Читать книгу Veyron Swift und das Grabmal der Engel - Tobias Fischer - Страница 7
Angel
ОглавлениеZumindest erspart man uns Fesseln, dachte Tom, als er von Jordi, Sarah, Ellen und ein paar weiteren Kämpfern von Kommando Bracket in die Mitte genommen wurde. Der Weg ging hinunter ins Tal, vorbei an einigen Dorfbewohnern. Tom fand Ælfthryth und ihre Kinder, die ihnen erschrocken hinterherblickten. Dabei wusste er nicht, was die arme Mutter mehr entsetzte: Das Verschwinden ihrer Hoffnungen mit der Verhaftung der vermeintlichen Talassairi, oder dass es wirklich eine Macht gab, welche mit der schratischen Höllenbrut so leichtes Spiel hatte. Bruder Offa und die Verwalter wurden ebenfalls abgeführt. Ihnen band man die Augen und die Hände.
»Was passiert mit Offa und den anderen?«
Ellen warf Tom einen erstaunten Blick zu, als müsste er wissen, was mit denen geschah.
»Über sie werden wir im Rat Gericht halten. Sie sind Diener des Dunklen Meisters und der verfluchten Company. Wenn sie für schuldig befunden werden, vollstrecken wir das Urteil.«
In Toms Ohren klang das wenig hoffnungsvoll für den Mönch und die alten Herren. »Ihr werdet sie doch nicht etwa töten, oder?«
»Kommt auf die Schwere ihrer Vergehen an. Auf dieser Insel hat die Company eine Art Religion durchgesetzt. Man muss genau schauen, wer nur ein leichtgläubiger Anhänger ist und wer mit voller Absicht handelt.«
»Um diesen König solltet ihr euch kümmern«, mischte sich Vanessa ein. »Der ist der eigentliche Verbrecher.«
»Ja«, stimmte Jordi zu. »Der kommt schon noch an die Reihe. Aber der König von Abulon hat Truppen unter seinem Kommando. Noch sind wir zu schwach, aber sobald die Elderwelt-Armee fertig ausgebildet ist, kann er was erleben.«
»Die Elderwelt-Armee?«, wollte Veyron plötzlich wissen. Bislang hatte er dem ganzen Geschehen schweigend zugesehen und lieber die Krieger von Kommando Bracket oberserviert. Tom war überzeugt, dass Veyron inzwischen von allen wusste, an welchen Verletzungen sie litten oder wie es um ihre Ausbildung stand.
»Ja, die Elderwelt-Armee. Kommando Bracket ist die Spezial-Einheit. Wir bilden auch eine Armee aus. In …«
»Halt doch endlich mal die Klappe, Jordi! Erzähl denen nichts mehr. Das sind unsere Gefangenen«, giftete Sarah.
»Wow«, gab Vanessa nicht weniger unfreundlich zurück. »Vor zwei Jahren konntet ihr euch gar nicht schnell genug der Allianz der Verlorenen anschließen. Und jetzt sind wir plötzlich eure Feinde?«
Sarah wusste nicht, wie sie auf diesen Vorwurf reagieren sollte. Verstört blickte sie zu ihrer besten Freundin, Ellen. Doch auch die vermochte lediglich ahnungslos mit den Schultern zu zucken.
»Wird sich schon aufklären«, gab sich Ellen zuversichtlich. Tom wusste nicht, ob er diesen Optimismus teilen sollte. Owains feindseliges Gehabe gefiel ihm nicht, und die bisherigen Informationen zu Kommando Bracket klangen kaum besser.
Der Nebel wurde wieder dichter, je tiefer sie kamen, aber auch so ließ sich erahnen, wohin der Weg ging: Zurück zur großen Linde. Für Veyron erwies es sich als ein Leichtes, Jordi aus der Reserve zu locken. Zu gerne prahlte der junge Mann mit den Erfolgen von Kommando Bracket. Auf diese Weise kam heraus, dass der König Abulons das erste Mal vor rund sechzig Jahren auf diese Insel kam und die sieben Earls ganz banal mit den Verheißungen von Geld und Macht zu Unterstützern gewann. Kommando Bracket unterhielt in allen Landesteilen Abulons Spione. Der Angriff auf diese Mine war schon seit Wochen geplant.
»Eure Ankunft zwang uns schließlich zum Handeln. Unsere Spione haben gesehen, wie ihr aus dem Baum gekommen seid und haben sofort Alarm geschlagen.«
Ein Blick zu Veyron erflehte ein paar Hinweise auf die Spione von Kommando Bracket, doch Toms Patenonkel war in den schweigsamen Modus verfallen. Lediglich daran, wie schnell seine Pupillen hin und her sprangen, ließ sich erahnen, wie intensiv er über die ganzen verfügbaren Informationen nachdachte.
Nach und nach ließ der Morgennebel nach, warme Sonnenstrahlen bahnten sich wie göttliche Scheinwerfer ihren Weg durch das triste Grau. Der Hügel mit der verstümmelten Linde kam in Sicht. Ohne Zögern hielten die Frauen und Männer von Kommando Bracket darauf zu. Zehn von ihnen marschierten auf einen der drei Astbogen zu und waren von einem Moment auf den anderen wie vom Erdboden verschluckt. »Was geschieht eigentlich mit den Leuten aus dem Dorf?«, fragte Tom Jordi und die beiden Mädchen.
»Die sind jetzt frei und können tun lassen, was sie wollen«, meinte Sarah mit einem zufriedenen Grinsen.
»Und der König? Denkt ihr, der wird sie in Ruhe lassen? Glaubt ihr nicht, dass er seine Truppen schicken wird, wenn die Schrat-Patrouille sich nicht zurückmeldet? Ich meine, der Kerl ist ein Handlanger des Dunklen Meisters. Und selbst wenn nicht, wovon sollen die Menschen leben? Wer zahlt ihnen den Lohn, wer versorgt sie mit Brot?«
»Hör auf«, durchschnitt Owains Stimme die Luft. Mit glutrotem Haupt stampfte er auf Tom zu, die Rechte auf dem Knauf seines Schwerts. Mit diesem Kerl war nicht zu spaßen.
