Читать книгу Veyron Swift und das Grabmal der Engel - Tobias Fischer - Страница 5

Aus ganz speziellem Holz

Оглавление

Es war natürlich klar, dass Sergeant Palmer sie nicht so ohne Weiteres gehen ließ. Selbstverständlich bestand er auf einer detaillierten Zeugenaussage und bestellte Veyron, Tom und Wimille für den nächsten Morgen im zuständigen Büro des CID ein. Zum Glück verweigerte Veyron Palmer den Genuss einer Diskussion und meinte zum Abschied lediglich: »Morgen früh acht Uhr, Sergeant. Seien Sie bitte pünktlich. Ich werde es sein.«

»Verziehen Sie sich, Swift!«

Mit Toms Käfer fuhren sie nachhause. Zuvor setzten sie Wimille noch bei seiner Wohnung ab, ehe es nach Harrow weiterging. Die restliche Fahrt verbrachte Veyron schweigend und in sich gekehrt. Tom wusste, dass sein Patenonkel Gedanken wälzte, Erlebnisse und Informationen sortierte, jedes noch so kleine Detail von allen möglichen Seiten betrachtete und in Zusammenhang zu bringen versuchte. Oder beschäftigte ihn der verkorkste Abend mit Jane? Selbst nach fünf Jahren unter einem Dach behielt Veyron persönliche Dinge meistens für sich.

Kaum betraten sie eine Stunde später das Haus, stürzte Veyron sich sofort in Arbeit. Er verschwand in seinem Laborkeller und wollte für die kommenden Stunden nicht gestört werden. Es war klar, dass er sich die Nacht um die Ohren schlagen würde, bis er die Geheimnisse dieses Armbrustbolzens entschlüsselt hatte.

Für Tom gab es hier nichts mehr zu tun. Darum verabschiedete er sich von Veyron und fuhr zu Vanessa. Zehn Minuten später blickte Tom zu den Fenstern des zweiten Stocks eines alten Mietsgebäudes hoch. Dort oben lag Vanessas Wohnung, wo sie mit drei anderen Leuten zusammenlebte. Tom fand es immer wieder erstaunlich, wie sehr sich Vanessa seit ihrem gemeinsamen Abenteuer vor über zwei Jahren verändert hatte. Aus dem ahnungslosen, desinteressierten, oberflächlichen Mädchen war eine energische und engagierte junge Frau geworden. Alles, was sie sich in den Kopf setze, verstand sie irgendwie umzusetzen. Seit Montag machte sie eine Ausbildung in einem Fotolabor. Vanessa verdiente ihr eigenes Geld, während Tom wohl noch eine ganze Weile von Veyrons Budget leben müsste — außer er suchte sich irgendeinen Job, um sein Studium zu finanzieren. Zumindest forderte Vanessa das stets aufs Neue.

Tom stieg aus, sperrte den Wagen ab, stapfte hinüber zur Haustür und klingelte. Eine verschlafene Männerstimme meldete sich an der Sprechanlage. »Wer da?«

»Tom.«

»Welcher Tom?«

»Tom Packard. Welcher Tom soll es denn sonst sein?«

»Sag: bitte mach die Tür auf, Herb«

»Ich trete gleich die Tür ein, Herb!«

»Okay, das lass ich auch gelten.«

Es summte und das Schloss schnappte auf. Kopfschüttelnd öffnete Tom die Tür. Mit was für schrägen Vögeln war Vanessa da nur zusammengezogen? Oben angekommen, öffnete ihm Becky, WG-Mitglied Nummer Zwei. Kleinwüchsig und verschwiegen. Von der Statur her könnte sie als Zwergin durchgehen — ihr fehlte lediglich der Backenbart.

»Guten Abend, Becky. Gerade aufgestanden?«

Tom bekam nur ein unverständliches Grunzen zur Antwort. Becky besaß die Angewohnheit, oft den Großteil des Tages zu verschlafen, aber dafür die ganze Nacht durchzumachen.

Vom Flur führte der Weg in die Küche an zwei weiteren Zimmern vorbei. Aus dem von Marcus, dem letzten WG-Mitglied, drang violetter Qualm hervor. Tom runzelte die Stirn. Was mochte der Junge da drin nur anstellen? Hoffentlich fliegt uns die Bude nicht um die Ohren, dachte er. Schließlich stand er vor der Küche, wo er Vanessa beim Kaffeemachen fand.

Im hellen Schein der Deckenlampe schien es ihm, als hätte der Himmel selbst sie geschaffen. Das dünne Nachthemd vermochte ihre reizende Figur kaum zu verhüllen, wirkte fast durchscheinend. Im Lauf des letzten Jahres war sie zu einer richtigen Frau gereift, schöner, sinnlicher und an den richtigen Stellen runder.

Vanny war für ihn der Inbegriff von Schönheit, ein wahres Geschenk. Er durfte sich unglaublich glücklich schätzen, das wusste er. Mit ihr zusammen zu sein, kam ihm wie die Erfüllung eines lang gehegten Traums vor. Dabei hatten sie gar keinen guten Start hingelegt und sich jahrelang nicht ausstehen können. Vor zwei Jahren mussten sie sich notgedrungen zusammenraufen und entdeckten ihre Liebe. Genau das war es, was diese Beziehung in Toms Augen umso wertvoller machte. Sie hatten ums Überleben gekämpft, Seite an Seite, Rücken an Rücken. Das ist die Frau, mit der ich alten werden möchte, dachte er grinsend. Da war er sich felsenfest sicher.

Noch schien sie ihn nicht bemerkt zu haben.

Vorsichtig schlich er zu ihr hinüber und schlang seine Arme um ihre Taille. Seine Vanny. Zärtlich schob er mit der Nase ihr blondes Haar zur Seite und küsste sie in den Nacken. Früher hätte er ihre goldenen Locken um seine Finger geschlungen, doch seit einiger Zeit trug Vanny lieber eine freche Bobfrisur. Sie drehte sich in seiner Umarmung um, und er küsste die kirschroten Lippen ihres engelhaften Gesichts. Er stellte fest, dass sie von Kopf bis Fuß zitterte — ganz sicher nicht wegen des Kusses.

Noch bevor er etwas zur Begrüßung sagen konnte, fiel sie ihm regelrecht um den Hals. Sie umarmte ihn und drückte sich fest an ihn.

»Gottseidank«, japste sie. »Es kommt die ganze Zeit schon in den Nachrichten. Überfall auf das Atelier. Man spricht von Explosionen, von einer Schießerei und von zahlreichen Toten. Man sieht Veyron und dich im Fernsehen.«

»Äh … im Fernsehen? Wir sind im Fernsehen?«

Vanessa deutete hinauf zum Küchenschrank, wo ein kleiner Fernseher zwischen mehreren Keksdosen stand. Sie küsste ihn wieder und schluchzte. »Ich hatte schon gedacht, sie hätten dich vielleicht getötet. Die Bilder sind alle verwackelt. Es hätte alles mögliche passieren können!«

Tom nahm sie in seine Arme, streichelte über ihren Kopf und küsste sie auf die Stirn. »Uns ist nichts passiert«, versicherte er ihr. »Es gab nur eine kleine Prügelei mit einem der Attentäter. Du wirst nicht glauben, wer es war.« Er beugte sich zu ihr und flüsterte: »Owain Grady.«

Vanessa stand der Mund offen. »Du meinst doch nicht den Owain, den wir in Elderwelt kennengelernt haben? Einer der vier Leute, die von der Schwarzen Horde desertiert sind?« Sie schauderte.

»Doch, genau den. Owain Grady aus Wales, Ellen Summers und Sarah Lansdale aus New York und Jordi Arambula aus Spanien«, bestätigte Tom. Die vier jungen Leute waren vor über zwei Jahren von zuhause ausgerissen und hatten sich von den Handlangern der Zaltianna Trading Company nach Elderwelt locken lassen, um sich dort der Schwarzen Horde anzuschließen. Alle Vier hatten es rasch bereut und sich schließlich auf Veyrons Seite geschlagen.

»Wir hatten bis vor kurzem noch über Instagram Kontakt«, meinte Vanessa. Sie war kreidebleich geworden. Schließlich holte sie tief Luft, als stünde ihr eine enorme Anstrengung bevor. »Sie waren genauso ungeduldig wie ich, wann es dieser verfluchten Company endlich an den Kragen geht. Du weißt, was sie durchmachen mussten.« Plötzlich schnalzte sie mit der Zunge und ihre Wangen gewannen ein gesundes Rot. »Du bist ganz sicher, dass es Owain war? Er war wirklich einer der Angreifer?«

»Vanessa, ich habe ihm fast die Nase gebrochen. Er und diese langbeinige Hexe haben zwei Vampire ausgeschaltet und ein halbes Dutzend weiterer in Schach gehalten, ehe Veyron und ich eingriffen«, sagte Tom.

