuniken und enge, an Leggins erinnernde Wollhosen. Die Gewänder der Frauen bestanden aus einem sackartigen Kleid, das ihnen bis zu den Fußknöcheln reichte und an der Hüfte mit einer Hanfschnur zusammengebunden war. Die modernen Hosen, Hemden und Jacken von Tom, Vanessa und Veyron zogen zahlreiche verwunderte Blicke nach sich, doch niemand wagte sie deswegen anzusprechen. Einige Leute tippten sich mit Zeige- und Mittelfinger an die Stirn und pressten sich diese dann in einer abergläubischen Schutzgeste gegen die Brust.

»Äpfel«, sagte Veyron plötzlich. Vanessa und Tom warfen ihm verwirrte Blicke zu.

»Die meisten Bäume hier sind Apfelbäume. Ein paar Buchen und Eichen gibt es auch, doch Obstholz bildet die Mehrzahl. Allerdings kümmert sich niemand um diese Bäume. Sie sind zum großen Teil verwildert, der Ertrag wird daher dürftig ausfallen«, führte er näher aus.

Was Tom daraus schließen sollte, wusste er nicht. Veyron erläuterte es auch nicht näher, weswegen Tom es als unwichtige Beobachtung abtat. Auf der Straße kamen ihnen jetzt immer mehr Menschen entgegen. Karren voller Gesteinsbrocken wurden von den Leuten gezogen und geschoben. Es schien überall an Nutztieren zu mangeln. Nirgendwo auf den Weiden sahen man Kühe oder Schafe.

Nach einem Zwei-Stunden-Marsch, erreichten sie die Mine. Man hatte sie in die Flanke eines Berges getrieben, fünf Terrassen mit steilen Wänden, durchlöchert wie Schweizer Käse. Die größeren der Stollen waren mit Holzbalken gestützt, die meisten jedoch nichts weiter als Löcher, die in die Schwärze führten. Die Menschen gruben sich einfach irgendwo in den Felsen und hofften auf reiche Beute.

Plötzlich stieß Vanessa ein erschrockenes Keuchen aus.

»Da arbeiten Kinder! Was sind das nur für Schweine?«, rief sie entgeistert.

Tatsächlich. Soweit Tom es auf den ersten Blick erkennen konnte, bestand der Großteil der Minenarbeiter aus Kindern, hauptsächlich Jungen. Die meisten waren noch keine zehn Jahr alt, Körper und Gesichter schwarz vor Staub und Ruß, die Gestalten ausgehungert, nicht selten fehlten dem einen oder anderen eine Hand oder gar der ganze Arm. Den wenigen Erwachsenen fiel die Aufgabe zu, die aus der Tiefe geförderten Gesteinsbrocken auf klapprige Karren zu verladen.

»Kinder passen leichter in die engen Stollen«, bemerkte Veyron kaltherzig. Dafür wurde er von Vanessa mit einem vernichtenden Blick gestraft. Zu Recht, wie Tom fand.

»Wie sind Sie denn drauf? Wissen Sie überhaupt, was Sie da sagen?«

»Ich bedauere, Miss Sutton. Es war nicht meine Intention, die moralischen Aspekte zu bewerten, sondern lediglich den logischen Zusammenhang zu erläutern«, verteidigte sich Veyron ganz ohne jede Aufregung in der Stimme. Seine blitzschnellen Blicke musterten die Mine eingehend.

»Es gibt nirgendwo Wachen oder Aufseher, also sind die Arbeiter keine Sklaven. Sie werden bezahlt«, stellte er fest.

»Sehr schlecht bezahlt«, korrigierte ihn Tom mit einem weiteren Blick auf die furchtbar geschundenen Kinderkörper. Er hatte schon viel in seinem Leben gesehen, aber noch kein solches Elend. Kinder mit vernarbten Rücken, fehlenden oder verkrümmten Fingern. Viele hinkten, die baren Füße mehr schlecht als recht in Mull gewickelt. Was für Unmenschen mochten über dieses Land herrschen? War dies für die Menschen hier die Normalität? Aus Büchern wusste Tom, dass solches Elend in früherer Zeit auch in ihrer Welt zum Alltag gehört hatte. Es war jedoch etwas Anderes, so etwas mit eigenen Augen zu sehen.

Veyron deutete zu einer Ansiedlung aus strohbedeckten Hütten.

»Da, zwischen diesen Häusern gibt es einen Marktplatz. Ich sehe einen Tisch mit ein paar Verwaltern. Sehr wahrscheinlich haben diese Herren hier das Sagen. Gehen wir zu ihnen«, entschied er.

Was Veyron als Häuser bezeichnete, waren in Toms Augen nicht mehr als ein paar in den Boden gegrabene Behausungen, von denen nur der spitze Dachstuhl zu sehen war. Die Kleidung aus meist einfarbigen Tuniken, primitiven Mänteln und einfachsten Gürteln erinnerten ihn stark an Zeichnungen, wie man sich die Menschen im finstersten Mittelalter vorstellte.

»Könnten Wikinger sein«, meinte Vanessa eben.

»Gut beobachtet, Miss Sutton, dennoch irren Sie sich«, erwiderte Veyron sofort. »Der Entwicklungsgrad entspricht zwar in der Tat etwa dem siebten oder achten Jahrhundert Europas. Die Details der Kleidung und vor allem der Schmuck deuten jedoch mehr auf eine früh-angelsächsische Kultur hin. Womöglich handelt es sich um eine weitgehend isolierte Zivilisation, die zum Rest Elderwelts nicht viel Kontakt hat. Oder es ist lediglich eine noch wenig urbanisierte Gegend. Bald wissen wir mehr«, meinte dagegen Veyron.

Immer öfter sah man sie jetzt verstört an. Hinter ihnen wurde geflüstert, Tom hörte es genau. Die Sprache klang rau, anders als alle anderen Sprachen, die er bisher in Elderwelt vernommen hatte. In der Nähe der Behausungen gab es einen Brunnen, wo Frauen Wasser schöpften. Zelte und Fuhrwerke deuteten auf reisende Händler hin, das Warenangebot reichte jedoch nicht über ein paar Äpfel, Hühner oder schmucklose braune Stoffbahnen hinaus. Hier dominierten die Frauen das Bild, gehüllt in ihre langen Gewänder, die Köpfe mit nonnenhaften Habiten bedeckt, so dass man nur die Gesichter sehen konnte. Tom musste ein Schmunzeln unterdrücken, als die Damen dieser Gegend Vanessa anstierten und vor blankem Entsetzen den Kopf schüttelten. Hautenge Jeans, hochhackige Stiefel und Lederjacken waren den Menschen völlig fremd.

Die Verwalter, eine Gruppe älterer Männer, deren Tuniken sauberer und hochwertiger wirkten und die sich bunte Umhänge und teure Broschen leisten konnten, saßen nebeneinander an einem langen Tisch. Vor ihnen standen Schalen mit Silbermünzen, ein Haufen gestapelter Brotlaibe und für jeden eine Waage. Sie schienen die drei Besucher zunächst nicht zu bemerken und blickten erst auf, als ihnen ein paar Handlanger in die Ohren flüsterten. Verwirrung stand in die Gesichter der Alten geschrieben. Sofort schafften sie mit misstrauischen Blicken die Silbermünzen unter den Tisch.

Einer der Alten stand plötzlich auf, rief ihnen etwas in der rauen Sprache der Einheimischen zu. Veyron hob interessiert die Augenbrauen.

»Eine eindeutig westgermanische Sprache, definitiv nicht nordisch. Passt auf, ich werde etwas versuchen. Ich probiere es zunächst mit Altenglisch und danach mit Althochdeutsch.«

Veyron antwortete den Alten in einer Sprache, die in Toms Ohren genau wie die der Einheimischen klang. Das Ergebnis bestand jedoch in noch mehr verwirrten Blicken. Veyron versuchte es mit Althochdeutsch, was zu einigen Wortwechseln zwischen den Alten führte. Einige zuckten ahnungslos mit den Schultern. Der Anführer der Verwalter fühlte sich schließlich veranlasst Unterstützung zu holen. Er schickte einen seiner Handlanger los, der kurz darauf mit einem Mann um die vierzig zurückkehrte. Auf Tom wirkte der Neuankömmling wie eine Art Mönch oder Priester, gehüllt in eine schwarze Kutte mit weißem Kragen. Mit den Alten wechselte der Pater ein paar Worte, ehe er voller Verunsicherung vor Veyron trat. Nach einer kurzen Verbeugung fing er an, in einer ganz neuen Sprache zu sprechen. Die kannte Tom wenigstens.