»Was soll das zersetzende Gerede? Sollen die Menschen etwa besser versklavt bleiben?«
»Nein, sicher nicht. Aber es wird schon mehr notwendig sein, um diesen Menschen zu helfen, als einfach ein paar Schrate fertig zu machen.«
Ein kurzer Ruck der Finger genügte und Owain hatte sein Schwert schon halb gezogen. »Was soll das? Bist du jetzt etwa auf der Seite der Company?«
»So ein Quatsch!«, kam Vanessa Tom zur Hilfe. Sie nahm ihm an Arm und zog ihn halb schützend hinter sich. Zum Glück. Es hätte nicht viel gefehlt, und Tom hätte sich auf diesen aggressiven Scheißer gestürzt.
»Wer hat der Schwarzen Horde in den Arsch getreten? Du warst es jedenfalls nicht, Owain.«
Der jugendliche Krieger schnaubte zornig, wandte den beiden blitzschnell den Rücken zu. »Schafft sie nach drüben!«
Trotz Owains Unfreundlichkeit gab es für Sarah keinen Grund, den drei Helden von Allianz der Verlorenen zu misstrauen. Sie machte eine einladende Geste zum Astbogen. Okay, wie Tom dachte, eine weitere Reise in ein fremdes Land Elderwelts. Mal schauen, wo es uns diesmal ausspuckt.
Zuerst ging Jordi unter dem Bogen durch, danach waren die drei Gefangenen an der Reihe, gefolgt von Ellen und Sarah. Wie schon die Male zuvor fanden sie sich in einer vollkommen neuen Landschaft wieder. Abermals schien die uralte Linde auf einer Insel inmitten eines Meeres zu stehen. Diesmal waren die Ausmaße jedoch überschaubarer. Die Wellen brachen sich nur wenige Meter entfernt an schroffen, kahlen Felsen. Außer dem gewaltigen Baum gab es keine anderen Pflanzen. Man musste aufpassen, um nicht von den glitschigen Felsen ins Wasser zu stürzen. Sonderlich tief schien die See hier nicht zu sein. Alle paar Kilometer ragten weitere kleine Inseln empor. Festland ließ sich jedoch in keiner Himmelsrichtung ausmachen.
Vanessa schien nur wenig beeindruckt. »Wo sind wir denn jetzt wieder gelandet?«
Selbstverständlich fühlte sich Jordi genötigt, die Frage zu beantworten.
»In Fleutian. Vor ein paar hundert Jahren war das hier alles ein weites, grünes Land mit Wiesen und Wäldern. Wunderbar flach war es hier, keine Berge weit und breit, nur sanfte, runde Hügel. Doch irgendwann sackte das Land plötzlich ab, das Meer überflutete alles. Vierzigtausend Quadratkilometer, schätzt man. Bei Ebbe weicht das Wasser weitgehend zurück und man hat in alle Richtungen kilometerweit nur Schlick und Sand unter den Füßen.«
Erstaunlich, wie Tom fand. Wie konnte der jugendliche Krieger nur so viel über dieses fremde Land wissen?
»Hast du das aus irgendeinem Elderwelt-Lexikon?«
»Es gibt sehr detaillierte Beschreibungen dieser Katastrophe in den Klöstern auf Abulon. Wir hatten genug Zeit, alles zu lesen, was dieses Land betrifft. Die letzten Einheimischen Fleutians sind Schlickwürmer. Aber kommt diesen Bestien besser nicht zu nahe, das sag ich euch.«
Ehe Tom erfragen konnte, was denn eigentlich Schlickwürmer waren, wurden die drei Gefangenen von ihren jugendlichen Bewachern auch schon auf die andere Seite der Insel geschickt. Wie sich herausstellte, gab es dort einen kleinen Steg, an dem mehrere klapprige Boote festgemacht waren. Allen war gemein, dass sie sehr breit gebaut waren, mit abgeschnittenem Bug. Auf Tom machten sie den Eindruck von Landungsbooten. Das verwitterte Holz und die vielen ausgebesserten Stellen deuteten auf ein hohes Alter hin. Er fragte Jordi danach, der als Einziger der ehemaligen Mitglieder der Allianz bereitwillig Auskunft gab.
»Ja, das sind die Reste einer Flotte, welche das Imperium Maresium zurückließ, als sie vor zwanzig Jahren versuchten, über Fleutian in den Norden Turanons einzufallen. Eine plötzliche Sturmflut vernichtete die ganze Landungsflotte und kostete dem Imperium ganze vier Legionen. Nur wenige konnten sich auf die kleinen Inseln retten. Am Ende war es nur eine Handvoll Leute, die nach Gloria Maresia zurückkehrten und von dem Unglück berichteten. Damals war gerade der neue Kaiser an die Macht gekommen, Tirvinius. Er beendete auf der Stelle jeden weiteren Invasionsversuch nach Turanon. Ein teures Fiasko für das mächtige Imperium, doch wir profitieren jetzt davon. Rund zwanzig Boote haben wir aus dem Schlick gezogen und wieder flottgemacht. Okay, wir schaffen euch jetzt besser ins Hauptquartier.«
Einer nach dem anderen stieg an Bord. Ellen löste das Tau, und zusammen mit Jordi ruderten sie das breite Boot hinaus auf die Wellen. Für Tom war es kaum vorstellbar, dass es hier einmal Wiesen und Wälder gegeben haben sollte.