»Dann hat Owain die Sache selbst in die Hand genommen. Er wollte nicht darauf warten, bis dein Veyron irgendetwas gegen die Company unternimmt. Das kann ich verstehen.« Schlagartig hatte sich ihre Sorge in einen zornigen Trotz verwandelt. »Vielleicht sollten wir das Gleiche tun, vielleicht hat Owain recht.«

Tom machte große Augen. »Recht? Mit was? Vanessa, er hat geholfen zwei Vampir zu töten!«

»Ja, vielleicht ist es so. Aber ich verstehe, dass er sich rächen will und die Company und ihre Anführer vernichten. Mit der Ansicht ist er nicht allein auf der Welt. Schau nur.«

Sie deutete zum Fernseher. Wie jeden Tag liefen die Nachrichten. Auf dem kleinen Schirm war deutlich zu sehen, wie hunderte von Menschen vor der Konzernzentrale der Zaltianna Trading Company standen. Sie skandierten in Sprechchören Parolen wie „Raus mit der Mörderbande!“, „Verhaftet Avron Zaltic!“, „Enteignet die Aktionäre!“. Das Bild wechselte zu einem Reporter, der sein Mikro einem untersetzten, blassen Mann mittleren Alters mit auffallend blondiertem Scheitel ins Gesicht hielt. John Cyrus Doe, der Parteivorsitzende der ominösen Bewegung Make-England-Great-Again, kurz MEGA. Von ihm hatte Tom in den letzten Monaten mehr gesehen, als ihm lieb war.

Aus MEGA wurde Tom nicht so recht schlau. Mal gaben sich ihre Vertreter linksradikal und kapitalfeindlich, ein andermal dagegen erzkonservativ, und wenn es der Beliebtheit diente, sogar wirtschaftsliberal. Egal welche Haltung die Vertreter anderer Parteien einnahmen, die Leute von MEGA standen in Opposition dagegen. Protest schien in der Tat die einzige Konstante im Parteiprogramm von MEGA zu sein. Immerhin konnte sie bei den letzten Wahlen genug Stimmen einheimsen, um ins Parlament einzuziehen.

Seit dem Beginn der MEGA-Proteste gegen die ZTC schien aber auch Vanessa wie ausgewechselt. Mit jedem Tag wurden ihre Ansichten radikaler und feindseliger. Was war nur los mit ihr? Das brachte ihn auf etwas Neues.

»Hast du nicht gesagt, Veyron und ich wären im Fernsehen?«

»Ja. Auf allen Kanälen. Es laufen dauernd Sondersendungen. Ich zeig’s dir«, sagte sie, sichtlich erleichtert, dass sie das Thema wechseln konnten. Ihr schien es wie ihm zu gehen; nur umgekehrt. Vanessa fehlte das Verständnis, warum Tom so zögerlich und vorsichtig mit der Company umging. Vielleicht wäre es klüger, sie würden dieses Thema in Zukunft ganz meiden.

Sie schaltete das Programm um und erwischte gerade das Interview einer jungen Reporterin mit John Cyrus Doe. Im Hintergrund war eine Polizeiabsperrung vor dem Atelier zu sehen.

Begeisterung weckte das bei Tom nicht gerade. Offenbar war dieser Demagoge im Moment auf allen Kanälen, und dann auch noch zur vollkommen falschen Zeit. Natürlich war Doe gerade mal wieder gegen irgendetwas.

»… sind selbstverständlich gegen jede Form von Gewalt. Wir von MEGA verurteilen diesen brutalen Akt. Aber wir sind auch gegen die Vorverurteilung der tapferen, rechtschaffenden Menschen, die jeden Tag unermüdlich für die Gerechtigkeit einstehen. Die Proteste gegen die ZTC sind friedlich. Diese beiden Attentäter haben nichts mit unserer Bewegung zu tun. Wir müssen verstehen, warum junge Leute zu solch extremen Maßnahmen greifen«, erklärte er. Die Reporterin, im Laufband als Joy Jennings vorgestellt, wollte es genauer wissen.

»Heißt das, Sie haben Verständnis für diesen Mordanschlag?«

»Es gab keine Toten, das hat die Polizei bestätigt. Es wurden lediglich zwei Feuer gelegt und Rauchbomben geworfen. Nennen wir das Ganze also einen Anschlag. Von den Absichten der beiden Attentäter wissen wir nichts«, sagte Doe.

Tom machte große Augen. Aha, der Tod von zwei Vampiren wird also unterschlagen. Aber es wunderte ihn nicht, dass die ZTC-Anführer das Ableben ihrer Bodyguards leugneten. Die Wahrheit hätte zur Enthüllung ihrer eigenen Natur geführt.

»Also haben Sie eindeutig Verständnis?«, hakte Miss Jennings nach.

»Es darf nicht sein, dass junge Menschen, die sich bisher nichts zuschulden kommen ließen, sich gezwungen sehen, zur Selbstjustiz zu greifen. Gerechtigkeit zu üben fällt unter die Zuständigkeit des Staates. Deshalb fordern wir schon lange ein Ende der Wattebausch-Politik gegenüber Verbrecherkonzernen wie der ZTC. Der Staat muss mit aller Härte gegen dieses verbrecherische Management durchgreifen und ein Zeichen setzen, um diesen Auswüchsen mit aller Deutlichkeit ein Ende zu setzen. Ein für alle Mal.«

»Auch mit der Todesstrafe? Würden Sie so etwas begrüßen?«

Doe brauchte nicht lange zu überlegen. »Als letztes Mittel, warum nicht?«

»Sir«, meinte Miss Jennings sichtlich geschockt — Tom konnte ihr gut nachfühlen; ihm ging es genauso. »Die Todesstrafe wurde in ganz Europa verboten.«

Als Antwort darauf zuckte Doe lediglich mit den Achseln. »Irrtümer muss man korrigieren können, wenn die Zeit es erfordert. Gesetze lassen sich rückgängig machen, wenn es notwendig ist. Was wäre, wenn das Volk es beispielsweise fordert? Könnten wir uns da noch verweigern? Das Volk, Miss Jennings, ist der Boss im Staate, nicht wir Politiker. Wir von MEGA sind dagegen, dass der Wille der stillen Mehrheit in diesem Land immer wieder ignoriert wird.«

Tom stand kurz davor, den Fernseher abzuschalten. Diesen widerwärtigen Kerl konnte er sich keine Minute länger anhören. Zum Glück folgten auf dieses Interview die verwackelten Kameraaufnahmen aus dem Atelier, die den Überfall sehr gut zeigten und auch wie Tom und Veyron in den von Rauch und Qualm gefüllten Speisesaal stürmten. Dann schwenkte das Bild fort und man hörte Schüsse. Tom wusste mehr als das Publikum vor dem Fernseher.

»Das war Wimille. Er hat die beiden Killer mit seinem Revolver vertrieben«, ließ er Vanessa wissen.

»Ihr hättet ihnen helfen sollen, die ZTC auszulöschen. Das war eine einzigartige Chance. Warum habt ihr sie nicht ergriffen? Ich hätte es getan, wenn ich dort gewesen wäre«, meinte sie darauf.

Tom seufzte. »Vanessa, das ist nicht unsere Art. Wir tun so etwas nicht, Veyron tut so etwas nicht.«

»Warum nicht?«

»Weil wir die Guten sind!« Mehr wollte Tom dazu nicht einfallen. Allmählich gingen ihm die Argumente aus. Genervt von dieser Diskussion hob er in kapitulierender Geste die Hände.

»Lassen wir das einfach, okay? Ich will nicht, dass wir uns wegen unserer unterschiedlichen Meinung zu diesem Thema zerstreiten. Dafür haben wir beide einfach zu viel mitgemacht. Irgendwann ist die ZTC Geschichte, entweder weil dieser Doe mit seinen Protesten Erfolg hat oder weil Veyron die Company ans Messer liefert. Ich will danach wieder ein normales Leben führen. Gemeinsam mit dir, Seite an Seite.«

Vanessa machte einen Schritt auf ihn zu, nahm seine Hände in die ihren und küsste ihn. Sie lächelte. »Hey, ist doch klar. Mein tapferer Tom, immerzu der edle Ritter. Das macht dich so besonders. Seite an Seite mit dir, das will ich auch.«

Der Bann war gebrochen. Erneut küssten sie sich, diesmal leidenschaftlich. Für die kommenden Stunden hatten sie nur Zeit für einander, wobei sie das „Seite an Seite“ sehr wörtlich nahmen.