»Latein!«

»Ein sehr schlampiges Latein«, raunte Veyron. »Aber immerhin können wir uns jetzt unterhalten.«

Es gingen einige Sätze hin und her, bis Veyron den Mönch etwas fragte. Dieser begann zu lachen und nickte eifrig.

»Talassenglisch! Natürlich. Jeder Gelehrte spricht die Sprache der Seehändler«, rief er. »Ich bin Bruder Offa.«

Vanessa verdrehte die Augen. »Ist ja super! Warum der ganze Aufwand?«, fragte sie in Veyrons Richtung. Er ignorierte sie vollständig, nicht aber Offa. Mit einem deutlich abfälligen Blick stierte er Vanessa an, vor allem die Wölbungen unter ihrer Lederjacke.

»Ihr lasst eine Frau in der Kleidung von Männern herumlaufen? Und mit offenem Haar? Das ist beschämend!«, empörte er sich.

»Verzeiht, Bruder Offa. Uns sind die Sitten Eures Landes nicht vertraut. Wir kommen von weit her«, entschuldigte sich Veyron mit demütiger Gestik.

»Genau. Aus Talassair«, log Vanessa.

Augenblicklich wurde der Mönch blass. »Von der Magischen Insel? Ihr kommt wahrhaftig von der Magischen Insel?«

Panik schwang in seiner Stimme mit. Selbst die alten Verwalter am Tisch wurden jetzt nervös. Das Wort „Talassair“ schien ihnen mächtig Angst einzujagen.

»Wir hegen keinerlei feindselige Absichten, sondern befinden uns auf einer Erkundungsmission«, versicherte Veyron. »Der Name dieses Landes ist uns nicht vertraut. Vielleicht könnt Ihr uns weiterhelfen. Bisher haben wir niemanden getroffen, der Maresisch oder Talassenglisch spricht.«

Bruder Offa wirkte dennoch unruhig. Mit den Verwaltern wechselte er einige Worte. Was er ihnen gesagt hatte, schien den Männern nur noch mehr Sorgen zu bereiten. Einer von ihnen konterte kleinlaut, worauf Offa regelrecht wütend wurde. Tom hatte kein gutes Gefühl bei der Sache.

»Vielleicht sollten wir wieder gehen«, schlug er vor. Augenblicklich hatten sie wieder die Aufmerksamkeit des Mönchs.

»Nein, nein. Bleibt ruhig, bitte. Wir schicken eine Nachricht an unseren König. Besuch aus Talassair, das ist etwas ganz Neues für unser kleines Land. Sicher wollen euch die Herolde des Königs treffen. Bitte, bleibt so lange, wie es Euch beliebt. Für heute Nacht seid Gast in unserer Gemeinde.« Die Geschwindigkeit, mit der Offa die Worte runterratterte, ließ Tom noch misstrauischer werden. Dem Mönch traten deutlich die Schweißperlen auf die Stirn.

»Wir nehmen Euer Angebot dankend an«, erwiderte Veyron dagegen freundlich lächelnd. Offa nickte zum Abschied, ehe er auf den Absätzen seiner Sandalen herumwirbelte und zusah, dass er wegkam.

Tom schüttelte den Kopf. »Veyron, das riecht nach einer Falle.«

»Ich weiß.«

»Was tun wir jetzt?«

»Die Falle zuschnappen lassen.«

»Offa könnte uns umbringen«, gab Vanessa zu bedenken. Veyron gab ihr recht. Er nahm seinen Rucksack ab und kramte eine Weile darin herum.

»Wir haben immer noch das Daring-Schwert, um uns Respekt zu verschaffen. Sie, Miss Sutton, sind mit Wimilles Elektroschocker ausgerüstet, und ich habe den hier bei mir.« Er zog den alten Marinerevolver Wimilles aus dem Rucksack. Alle sechs Kammern waren geladen.

»Ob das die Herolde des Königs auch beeindruckt?«, meinte Tom zweifelnd. Was immer Veyron auch vorhatte, er hoffte, dass sie heil aus dieser Sache herauskamen.

Es wurde bald dunkel, und im Minenbetrieb kehrte Ruhe ein. Nicht alle Arbeiter wohnten in der kleinen Siedlung, einige kamen aus Dörfern in der Nähe. Innerhalb einer Stunde war es rund um die Mine menschenleer. Die Zelte der Markfrauen wurden abgebaut und in die Karren verstaut. Vollkommene Finsternis senkte sich über das Land. Bruder Offa vermied es geschickt ihnen zu verraten, in welchem Land sie sich überhaupt befanden, obwohl Veyron die Frage mehrmals stellte. Immerhin machte sich der Mönch die Mühe, ihnen eine Behausung zu suchen. Natürlich gab es niemanden, der die drei Reisenden bei sich aufnehmen wollte. Fremde unter dem eigenen Dach? Für die Menschen dieses Landes unvorstellbar.

Erst bei einer jungen Frau — Tom schätzte sie auf Ende dreißig — erhielten sie Einlass. Offenbar auch nur, weil Offa streng mit ihr sprach, nachdem sie das erste Mal allzu deutlich ablehnte.

»Das ist Ælfthryth. Sie stammt aus gutem Hause und ist des Talassenglischen mächtig. Ich habe ihr gesagt, dass Ihr anständige Leute seid und Ihr Eure eigenen Speisen mitgebracht habt«, erklärte er ihnen. Veyron bedankte sich mit einem demütigen Nicken. Offa erwiderte die Geste und verschwand dann hinter dem Haus. Ælfthryth deutete ihren Gästen einzutreten.

»Wir haben keine Betten«, ließ sie Veyron wissen. Er schenkte ihr ein entwaffnendes Lächeln.

»Es gibt nur eine kleine Feuerstelle. Da ist nicht Platz für so viele«, brachte sie als nächstes heraus, genau in dem Moment, als Veyron durch die kleine Tür schlüpfen wollte. Tom hegte den Verdacht, dass sie hoffte, ihre Gäste doch noch irgendwie loszuwerden.

»Danke, Mylady. Wir benötigen keine Feuerstelle für diese Nacht. Wir befinden uns im Besitz warmer Decken«, sagte Veyron, noch immer freundlich lächelnd.

»Ich bin Mutter von drei Kindern«, sagte sie. Es klang wie eine Anklage. Tom fand es bewundernswert, wie Veyron weiter seine Freundlichkeit aufrecht hielt.

»Seid versichert: Weder Euren Kindern noch Euch wird ein Leid geschehen. Ihr seid sehr großzügig, Mylady, wir werden Euch nicht zur Last fallen.«

Darauf wusste Ælfthryth nichts mehr zu erwidern. Veyron verschwand endlich im Inneren des kleinen Hauses. Als nächstes folgte Vanessa, von der sich ihre Gastgeberin demonstrativ abwandte.

»Keine Unzucht in meinem Haus!«, giftete sie, als Tom kurz davorstand, einzutreten.

»Wir tun schon nichts«.

Ihre Blicke musterten ihn misstrauisch, dann ließ sie ihn passieren.

Das Innere war genauso düster und eng, wie Tom befürchtet hatte. Mehr ein in die Erde gegrabener Giebel als ein tatsächliches Haus. Sie mussten die Köpfe einziehen. Es gab kein einziges Fenster, in der Mitte des einzigen Raumes nur ein Loch in der Decke, durch das Tom die Sterne sehen konnte. Direkt darunter lag die Feuerstelle, um die vier Schlafplätze hergerichtet waren, vier primitive Holzkästen, mit Stroh und ein paar Decken ausgelegt. Ælfthryth wies ihren drei Besuchern das andere Ende des Raumes zu, wo eine Spindel und ein Webstuhl standen. Veyron bedankte sich abermals für die Großzügigkeit ihrer Gastgeberin, was diese mit demonstrativem Schweigen zur Kenntnis nahm. Freundlichkeit sah anders aus. Danach wandte sie sich ihrer Familie zu. Ihre drei Kinder hatten sich bisher in der finstersten Ecke des Raumes hinter ein paar rechteckigen Bettgestellen versteckt. Langsam kamen sie jetzt heraus und folgten ihr zur Feuerstelle. Ælfthryth war Mutter zweier Mädchen zwischen vier und acht Jahren und eines Jungen, der an die zwölf sein musste. Die kleine Familie fand sich zum Abenbrot zusammen und setzte sich an die Feuerstelle, die drei Gäste blieben ausgeschlossen. Während ihnen Ælfthryth den Rücken zukehrte, suchten die Kinder immer wieder neugierig den Blick zu den Fremden. Ælfthryth raunte ein Gebet auf ihrer Sprache, dann zerbrach sie einen kleinen Laib Brot in vier Teile, die sie schweigend aßen.