»Zumindest wissen wir jetzt, wo wir uns befinden«, raunte ihm Veyron schließlich zu. »Fleutian ist das nordwestlichste Territorium des wilden Turanon und grenzt im Westen zudem an Tewensiniel. Wenn ich mich nicht irre, nannte man dieses Land früher einmal Akkar; ein schon fast mythisches Königreich, das vor rund dreihundert Jahren plötzlich verschwand.«
»Wir schippern jetzt praktisch über die Ruinen von Akkar hinweg?«
»Diese Annahme würde sich zumindest mit Jordis Aussagen decken.«
Vanessa brachte es auf den Punkt. »Was hilft uns das jetzt?«
Veyrons Reaktion bestand in ungläubigem Staunen. Einen Moment schien er richtig nachdenken zu müssen, was er darauf erwidern sollte.
»Das Ausmaß Ihrer Ignoranz, Miss Sutton, erschüttert mich. Nun gut, lassen wir diesen Exkurs in elderweltische Historie. Konzentrieren wir uns auf das Wesentliche. Ist euch bei der alten Linde etwas aufgefallen?«
»Nein«, kam Vanessas prompte Antwort — stellvertretend auch für Tom. Veyron fühlte sich zu einem neuen, hoffnungslosen Seufzen veranlasst.
»Vier Äste wurde abgeschlagen. Die Stümpfe sind noch immer hell und frisch. Es kann erst vor wenigen Tagen geschehen sein, maximal eine Woche alt. Ich denke, wir haben den Ursprungsort unserer Armbrustbolzen gefunden.«
Letztlich spielte dies gar keine Rolle mehr, wie Tom fand. Sowohl Owain als auch die fremde Kriegerin waren ihnen bereits begegnet, und wenn er Owains Stimmung richtig einschätzte, steckten sie bis zum Hals in Schwierigkeiten.
Langsam näherten sie sich dem Hauptquartier. Eine flache, steinige Insel, die nahezu vollständig von der Ruine einer alten Burg ausgefüllt wurde. Ein hoher, rechteckiger Turm, umgeben von eingestürzten Mauerresten früherer Gebäude war alles, was noch von ihr übrig war. Braunes vertrocknetes Gras wuchs vielerorts aus den Mauerritzen. Putz und Farbe waren längst abgebröckelt, von Wasser und Salz aufgezehrt.
Sie ruderten um die Insel herum, bis sie zu einer kleinen Bucht kamen, die früher einmal der Innenhof der Burg gewesen sein musste. Wie die morschen Zähne eines toten Riesen umzingelten sie die Mauern der Ruine. Kommando Bracket hatte sich die Mühe gemacht und hier einen großen Steg konstruiert, an welchem eine Vielzahl an Booten und Flößen lagen. Ellen warf einem hochgewachsenen Krieger am Ufer das Tau zu und er zog das maresische Landungsboot an den Steg heran. Kaum festgemacht, stiegen sie einer nach dem anderen aus. Nach einem kurzen Wortwechsel wurden die drei Gefangenen in Richtung des Hauptturms abgeführt. Sie gelangten in eine große, steinerne Halle, gekrönt von einer alten Gewölbedecke, vielleicht einst der Hauptsaal. Hunderte von Bettlagern fanden sich dort, alle um eine große Feuerstelle in der Mitte versammelt. Hier lebten und schliefen die Krieger von Kommando Bracket. Soweit Tom das feststellen konnte, schienen sie aus allen Ecken der Erde zu kommen. Der Sprache nach stammten einige aus ihrer Welt — Fernwelt, wie sie in Elderwelt genannt wurde — genau wie Jordi, Ellen, Sarah und Owain. Er sah ein Sammelsurium unterschiedlicher Kostüme, welche die Fernweltler wohl für angemessen hielten. Eine ganze Parade von Lederklamotten, mit und ohne Metallzierrat, teure und billige Korsetts, Stiefel mit teilweise unpraktisch hohen Absätzen und Umhänge. Insbesondere die weiblichen Kriegerinnen von Kommando Bracket hingen der absurden Idee nach, in ihrer Aufmachung auch noch möglichst gut aussehen zu müssen. Es war zu offensichtlich, dass der Großteil dieser jungen Leute noch nie ein echtes Schlachtfeld gesehen hatte.
Die Krieger aus Elderwelt zeichneten sich dagegen durch zerschlissene Stoffe in gedeckten dunklen Farben ab. Nur die wenigsten trugen Stiefel, die meisten eine Mischung aus Lederschlüpfern und Wickelgamaschen. Auch hier schienen die meisten aus verschiedenen Gegenden Elderwelts zu kommen. Tom erkannte Tuniken aus dem Imperium Maresium, lange Mäntel und Hauben, wie sie in den Wüstenregionen Neoperseuons getragen wurden und Kleider, die aus Ländern kamen, die er noch nicht kannte. Die Gewänder waren jedoch nicht die einzigen Unterschiede zwischen den beiden Kriegergruppen: In den Augen der Fernwelt-Krieger leuchtete ein Enthusiasmus, der den Leuten aus Elderwelt gänzlich fehlte. Wahrscheinlich war die ganze Situation für die Fernweltler ein fantastischer abenteuerlicher Urlaub, fern von Smartphones und Spielkonsolen, während es für die Elderweltler um Leben, Tod und Freiheit ging.
Der Gedanke, das Kommando Bracket auch in ihrer Welt Krieger rekrutierte, gefiel Tom nicht. Bereits die Schwarze Horde war auf diese Weise vorgegangen, und soweit Tom wusste, konnten Ellen, Sarah, Owain und Jordi als einzige jemals zurückkehren.
Plötzlich wurde er von hinten angerempelt. Ein hochgewachsener, muskulöser Krieger knurrte ihn an. Tom war nur kurz stehen geblieben. »Schon gut, schon gut. Ich geh weiter, okay?«
»Maul halten!«
»Mann, seid ihr Typen freundlich. Wie ein Haufen Schrate.«
Augenblicklich wurde er herumgerissen und von dem Kerl an der Gurgel gepackt.