Der nächste Morgen begann mit einer Nachricht von Wimille: Vorladung beim CID vorerst aufgehoben. Inspector Gregson hat den Fall übernommen. Tom musste kichern, als er das auf seinem Smartphone las. Wie frustriert und wütend Sergeant Palmer sein musste, konnte er sich leicht ausmalen. Keine Leichen, keine Verdächtigen, der Mord von allen Zeugen geleugnet und dann nimmt ihm sein Boss auch noch den Fall weg und schmeißt alles um.

Es dauerte nicht lange, bis eine weitere Nachricht eintraf. Diesmal von Veyron: Bist du wach? Notfall! Komm sofort!

Tom sprang fluchend aus dem Bett. Vanessa wachte auf. Um Orientierung ringend, schaute sie zu ihm auf.

»Was ist los?«

»Ein Notfall bei Veyron. Bestimmt ist es die Company«, rief Tom, schlüpfte in seine Hosen und sein T-Shirt.

Als sie das hörte, zögerte auch Vanessa keinen Moment mehr länger. »Die Company? Dann komme ich mit!«

Zuerst wollte Tom widersprechen, aber er wusste, wie wenig das helfen würde. In Elderwelt hatten sie gemeinsam gegen die Schrate und Söldner der Schwarzen Horde gekämpft. Vanessa ließ sich auf keinen Fall zurückhalten, wenn es gegen ihre Erzfeinde von der ZTC ging.

Kaum angezogen, rannten sie beide hinunter auf die Straße, sprangen in Toms Käfer und rasten mit Vollgas durch Harrow. Die Beschleunigung des modifizierten Oldtimers war außerordentlich. Selbst die stärksten Sportwägen konnten kaum mit dem alten Käfer mithalten. Weder interessierten sie Geschwindigkeitsbegrenzungen noch Vorfahrtsregeln oder rote Ampeln. In Rekordzeit bremste Tom mit quietschenden Reifen vor der 111 Wisteria Road. Ohne lange nachzudenken, stürmte er zum Eingang, sperrte die Tür auf und sprang in den Flur. In diesem Moment kam ihm, dass er vollkommen unbewaffnet war und vielleicht gleich den Killern der Company gegenüberstand. Vanessa war dicht hinter ihm, ebenso unbewaffnet. Im ganzen Haus war es totenstill. Von Veyrons Labyrinth war nichts zu sehen. Alles schien seltsam ruhig. Von Eindringlingen weit und breit keine Spur.

»Sehen wir oben nach«, meinte Tom mit einem Schulterzucken. Vanessa nickte. Die Entschlossenheit in ihren blauen Augen beeindruckte ihn. Egal was passieren würde, Vanessa wäre an seiner Seite.

Tom trat auf die erste Stufe, die laut und deutlich knarzte. Falls sich wirklich Feinde in diesem Haus befanden, wäre er jetzt entdeckt.

»Im Wohnzimmer, Mr. Packard!«, erschallte gleich darauf ein lauter Ruf.Es war Veyron.

Tom fluchte, sprang von der Treppe und hastete ins Wohnzimmer. Dort saß Veyron Swift, entspannt und listig lächelnd in seinem großen Ohrensessel, den alten Morgenmantel um seinen schlaksigen Körper gewickelt, in der Rechten eine Tasse Tee. Sie dampfte noch und erfüllte den ganzen Raum mit einem erfrischenden Aroma.

»Earl Grey?«, fragte Tom.

»Pekoe. Das Geschenk einer reizenden Klientin. Herrlich zum Entspannen.«

»Wo ist der Notfall, Veyron?«, fragte Vanessa. Veyrons Lächeln wuchs noch einmal in die Breite.

»Hier«, sagte er und hielt den kleinen Armbrustbolzen der Attentäter hoch.

Vanessa knurrte zornig. »Das ist kein Notfall! Was soll der Scheiß?«

»Das kommt auf die Betrachtungsweise an, Miss Sutton. Ihre scheint mir wie üblich beschränkt. Ich bin auf etwas gestoßen, das durchaus einem Notfall gleichkommt. Seht es euch an«, sagte er und winkte die beiden näher. Auf seinem Schoß lag ein altes Buch, ein richtig dicker Wälzer, der, ungezählte Male durchgeblättert, vom Leim nur mehr schlecht als recht zusammengehalten wurde. Eine Seite war aufgeschlagen, die mehrere Symbole zeigte. Veyrons dünner Zeigefinger deutete auf eine kleine Figur in der zweiten Reihe der Symbole. Es war das gleiche wie auf dem Bolzen.

»Kennst du dieses Buch, Tom? Es wurde von Professor Lewis Daring verfasst und behandelt die Symbolschrift fremder Kulturen. Der Professor gibt hier einige Beispiele von einfachen Zeichen, die ganze Geschichten bedeuten«, erklärte Veyron.

Tom wusste sofort, um was es ging. Professor Daring, der Simanui-Meister, dessen Schwert oben in Veyrons Arbeitszimmer hing. Ein Zauberschwert, erfüllt vom mächtigen Geist des Professors. Während Daring in Elderwelt als Magier wirkte, lehrte er hier in England Geschichte, Vorgeschichte, Kunst und Germanistik in Oxford. Daring war einer der Gründe, warum sich Tom für Oxford als Studienplatz entschieden hatte.

»Was ist mit diesem Symbol? Was stimmt damit nicht?«

»Laut Daring steht es für die letzte Ruhestätte einer ganz bestimmten Gruppe als heilig verehrter Herrschaften, deren Herkunft und Erscheinung als übernatürlich angesehen wurde. Daring schreibt, das zur Zeit der Erfindung des Symbols jeder wusste, was damit gemeint war. Es drückte eine ganze Geschichte aus. Daring benutzt es als Beispiel für die Schwierigkeit bei der Übersetzung von Hieroglyphen und anderer Symbolschriften, sobald das Wissen um die Bedeutung der Zeichen verloren gegangen ist«, fasste Veyron den Inhalt des ganzen Textes zusammen.

Vanessa zuckte mit den Schultern. »Toll, wahnsinnig interessant«, meinte sie. »Was bedeutet es denn jetzt?«

»Die Grabstätte der Götter«, glaubte Tom zu wissen. Mit einem zweiten Blick auf das Symbol verbesserte er sich sofort: »Das Grabmal der Engel!« Das Zeichen zeigte eine stilisierte menschliche Gestalt mit zwei großen Flügeln.

Veyron schenkte ihm ein anerkennendes Nicken. »Zutreffend!«, rief er, dann nippte er genüsslich an seinem Tee. Einen Moment später gewann sein Gesicht den üblichen gefühlsbefreiten Ernst zurück.

»Wochenlang suchte ich in hunderten von Referenzwerken nach einem Hinweis auf das Grabmal der Engel; erfolglos. Zum Glück erinnerte ich mich gestern daran, das Symbol auf diesem Bolzen schon einmal gesehen zu haben. Es muss vor fünf Jahren gewesen sein, als ich nach unserem ersten Elderwelt-Abenteuer sämtliche Bücher von Professor Daring studierte.«

»Moment«, keuchte Vanessa. »Sie erinnern sich an ein winziges Symbol, das Sie irgendwann vor Jahren in diesem Tausendseitenwälzer kurz gesehen haben?«

»Ganz recht, Miss Sutton. Ich verstehe selbst nicht, warum ich dieses Buch nicht von Anfang an in meine Recherchen einbezog. Dafür brauchte es erst das Attentat auf die ZTC-Vampire. Das erste Anzeichen einer langsam einsetzenden Senilität, nehme ich an?«

So beiläufig, wie Veyron das sagte, wusste Tom für einen Moment nicht, ob er das wirklich ernst meinte oder ob er Vanessa lediglich auf den Arm nahm.

»Mal Spaß bei Seite. Was bedeutet das nun?«, wollte Tom wissen.

»Ich dachte, das läge auf der Hand«, meinte Veyron leicht verwirrt. Schließlich seufzte er. »In welche Sache wir auch immer hineingeraten sind, es geht dabei zweifelsfrei um das Grabmal der Engel. Die letzte Nacht habe ich in meinem Labor verbracht und diese beiden Armbrustbolzen genauestens untersucht. Sie bestehen aus dem Holz der MacElhoe-Linde.« Veyron lehnte den Kopf zurück und schloss kurz die Augen.

»Es handelt sich dabei um eine spezielle Lindenart, die vor neunzehn Jahren in Schottland erstmals von Dr. Joseph MacElhoe beschrieben wurde. Weltweit existiert nur ein einziges Exemplar. Die MacElhoe-Linde wird von den meisten Botanikern jedoch nicht als eigene Art anerkannt, sondern als eine Mutation betrachtet. Fakt ist, dass es nur einen einzigen Baum auf der ganzen Welt gibt, von dem das Holz der Bolzen stammen kann. Ich konnte das anhand der Beschaffenheit der Fasern im Holz genau bestimmen«, fuhr er fort.