Die ganze Zeit sprachen Tom, Veyron und Vanessa nichts miteinander, sie wagten nicht einmal zu flüstern.

Schließlich hielt Vanessa die Stille nicht mehr aus. »Was tun wir jetzt? Hocken wir einfach nur so da?«

»Das Klügste wird sein, wir wechseln uns mit der Nachtwache ab. Ich glaube nicht, dass uns Ælfthryth etwas antun wird. Bruder Offa möchte ich dagegen nicht so weit vertrauen. Sehr wahrscheinlich wird bis morgen gar nichts passieren, aber lasst uns kein Risiko eingehen«, meinte Veyron. Tom gab ihm in allen Punkten recht.

»Wir wissen immer noch nicht, wo wir sind«, meinte er nach einer Weile.

»Auf Abulon, Herr. Es ist eine Insel.«

Erstaunt blickten sie auf und sahen den Jungen hinter ihnen stehen. Etwas verlegen schien er, vielleicht sogar ängstlich, aber die Neugier leuchtete aus seinen Augen. Veyron schenkte ihm ein einladendes, gütiges Lächeln.

»Hochinteressant. Darf ich fragen, wer du bist, mein Junge?«

»Ælfwine. Werdet Ihr mir nun auch Euren Namen verraten?«

»Mich nennt man Veyron. Meine Begleiter heißen Vanessa und Tom.«

»Wo kommt Ihr her? Bruder Offa meinte, Ihr wäret von Talassair, der Magischen Insel. Wie es ist dort?«

»Ælfwine!«, mischte sich nun die Stimme der Mutter ein. Mit zornigem Blick trat sie auf ihren Sohn zu. »Du sollst nicht mit den Fremden reden! Wir wollen nichts von ihnen wissen!«

»Es ist ein schöner Ort, Talassair«, sagte Veyron trotzdem. »Voller Wunder und Magie. Wenn du nach …« Er zögerte, als suchte er eine bestimmte Richtung. »Wo liegt Abulon genau?«

»Im Osten von Caralantion. Unsere Vorfahren kamen jedoch aus dem Süden über das Meer, genau wie die Vorfahren von allen Leuten hier«, platzte es aus Ælfwine heraus. Seine Mutter nahm ihn an den Schultern und drehte ihn fort. Auf der Sprache der Einheimischen tadelte sie ihn leise. Sie schickte ihren Sohn zurück zur Feuerstelle, wo inzwischen die Mädchen aufgestanden waren und sich anschickten, ihrem Bruder zu den Fremden zu folgen. Es kam zu einer kurzen Diskussion innerhalb der kleinen Familie. Ælfthryth wusste die Autorität auf ihrer Seite. Ein strenger Blick in die drei jungen Gesichter genügte, und sie setzten sich alle wieder. Ein paar Minuten vergingen, ehe Ælfthryth plötzlich aufstand und sich Veyron gegenüber hinsetzte.

»Was sucht Ihr hier auf Abulon?«

»Wir sind Kundschafter, Mylady«, antwortete Veyron.

»Was wollt Ihr auskundschaften? Auf Abulon gibt es nichts. Wir sind nur arme Leute. Reichtümer findet Ihr in Plowonida, der Hauptstadt von Cantia, sechzig Meilen nordwärts.«

»Wir suchen keine Schätze«, sagte nun Vanessa. »Wir suchen ein Grabmal.«

Innerlich fluchte Tom. Wenn er Veyrons Gesprächsstrategie richtig einschätzte, wollte er genau diese Information nicht preisgeben. Offa hatte Ælfthryth, die wohl als einzige Frau in der Gegend Talassenglisch beherrschte, bestimmt damit beauftragt, ihre Gäste auszuhorchen.

»Die einzigen großen Gräber sind die der alten Könige Caralantions, die früher hier begraben wurden«, meinte sie und zuckte mit den Schultern. »Aber die wurden schon vor Jahrhunderten von Grabräubern geplündert. Was könntet Ihr dort nur wollen?«

»Ihr scheint sehr gebildet, Mylady. Darf ich fragen, woher Ihr kommt?«

»Ich bin Näherin.« In Ælfthryths Antwort schwang ein gewisser Stolz mit, der jedoch sofort in Resignation umschlug. »Bis vor vier Jahren lebte ich in Plowonida und arbeitete für die dortigen Kaufleute und sogar für die Damen des Fürstenhofs. So konnte ich viel lernen, Meister Veyron. Lesen, Schreiben und Rechnen und auch die Sprache der Seehändler. Es heißt, dass alle Menschen auf Talassair sie sprechen. Ich hoffte, ich könnte meine Kinder in Plowe, so nennen wir unsere Stadt, zur Schule schicken. Aber das kostet Geld und mein Gatte fand in der Stadt keine Anstellung mehr. Alsbald konnten wir die Miete nicht mehr bezahlen und mussten Plowe verlassen. Auf dem Lande werden jedoch immer starke Männer für die Arbeit in den Minen gesucht, und so zogen wir hierher.«

Tom empfand plötzlich Mitgefühl. Das sie womöglich ein hartes Los ertragen musste, war ihm gar nicht in den Sinn gekommen. Ob Veyron genauso dachte? Sein Patenonkel blieb wie immer geschäftsmäßig sachlich.

»Was könnt Ihr uns sonst noch über diese Insel verraten? Wir haben den zur Hälfte umgeschlagenen Baum gesehen, ein wahres Monstrum.«

Aelthryth nickte. »Das ist der alte Hexenbaum. Den ließen die Kleriker vor Jahrzehnten niederhauen, aber dann ist etwas geschehen, noch ehe sie fertig waren. Man sagt, gerade als sie den Hauptstamm fällen wollten, kamen Dämonen aus dem Baum hervor und töteten jeden Mann im Umkreis von einer Meile. Seitdem wagt es niemand mehr, dorthin zu gehen. Der König hat verboten, sich dem Baum auch nur auf einhundert Fuß zu nähern. Man sagt, der Baum beherberge das Tor zur Hölle.«

»Wer sind diese Kleriker? Ich nehme an, Bruder Offa ist einer von ihnen?«

»Ja, sie legen beim Einen Fürbitten für uns Sünder ein, in der Hoffnung, dass uns so der Platz im Paradies sicher ist.«

Veyron hob beide Augenbrauen. »Der Eine?«

Ælfthryth wusste nicht recht, was sie darauf sagen sollte. »Talassair scheint ein seltsamer Ort zu sein, wenn man dort den Einen nicht kennt, Meister Veyron.«

»So klärt uns auf, Mylady. Wer ist der Eine?«

»Der Eine ist der, welcher uns vor den Sieben Kreisen der Hölle schützt: Dem Eisenkreis, wo die Menschen nach dem Tod hinkommen und eingesperrt werden, dem Feuerkreis, wo man uns als Sklaven brandmarkt. Tiefer noch liegt der Todeskreis, wo man die Schwachen und Verwundeten erschlägt. Auf ihn folgt der Pestkreis, wo man die Menschen mit Krankheiten quält. Wer dann noch übrig ist, gelangt in den Bestienkreis, wo die Menschen von wilden Tieren zerfleischt werden. Ganz tief unten gibt es den Seelenkreis, wo die Seele gefoltert wird. Die schlimmsten Sünder landen im Schattenkreis, um für immer in der Finsternis zu verschwinden.«

»Faszinierend. Ich hörte, die Hölle habe tatsächlich neun Kreise. So berichtet es der Gelehrte Dante.«

»Das muss Erfindung sein. In allen Predigten der Kleriker wird gesagt, dass die Hölle sieben Kreise hat, bewacht von schrecklichen Dämonen, den Schatten. Der Eine ist ihr Meister und er bewahrt uns vor ihrem Zorn. Doch nur, wenn wir artig beten und unsere Opfer bringen.«

Nun horchte Tom auf. Anfangs hatte er bei dem Einen auf eine dem Christentum ähnliche Religion geschlossen. Doch nun klang das eher nach einer hinterlistigen Teufelei.