»Du vergleichst mich nicht mit den Schergen des Dunklen Meisters!«, brüllte der Hüne.
Sofort waren Jordi, Ellen und Sarah zur Stelle. Mühsam trennten sie die beiden voneinander.
»Ist schon okay. Tom hat nur ein loses Mundwerk«, meinte Ellen. Schnaubend ließ Caelas Tom los und trat zurück.
»Die Schrate sind auch nur Sklaven des Dunklen Meisters. Erinnere dich daran: Kein Wesen in Elderwelt wird je frei sein, solange es den Dunklen Meister gibt. Wir kämpfen nicht gegen Völker, Caelas, sondern für die Freiheit aller Völker«, rezitierte Sarah offenbar den Grundsatz von Kommando Bracket.
Kommentarlos drehte sich Caelas um und stapfte zornig davon. Den sollten wir im Auge behalten, dachte Tom. Veyron dagegen schenkte Caelas keine weitere Beachtung.
Aus der Wohnhalle führte ein Treppenhaus in die oberen Stockwerke und damit zweifellos zu den Verließen der Burg — die Keller standen ja allesamt unter Wasser.
»Was ist dir aufgefallen, Tom?«, raunte Veyron ihm schließlich zu. Irgendwie hatte es sein Patenonkel geschafft, sich unbemerkt zurückfallen zu lassen. Weiter vorne war Jordi schwer damit beschäftigt, Vanessa irgendetwas über die Philosophie von Kommando Bracket zu erklären — besserwisserisch von Ellen und Sarah ergänzt oder korrigiert. Die Wachen hinter Tom und Veyron schien es nicht sonderlich zu kümmern, dass sich zwei ihrer Gefangenen leise unterhielten.
»Ungefähr ein Dutzend Menschen aus unserer Welt.«
»Und alle noch sehr jung, einige noch nicht mal erwachsen. Ich würde sagen, dass ich mit meinen vierzig Jahren doppelt so alt bin wie der Älteste von Kommando Bracket.«
»Warum rekrutiert Kommando Bracket nur junge Leute?«
»Junge Menschen sind sehr schnell für eine Sache zu begeistern — und damit leichter zu beeinflussen als jemand mit einem gerüttelten Maß an Lebenserfahrung.«
»Ruhe da vorne!«
Tom hob entschuldigend die Hände. Den restlichen Weg verbrachten sie schweigend. Sie kamen schließlich zu einer schweren Holztür — von außen verriegelt. Jordi sperrte sie auf und bat Tom einzutreten. Vier auf vier Meter maß der der Raum, kalt und karg. Im Süden gab es zwei schmale Schießscharten, durch die man kaum seinen Kopf stecken konnte. Eine Schlafstätte aus Säcken, die mit Stroh gefüllt waren, und zwei Decken aus Schafsfell befand sich neben einem Nachttopf, einer Schüssel Wasser und einem kleinen Hocker. Eindeutig ein Gefängnis.
»Hier musst du erstmal bleiben. Tut mir leid«, sagte Jordi. Er verließ die Zelle wieder. Veyron schenkte Tom noch einen aufmunternden Blick zum Abschied. Die Tür flog zu und wurde verriegelt.
Eingesperrt, dachte er. Schon wieder. Supertoll, großartig, richtig klasse. Danke, Veyron, vielen, vielen Dank. So war das nicht ausgemacht!
»Verflucht, Veyron. Wenn ich wegen Ihnen meine Willkommenswoche in Oxford verpasse, dann …«
Ja? Was dann? Es half ihm gar nichts, seinen nicht anwesenden Patenonkel auszuschimpfen. Er musste hier raus. Doch dafür mussten sie sich irgendwie vorher mit Kommando Bracket arrangieren. Da gab es nur ein Problem: Owain betrachtete sie als seine Feinde. Tom fragte sich, wie die fremde Kriegerin sie wohl einschätzte.
Den Großteil des Tages verbrachte er allein. Zuerst untersuchte er die Tür, ob sie sich irgendwie aushebeln ließ. Fehlanzeige. Es gab auch keine Möglichkeit, durch die Schießscharten zu schlüpfen. Er saß fest. Eine Zeitlang quälten ihn Sorgen um Vanessa und Veyron. Vermutlich ging es ihnen weder schlechter noch besser. Von den Wachen ließ sich keiner blicken. Immerhin hatte man ihm den Rucksack gelassen, und notfalls konnte er ja noch immer das Daring-Schwert rufen. Es ließ sich hoffentlich vermeiden, hier mit Gewalt auszubrechen.
Am späten Nachmittag, die Sonne stand schon recht tief, wurde die Tür endlich entriegelt. Zwei große Wächter traten ein.
»Mitkommen«, befahlen sie barsch. Er folgte ihnen nach draußen und danach die Treppen nach unten. Wo immer es hinging, man brachte ihn offenbar zurück in den bewohnten Teil des Turms. Hier waren die Wände und Boden sauber, Fackeln beleuchteten Treppenhaus und Korridor. Hinter den Türen konnte Tom Leute miteinander reden und lachen hören.
Vor einer schmalen Tür blieben Toms Wachen stehen, klopften zweimal und öffneten sie einen Spalt weit. Mit einer Geste deuteten sie Tom, einzutreten. Misstrauisch folgte er ihrer Anweisung. Abgesehen von einem großen Badezuber war der Raum leer. Wände und Boden waren kahl, keine Fenster, keine Schießscharten. Das einzige Licht spendeten die an der Wand festgemachten Fackeln. Hinter ihm wurde die Tür wieder verschlossen. Er war erneut allein. Etwas unentschlossen schaute er sich den großen Zuber an. Er war voller Wasser, bedeckt von einer dünnen Schaumkrone. Eindeutig ein Bad. Wollte man, dass er sich sauber machte?