Tom kam nicht darum herum, das Ganze merkwürdig zu finden. »Wer würde denn Vampire mit einem weltweit einzigartigen Holz umbringen wollen? Täte es denn nicht jeder andere Holzbolzen oder besser noch einer aus Stahl?«

Über Veyrons dünne Lippen flog ein listiges Lächeln. »Treffend erkannt, Tom. Wirkungsvoller wäre es obendrein. Viel Sinn scheint das nicht zu machen. Ein außerordentlicher Aufwand für einen sehr profanen Zweck. Darum werden wir jetzt gleich nach Schottland aufbrechen und versuchen dieses Mysterium zu enträtseln.«

Plötzlich sprang Veyron auf, warf den Morgenmantel zurück und kam darunter vollständig bekleidet mit Anzughose und Hemd zum Vorschein. Den restlichen Tee trank er in einem Zug aus, was ihn keuchen und nach Luft schnappen ließ. Offenbar war er doch ein wenig zu heiß für ihn. Seinem energischen Tatendrang tat das keinen Abbruch.

»Also los, mit Schwung geht’s weiter! Dein Käfer parkt draußen. Ist er aufgetankt?«

»J … ja, doch, schon«, stammelte Tom überrumpelt. »Aber wir haben keinerlei Gepäck dabei.«

»Keine Sorge, ich habe für dich bereits etwas zusammengepackt, und für Miss Sutton finden wir schon etwas. Notfalls besorgen wir ihr unterwegs ein paar Sachen«, entgegnete Veyron. Er klopfte Tom aufmunternd auf die Schulter und eilte nach oben. Vanessa folgte ihm.

»Worauf wartest du noch, Tom? Du hast Veyron gehört. Lass uns mehr über dieses Grabmal der Engel herausfinden«, rief sie ihm zu, ehe sie nach draußen verschwand. Tom wusste nicht, was im Moment gefährlicher war: ein halbverrückter, überintelligenter Patenonkel oder eine Freundin, die sich der Vernichtung ihrer Feinde verschrieben hatte.

Kurz vor Mittag brachen sie mit Toms Käfer auf, über die Autobahn M6 nach Norden. Nach etwas über acht Stunden erreichten sie Fort William, ein knapp zehntausend Einwohner zählendes Städtchen im Westen der schottischen Highlands. Mit seinen kleinen Häusern und den spitzen Dächern kam Tom der Ort sehr urtümlich vor. Ihm vielen die vielen Rucksack-Touristen auf. Von Veyron erfuhr er, dass Fort William im Zentrum zahlreicher Ausflugsziele lag. Die Berge grenzten im Osten mehr oder weniger direkt an die Stadt, im Westen lag der Loch Linneh.

»Unsere Unternehmung wird keine Aufmerksamkeit erregen«, meinte Veyron. Wie sich herausstellte, hatte er zwei Zimmer im Premier-Hotel gebucht. Nur eine Nacht, länger würden sie nicht an diesem Ort bleiben.

»Die Swifts kamen ursprünglich aus Schottland. Ein paar Verwandte von mir leben immer noch in Inverness. Als wir Kinder waren, besuchten Wimille und ich öfter unseren Großonkel. Ich erinnere mich noch gut an Onkel Gordon. Seine Begeisterung über uns Jungs hielt sich jedoch stark in Grenzen. Die zwei kleinen Klugscheißer. Schon jetzt richtige Engländer, maulte er stets aufs Neue. Sowas vergisst man nicht«, erzählte Veyron, während sie vor dem Hotel einen Parkplatz suchten.

»Wie kamen Sie dann nach London?«, fragte Vanessa.

»Meine Urgroßeltern lernten sich dort 1913 kennen. Mein Urgroßvater, Ambrose, war Offizier in der Armee, und meine Urgroßmutter, Omphalé Poirot, eine Gouvernante.«

»Oha, eine Französin«, meinte Tom.

»Irrtum, eine Belgierin. Sie heirateten und blieben in London. Wie auch immer: Onkel Gordons geistiger Horizont beschränkte sich auf Inverness und die nähere Umgebung, während ich als Weltbürger aufwuchs. Wir gerieten aufgrund unterschiedlicher Meinungen und Ansichten oftmals aneinander, als ich älter und selbstbewusster wurde. Ich vermied es, ihm zu begegnen, wenn ich es irgendwie arrangieren konnte. Als wir erwachsen wurden, fuhren Wimille und ich nie wieder nach Schottland. Lediglich meine Eltern halten noch Kontakt zu unseren Verwandten dort.«

»Schade«, meinte Tom. »Vielleicht sollten Sie den Kontakt zu Ihren Verwandten wiederherstellen.«

Es wäre klüger gewesen, er hätte das nie gesagt, denn Veyrons blickte ihn nun verständnislos an.

»Ein vollkommen sentimentales und unsinniges Unterfangen. Weder für die schottischen Swifts noch für Wimille und mich ergäbe sich daraus irgendein Vorteil«, gab Veyron kopfschüttelnd zurück. Damit war der Ausflug in die Familiengeschichte Veyrons beendet. Für den Rest des Abends schnitt keiner von ihnen dieses Thema noch einmal an.

Am frühen Morgen weckte Veyron Vanessa und Tom. Es gab ein ausgiebiges Frühstück, danach fuhren sie mit Toms Käfer raus aus der Stadt. Bald hatten sie nur noch die grünen Weiden und die Berge der Highlands vor sich. Aus dem erhofften Ausflug in die Natur Schottlands wurde nichts. Gerade mal neun Kilometer außerhalb der Stadt endete ihre Fahrt. Am Rand einer alten Kiesgrube ließ Veyron den Wagen anhalten.

»Wir sind da«, verkündete er emotionslos und deutete nach vorne.

Hinter der Kiesgrube breitete sich eine große Weide aus. Gras, soweit das Auge reichte. Hier und da unterteilte eine kleine Hecke die Ebene in mehrere Felder. Und mittendrin stand der seltsamste Baum, den Tom je gesehen hatte. Mit seiner gewaltigen Krone musste er an die dreißig Meter hoch sein, getragen von einem mehrere Meter dicken Stamm, der von den Wurzeln bis zu einer Höhe von vier Metern in zwei Teile gespalten war und erst darüber zusammenwuchs. Die untersten Äste waren mannsdick und so alt und schwer, dass sechs davon von ihrem eigenen Gewicht bogenförmig zu Boden gedrückt wurden, ehe die Äste wie ein umgekipptes S wieder in den Himmel sprossen. Es sah aus, als würde der dicke Stamm von natürlich gewachsenen Arkaden gestützt.

Alle drei stiegen aus, überquerten die Straße und marschierten ins hohe Gras, der gewaltige Baum direkt vor ihnen.

»Wahnsinn, wie groß der ist.« Vanessas Ehrfurcht spiegelte sich auf ihrem Gesicht wider.

»Interessant finde ich vor allem den plattgetrampelten Boden, der direkt zu dieser Linde führt.« Veyron deutete auf die gut sichtbaren Spuren im Gras. »Mehrere Personen, unterwegs mit Motorrädern.«

»Vielleicht Motocross-Fahrer?« Tom blickte zurück zur Kiesgrube. Das verlassene Gelände würde sich perfekt dafür anbieten.

Veyron schüttelte jedoch den Kopf. »Nein, die Spuren kommen von der Straße und führen direkt zu der Linde. Es gehen keine Spuren zurück. Es besteht die Möglichkeit …«

Weiter kam er nicht. Ein lauter Knall unterbrach ihn. Instinktiv ließ sich Tom ins Gras fallen. Er kannte dieses Geräusch nur zu gut.

»Da ballert jemand in der Gegend rum!«

Auch Vanessa warf sich zu Boden, dann Veyron. Ein zweiter Schuss krachte. Vor ihnen stob die Erde auf.

»Man schießt auf uns, um es präziser auszudrücken.« Veyrons Feststellung klang derart gelassen, dass es Tom schon fast absurd schien. Veyron ging auf die Knie und warf einen raschen Blick über das hohe Gras, ehe er wieder in Deckung ging. Er deutete nach Osten. »Von dort drüben. Da gibt es eine Hecke, etwa fünfzig Meter entfernt.«

Ein dritter Schuss zerriss die Stille, die sich über das Land gelegt hatte.