»Was sind das für Opfer?«, wollte er wissen.

»Fleiß und Arbeit bis zum Lebensende. Die Hälfte von allem, was unsere Hände schaffen, ist für den Einen. Als Pfand, damit uns die Schatten nicht holen, wenn wir nach dem Tode in die andere Welt übertreten. Sünder müssen alles abgeben, wenn sie ihr Seelenheil nach dem Tode bewahrt wissen wollen.«

Veyron dachte eine ganze Weile über Ælfthryths Worte nach.

»Ælfwine sagte, Abulon liegt im Osten von Caralantion. Was spricht der dortige König zum Leben auf dieser Insel?«

»Ach, Herr Veyron. Ihr wisst wahrlich wenig von Abulon. Vor Urzeiten galt dieser Ort als das Paradies Caralantions. Man ließ Apfelwälder hier wachsen, um die Menschen zu ernähren. Im Frühjahr, so erzählt man sich, war die ganze Insel ein einziges Blütenmeer. Die edelsten Herren wurden einst hier bestattet, in großartigen Gräbern aus glitzernden Steinen. Doch eines Tages haben sich die Könige von dieser Insel abgewandt. Piraten und Südlinge überfielen die Küsten, die Wasserwege wurden unsicher. Städte wurden geplündert und brannten nieder, die Seeräuber raubten die Königsgräber aus. Die Apfelwälder verschwanden, und von Jahr zu Jahr lebte es sich schlechter auf Abulon. Kriege brachen aus und schreckliche Seuchen rafften die Menschen dahin. Neue Fürstentümer erhoben sich und gingen ein paar Jahre später wieder unter. Heute kommen nur noch selten Schiffe in den Hafen von Tilaburh, drei Tagesmärsche von hier. Wenn man Glück hat, kann man dort eine Apfelernte gegen Wolle oder Fisch tauschen. Sonstigen Kontakt zu anderen Ländern gibt es nicht. Meine Großmutter erzählte mir, dass erst in ihrer Generation der Frieden zurückkehrte. Die Earls der sieben Fürstentümer beendeten ihre Feindseligkeiten, und seitdem regiert wieder ein König. Ein König von Abulon für Abulon.«

»Ein Scheiß-König ist das«, merkte Vanessa zornig an. Der tadelnde Blick Ælfthryths traf sie einen Moment später.

»Ihr sprecht wie ein Gossenmädchen, schämt Euch!«

»Sorry. Aber es stimmt doch!«

»Kennt Ihr den König, Lady Vanessa?«

»Nein, woher auch?«

»Dann steht Euch kein Urteil über ihn zu!«

Der Tonfall Ælfthryths reichte, um Vanessa verstummen zu lassen.

»Kennt Ihr denn den König, Mylady?«, fragte nun Veyron.

»Nein, Herr Veyron. Niemand hier hat jemals den König gesehen. Die hohen Herren kommen nicht in unsere Gegend. Nur seine Herolde, die kennen wir.« Ein Schaudern ging durch ihren Körper.

»Was ist mit Eurem Gatten?«, wollte Veyron jetzt wissen.

»Er starb vor drei Jahren. Ein Grubenunglück. Mein Ælfwine ernährt uns jetzt.« Sie winkte ihren Sohn her, der mit strahlenden Augen herbeikam. Seine Schwestern folgten kurz darauf, drückten sich in einer Mischung aus Neugier und Furcht eng an ihre Mutter. Tom schenkte den beiden Mädchen ein freches Augenzwinkern, um ihnen die Angst zu nehmen.

»Das ist die kleine Cynegyth, und die Ältere heißt Cwenthryth. Sie haben gute Zähne und sind gesund«, sagte Ælfthryth schließlich. Eindringlich starrte sie Tom an.

»Was? Wie? Ich verstehe nicht …«

»Sie werden Euch gute Dienste leisten, wenn Ihr sie mitnehmt. Sie sind gut erzogen«, fuhr Ælfthryth fort. In ihren Augenwinkeln sammelten sich Tränen.

»Wir sind nicht hier, um Euch die Kinder wegzunehmen, Mylady«, versicherte ihr Veyron so ruhig wie er konnte. Ælfthryth konnte sich nicht mehr beherrschen. Aus ihr sprach die nackte Verzweiflung.

»Bitte, Herr! Viel zu Essen gibt es nicht und sie brauchen jeden Tag mehr, weil sie wachsen. Ein Laib Brot am Tag ist hart verdient und es geht auf den Winter zu. Ich weiß nicht, wie ich …« Sie stockte, warf der nahen Spindel und dem Webstuhl einen Blick zu. »Es gibt kaum mehr Garn, das man bezahlen kann.«

Ihre großen, dunklen Augen suchten die von Veyron. »Ich gebe Euch alles, was Ihr verlangt, Herr. Ich flehe Euch an, nehmt meine Töchter mit nach Talassair.«

Die beiden Mädchen drückten sich noch fester an ihre Mutter, als spürten sie, was vor sich ging. Wie es schien, verstanden sie kein Talassenglisch. Zum Glück, wie Tom fand.

»Ælfwine, bring Cwenthryth und Cynegyth nach draußen. Besucht die alte Beolead und bringt ihr die Reste unseres Abendmahls. Sie freut sich sicher«, befahl Ælfthryth plötzlich. Der Junge nickte misstrauisch, sagte etwas zu den Mädchen. Mit neuer Begeisterung sprangen sie auf und eilten ins Freie. Ælfwine folgte ihnen. Misstrauisch beäugte er Veyron, Tom und Vanessa, ehe er ins Freie trat.

Ein paar Minuten vergingen in vollkommener Schweigsamkeit. Erst als sie sicher zu sein schien, dass die Kinder sie nicht belauschten, ergriff Ælfthryth wieder das Wort. »Ælfwine kann noch nicht so hart arbeiten wie sein Vater, und die Kleriker zahlen immer schlechter. Ich kann mir kein Garn mehr leisten, weil ich drei Mäuler stopfen muss. Die kleine Cynegyth leidet an Husten, und einen Bader gibt es hier nicht. Ich weiß nicht, ob sie den Winter durchhält. Herr, ich flehe Euch an, habt Mitleid. Nehmt wenigstens sie mit nach Talassair. Ich …« Sie schluckte und fasste sich an die Fibel, die ihren Habit unter dem Kinn zusammenhielt. »Ich bin vielleicht nicht mehr die Jüngste, doch noch immer fruchtbar, Herr. Wenn Ihr das als Preis verlangt, dann …«

Bevor sie weitersprechen konnte, schnellten Veyrons Hände vor und fassten die Ihren. »Mylady«, sagte er mit tiefer, beruhigender Stimme. »Ich verstehe Eure Verzweiflung, dennoch könnt Ihr uns Eure Kinder nicht anvertrauen. Wir reisen nicht zurück nach Talassair, sondern haben noch Aufträge in anderen, weitaus gefährlicheren Ländern vor uns. Sie wären bei uns nicht in Sicherheit. Morgen kommen die Herolde des Königs. Bruder Offa hat nach Ihnen geschickt. Wenn ich Eure Reaktion von vorhin richtig interpretiere, sollte man diese Männer wohl besser fürchten. In unserer Gesellschaft droht den Mädchen nichts anderes als Gefahr.«

Ælfthryth brach in Tränen aus. Sie fiel Veyron um den Hals. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sie festzuhalten und zu trösten. Tom kämpfte gegen einen Kloß in seinem Hals. Noch nie hatte er seinen Patenonkel dermaßen hilflos gesehen. Ihm erging es nicht anders. Wie es aussah, gab es tatsächlich nichts, was sie für diese arme Frau und ihre Kinder tun konnten.