Im gleichen Moment kam Bewegung in den Zuber. Eine Gestalt tauchte aus dem Wasser auf, mit dem Rücken Tom zugewandt. Mit einem Aufstöhnen größter Zufriedenheit und Entspannung, warf die Badende den Kopf zurück, peitschte ihr langes, blondes Haar durch die Luft. Tom keuchte erschrocken, als ihn ein ganzer Schwall Wasser von oben bis unten nass spritzte.
Die Badende wandte sich um. Es war die Kriegerin, Tom erkannte sie sofort wieder — und auch, wie gut sie aussah. Gut? Nein, das war nicht das richtige Wort. Umwerfend traf es besser. Ein so ebenmäßiges feines Gesicht hatte er noch nie zuvor gesehen. Wunderbar volle Lippen, eine gerade, niedliche Nase und zwei große smaragdgrüne Augen. Eine perfekte Schönheit. Es war kaum vorstellbar, dass in ihrem gertenschlanken Körper Kräfte schlummerten, um mit einer ganzen Horde Schrate im Alleingang fertig zu werden. Eigentlich war es unmöglich, dass sie so viel Kraft besaß. Aber war das nicht völlig egal? Viel wichtiger schien ihm jetzt, wie Wasser und Schaum von ihrer vollkommen makellosen Haut perlten. Seltsam, dass jemand, der sich im Krieg mit Vampiren und Schraten befindet, nicht die allerkleinste Narbe aufweist, meinte der klare Teil seines Verstandes. Erst vor ein paar Tagen hatte sie sich — mit nicht mehr als einer Abendrobe am Leib — durch ein geschlossenes Fenster geworfen. Jetzt konnte er jedoch keinen einzigen Kratzer auf ihrer Haut entdecken. Ungerechterweise war der Großteil ihres Körpers unter dem dunklen Wasser verborgen. Wenn er vielleicht etwas näher rankam …
»Hey«, unterbrach ihre klare, helle Stimme seine wirren Gedanken. »Du bist Tom, richtig?«
Fasziniert von ihrem Anblick war er zunächst gar nicht fähig, irgendwas zu sagen. Ein Schmunzeln zauberte sich auf ihre Lippen; ihre Wahnsinns-Lippen. Ob er sie küssen durfte? Ach herrje, er könnte sie den ganzen Tag anstarren.
Offenbar tat er genau das. Keck hob sie die Augenbrauen.
»Eingefroren?«
»Was? Ach so … Tut mir leid. Ja, ich bin Tom.«
»Angel.«
Sie reichte ihm die Hand. Fantastisch schlanke Finger, schwarz lackierte Nägel, dachte er. Alles an ihr wirkte vollkommen perfekt.
»Angel«, hauchte er. Ein zutreffender Name. Ganz automatisch ergriff er ihre Hand, deutete — ganz altmodisch — einen Handkuss an. »Und wie lautet dann Euer wirklicher Name, Mylady?«
Sie lachte und rutschte dabei etwas tiefer ins Wasser. Neugierig folgten Toms Blicke ihren Bewegungen, versuchten, ihre Rundungen unter der dünnen Schaumschicht auszumachen. Spinnst du jetzt komplett, Tom? schalt er sich in Gedanken. Angel lachte nur, ein helles, fröhliches Lachen.
»Hey, nicht so förmlich. Ich habe lange in deiner Welt gelebt und weiß, wie da gesprochen wird«, sagte sie. »Nenn mich einfach Angel.«
Stimmt. Sie klang tatsächlich wie ein Mädchen aus der Nachbarschaft. Hatte er sie da schon einmal gesehen?
Ihre großen Augen suchten Toms Blick. Unmöglich, dem stillen Befehl, sie anzuschauen, nicht nachzukommen.
»Willst du auch in den Zuber? Das Wasser ist noch warm.«
Beinahe hätte er »Klar« gesagt, aber etwas ließ ihn innehalten. Angel ruckte gerade ein wenig aus dem Wasser heraus und ihre bare Brust kam zum Vorschein. Tom hob interessiert die Augenbrauen. Ihre Brüste waren recht klein, ganz anders als die von Vanessa, passten aber perfekt zu ihrer schlanken Figur.
Angel grinste, zweifellos über seinen starrenden Blick. Langsam, sichtlich diesen Moment auskostend, rutschte sie zurück unter den Schaum. »Sicher, dass du nicht doch in die Wanne willst? Also mir würde es gefallen.«
Beinahe verschluckte er sich. Ein hirnloses »Ähh …«, war alles, was er hervorbrachte. O Mann, war das peinlich! Er spürte, wie ihm die Wangen rot anliefen. Zum Glück ist Vanessa nicht hier, dachte er. Angel lachte laut und schüttelte den Kopf.
»Wow, plötzlich sprachlos. Süß«, meinte sie schließlich. Keck hob sie eine Augenbraue. »Ob ich dich vielleicht doch noch umstimmen kann?«
»Na klar.« Seine Lippen verzogen sich zu einem schelmischen Grinsen. »Ich lass mich sehr gerne überzeugen.«
Anstatt ihm jedoch diesen Gefallen zu tun, sank Angel sogar noch tiefer in den Trog, um ihn zu necken.
»Ach, nein. Das musst du schon selbst herausfinden«, flötete sie provozierend. »Komm rein.«
Toms Herz schlug wie verrückt. Genau das würde er jetzt tun, alles in ihm schrie danach. Gerade als er an die Gürtelschnalle fasste, um seine Hose aufzumachen, kicherte Angel frech und schüttelte schließlich den Kopf. Von einem Moment auf den anderen verhärteten sich ihre Gesichtszüge. Ihr Blicke wurden so durchdringend und ernst, wie Tom es sonst nur von Veyron kannte.
»Okay, Schluss mit den Spielereien. Du und die anderen beiden, das Mädchen und der Mann, warum seid ihr hier?«
Schade, das wäre auch zu schön gewesen, dachte Tom.