»Ein Attentäter von der Company?« Vanessas Muskeln waren gespannt wie Drahtseile. Wie eine Raubkatze in Lauerstellung ruhte sie auf Händen und Füßen, bereit hochzuspringen und anzugreifen. Auch Tom war bereit für einen Kampf. Aber mit was sollten sie angreifen.

»Unwahrscheinlich, Miss Sutton. Die Company würde einen Scharfschützen schicken, mit Präzisionsgewehr samt Schalldämpfer. Ein Killer von der ZTC hätte nicht dreimal danebengeschossen, da dürfen Sie sicher sein.« Vorsichtig stand Veyron auf, begann mit den Armen zu winken.

»Nicht schießen!«, rief er laut, nur um als Antwort einen vierten Schuss krachen zu hören. Veyron warf sich wieder in Deckung.

»Höllenhunde, verdammte! Elendes Pack! Verzieht euch, haut ab! Lasst meinen Baum in Ruhe!«

Eine ganze Reihe weiterer Flüche ausstoßend, von denen Tom jedoch keinen einzigen verstand, stolperte ein Mann hinter der Hecke hervor, ein wahrer Riese, um die sechzig, durchtrainiert, mit breiten Schultern und großen Händen, die von harter Arbeit zeugten. Sie konnten eine Zehn-Kilo-Spitzhacke sicher ebenso gut schwingen wie die doppelläufige Flinte, die sie jetzt hielten.

»Haut ab, ihr verdammten Invasoren! Ich will euch hier nicht! Lasst den Baum in Ruhe! Bas mallaichte! Wollt ihr wohl verschwinden!« Der zornige Riese stampfte auf sie zu, kämpfte darum, den Lauf zu öffnen und nachzuladen. Vor lauter Wut bekam er es zum Glück nicht richtig hin. Für Veyron ein guter Moment, ihren Widersacher rasch in Augenschein zu nehmen – ehe er von einer fünften Salve wieder in Deckung gezwungen wurde.

»Einsachtundachtzig groß, etwa hundertzwanzig Kilo, schwerer Schritt. Hörgerät im linken Ohr«, fasste Veyron seine Beobachtungen zusammen. »Es übersteuert, wenn der Schuss knallt, hörbar an einem schrillen Pfeifen. Danach befindet er sich für etwa zehn Sekunden in einem Zustand von Verwirrung, wobei er sich instinktiv nach rechts dreht, fort von der Lärmquelle. Das ist unsere Chance. Wir machen es so: Ihr springt auf, winkt ihm, und dann geht ihr sofort wieder in Deckung. Das wird ihn von mir ablenken.«

Vanessa nickte ernst, während Tom noch versuchte sich darüber klar zu werden, was sein Patenonkel jetzt wieder Verrücktes ausheckte. Veyron reichte dagegen das Einverständnis von Toms Freundin. Auf allen Vieren huschte er durch das hohe Gras davon.

»Habe ich das richtig verstanden? Wir sollen Zielscheiben für diesen Irren spielen?«, fragte Tom. Vanessa verzichtete auf eine Antwort. Sie wartete einen kurzen Moment, dann sprang sie auf, riss die Arme in die Höhe und plärrte aus Leibeskräften. »Hey, Opa! Hierher!«

Blitzartig fuhr der Flintenmeister zu ihr herum, die Waffe im Anschlag. Tom sah genug. Er sprang auf, packte Vanessa an den Schultern und riss sie zurück auf den Erdboden. Keinen Moment zu spät; schon krachte ein Schuss und etwas pfiff deutlich hörbar über sie hinweg.

Aus den Augenwinkeln konnte Tom sehen, wie Veyron losstürmte. Der Schütze sah ihn kommen, fluchte derb und versuchte nachzuladen. Doch wieder bekam er die Patronen nicht in den Doppellauf geschoben. Veyrons Kalkulationen erwiesen sich als zutreffend. Er erreichte den Hünen, ehe dieser die Waffe wieder heben konnte. Veyron packte den Lauf, drückte ihn zur Seite. Doch anstatt den Mann einfach niederzuschlagen, hob Veyron nun abwehrend die Hände.

»Sir, Schluss damit! Kommen Sie wieder zur Vernunft!«

Der Flintenriese kämpfte mit seiner Verwirrung, seine Augenbrauen hoben und senkten sich unkontrolliert.

»Verdammte Touristen!«, schimpfte er von Neuem. »Treiben hier ihr Unwesen, machen Lagerfeuer in der Kiesgrube und spielen mit ihren Motorrädern auf der Wiese! Ständig klettern sie auf meinem Baum herum. Verdammt, es ist der Einzige seiner Art. Ich habe diese Rotzlöffel gewarnt, dass ich sie erschieße, wenn sie nicht verschwinden!«

Veyron nickte eifrig, als habe er volles Verständnis.

»Ja, da verstehe ich gut. Eine ordentliche Tracht Prügel würde so manchem Bengel nicht schaden. Erlauben Sie mir, mich vorzustellen? Ich bin Veyron Swift. Vielleicht haben Sie von meinem Großonkel gehört? Gordon Swift aus Inverness.«

Neugierig geworden, stellte der Hüne die Flinte am Boden ab. Er wechselte mit Veyron ein paar Sätze, die Tom nicht verstehen konnte.

Vanessa wirkte ehrlich beeindruckt. »Ich wusste gar nicht, dass dein Onkel Gälisch spricht.« Tom kratzte sich verlegen am Hinterkopf. Bis dato hatte er davon auch nichts gewusst. Aber wenn Veyrons Vorfahren schon aus Schottland kamen, lag das dann nicht irgendwie auf der Hand?

»J-jaa. Schon irgendwie irre, oder? Ich glaube, das macht dann Nummer achtzehn auf der Liste flüssig gesprochener Sprachen.«

Nach einer Weile deutete Veyron den beiden näher zu kommen. Der bewaffnete Hüne wirkte jetzt sehr viel gastfreundlicher.

»Willkommen in Fort William! MacElhoe ist mein Name«, rief er ihnen mit ausgebreiteten Armen zu. »Was haltet ihr von meinem Baum? Er ist der einzige seiner Art auf der ganzen Welt.« Der Stolz, der den Mann beim Anblick der Linde überkam, war unübersehbar.

»Ein Prachtexemplar, Doktor MacElhoe. Ein lebendes Kunstwerk, würde ich glatt sagen«, entgegnete Veyron mit übertriebener Begeisterung. »Wie alt mag dieser Baum sein? Ich sehe, dass seine Äste nicht gestützt wurden, wie das bei der Tanzlinde im fränkischen Effeltrich der Fall ist, oder bei so manch anderer Tausendjähriger Linde.«

MacElhoe hob entzückt seine buschigen weißen Augenbrauen. Im Gegensatz zu Tom schien er genau zu wissen, von was Veyron da sprach.

»Mit dem Unterschied, Mister Swift, dass meine Linde tatsächlich tausend Jahre auf dem Buckel hat und nicht nur ein paar Jahrhunderte. Um das wahre Alter des Baums festzustellen, müsste man den Stamm umhauen und die Wurzel aus dem Boden reißen, aber Probebohrungen haben ergeben, dass dieser Baum hier schon stand, ehe Cäsar bei Dover an Land zu gehen versuchte«, erklärte MacElhoe.

Veyron machte große Augen, aber anders als Tom war er nicht wirklich überrascht.

»Das ist über zweitausend Jahre her«, keuchte Vanessa, die damit Toms Gedanken in Worte fasste.

Der Botaniker lächelte stolz. »Vielleicht sogar noch älter. Es gibt keinen Baum auf dieser Erde, der so alt ist.« MacElhoe seufzte. »Leider weigern sich viele meiner Kollegen noch immer, diese Tatsachen als seriöse Beweise anzuerkennen. Die meisten zweifeln sogar, dass dieser Baum eine eigene Art darstellt. Doch welche Linde hat schon einen solchen Blattzyklus: Die Blätter werden im Herbst gelb und bleiben bis zum Frühjahr an den Ästen. Erst dann werfen sie ihr Laub ab, aber darunter sprießen bereits die frischen Triebe. Die Blüten dieses Baums sind größer, duftender und voluminöser als bei jeder anderen Lindenart.«

»Haben Sie schon eine Mutation der Winterlinde in Erwägung gezogen?«, fragte Veyron mit vorgegaukelter Fachkunde.

