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Die geheime Gesellschaft

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Es war gerade Mittag, als Tom durch den Spalt des Lindenstamms in Fort William trat und auf der Einsamen Insel landete. Von dort ging es mit einem einzigen Schritt unter den speziell markierten Astbogen nach Fleutian. Munterseelenallein stand er nun auf der kleinen Insel, friedlich schwappten die Wellen des flachen Meeres gegen die schroffen Felsen. Von einem Moment auf den anderen brach jedoch das Unheil über ihn herein: Ein schriller Schrei, dann ein tosender Sturm. Noch ehe er einen Gedanken an das Daring-Schwert richten konnte, packten ihn messerscharfe Klauen an den Schultern und schleuderten ihn durch die Luft. Der Aufprall auf den Felsen der kleinen Insel trieb ihm die Luft aus der Lunge, raubte ihm fast die Besinnung. Beinahe glaubte er zu ersticken. Mit geweiteten Augen suchte er nach dem Angreifer, fand jedoch nur einen riesigen Schatten, der sich blitzartig über ihn senkte. Adlerklauen schnappten nach ihm, erwischten seine Beine. Erneut wurde er in die Luft gehoben und fortgeschleudert. Und abermals raubte ihm die harte Landung auf den Felsen fast die Besinnung. Keuchend rang er nach Luft. Panisch blickte er sich um. Wo war sein Feind, wo war er?

»Professor!« Er wollte schreien, brachte aber nur ein armseliges Winseln zustande. Doch es genügte. Sofort materialisierte sich das Daring-Schwert in seiner Faust, das verschlungene Saphir-Muster in der Klinge schimmerte. Im nächsten Moment peitschte ein ohrenbetäubendes Kreischen auf ihn ein. Eine Wand aus Luft traf ihn mitten im Gesicht, als wäre jemand in der Lage, einen Sturm zu konzentrieren und auf ihn zu werfen. Tom wurde umgeblasen wie ein Strohhalm. Beinahe hätte er sein Zauberschwert fallen gelassen. Immerhin entdeckte er nun seinen Gegner — besser gesagt, seine Gegnerin. Ein paar Meter über ihm schlug eine Harpyie mit ihren gewaltigen Schwingen, fauchte und zischte bösartig. Dann stieg sie höher, offenbar für einen neuen Angriffsflug.

Von Harpyien hatte Tom bisher immer nur gehört, mit Ausnahme der verdorbenen Züchtung der Dunkel-Harpyien, die der Dunkle Meister vor Jahren in Ta-Meri einsetzte. Doch seine Feindin hatte mit diesen abscheulichen Kreaturen kaum etwas gemeinsam. Die Harpyie über ihm besaß einen menschlichen Frauenkörper, dessen Arme sich in riesige Flügel verlängerten. Tom schätzte, dass sie die Spannweite eines Kleinflugzeugs haben musste. Ihre schwarzen Federn schimmerten je nach Bewegung in allen Farben des Regenbogens, mal bläulich, mal grünlich, mal rötlich. Knapp über ihrem Gesäß wuchsen lange Schwanzfedern aus ihrem Körper, was der Harpyie trotz des menschlichen Zentrums ein sehr vogelartiges Aussehen verlieh.

»Hey!«, rief er der Harpyie zu. »Ich bin Tom Packard! Ich bin hier, um Angel zu treffen!« Immerhin konnte er ja versuchen mit diesem Wesen zu kommunizieren. Er hoffte nur, dass die Harpyie nicht irgendein hirnloses menschenfressendes Monster war. Mit den Dunkel-Harpyien hatte er keine guten Erfahrungen gemacht.

Eine ganze Weile wurde er von der Vogeldame umkreist, ehe sie blitzartig aus dem Himmel niederschoss, in einem kunstvollen Schwung abbremste und auf der Spitze des nächsten Astbogens der Linde landete — in sicherer Entfernung zum Daring-Schwert.