Der nächste Morgen startete mit einem recht kargen Frühstück, ein paar Stücke Zwieback für jeden und einen Becher kalten Tee. Wie üblich war Veyron als Erster auf den Beinen und bereits aus dem Haus, während Tom und Vanessa noch frühstückten. Ælfthryth ließ die beiden dabei nicht aus den Augen, die Mädchen dagegen nicht den Zwieback. Vanessa schenkte jedem von ihnen je ein Stück, dann auch eines Ælfthryth, und ein weiteres Stück wollte sie für Ælfwine aufheben. Genau wie Veyron war der Junge nicht mehr anwesend. Seine Mutter erzählte, dass die Arbeit in den Stollen bei Anbruch des Tages begann. Nach dem Zwieback-Geschenk zeigte sich Ælfthryth gegenüber Vanessa sehr viel aufgeschlossener. Sie stellte viele Fragen zu Talassair, die Vanessa mit viel Einfallsreichtum beantworten musste. Vanny war ja selbst noch nie dort gewesen, was Ælfthryth natürlich nicht wissen durfte.

Tom entschied, die beiden Frauen allein zu lassen und nach Veyron zu suchen. Er schlüpfte in seine Jacke und begab sich nach draußen. Tiefer Nebel hing über dem Minendorf, man konnte kaum weiter als zwanzig Meter sehen. Lediglich das Klopfen hunderter Hämmer und Pickel verriet die Nähe des furchtbaren Betriebes. Tom schlug den Pfad zum Dorfplatz ein, wo die Händler ihre Zelte bereits wieder aufgeschlagen hatten. Viel Andrang herrschte zu dieser frühen Stunde noch nicht. Die wenigen Leute drehten ihm sofort den Rücken zu, als er sich näherte. Lediglich ein einziger Händler, der getrocknete Aprikosen verkaufte, zeigte sich freundlich. Die Verständigung mit ihm erwies sich als einigermaßen schwierig, denn weder sprach der gute Mann Talassenglisch noch Latein. Schließlich formte Tom mit den Händen Veyrons markante Adlernase nach, was der Händler zu verstehen schien. Lachend zeigte er ihm einen Weg, den Hang des Berges hinauf.

Die nächsten zehn Minuten hatte Tom für sich allein. Der serpentinengleiche Weg mündete in einen Trampelpfad, der zunehmend unwegsamer wurde, je höher Tom kam. Immerhin ließ der Nebel nach, und bald hatte er den blauen Himmel über sich. Er fand Veyron mit verschränkten Armen auf einem Felsvorsprung stehend. Die Sonne sandte ihr rotgoldenes Morgenlicht über den hügeligen Horizont Abulons, verwandelte die Wolken zu ihren Füßen in ein rosarot schimmerndes Wattemeer.

»Ein herrlicher Ausblick«, meinte Tom, als er neben seinen Patenonkel trat. Von tief unten drangen die Geräusche der Mine gedämpft herauf. Es dauerte einen Moment, ehe Veyron wie aus einer Trance erwachte und überrascht blinzelte.

»Verzeihung, ich war in Gedanken versunken.«

»Die Sache mit Ælfthryth geht Ihnen nicht aus dem Kopf, was? Können wir denn gar nichts für sie tun?«

»Unwahrscheinlich. Sollen wir etwa die beiden Mädchen mit nach London nehmen? Sie würden angesichts der unzähligen unerklärlichen Dinge wahrscheinlich den Verstand verlieren. Und was ist mit Ælfwine? Dürfen wir den Jungen zurücklassen, wo er sehr wahrscheinlich eines Tages, genau wie sein Vater, in der Mine ums Leben kommen wird?«

Tom wusste darauf keine Antwort. War doch klar, dass sie auch den Jungen retten mussten, nicht nur die beiden kleinen Mädchen.

»Und die Mutter«, ergänzte Veyron, als habe er Toms Gedanken gelesen. »Selbstverständlich müssten wir auch Ælfthryth retten. Und alle anderen, die in dieser Mine schuften. Wohin sollten wir sie bringen? Nach Talassair? Da dürften die Zwerge etwas dagegen haben. Ins Imperium Maresium vielleicht? Dort würde man sie allesamt als Sklaven verkaufen. Nein, Tom. Die einzig Lösung liegt außerhalb unserer Möglichkeiten. So bitter es für uns ist: Im Moment sind wir zur Tatenlosigkeit verdammt.«

Eine unsichtbare Last legte sich auf Toms Schultern und drohte ihn förmlich zu Boden drücken. So ungern er es zugeben wollte, aber Veyron schien Recht zu haben.

»Was wird Ælfthryth dann tun, wenn wir ihr nicht helfen können?«

»Zu Bruder Offa gehen und ihm alles erzählen, was sie letzte Nacht von uns erfahren konnte. Zum Glück ist es nicht besonders viel und ich bezweifle, dass auch Offa mit unserer Suche nach einem Grabmal etwas anfangen kann. Womöglich aber die Herolde des Königs. Diese ominösen Herrschaften wecken mein Interesse.«

»Glauben Sie, der König ist ein Gefolgsmann des Dunklen Meisters? Die Beschreibung der Hölle passt doch ganz gut zu den sieben Schatten, den obersten Dienern des Dunklen Meisters.«

Veyron nickte. »Zutreffend erkannt. Faszinierend. Stell dir nur einmal vor, Al Capone oder die Camorra hätten damals herausgefunden, dass sich irgendwo auf der Welt mit Schutzgelderpressung Religion machen ließe. Waren und Geld gegen Schutz vor der Hölle nach dem Tod. Nun ja, der Ablasshandel des sechzehnten Jahrhunderts ging ja schon in diese Richtung. Wie dem auch sei, der Dunkle Meister muss erkannt haben, dass hier auf Abulon eine frühchristliche Glaubenskultur existierte und hat diese mit seinen Schergen ad absurdum geführt.« Für eine Weile blickte er wieder schweigend über das Land. Schließlich seufzte er laut und deutete Veyron nach Osten. »Wir bekommen Besuch. Ich wäre wenig überrascht, wenn das die Herolde unseres Königs sind.«

Gegen die aufgehende Sonne hoben sich im Himmel vier schwarze Punkte ab, die schnell näherkamen. Vögel schienen es nicht zu sein, dafür waren sie zu rund. Es verging ein kurzer Moment, ehe Tom die Geschöpfe erkannte. Es waren gigantische Insekten! Jetzt konnte er das sonore Brummen ihrer riesigen Flügel hören. Auf den Rücken der Bestien saßen eindeutig fremde Reiter.

»Giganthornissen!«, schrie Tom. Mit diesen Bestien hatte er inzwischen beste Erfahrungen, nicht alle von der positiven Sorte.

»Nein, zu plump und zu klein, aber unglaublich wendig«, konterte Veyron.

Sie sahen zu, wie die Bestien tiefer flogen und in den Nebelschwaden zwischen den Berghängen verschwanden. Das Brummen der gigantischen Insekten hallte von allen Seiten wider, gefolgt von panischem Geschrei und Gekreische. Tom hielt nichts mehr. Vanessa war da allein dort unten — und Ælfthryth und ihre Kinder. Sie brauchten seine Hilfe. Er wirbelte herum und rannte den Weg zurück, griff mit der Hand an seinen Gürtel.

»Professor, ich brauche Ihre Hilfe!« Augenblicklich materialisierte das Daring-Schwert in seiner Faust, das blaue, verschnörkelte Saphirmuster auf der Klinge begann zu leuchten.

»Nicht so kopflos, Tom «, warnte ihn Veyron von hinten. Er folgte Tom, so schnell er konnte. Der Nebel wurde dichter, sodass sie kaum noch etwas sahen. »Die Gigant-Insekten vermögen sich noch auf andere Sinne zu verlassen als wir. Lassen wir sie landen und ihre Reiter absteigen. Das werden sie nämlich zweifelsfrei tun, um Informationen einzuholen.«

Widerwillig gab sich Tom einverstanden. Die Luft war vom Brummen der Monster erfüllt, laut wie ein Schwarm alter Kampfflugzeuge aus dem Zweiten Weltkrieg. Bäume und Boden erzitterten, wenn die Bestien über sie hinwegflogen, oft kaum mehr als eine Armlänge entfernt. Zögerlich gab der Nebel das Dorf Stückchen für Stückchen Preis. Wie ein Orkan fegten zwei der schwarzen Bestien über den Dorfplatz hinweg, rissen die Zelte der Händler nieder. Obst und Gemüse flog in hohem Bogen durch die Luft, Menschen wurden in den Dreck geschleudert. Kinder schrien und weinten, Frauen rannten mit geduckten Köpfen in Deckung. Bruder Offa kniete am Boden, die Hände hoch erhoben, flehte beim Einen um Erbarmen. Als er Veyron und Tom erblickte, verfinsterte sich sein Blick.