»Allerdings – und sofort ausgeschlossen. Dieser Baum ist eine eigene Art und der einzige Vertreter auf dem ganzen Planeten. Die Faserstruktur seines Holzes ist einzigartig und sein Harz nicht entflammbar.«

Veyron nickte. »Sie sprachen vorhin von Rowdies. Sagen Sie, Doktor MacElhoe, wurde der Baum in letzter Zeit beschädigt? Wurden Äste abgebrochen oder Stücke aus dem Stamm geschnitten? Wir haben deutliche Hinweise darauf, dass sich Holz dieses Baumes im Umlauf befindet.«

Sofort färbte sich das Gesicht des Dendrologen erneut dunkelrot. »Diese Rowdies! Ich werde sie alle kurz und klein hacken, wenn ich sie erwische! Kommt, schauen wir, ob er Schäden hat.«

Sie näherten sich der riesigen Linde. Je näher sie kamen, umso größer und majestätischer wirkte sie auf Tom. Nach allem, was MacElhoe bisher erzählt hatte, ließ sich eines feststellen: das war kein Baum von dieser Welt. Ein leichtes Kribbeln erfüllte Tom, als ginge eine besondere Energie von Ästen und Laub aus. Diese Linde stammte aus Elderwelt, anders konnte es gar nicht sein.

»Früher, als die Kiesgrube noch in Betrieb war, versuchten deren Eigentümer diesen Baum zu fällen. Meine Gesinnungsgenossen und ich konnten das erfolgreich verhindern.«

»Ja, wie?«, fragte Vanessa. »Was für Gesinnungsgenossen?«

MacElhoe musste laut auflachen, als er ihren strengen Gesichtsausdruck sah. »Die Lindenfreunde aus Lochaber. Wir bildeten jedes Mal eine Menschenkette um diesen Baum, wenn die Holzfäller der Grubenbesitzer kamen. Am Ende mussten sie nachgeben und der Baum blieb stehen — unberührt.«

Oder diese Irren haben die Arbeiter mit Flinten vertrieben, dachte Tom mit einem Anflug von Sarkasmus.

Sie traten in den Schatten der Krone, näherten sich den Arkaden-gleichen Hauptästen und dem meterdicken Stamm. Veyron begann ihn zu umrunden und berührte die von zigtausenden tiefen Furchen durchzogene Rinde.

»Der Stamm ist hohl?«, fragte er MacElhoe. Der bestätigte das.

Erst jetzt fiel Tom ein großer Spalt im Norden des Stammes auf, in den sich ein Mensch mit etwas Mühe zwängen konnte. Im Osten gab es einen weiteren Spalt, so dass sich ein kurzer Tunnel durch den Stamm bildete.

Veyrons Blick galt der Krone des Baums. »Ich finde keine abgeschlagenen Äste. Ihre jugendlichen Rowdies mit den Motorrädern, was hatten die hier zu suchen?«, wollte er wissen.

MacElhoe bebte vor Zorn. »Dieser Baum ist gern das Ziel eines Picknicks. Darum haben wir Warnschilder aufgestellt, da es verboten ist, Äste abzubrechen oder Inschriften in die Rinde zu ritzen«, sagte er und nickte in Richtung des Zufahrtsweges. »Aber die Leute machen sich einen Spaß daraus und reißen die Schilder raus. Darum haben wir Patrouillen eingeführt.«

MacElhoe fuhr derweil fort. »Aber diese Bande, die ist anders drauf. Keine Ahnung, was die hier zu suchen haben. Ich habe sie erwischt, wie sie Inschriften in die Astbogen ritzten!«

Tom folgte seinem Fingerzeig, konnte die dünnen, unsauberen Schriftzeichen an den Ästen deutlich erkennen.

»Brutale Menschen«, gab er mit gespieltem Entsetzen von sich. MacElhoe schien das zu gefallen. Augenblicklich beruhigte er sich, froh darüber, dass er mit Veyron, Tom und Vanessa drei weitere Baumfreunde gefunden glaubte.

»Wie oft besuchen Sie diesem Baum?«, fragte Veyron.

»Einmal in der Woche, um alle Veränderungen zu dokumentieren. Zwischendrin sind andere aus unserer Gruppe auf Wache, aber niemand ist so gewissenhaft wie ich.«

»Wenn Sie erlauben, kommen wir morgen wieder hierher, um ein paar Fotos zu schießen. Es ist eine Schande, dass dieser einzigartige Baum so wenig Beachtung findet. Wenn wir alles dokumentieren und veröffentlichen, gewinnen wir vielleicht die Öffentlichkeit und können diesen Baum besser vor Vandalismus schützen«, meinte Veyron.

Ein Kopfschütteln MacElhoes machte dessen Standpunkt deutlich. »Nein, das wäre schlecht. Wenn die ganze Welt um das Alter dieses Baumes wüsste, würde es hier vor Touristen nur so wimmeln. Früher oder später würde irgendein Verrückter den Baum umhacken. Das ist die Natur des Menschen, wissen Sie. Menschen sind Ungeheuer — zumindest die meisten. Wenn Sie mir versprechen, dass Sie um diesen Baum kein großes Aufsehen machen, wenn Sie nach London heimkehren, spricht allerdings nichts gegen ein Erinnerungsfoto.«

Damit zeigte sich Veyron sofort einverstanden. Sie verabschiedeten sich von MacElhoe und kehrten zu Toms Käfer zurück. Unverrichteter Dinge und über MacElhoe nachdenkend, fuhren sie in Richtung Stadt. Für Vanessa war der Dendrologe nichts anderes als ein Irrer, Veyron fand ihn dagegen interessant, während Tom versuchte, die Liebe des Mannes zu diesem Baum nachzuvollziehen.

Sie erreichten kaum die ersten Gebäude von Fort William, als Veyron Tom anwies, sofort in die nächste Hofeinfahrt abzubiegen. Er klang dabei streng wie ein General und Tom hatte Mühe, das Lenkrad rechtzeitig herum zu reißen und den alten Wagen zum Stehen zu bringen. Ein elektronisches Aufheulen und ein lautes Knarren zeugten vom Aktivieren zusätzlicher Bremsen, die Wimille in den Wagen installiert hatte.

»Was ist los? Werden wir verfolgt?«, rief Vanessa aufgeregt.

»Wir warten«, tat Veyron kund.

»Worauf denn?«

Eine ganze Zeit lang antwortete er nicht, sondern starrte konzentriert in den Rückspiegel. Noch mehr Zeit verging. Vanessa und Tom sahen sich nervös um. Zwei ältere Herrschaften hinter einem Wohnzimmerfenster schauten zu ihnen herein. Der Mann zeigte ihnen ganz deutlich einen Vogel. Es vergingen weitere fünf Minuten, in denen Veyron nichts Anderes tat, als in den Rückspiegel zu starren. Die Leutchen im Wohnzimmer telefonierten inzwischen. Tom biss sich auf die Lippe. Womöglich würden sie es bald mit der Polizei zu tun bekommen. Hier in Schottland gab es keinen Inspector Gregson, der sie vor Unannehmlichkeiten bewahren konnte.

Schließlich rauschte hinter ihnen einen dreckiger Land Rover vorbei, bog um die Ecke und verschwand in einer Seitenstraße.

»Darauf«, sagte Veyron endlich, als habe es die vergangenen zehn Minuten gar nicht gegeben. »Das war MacElhoe. Er fährt jetzt zu unserem Hotel und überprüft die Geschichte, die ich ihm erzählt habe. Er ist sehr misstrauisch. Also los, Tom: Rückwärtsgang, und dann zurück zu MacElhoes Linde.«

»Was soll das Versteckspiel? Das hätten wir doch gleich machen können«, maulte Vanessa.

Diesmal antwortete Veyron sofort. »Ich will mir die Linde noch einmal ganz in Ruhe ansehen — ohne dass mir ein schießwütiger Doktor MacElhoe dabei pausenlos auf die Finger schaut. Dieser Baum führt uns nach Elderwelt.«

Abermals parkten sie bei der alten Kiesgrube, direkt neben einem riesigen Schürfkübelbagger. Dem alten Rosthaufen wuchsen bereits Farne und Sträucher aus den Schlitzen der Motorlüftung.

Vergessen und verrottet, dachte Tom. Wahrscheinlich war es schlichtweg zu teuer gewesen, das Stahlmonster von hier wegzuschaffen. Er fragte sich, was letztlich länger hier stehen blieb: Der Bagger oder die alte Linde MacElhoes. Er hoffte sehr, dass die Linde das Rennen machte.

»Nimm das Daring-Schwert mit«, riefen ihn Veyrons Worte wieder zurück ins Hier und Jetzt. Tom nickte, nahm seinen Rucksack und holte dann ein langes, in Stoff gewickeltes Bündel aus dem Kofferraum. Er löste die Verschnürung, und das dünne, elegante Schwert kam zum Vorschein. Seine in die Klinge eingearbeiteten Saphire funkelten im Sonnenlicht. Probeweise schwang er es einmal durch die Luft, dann steckte er es sich in den Gürtel. Im gleichen Augenblick löste es sich in Nichts auf. Magie höchster Ordnung.