»Wir suchten nach der Herkunft der Geschossbolzen, die Owain und du benutzt habt.« Das war die vollkommene Wahrheit.
Angel nickte. »Wir waren wohl nicht besonders vorsichtig. Weiß sonst noch jemand davon?«
»Nein. Veyron und Wimille haben alle Bolzen an sich genommen. Eine Analyse des Holzes hat uns nach Abulon geführt.«
Auch das entsprach der Wahrheit. Angel ließ sich nicht anmerken, ob sie ihm glaubte oder Misstrauen hegte. »Was habt ihr jetzt vor?«
Da musste Tom eine Weile überlegen. Er beschloss, dies mit einer Gegenfrage zu beantworten. Vielleicht kam er auf die Weise weiter.
»Warum greift ihr die ZTC an?«
»Weil es verbrecherische Schweine sind, die Elderwelt vernichten. Diese Vampire sind eine blutsaugende Mafia. Das sind die schlimmsten Handlanger des Dunklen Meisters. Sie versklaven die Menschen in eurer Welt und auch in dieser, unterhalten Arbeitslager und beuten die Länder aus. Sie finanzieren die Armeen des Dunklen Meisters. Wegen der ZTC wird es hier zum Krieg kommen, zum größten Krieg, den es jemals in Elderwelt gab. Die Zaltianna Trading Company ist eine Krankheit. Sie muss vernichtet werden. Reicht das fürs Erste?«
Tom hielt innerlich die Luft an. Mit einer so direkten und ehrlichen Antwort hatte er nicht gerechnet. Ein Feuer loderte in Angels Augen, brennender Hass und Tatendrang. Es war förmlich zu spüren, wie sehr sie darauf brannte, dieser Bande den Garaus zu machen. Vanessa würde das gefallen, dachte er.
»Werdet ihr euch gegen uns stellen?«, fragte Angel nun. Sorge schwang in ihrer Stimme mit. Ihr schien der Gedanke nicht zu gefallen, gegen Tom und die anderen etwas unternehmen zu müssen.
»Ich weiß es nicht«, meinte er schließlich mit einem Schulterzucken. »Wir kämpfen eigentlich selbst gegen die Company und den Dunklen Meister. Aber Veyrons Methoden sind … anders.«
»Ich hörte von eurer Allianz der Verlorenen«, wechselte Angel erneut das Thema. Sie fasste Tom am Handgelenk, ein sanfter Druck, der jedoch etwas Bestimmendes in sich hatte. »Wir stehen auf der gleichen Seite, Tom. Wir haben alle ein gemeinsames Ziel.«
Sie schien ihn ehrlich überzeugen zu wollen. Ihm kam es vor, als wollte sie ihn unbedingt auf ihrer Seite wissen, als wollte sie, dass er sich Kommando Bracket anschloss. Und er wollte zusagen, er wollte sich ihr anschließen. Das war für ihn selbstverständlich. Und dann würde er zu ihr in die Wanne steigen, sie küssen, sie an sich drücken und …
Ehe seine Gedanken noch ärger davon galoppierten, wurde hinter ihnen die Tür aufgerissen. Seine Aufmerksamkeit kehrte schlagartig ins Hier und Jetzt zurück. Owain und Veyron standen im Rahmen. Tom trat einen Schritt zurück, als sich Angel den neuen beiden Besuchern zuwandte.
»Hey, Angel«, begrüßte Owain die nackte Schönheit. »Veyron Swift will dich sprechen.«
»Kommt rein.«
Veyron und Owain traten ein. Beide blickten zuerst Tom an, dann Angel. Owains Blicke glühten jedoch förmlich vor Zorn. Forsch schritt er zu Angel und fasste sie an den Schultern, als wolle er klar machen, dass sie allein ihm gehörte.
»Was will Tom hier?«
»Mann, Owy. Nur die Ruhe«, schnurrte Angel, ergriff Owains Hand und küsste sie. »Ich habe ihn herholen lassen. Tom ist ein Krieger — genau wie du. Ich wollte ihn kennenlernen, ganz einfach.«
Sie zog Owain zu sich runter und die beiden küssten sich, lange und leidenschaftlich. Eine plötzliche Eifersucht trieb Tom die Farbe ins Gesicht. Angel und Owain hatten also etwas miteinander. Irgendwie war da ja fast klar.
Moment mal, rief da ein anderer Teil seines Verstandes. Du hast Vanessa, verdammt! Was tust du hier eigentlich? Was um alles in der Welt denkst du dir dabei? Tom schüttelte den Kopf, musste sich über sich selbst wundern.
»Lady Angel«, begann Veyron und riss Tom damit zurück in die Wirklichkeit. Sie hob jedoch sofort die Hand. Mit einem genüsslichen Schmatzen trennten sich Owain und Angel voneinander.
»Nicht so förmlich, Veyron. Einfach Angel.«
»Wie Sie wünschen, Angel. Ich denke, Ihnen ist inzwischen durch und durch klar, dass wir kaum eine Bedrohung für Ihre Organisation darstellen. Tatsächlich stehen wir gewissermaßen auf derselben Seite. Unsere Mission …«
Erneut hob sie die Hand, um ihn zu unterbrechen. »Tom hat mir schon alles erzählt.«
Sein tiefes Durchatmen verriet, wie wenig Veyron es mochte, unterbrochen zu werden.
»Nun gut. Somit erlauben Sie uns sicher die Rückkehr nach London? Es gibt noch ein paar Dinge, die ich dort dringend klären muss.«
Owain warf Angel einen Blick zu, der Tom deutlich verriet, wie sehr er dagegen war. Doch Angel zuckte lediglich mit den Schultern.