»Die Bestien aus dem fünften Höllenkreis! Das ist Eure Schuld! Nur Euretwegen sind sie über uns gekommen!«, brüllte Offa. Er sprang auf und suchte die Blicke der verängstigten Menschen. Mit zittrigen Fingern deutete er auf Tom und Veyron. »Die da sind Sendboten der Hölle! Sie bringen das Unheil über uns!«

Offas Hetzerei war im Moment jedoch die geringste Sorge. Den nahen Geräuschen der Monsterinsekten entnahm Tom, dass sie wie Haifische das Dorf umkreisten. Blitzschnell schoss wieder eines der Tiere aus dem Nebel heran, direkt auf Tom und Veyron zu. Im letzten Moment warfen sie sich auf den Boden.

»Es sind Fliegen«, japste Tom, als er die riesigen Komplexaugen und den gedrungenen Körper erkannte, der über ihn hinwegrauschte. Eine Fliege aus der Hölle, an die drei Meter groß, mit dicken, zu Dornen umgewandelten Haaren, die ihr in alle Richtungen weg standen. Je nach Lichteinfall schillerte ihr dunkler Panzer bläulich oder grünlich. Neben dem ganzen Lärm hinterließen diese Ungeheuer obendrein einen furchtbaren Gestank nach Aas und Kot. »Schmeißfliegen«, verbesserte sich Tom und kämpfte gegen einen Würgereflex an. Die Reiter der Bestien gaben sich martialisch, trugen schwarze Lederteile, eiserne Helme und Fliegerbrillen. Anders als bei den viel größeren Giganthornissen schienen die Bestienreiter auf den Rücken der Viecher zu liegen, zum Sitzen boten sie kaum Platz.

Tom kämpfte sich wieder auf die Beine, nahm das Daring-Schwert in beide Hände und wartete auf den nächsten Angriff. Der kam sofort.

Eine Höllenfliege brauste über ihn hinweg, sein Reiter warf zwei kleine, runde Gegenstände nach Tom, die ihm vor die Füße kullerten. Es roch nach Schwarzpulver.

»Granaten!«, schrie Veyron, packte Tom bei der Schulter und riss ihn fort; keine Sekunde zu spät. Zwei Explosionen flammten auf, eine Druckwelle packte ihn und schleuderte ihn hart zu Boden. Glühend heiße Splitter bohrten sich ihm ins Gesicht. Sofort tastete er sich ab, aber mehr als ein paar Kratzer schien er nicht abbekommen zu haben.

Veyron erging es nicht anders. »Das ist was Neues«, japste er. »Der Dunkle Meister hat aufgerüstet.«

Aber das war noch nicht alles. Mit jeder Minute lichtete sich der Nebel weiter, gab den Blick auf die Mine frei. Wie aus dem Nichts stampften mit schwarzen Rüstungen gepanzerte Gestalten auf das Dorf zu. Johlend trieben sie die Menschen zusammen, ließen Peitschen knallen und bedrohten jeden mit schartigen Säbeln, schwangen eiserne Keulen. Es waren Schrate! Menschähnliche Kreaturen, oft mit krummen Rücken und abscheulichen, schiefen Gesichtern, übersät mit Ekzemen, die Haut grau wie Asche, die Ohren spitz und das Haar zerzaust und fettig. Sie brüllten und tobten, stießen Männer und Frauen rücksichtslos in den Dreck, traten oder peitschten nach ihnen, warfen Tische und Stühle um. Es mussten an die zwanzig bis dreißig Mann sein, die aus allen Richtungen auftauchten. Ein paar der Kerle steckten mit Fackeln das nächstbeste Haus in Brand.

Tom schüttelte den Kopf. »Mann, der König muss ja ganz schön Schiss vor uns haben, wenn er gleich eine halbe Armee schickt.«

»Das ist der Beweis, dass hier auf Abulon einiges nicht in Ordnung ist und man die Machenschaften des Einen und seiner Jünger vertuschen möchte«, stimmte Veyron zu.

In der zusammengetriebenen Menge entdeckte Tom schließlich Ælfthryth, die sich schützend vor ihre Kinder stellte. Die Mädchen weinten, während Ælfwine versuchte, seine Schwestern vor den gelben Raubtieraugen der Schrate zu verbergen. Schließlich fand Tom Vanessa. Furchtlos stand sie an der Spitze der zusammengetriebenen Menge, die Arme ausgebreitet; eine Schutzgeste für die Menschen hinter ihr. Tom spürte, wie sein Herz schneller schlug. Ohne sich weiter um Offa oder Veyron zu kümmern, eilte er in Vanessas Richtung.

Plötzlicher Lärm ließ ihn herumfahren. Die Höllenfliegen landeten, eine nach der anderen. Kaum setzten sie auf, fuhren sie ihre schleimigen Saugrüssel aus und tasteten den Boden nach Essbarem ab. Von welchem Unrat sich diese Monster ernährten, konnte er nur erahnen.

Als Letztes landete der Anführer der Schrate mit seiner Fliege, einem überaus fetten Tier, dem Schleim und wurmhafte Parasiten aus den Spalten des Chitinpanzers hingen. Er selbst war ein großer, hagerer Kerl, halbnackt seine unzähligen Narben und Geschwüre zur Schau stellend, das Gesicht hinter einer Totenschädel-Maske — aus echten Knochen — versteckend.

Von hinten wurde Tom angerempelt. Veyron drückte sich an ihm vorbei und gab ihm ein Zeichen, das Daring-Schwert verschwinden zu lassen. Da sie in den hintersten Reihen der Dorfbewohner standen, hatten die Schrate sie nicht entdeckt. Das konnte ihre Chance sein. Tom folgte der Anweisung, steckte sich das Schwert in den Gürtel, wo es sich augenblicklich in Nichts auflöste. Mit erhobenen Händen zwängte sich Veyron durch die dicht an dicht stehenden Bewohner und trat an Vanessas Seite. Alle Augen, von Dorfbewohnern, Minenarbeitern, Kindern und Schraten, waren jetzt auf ihn gerichtet. Demonstrativ langsam näherte er sich dem Hauptmann.

»Ich bin Veyron Swift aus Fernwelt«, rief er ihm zu. Einige der Schrate warfen sich verwunderte Blicke zu, andere fletschten nur die Zähne. Der Hauptmann der Schrate riss die Faust hoch, und augenblicklich kehrte Ruhe unter seinen Mannen ein. Die Reiter der Fliegen kümmerte das jedoch nicht. Sie hatten genug damit zu tun, ihre nervösen Tiere unter Kontrolle zu halten. Die Biester krabbelten in Richtung des Dorfes, den Boden mit ihren Rüsseln abtastend.

»Wir wollen den Frieden hier nicht stören, Kommandant«, versuchte Veyron dem Schrat zu erklären. »Wir sind lediglich auf einer Erkundungsmission.«

Bruder Offa drängelte sich plötzlich an Veyron vorbei, rutschte auf Knien vor den Hauptmann.

»Ich flehe Euch an, nehmt Eure Sendboten und lasst uns in Ruhe. Wir verdoppeln unsere Bemühungen, Herr Dämon«, wimmerte Offa den Schrat an. Ein grimmiger Blick aus der Totenkopfmaske ließ den Mönch verstummen. Auf einmal lachte der Hauptmann und boshaft.

»Für euch geht’s jetzt in die Hölle!«, brüllte er. Auf sein Fingerschnippen setzten sich die Schrat-Wachen in Bewegung, ließen die Peitschen schnalzen, trieben die Menschenmenge auseinander, um Veyron und Vanessa einzukreisen. Auf Tom achteten sie immer noch nicht.