Vanessa schüttelte den Kopf. »Daran werde ich mich nie gewöhnen«, meinte sie. »Eigentlich hatte ich gehofft, nie wieder etwas von den Zaubern Elderwelts zu sehen. Scheiße.«

Diesen Standpunkt konnte Tom nicht im Geringsten teilen, doch er verkniff sich jeden Kommentar. Er wollte nicht schon wieder mit Vanessa über dieses Thema streiten. Sie holte eine kleine Schachtel aus dem Kofferraum, machte sie auf und fischte das Gerät heraus, das darin aufbewahrt wurde. Es war Wimilles Handgelenk-Elektroschocker, eine mächtige Verteidigungswaffe. Mit Hilfe eines starken Akkus erzeugte er eine Spannung, die ausreichte, um einen ausgewachsenen Stier außer Gefecht zu setzen. Seine Enterhaken verschoss der Apparat auf fast zehn Metern. Bei ihrem letzten Abenteuer in Elderwelt hatte ihnen diese Erfindung gute Dienste geleistet. Zufrieden schnallte sie sich den Schocker um den Unterarm, ehe sie das Akkupack an den Gürtel heftete. Danach schlüpfte sie in ihre Jacke, sodass von der Waffe nichts mehr zu sehen war. »Also los, suchen wir ein paar streitsüchtige Schrate!«

Sie schulterten ihre Rucksäcke und kehrten zu der riesigen Linde zurück. Veyron erklärte ihnen, weswegen er überzeugt war, dass dieser Baum ein Tor nach Elderwelt verbarg.

»Mir ist das ungewöhnliche Wachstum des Stammes aufgefallen.« Veyron deutete auf den breiten Spalt, der den Stamm der Linde bis zu einer Höhe von vier Metern teilte. »MacElhoe führt diese Aushöhlung auf das Alter des Baumes zurück, aber bei genauerem Hinsehen lässt sich keine Spur von Verfall erkennen. Der Stamm ist in Wahrheit um ein Durchgangstor herumgewachsen. MacElhoe weiß das nicht und kann es nicht einmal erahnen. Mitten in der Linde befindet sich eines der magischen Zaubertore der Illauri, Jahrtausende alt und von allen Menschen vergessen. Hast du deinen Erlaubnisstein dabei, Tom?«

Tom fasste sich an die Hosentasche, spürte seinen Geldbeutel. Darin befand sich der magische Stein, ein winziger blauer Kiesel, den er von der Königin der Elben geschenkt bekommen hatte. Nie würde er ihn vergessen oder zurücklassen. In der Gesellschaft Veyrons musste man immer damit rechnen, plötzlich nach Elderwelt verschlagen zu werden.

»Dabei und bereit zum Einsatz«, antwortete er. Veyron nickte. Eben erreichten sie den Baum und wollten schon durch den Spalt spazieren, als Vanessa plötzlich stehenblieb.

»Moment mal«, rief sie protestierend. »Wissen wir überhaupt, wohin es uns verschlagen wird?«

Veyron sah sie an, als hätte sie die dümmste Frage der Welt gestellt. »Selbstverständlich nicht, Miss Sutton. Aber es ist unwahrscheinlich, dass wir im luftleeren Raum landen werden, genauso wenig wie im Herzen Darchorads, falls das Ihre Sorge ist. Vielmehr schätze ich, dass es ein menschenfreundlicher Ort sein wird«, erwiderte er kalt. Vanessa schien er damit nicht sonderlich zu überzeugen.

»Und das schließen Sie woraus?«

»Dieser Baum ist einzigartig, nicht wahr? Wir sehen hier nirgendwo abgeschlagene Äste. Die Geschossbolzen der beiden Attentäter bestanden jedoch aus frischem Holz. Wenn es nur diesen einen Baum auf unserer Welt gibt, müssen sie ihre Waffen aus einem gleichartigen Baum aus Elderwelt haben. Es ist also anzunehmen, dass sie das Gegenstück zu diesem Exemplar hier kennen und durch ihn hierher gelangt sind. Einer der beiden Attentäter war Owain Grady, ein Junge aus unserer Welt. Seine Zusammenarbeit mit der zweifellos nicht ganz menschlichen Attentäterin lässt darauf schließen, dass sie vor dem Attentat beide aus Elderwelt kamen. Folglich muss der Ursprungsort für Menschen gut geeignet und Reisen durch das magische Tor bekannt sein. Reicht Ihnen diese grobe Analyse, oder bevorzugen Sie noch mehr Details?«

Vanessa hob abwehrend die Hände. »Schon gut, schon gut. Immer mit der Ruhe. Ich meinte ja bloß.«

Tom biss sich auf die Lippe. Er wusste, wie wenig Veyron von Toms Beziehung zu Vanessa hielt. Das äußerte sich nicht nur darin, dass sich Veyron offenkundig weigerte, Vanessa mit Vornamen anzusprechen, sondern auch in den fast feindseligen Belehrungen, die er ihr erteilte.

»Gehen wir jetzt hindurch, oder warten wir, bis MacElhoe zurückkehrt und uns niederschießt?«, versuchte Tom sie alle wieder auf das eigentliche Thema zurückzuführen. Veyron nickte, und auch Vanessa war einverstanden. Zu dritt traten sie auf den riesigen Stamm zu, zogen die Köpfe ein und zwängten sich durch den Spalt. Ein leichtes elektrisches Kribbeln lief durch Toms Körper und stellte ihm die Haare auf. Seltsam. So etwas hatte er bei früheren Reisen nach Elderwelt nie gespürt.

Auf der anderen Seite kamen sie wieder aus dem Baum heraus. Die Landschaft hatte sich deutlich verändert. Die Berge waren verschwunden, ebenso das nahe Fort William und der Loch Linneh. Ein frischer, salziger Wind blies ihnen in die Gesichter. Die Gegend rund um den Baum bestand aus nichts anderem als einer flachen Wiese aus fast schulterhohem Gras, mit buschigen Ähren und dazwischen allerhand bunten Wiesenblumen. Der einzige Baum weit und breit war die alte Linde. Auf den ersten Blick schien sie hier genauso gewachsen zu sein wie in Schottland.

»Wo sind wir?«, fragte Vanessa verwirrt.

»Auf einer Insel.« Veyron deutete nach Süden. Sie schlugen diesen Weg ein, und nach knapp einer Stunde erreichten sie die Küste. Sie fiel gut einhundert Meter steil ab, direkt ins Meer. Es gab keinen Stand, keinen Steg oder sonst irgendein Zeichen menschlicher Zivilisation. Vor ihnen lag nichts als der Ozean Elderwelts; Wasser, soweit das Auge reichte. Keine Spur von Schiffen oder fremden Küsten. Leise rauschend schlugen die Wellen tief unter ihnen gegen runde Felsen. Wie es schien, musste diese Insel kreisrund sein, denn auch im Osten und Westen ließ sich nur Meer ausmachen. Ahnungslos, wo sie gelandet waren, kehrten sie zur Linde zurück und marschierten nach Norden. Veyron zählte die Schritte.

»Fünftausend«, sagte er, als sie die Küste im Norden erreichten. »Exakt dreitausendfünfhundert Meter. Ich bin sicher, es sind nach Westen und Osten genau dieselben Entfernungen. Die ganze Insel hat somit einen Durchmesser von sieben Kilometern, mit der Linde als perfekten Mittelpunkt. Müsste ich raten, würde ich sagen, dass nicht nur die Linde von den Illauri gepflanzt, sondern die ganze Insel von ihnen erschaffen wurde. Sie muss etwas Besonderes sein.«

»Ja, besonders einsam vielleicht. Hier gibt’s gar nichts! Wir sind im Nirgendwo gelandet«, konterte Vanessa. »Von wo sollen bitteschön Ihre Attentäter gekommen sein? Von hier? Haben die sich die ganze Zeit unter dem Gras versteckt?«

Ratlos, was es mit diesem Ort auf sich hatte, kehrten sie zu dem riesigen Baum zurück. Veyron umrundete ihn mehrmals, untersuchte die Äste der gewaltigen Baumkrone.

»Keine abgehackten Äste«, stellte er schnell fest.

»Es ist eine Sackgasse«, glaubte Tom. Resigniert setzte er sich auf den Boden. Seit über zwei Stunden rannten sie auf dieser Insel herum.

»Was überzeugt dich davon?« Sein Patenonkel schaute ihn an, als könne Tom Eins und Eins nicht zusammenzählen.

Tom schnaubte und deutete hinaus auf die grüne Landschaft.