»Klar. Owy, sorg dafür, dass Veyron, Tom und das Mädchen zurück zur Linde gebracht werden.« Der Befehlston in ihrer Stimme war unüberhörbar. Owain nickte streng, weder protestierend noch sonst irgendwie widerwillig. Er deutete Veyron nach draußen, und gemeinsam verschwanden sie wieder in den Korridoren der alten Burg. Tom wollte ihnen eben folgen, als Angel ihn am Armgelenk festhielt.
»Alles okay?«
Die Frage überraschte ihn.
»Ja, ich denk schon. Warum?«
»Weil Owy so eifersüchtig ist. Das ist er immer, weißt du. Er liebt mich und will mich beschützen.« Sie kicherte leise. »Er ist ein wirklicher Ritter.«
Tom glaubte zu verstehen. Nach allem, was er bisher gesehen hatte, brauchte Angel alles, nur keinen Beschützer. Der arme Owain. Immerhin meinte er es gut.
»Was muss Veyron in London klären?«, wollte sie schließlich wissen.
»Veyron entdeckte dieses Symbol auf euren Armbrustbolzen und hat es mit dem Grabmal der Engel in Verbindung gebracht. Er will mit seiner Suche weitermachen, denke ich.«
Seltsam, wie schnell er dieses Geheimnis nun preisgab. Erst gestern Nacht hatte er Vanessa noch innerlich vorgeworfen, wie leichtfertig sie mit diesen Informationen umging. Nun erging es ihm nicht anders.
Angel schmunzelte, sie sah ihm wahrscheinlich sein plötzliches schlechtes Gewissen an.
»Schon okay. Viel Glück bei eurer Suche.«
»Danke. Deinen Leuten und dir auch viel Glück.«
Er widerstand dem inneren Drang, ihr einen Abschiedskuss zu geben. Mit einem verunsicherten Lächeln trat er hinaus in den Korridor. Er konnte jedoch unmöglich gehen, ohne ihr noch einmal in die Augen zu schauen. Sie lächelte, fast ein wenig traurig. Kann ich auf dich zählen, schien sie ihn zu fragen. Klar, ich werde da sein, lautete seine stille Antwort — und sein felsenfester Entschluss.
Mit dem Boot ging es zurück in Richtung Linde. Inzwischen schickte sich die Sonne an, hinter dem Horizont zu verschwinden. Es musste also bereits Abend sein. Sie hatten das Hauptquartier von Kommando Bracket kaum verlassen, als Tom plötzliche Kopfschmerzen heimsuchten. Ihm wurde schwindelig. Instinktiv musste er ein paar Mal tief durchatmen. Ihm kam es fast so vor, als wachte er nach einer durchzechten Nacht auf.
»Oh, Mann. Geht’s euch auch so?«
»Nein«, kam sofort Veyrons Antwort, auch Vanessa fühlte sich ganz okay. Eine Weile sagte niemand etwas. Toms Gedanken galten noch immer einzig und allein der schönen Angel.
»Was meinen Sie? Haben wir in Kommando Bracket einen Verbündeten gefunden? Glauben Sie, wir können hierher zurückkehren?«
Veyron schaute ihn eine Weile forschend an, ehe er antwortete.
»Ich zweifele nicht an der aufrichtigen Haltung unserer jungen Freunde, wenn es das ist, was du wissen willst, Tom. Jordi, Ellen, Sarah und auch Owain meinen es mit ihrem Kampf für die gute Sache rundheraus ehrlich. Ich denke, sie sprechen auch für all die anderen Krieger, die wir gesehen haben — die wirklichen und den kunterbunten Haufen, der gerne dazugehören möchte.«
In Toms Ohren schwang da eine gehörige Portion Skepsis in der Stimme seines Patenonkels mit.
»Sie haben Angel nicht kennengelernt! Sie meint es genauso ehrlich wie ihre Krieger!«, schimpfte er.
Veyron hob überrascht die linke Augenbraue. »Ich habe Angel mit meiner Antwort nicht ausgeschlossen, Tom.«
Er wollte eben etwas erwidern, als ihm bewusst wurde, dass Veyron recht hatte. Diese zornige Reaktion kam ihm viel zu voreilig über die Lippen. Vielleicht lag das an den Kopfschmerzen. Kleinlaut entschuldigte er sich und schob es auf seine angeschlagene Gesundheit. Immerhin ließen die Schmerzen allmählich nach, und auch der Schwindel verflog mit jedem weiteren Atemzug.
»Schade, dass wir diesen Ritter nicht kennenlernen durften«, seufzte Vanessa nach einer Weile. Die ganze Zeit hatte sie verträumt aufs Wasser gestarrt.
»Welchen Ritter?«, hakte Tom nun nach.
»Den jungen Kerl, der die Schrate fertig gemacht hat. Angel heißt er.«
Da musste Tom laut auflachen. Eine ganze Weile konnte er sich gar nicht mehr beruhigen, nicht einmal die zornigen Blicke Vanessas ließen ihn wieder ernst werden.
»Er ist ein Mädchen«, japste er. »Dein Ritter ist eine Frau.«
»So ein Quatsch! Glaubst du, ich kann einen Mann nicht von einer Frau unterscheiden? Der Ritter war ein Mann, vielleicht sehr schlank, aber garantiert keine Frau!«
Energisch schüttelte Tom den Kopf. »Angel ist eindeutig eine Frau. Ich hab es selbst gesehen.«
»Ich weiß von Ellen, dass der Anführer von Kommando Bracket ein Mann ist. Es ist dieser eine Ritter.« Vanessa war jetzt richtig sauer. In einer kapitulierenden Geste hob Tom die Hände. Er wollte sich mit ihr nicht auch noch in Elderwelt streiten.
»Vielleicht hat sich Ellen versprochen. Soll ja vorkommen. Selbst Veyron passiert das manchmal.«
Ein promptes »Tut es nicht«, kam von dessen Seite als Antwort. »Können Sie mir den genauen Wortlaut von Miss Summers wiedergeben, Miss Sutton?«
»Sicher. Ich fragte Ellen nach ihrem Anführer, wer das sei und wie der so tickt. Sie sagte: ›Angel? Der ist großartig. Wir alle lieben ihn.‹ Genau das sagte sie.«
»Interessant«, meinte Veyron.