»Wer seid Ihr, dass Ihr Euch das Recht herausnehmt, uns zu verhaften?«, empörte sich Veyron. Tom wusste, dass dies reine Show war, um den Hauptmann zur Preisgabe von Informationen zu verleiten. Der fiel auch gleich darauf herein.

»Ich bin Bulgash, und du Scheißkerl bist mein Eigentum! In Namen der Company!« Der Meister der Fliegen erging sich in einem neuen Lachanfall, ein schauriges Husten und Würgen, in das seine Kameraden halblaut einfielen.

Plötzlich trat Vanessa vor, die Wangen rot vor Zorn. In ihren Augen stand grimmige Entschlossenheit. Besorgt biss sich Tom auf die Lippen. Er kannte diesen Blick! Hoffentlich beging sie keine Dummheit.

»Die Zaltianna Trading Company? Ihr arbeitet für die ZTC?«

Die Schrate warfen sich verwunderte Blicke zu, dann prusteten sie sich vor Lachen. »Das Flittchen ist lustig. Wir sind die Company«, behauptete der Hauptmann. »Und der Dreckshaufen da …«, er deutete auf die verängstigten Menschen, »ist unser Eigentum! Ihr habt keine Rechte, ihr habt keine Freiheit! Arbeitet, oder ihr schmort in der Hölle!«

»Schon klar. Ich geb’ dir mal einen Vorgeschmack«, zischte Vanessa. Blitzschnell riss sie ihren Waffenarm hoch, drückte den Auslöser für den Elektroschocker. Zwei kleine, metallische Enterhaken bohrten sich dem Hauptmann in die breite Brust. Bulgash konnte nur mehr verwundert aufblicken, da brach er auch schon in die Knie, ließ Säbel und Peitsche fallen. Jaulend schüttelte er sich wie verrückt.

Das war das Zeichen, ob vereinbart oder nicht. Tom griff an seinen Gürtel, im nächsten Augenblick war das Daring-Schwert wieder da. Mit wildem Gebrüll sprang er vor, zog die Blicke von Menschen und Schraten auf sich.

Veyron reagierte blitzartig. Im Nu hielt er den Marinerevolver in der Hand. Ein Schuss knallte, einer der Schrate ging zu Boden. Veyron zielte sorgfältig; für Toms Geschmack viel zu langsam. Ein zweiter Schuss fegte einen der Fliegenreiter von seiner Bestie. Aber dann schnalzte auch schon eine Peitsche, traf Veyrons Hand. Reflexartig ließ er den Revolver fallen. Fauchend stürzte sich ein Schrat auf ihn — genau in Vanessas gestrecktes Bein. Das jahrelange Kampftraining machte sich jetzt für Vanessa bezahlt. Überrascht, von einer jungen Frau verprügelt zu werden, wichen die Schrate von ihr zurück.

Die anderen Unholde warteten nicht länger. Die Reiter gaben ihren Fliegen die Sporen, innerhalb einer Sekunde waren die Bestien in der Luft, brausten im Tiefflug über das Dorf hinweg — alle in Toms Richtung. Er machte große Augen. So war das nicht geplant! Ein paar Meter vor ihm stoben die Menschen jetzt kreischend und schreiend auseinander, die Schrate verfolgten sie mit der Wildheilt blutrünstiger Wölfe.

»Zu den Häusern, zu den Häusern«, rief Veyron Tom zu. Natürlich! Dort hatten sie Deckung. Ihre Gegner waren jedoch hoffnungslos in der Überzahl. Einen Augenblick später reduzierte er diese um zwei Strolche, die über ihn herfallen wollten. Viel musste er gar nicht tun. Die Magie des Schwertes ließ es ganz von allein Hiebe parieren und tödliche Streiche austeilen. Winselnd sanken die Schrate zu Boden. Plötzlich explodierten hinter ihm Granaten, schleuderten ihn in einen der Markstände. Gemüse und Äpfel flogen Tom um die Ohren. Alles drehte sich, Schwärze drohte ihn zu übermannen. Er konnte gerade noch das Daring-Schwert heben, als er weitere Schrate auf sich zustürzen sah. Der Zauber in der Waffe sorgte dafür, dass das Schwert von allein weiterkämpfte. Blitze schossen aus der Klinge, trafen die Unholde, ließen sie mit qualmenden Löchern in ihren Rümpfen zu Boden gehen. Mühevoll rappelte sich Tom auf, kämpfte ums Gleichgewicht. Kaum stand er auf den Füßen, stürmte ein Schrat auf ihn zu, ein wahrer Riese, fast so groß wie ein Troll. Das Schwert des Kerls war kaum kleiner, ein grober, kantiger Eisenprügel. In letzter Sekunde brachte Tom das Daring-Schwert zwischen sich und den Riesen. Toms Hände schmerzten unter dem Hieb. Der Schrat brüllte triumphierend und griff abermals an, und Tom blieb nichts anderes übrig, als zur Seite zu springen. Die Waffe erneut zu parieren, würde ihm das Handgelenk brechen. So magisch das Daring-Schwert sein mochte, Tom bestand hingegen nur aus Fleisch und Blut. Aus den Augenwinkeln sah er Veyron, der versuchte, ein sauberes Ziel zu erwischen. Ein Revolverheld würde aus seinem Patenonkel nicht mehr, soviel stand fest. Ein Schuss knallte, traf den Schrat in seine dicke Schulter. Doch das stachelte den halben Troll nur weiter an. Der neue Angriff zwang Tom zum Zurückweichen. Seine Stellung war miserabel, das wusste er. Schon stolperte er rücklings über die Trümmer des Marktstandes und strauchelte.

Dem riesigen Schrat blieb jedoch keine Zeit, dieses Missgeschick auszunutzen. Plötzlich sprang eine schattenhafte Gestalt im hohen Bogen auf ihn zu, ein Krieger in pechschwarzer Rüstung. Ein langes, dünnes Schwert versenkte sich zwischen Schulterblatt und Nacken des Schrats. Der Gigant konnte nur noch einmal kurz Luftholen, dann brach er zusammen, direkt über Tom.

»Scheiße«, entfuhr es ihm. Neugierig folgten seine Blicke dem unbekannten Retter. Der fremde Krieger schien zumindest menschlich zu sein — und blitzschnell. Wie ein Orkan wirbelte die hochgewachsene, schlanke Gestalt zwischen mehreren Schraten hindurch, verteilte mit seinem Schwert Hiebe und Stiche mit einer Geschwindigkeit, die Tom kaum fassen konnte. Ein halbes Dutzend Unholde brach zusammen. Wer war dieser Krieger? Vielleicht ein Elb?

Ächzend schob Tom den Kadaver seines Gegners zur Seite und rappelte sich auf. Endlich bekam er mehr zu sehen. In dunkle Umhänge verhüllte Bogen- und Armbrustschützen waren auf den Anhöhen aufgetaucht, die das Dorf umgaben. Sie ließen totbringende Pfeile auf die Schrate hageln. Der wilde Krieger stürmte dagegen zwischen den Häusern hin und her und machte jeden Gegner nieder, der sich ihm in den Weg stellte. Aber für einen elbischen Krieger, die Tom als breitschultrige Hünen in Erinnerung hatte, wirkte dieser hier zu zierlich, zu schlank. Seltsam, dass ihm das nicht gleich aufgefallen war. Aus dem Hinterkopf des schwarzen Helms ragte ein langer blonder Schweif. Eine Kriegerin, verbesserte sich Tom.