»Spricht diese Insel nicht für sich?«

»Doch, das tut sie. Wie mir scheint, machst du deine Augen nicht weit genug auf. Was siehst du?«

»Eine kreisrunde Insel, genau sieben Kilometer im Durchmesser, von den Illauri irgendwo mitten im Ozean Elderwelts geparkt, schulterhohes Gras, eine einsame Linde mitten im Zentrum der Insel und drei Narren, die sich weiß was davon erhoffen«, gab Tom säuerlich zurück.

»Ich sehe nur einen Narren«, erwiderte Veyron bar jeglicher Emotion. »Einen Narren, der zum Beispiel nicht die Schneisen sieht, die wir auf unseren Märschen zu den Küsten durch das Gras geschlagen haben.«

»Na gut, die halt dann auch noch«, brummte Tom.

»Und die Schneisen, welche die Besucher vor uns geschlagen haben. Hier zum Beispiel.« Veyron deutete nach Westen, zu einem der sechs Bogen, welche die Hauptäste bildeten. »Hunderte von Grashalmen sind umgeknickt und gebrochen. Spuren von zwei Besuchern. Der Großteil des Grases konnte sich inzwischen wieder aufrichten, aber die abgeknickten Halme blieben.«

»Stimmt«, sagte Vanessa. »Jetzt sehe ich es auch.«

»Sie sahen es die ganze Zeit, nur wahrgenommen haben Sie es nicht. Ebenso wenig wie Tom«, sagte Veyron. »Was fällt Ihnen sonst noch auf?«

Vanessa musste sich konzentrieren. Von neuem Interesse geweckt, stand Tom auf und trat an ihre Seite. Gemeinsam untersuchten sie die Spuren im Gras, folgten ihnen ein paar Meter, bis sie direkt vor dem riesigen Astbogen standen.

»Hier hören die Spuren auf«, bemerkte Tom. Das Gras jenseits des Astes war vollkommen unberührt.

»Wohin können die beiden Besucher verschwunden sein? Sind Sie den gleichen Weg wieder zurückgegangen? Dann müsste das Gras an der Stelle jedoch besonders zertrampelt sein, was nicht der Fall ist. Sind sie also fortgeflogen?«, fragte Veyron spitz. Die Antwort schien offensichtlich — und doch regelrecht unglaublich.

»Ein zweites Tor? Meinen Sie, dieser Ast ist ein zweites Tor?«

»Testen wir es«, sagte Veyron, packte Vanessa und Tom an den Schultern. Sie schritten unter dem Bogen durch.

Tom musste den Arm heben, um die grelle Sonne abzuschirmen, die ihm plötzlich in die Augen brannte. Das herbstliche Wetter Schottlands und das windige Klima der einsamen Insel waren durch eine trockene Hitze ausgetauscht, die saftigen Wiesen wichen einem ausgedörrten, staubigen Boden. Grauer Sand bedeckte Täler und Hügel, welche sich rund um die Linde ausbreiteten. In der Ferne ließ sich ein hohes, schneebedecktes Gebirge ausmachen. Einer der Gipfel entpuppte sich als qualmender Vulkan. Die Linde stand inmitten eines lichten Steppenwaldes. Weit und breit schien sie auch hier der einzige Vertreter ihrer Art zu sein. Alle anderen Bäume bestanden aus hochgewachsenen Kiefern, buschigen Zypressen und stacheligen Araukarien, alles Bäume, die sehr viel besser an ein heißes Klima angepasst waren. Ein paar wenige Vögel zwitscherten in den Baumkronen. Sehen konnte man sie jedoch nicht.

»Okay, Ihre Theorie stimmt schon mal«, raunte Vanessa. »Aber wo sind wir jetzt?«

»Ich fürchte, das vermag ich Ihnen nicht zu sagen, Miss Sutton. Das hier ist ein Teil Elderwelts, von dem ich bisher nichts wusste.«

Vanessa warf Veyron einen schadenfrohen Blick zu. »Echt? Sie wissen einmal irgendetwas nicht? Gibt’s das?«

Er musste etwas tun, das spürte Tom. Ansonsten gingen die Boshaftigkeiten zwischen seiner Freundin und seinem Patenonkel von Neuem los.

»Ist doch egal, wo wir sind. Wir müssen die beiden Killer finden, Owain und das dürre Riesenweib«, brummte er.

Sofort kehrte Veyrons Aufmerksamkeit zur Umgebung zurück. Er sank in die Hocke und untersuchte den Boden. Blitzschnell schien er eine Spur zu finden.

»Hier lang.« Er deutete nach Norden. Sie machten ein paar Schritte von der Linde fort, schauten sich im Wald um. Abgesehen von den verschiedenen Koniferen-Arten gehörten noch vereinzelte buschige Farne und Polstergräser zu den wenigen anderen Pflanzenarten. Hier und da fanden sich auch Stechginster und ein paar Kakteensträucher.

Je weiter sie in den Wald vordrangen, desto weniger sangen die Vögel. Die Anwesenheit menschlicher Besucher schien sie zu alarmieren. Tom kam die plötzliche Stille ausgesprochen gespenstisch vor. Er fühlte sich beobachtet; nicht nur von den Vögeln in den Kronen. Nervös sah er sich um, versuchte irgendetwas hinter den Bäumen oder den Sträuchern zu entdecken. Waren da Tiere? Oder gar Menschen, die Einheimischen dieses Landes vielleicht? Sehen konnte er nichts. Ihm wurde immer mulmiger.

»Hier stimmt etwas nicht«, raunte er Vanessa zu. Ohne hinzusehen schnappte sie seine Rechte und drückte sie fest.

»Wir sind nicht allein«, flüsterte sie.

»Zutreffend«, meinte Veyron ein paar Schritte voraus. Er untersuchte die Fußspuren. Tom konnte in dem Staub rein gar nichts sehen, aber er war auch kein geschulter Fährtenleser wie Veyron.

»Unsere beiden Todesengel haben an dieser Stelle kehrt gemacht. Interessant. Hier sind noch andere Spuren«, ließ er Tom und Vanessa wissen, schürzte kurz die Lippen. »Jedoch keine menschlichen.«

»Vielleicht waren es Schrate«, entgegnete Vanessa leise.

Veyron schüttelte den Kopf. »Definitiv nicht.« Er deutete auf einen Fleck, der sich einige Meter vor ihnen befand. Tom schnappte nach Luft. Es waren deutliche Abdrücke im Boden, jeder etwa einen Meter groß; von riesigen Füßen mit drei langen Zehen.

Vanessa schnappte nach Luft. »Was für ein Ungeheuer war das?«

»Schwer zu sagen, Miss Sutton. Wer immer die fremden Wesen waren, sie kamen kurz nach unseren beiden Flüchtigen hierher und folgten deren Spuren. Vielleicht wurden sie vom Geruch angelockt und haben Beute gewittert«, erklärte Veyron.

Als wollte ihm irgendeine höhere Macht Recht geben, brüllten auf einmal mehrere Tiere. Die Geräusche kamen von irgendwo hinter den nahen Hügeln, laut und dröhnend, wie die Signalhörner eines Ozeandampfers. Was immer es war, es näherte sich dem Wald. Vanessa machte einen Schritt rückwärts.

»W … wa … was sind das für Geschöpfe?«

»Keine Elefanten, soviel dürfte feststehen«, antwortete Veyron ihr, noch immer die Ruhe in Person. Wie Tom ihn einschätzte, wollte er den fremden Wesen sogar entgegengehen. Zum Glück war Vanessa jedoch gänzlich anderer Meinung.

»Sagten Sie nicht, dass die beiden Attentäter zurück zur Linde gerannt sind? Sollten wir das nicht auch tun?«

Als könnte die alte Linde irgendeinen Schutz bieten, wandte sie sich dem alten Baum zu. Heftig zerrte sie an Toms Hand, ehe er sich endlich in ihre Richtung bewegte. Ununterbrochen hielt sie Toms Hand, drückte so fest zu, dass sie ihm beinahe die Finger brach. Schnurstracks hielten sie auf den Astbogen zu.

»Okay, dieser Baum führt zu mehreren Orten Elderwelts. Das ist schön. Und jetzt lasst uns abhauen. Auf der anderen Insel war es eigentlich gar nicht so übel«, meinte sie voller Hysterie. Ihre Worte überschlugen sich beinahe. Hinter ihnen wurde das dumpfe Dröhnen der fremden Tiere lauter. Sie kamen genau in ihre Richtung, wahrscheinlich vom Geruch der drei Besucher angelockt.

»Halt, wartet!«, rief Veyron noch, doch da waren sie schon unter dem Bogen durch.

Veyron Swift und das Grabmal der Engel

Подняться наверх