Bevor es gänzlich dunkel wurde, erreichten sie die kleine Insel mit der alten Linde. Ein plötzliches Gefühl der Erleichterung ergriff Tom. Dieser Ausflug nach Elderwelt dauerte zwar nur zwei Tage, die ganze Aufregung reichte jedoch für Wochen. Ihr Ruderer brachte sie an Land und führte sie zum Stamm der Linde. Er deutete auf den Spalt im Stamm und sprach in seiner Heimatsprache, in der Hoffnung, die drei würden irgendetwas davon verstehen. »Nach Hause«, sagte er schließlich mit schwerem Akzent.
Veyron bedankte sich mit einem tiefen Nicken. Er griff in seine Jackentasche, holte einen zerknitterten Notizblock und einen Kugelschreiber hervor. Blitzschnell kritzelte er etwas nieder, faltete den Zettel zusammen und reichte ihm den Ruderer.
»Für Angel«, sagte Veyron. Der Ruderer nickte verstehend. Behutsam steckte er den Zettel in seine Gürteltasche.
»Okay, das ist dann der Abschied. Auf nach London«, meinte Vanessa schließlich, packte Tom an der Hand und zerrte ihn unter den Astbogen, Veyron folgte ihnen auf der Stelle.
Nach einer kurzen Reise zurück zur Einsamen Insel und von dort erneut durch den Spalt des Lindenstammes marschiert, hatte Schottland sie wieder. Veyron stellte die Theorie auf, dass die sechs Astbögen der Linde bei Fort William magisch versiegelt waren und nur von der einsamen Insel aus zu ihren Zielen führten. Zwischen Elderwelt und der ihren gab es hingegen nur den Weg durch den gespaltenen Stamm.
Sie kehrten gerade noch rechtzeitig zurück, ehe das letzte Licht des Tages hinter den hohen Bergen verschwand. Ein wundervoller rötlicher Schimmer lag über dem ganzen Land. Ein rascher Blick nach Osten verriet, dass sie wirklich richtig gelandet waren. Nicht weit entfernt ragte der alte Bagger als rostender Titan in den Himmel. Alles schien friedlich und unberührt.
»Sieht nicht so aus, als hätte jemand nach uns gesucht«, meinte Tom erleichtert. »Und keine Spur von MacElhoe.«
Ohne noch länger zu warten, schlugen sie den Weg zu Toms Käfer ein. Hoffentlich war die alte Karre noch an Ort und Stelle. Veyron bezeichnete es als unwahrscheinlich, dass jemand nach ihnen suchte. Im Hotel hatte er die Nachricht hinterlassen, dass sie für ein paar Tage weg sein würden und Dr. MacElhoe wusste nichts von ihrem Vorhaben.
»Ob wir Kommando Bracket wiedersehen werden? Ich würde zu gerne wissen, wie sich Jordi und die anderen Angel anschließen konnten. Woher wussten sie überhaupt von der Existenz dieser Truppe?«, wechselte Vanessa plötzlich das Thema. Tom blieb stehen und starrte sie verblüfft an. Diese Frage war ihm bisher noch gar nicht in den Sinn gekommen.
»Gut, dass Sie es ansprechen, Miss Sutton. Aber keine Sorge, Tom wird bald nach Elderwelt zurückkehren und mehr über Kommando Bracket herausfinden.«
Entgeistert wandte sich Tom seinem Patenonkel zu. »Ich werde WAS?«
»Nun, ich habe Angel die Nachricht zukommen lassen, dass einer oder mehrere von uns nach Fleutian zurückkehren werden. Der beste Kandidat für diese Unternehmung bist du. Miss Angel scheint von dir besonders angetan. Die Blicke, die sie dir schenkte, waren eindeutig.«
»Veyron! Das geht nicht! In ein paar Tagen gehen die Kurse an der Uni los! Ich kann nicht einfach so mir nichts dir nichts nach Elderwelt verschwinden!«
»Brauchst du auch gar nicht. Dank der Linde haben wir nun einen freien Zugang in verschiedene Länder Elderwelts. Ich habe nicht vor, Kommando Bracket länger unbeobachtet agieren zu lassen. Unsere Ziele mögen sich vielleicht decken, aber ich bin mit deren Methoden nicht einverstanden. Außerdem gibt es da noch ein paar Ungereimtheiten, die aufgeklärt werden müssen.«
Tom musste erst einmal tief durchatmen. Es war typisch für Veyron, dass er, ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden, über das Leben der anderen hinwegbestimmte.
»Na gut, ich halte mich bereit. Aber nur an den Wochenenden!«
»Da bin ich auch dabei«, warf Vanessa ein. Sie zog Tom ganz nah zu sich heran. Die Aussage Veyrons, dass Angel Tom offenbar schöne Augen machte, befeuerte ihre Entschlossenheit, ihn nicht wieder allein nach Elderwelt reisen zu lassen.
»Das hatte ich schon befürchtet, Miss Sutton. Nun denn, dann eben Tom und Sie. Doch nun fahren wir erst einmal nach Hause. Nach allem, was wir in Abulon und Fleutian in Erfahrung bringen konnten, erscheinen mir tiefergehende Nachforschungen unerlässlich.«
»Veyron, was ist mit dem Grabmal der Engel?«
»Alles zu seiner Zeit, Tom. Alles zu seiner Zeit.«
Wie sich herausstellte, parkte der Käfer noch immer unberührt neben dem alten Bagger. Sie verstauten ihre Rucksäcke und stiegen ein. Tom startete den Motor. Jetzt ließen sie Elderwelt erst einmal hinter sich, doch bald würde er zurückkehren.
Angel wartete auf ihn.