Für die Schrate spielte das keine Rolle. Jetzt, wo sie die Kontrolle über die Situation vollständig verloren, griffen sie wieder mit den Fliegen an, schleuderten ihre Granaten. Doch ihre Gegner ließen sich davon nicht in Angst und Schrecken versetzen. Pfeile und Armbrustbolzen hagelten den Fliegen entgegen, brachten eine der Bestien zum Absturz. Sie explodierte regelrecht, als sie hart auf dem Boden aufschlug, ihr Reiter wurde zerschmettert. Die blonde Kriegerin stürmte weiter, als gäbe es den Luftangriff gar nicht, sprang in gewaltigen Sätzen im Zickzack den Granatexplosionen ringsherum davon. Einer der anderen Kämpfer lief von der anderen Seite auf sie zu, warf ihr eine Armbrust zu, die sie geschickt auffing. Einhändig, als wiege die Waffe nicht mehr als eine Schreibfeder, feuerte sie der nächstbesten Fliege zwischen die Komplexaugen. Die Bestie legte eine Bruchlandung hin, überschlug sich mehrfach und zermalmte ihren Reiter. Die blonde Kriegerin wirbelte weiter zwischen ihren Feinden herum, machte die nächsten Schrate nieder. Inzwischen kannten die Sendboten des Dunklen Meisters nur noch eine Strategie: Die Flucht. Aber wer immer die Fremde war, sie ließ niemanden entkommen. Den Rest erledigten ihre Bogenschützen. Schrat für Schrat fiel. Tom, zu dem sich nun Veyron und Vanessa gesellten, konnte sich nur staunend im Kreis drehen, so schnell und rabiat ging alles von statten. Die Schrate waren umzingelt; es gab für sie kein Pardon. Die dritte Höllenfliege wurde mit Pfeilen und Bolzen gespickt, riss in der Luft mitten auseinander. Während Kopf und Flügel steil in den Himmel sausten, stürzten Reiter und Hinterleib ins Verderben.

Zuletzt war nur noch Bulgash übrig. Sich kaum von Vanessas Elektroschocks erholt, schwang er sich fluchend auf seine fette Schmeißfliege. Brüllend gab er ihr die Sporen, zwang sie in die Luft. Das Monster sauste auf Vanessa zu, wollte sie mit ihren Klauen packen. Augenblicklich sprintete Tom los, um seine Freundin zu retten. Er wusste, dass sie ihren Elektroschocker nur einmal einsetzen konnte. Sie war wehrlos! Obwohl sich Vanessa herumwarf und davonrannte, stand für ihn sofort fest, dass die Fliege sie schnappen würde. Zu langsam, dachte er verzweifelt, ich bin zu langsam!

Die fremde Kriegerin war jedoch schnell genug. Sie schnappte sich einen am Boden liegenden Speer der Schrate und schleuderte ihn mit nach dem Hauptmann. Fliege samt Schrat wurden durchbohrt. Vor Schmerz heulend riss der Hauptmann sein Monster zur Seite, verfehlte Vanessa, stürzte ab und krachte in ein nahes Strohdach. Panisch schreiend rannten einige Menschen aus der zerstörten Hütte. Das Schwert im Kreis schwingend, schlenderte die Kriegerin zur Absturzstelle hinüber. Für sie schien dieser mörderische Kampf nur ein Spiel zu sein. Tom sah, wie der schwerverletzte Schrat aus den Trümmern kroch. Ein Wunder, das er überhaupt noch lebte.

»Was … was … was bist du?«, keuchte Bulgash fassungslos, als er zu der Kriegerin aufblickte. Seine Augen hinter der Totenkopfmaske zeugten von seiner Furcht. Auf Gnade brauchte er jedoch nicht zu hoffen. Im Vorbeigehen schlitzte sie ihm die Kehle auf. Schwarzes Blut gurgelnd brach Bulgash sterbend zusammen. Ein paar Meter weiter, blieb seine Mörderin stehen, Tom, Veyron und Vanessa den Rücken zugekehrt. Ihre Mitstreiter rückten nun heran, kümmerten sich um die Verletzten unter den Menschen, aber sie kreisten auch die drei Fernweltler ein. Tom gefiel das gar nicht. Irgendwie kommen wir heut nur noch vom Regen in die Traufe, dachte er grimmig.

»Hey! Das ist doch Tom! Tom Packard, von der Allianz der Verlorenen!«, rief eine Stimme. Erstaunt blickte Tom auf, als er sie erkannte.

»Jordi!«

Einer der Bogenschützen warf die Kapuze zurück und das freundliche, sonnengebräunte Gesicht von Jordi Arambula kam zum Vorschein. Genau wie Owain Grady hatte Tom den jungen Burschen vor zwei Jahren im Zuge der Allianz der Verlorenen kennengelernt. Jordi war einer der wenigen Menschen Fernwelts, welche um die Geheimnisse Elderwelts wussten. Jetzt traf er ihn wieder, unter den wohl undenkbarsten Umständen.

»Stimmt, es ist wirklich Tom. Ich erkenne ihn an den roten Haaren«, mischte sich eine neue Stimme ein. Weitere Kapuzen wurden zurückgestülpt. Zwei Mädchen, beide in Jordis Alter, kamen näher. Ellen Summers und Sarah Lansdale aus Harlem. Ellen, gertenschlank, blass wie ein Vampir und ihr hübsches Gesicht von langem, strohblondem Haar umrahmt, die Fingernägel knallgelb lackiert, schien das genaue Gegenteil der stämmigen, dunkelhäutigen Sarah; dennoch waren sie die dicksten Freundinnen. Früher hatte man sie deswegen an der Schule als Milk and Coffee verspottet, doch wer sie jetzt in ihrem Kriegergewand sah, würde das nicht mehr wagen.

Vanessa lachte, als sie die drei jungen Leute endlich erkannte.

»Nicht zu fassen! Die Küken von der Allianz. Was macht ihr alle hier?«

»Vanessa? Wow«, machte Jordi. Seine großen dunklen Augen blieben einen Augenblick an ihren Rundungen hängen. Sarah rammte ihm dafür den Ellbogen in die Rippen. »Glotz nicht so! Sie ist Toms Freundin!«

»Leute, Leute, Leute«, sagte Tom. »Was macht ihr alle hier? Ich dachte, das Kapitel Elderwelt wäre für euch abgeschlossen.«

Jordi hielt stolz seinen Bogen hoch. »Ist es nicht. Wir kämpfen jetzt mit Kommando Bracket gegen die Horden des Dunklen Meisters.«

»Kommando Bracket?«, fragte Veyron. Er wirkte alles andere als überzeugt oder einverstanden.

»Ja, Mister Swift. Kommando Bracket, die letzte Verteidigungslinie der freien Völker«, meldete sich eine weitere neue Stimme. Sie gehörte Owain Grady, dem Vierten aus dem Bunde. Tom bemerkte sofort, wie wenig Owain dieses Wiedersehen gefiel. Ihre Blicke begegneten sich kurz, als er Tom und Veyron passierte und hinüber zu der hochgewachsenen Kriegerin marschierte. Als Tom die zwei Seite an Seite stehen sah, kam ihm ein furchtbarer Verdacht. Das dürre Riesenweib, die Killerin! Sie musste es sein!

»Scheiße«, flüsterte er. »Veyron …«

»Ich weiß. Ich habe ihre Statur soeben erkannt.«

Jordi plapperte derweil pausenlos auf Vanessa ein, erklärte ihr, was für eine gute Sache Kommando Bracket war und dass sie der ZTC den Kampf angesagt hatten. Es war schließlich Ellen, die ihn zum Schweigen brachte.

»Kannst du nicht einfach mal die Klappe halten?«, befahl Ellen und nickte hinüber zu Owain und der Kriegerin. »Lass Angel erstmal entscheiden, auf welcher Seite Tom und die anderen stehen.«

Als wäre das ein Stichwort gewesen, drehte sich Owain um und stapfte auf sie zu, der Blick finsterer als gewöhnlich. Vor Veyron und Tom baute er sich auf. Unter seinem Kettenhemd und dem dunklen Wams zeichneten sich seine trainierten Muskeln ab. Tom wusste, dass Owain ein gefährlicher Gegner sein konnte, und der Bursche, der nur ein halbes Jahr jünger war als Tom, wusste es ebenfalls nur zu gut.

»Ihr seid jetzt Gefangene von Kommando Bracket, bis wir eure Absichten kennen«, verkündete er kalt. »Schafft die drei ins Hauptquartier!«

Tom wollte eben die Stimme zum Protest erheben, machte einen Schritt vorwärts. Blitzartig spannten die Krieger um sie herum die Bogen. Owains Faust lag auf dem Knauf seines Schwerts. Tom hob entschuldigend die Hände.

Vanessa wollte jedoch nicht so einfach nachgeben. »Hey! Wir stehen auf derselben Seite!«

»Das wird sich zeigen«, grollte Owain. »Führt sie ab!«

Veyron Swift und das Grabmal der Engel

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