Jetzt endlich konnte Tom sie näher betrachten. Ihr Gesicht war zweifellos menschlich, ihre gelben Augen die eines Adlers, wachsam und streng. Anstelle von Haar zierten lange schwarze Federn ihr Haupt, die im Moment wie Stacheln in die Luft standen. Ihr ganzer Körper war von einem feinen bräunlichen Federkleid bedeckt, das lediglich Hals und Kopf aussparte, auf Brust und Bauch war es sehr viel heller. Dann fiel sein Blick auf die scharfen schwarzen Krallenbeine, die unterhalb ihrer Knie begannen. Hätte die Harpyie gewollt, sie hätte ihn mit nur einem Hieb ihrer Klauen töten können.

»Was willst du hier, Mensch?«, blaffte sie ihn an. Ihre Stimme klang hell und klar.

»Ich bin hier, weil ich Angel treffen möchte, die Kommandantin von Kommando Bracket. Ich bin Tom …«

»Packard. Ja, ich habe es gehört, Mensch«, unterbrach sie ihn barsch. »Ich bin Merope, die Kundschafterin von Kommando Bracket. Niemand kommt hierher, ohne dass ich es weiß. Dein Besuch wurde nicht angemeldet!«

Für einen Moment wusste Tom nicht, was er sagen sollte. Die Nachricht, die Veyron hatte Angel zukommen lassen, war schon eine Woche alt. Aber wie hätte er sich auch vorher anmelden sollen? Einen Brief durch den Durchgang werfen mit der Aufschrift Ich komme jetzt rüber? In seiner Verärgerung stand er kurz davor, die Harpyie genau das zu fragen. Vielleicht wollte sie ihn aber auch nur provozieren. Ihm war nicht entgangen, mit welcher Feindseligkeit sie betonte, dass er ein Mensch war.

»Du kannst Menschen wohl nicht besonders leiden, wie?«

Merope schnaubte verächtlich. »Warum sollte ich das? Ihr Menschen jagt uns Harpyien schon seit Jahrhunderten. Nur noch im Hochgebirge Achaions sind wir vor euch sicher. Ihr Menschen seid Monster! Ihr jagt und vernichtet alle anderen Wesen, die anders sind als ihr. Oder ihr unterdrückt und versklavt uns, zwingt uns euren Willen und eure Vorstellungen auf!«

Er musste schlucken, als er diese Anschuldigungen hörte. Weder konnte er sie leugnen noch bestätigen. Achaion, wo die Harpyien herkamen, hatte er nur ein einziges Mal für wenige Stunden besucht — und da keine Menschenseele getroffen.

»Nicht alle Menschen sind gleich.«

Meropes Haarfedern senkten sich und fielen ihr nun über Hals und Rücken. Offenbar kam sie zur Ruhe — oder sie hatte entschieden, Tom nicht als Gefahr zu betrachten.

»Nein, sind sie nicht. Aber die Guten unter den Menschen sind nicht die Mehrheit! Der Großteil hasst und fürchtet uns. Deshalb werden wir gejagt. Den Stamm der Podarges haben die Menschen Achaions schon ausgelöscht, und von den Aello und uns Okypetes sind auch nur noch wenige übrig.«

»Und trotzdem kämpfst du für Kommando Bracket?« Entdeckte er gerade einen Fehler in ihrer Logik? Die Antwort Meropes bestand in einem hellen, höhnischen Lachen.

»Denkst du, die Menschen sind die Mehrheit bei Kommando Bracket? Vielleicht sind sie es hier in Fleutian, aber nicht bei der Elderwelt-Armee!«

Das brachte Tom wieder ins Grübeln. Von der Elderwelt-Armee hatte er schon gehört, konnte sich darunter aber nicht viel vorstellen. Merope deutete seinen verdutzten Gesichtsausdruck falsch. Ein Lächeln, nun sehr viel freundlicher, stahl sich auf ihre Lippen. »Wie gesagt, nicht alle Menschen sind gleich. Es gibt ein paar, die keine Monster sind.«

»So wie Angel, nehme ich an.«

Erneut bestand Meropes Antwort aus schrillem Gelächter. »Du denkst, Angel ist ein Mensch? Du bist ulkig, Tom Packard.«

Einen Moment später hatte sie sich beruhigt. Sie sprang von dem Ast herunter und landete direkt vor ihm. Mit ihren langen Vogelbeinen war sie um gut einen Kopf größer als er. Instinktiv wich Tom zurück, wobei er beinahe ins Stolpern kam.

»Steck dein Schwert weg, Tom Packard, dann sei dir der Aufenthalt in Fleutian gestattet.« Ein wenig widerwillig kam er der Aufforderung nach. Es half nichts, mit einer Harpyie zu streiten und am Ende alles nur noch schlimmer zu machen. Er steckte das Daring-Schwert in seinen Gürtel, wo es sich auf der Stelle in Nichts auflöste. Merope wich einen Schritt zurück. Offenbar war sie mit Simanui-Zauber nicht vertraut. Einen Moment standen sie sich gegenüber, musterten sich. Dann stieß Merope einen krächzenden Schrei aus. Einen Moment passierte gar nichts, dann kamen plötzlich aus allen Richtungen Krähen angeflogen. Es mussten mehrere Dutzend Tiere sein. Krächzend umkreisten sie die alte Linde, um sich dort auf den Ästen niederzulassen. Merope hob ihren rechten Flügel, und prompt setzte sich eine der Krähen darauf. Behutsam streichelte die Harpyie den schwarzen Vogel mit ihren langen Federn. Die Krähe schien es zu genießen.

»Das ist Keleino«, stellte sie Tom den Vogel vor. »Die Älteste des Schwarms. Sie ist sehr intelligent.«

Wie Tom auffiel, hatte die alte Krähe kaum mehr Federn auf dem Kopf, aber ihre schwarzen Augen wirkten noch immer klar und geheimnisvoll.

»Diese Vögel sind meine Augen und Ohren. Sie sehen alles, sie hören alles. Es gibt kein Versteck, Tom Packard, an dem sie dich nicht finden«, warnte Merope ihn.

»Ich werde schon nichts anstellen«, versicherte er ihr. Merope musterte ihn streng, ehe sie nickte. Ohne Vorwarnung sprang sie in die Luft, mindestens drei Meter hoch, breitete ihre Flügel aus. Ein einziger Schlag genügte, um sie noch höher zu befördern. Tom konnte nur staunen. Hatte ihm Veyron nicht mal erzählt, dass Harpyien, genau wie Vögel, hohle Knochen besaßen?

»Was jetzt? Wohin fliegst du?«, rief er der Harpyie hinterher.

»Zur Festung. Da wirst du dich auch hinbegeben.«

»Und wie komme ich da hin? Wirst du mich tragen?«

Abermals kam als Antwort nur schrilles Gelächter. »Auf keinen Fall! Entweder du schwimmst, oder du wartest, bis ich dir ein Boot schicke.«

Es fiel ihm recht leicht, Möglichkeit Nummer zwei zu wählen.

Es verging knapp eine halbe Stunde, ehe ihn ein Krieger mit einem der alten, notdürftig zusammengeflickten Landungsboote von der Insel abholte. Auf der Heckkante hockte die alte Krähe Keleino, die ihn pausenlos anstarrte. Merope meinte es also todernst damit, Tom nicht aus den Augen zu lassen. Seine Mission, mehr über Kommando Bracket herauszufinden würde sich dadurch extrem verkomplizieren.

Schweigend brachte ihn der Krieger zu Festungsruine, wo ihn Jordi und Sarah bereits erwarteten. Die beiden jungen Menschenkrieger wirkten so begeistert wie eh und je; Jordi noch mehr als Sarah.

»Hey, Tom! Das ist ja eine Sache! Heißt das, dass du dich uns anschließt? Na, was habe ich gesagt, Sarah? Ich wusste, dass uns Tom nicht hängen lässt!«

Als das Boot nahe genug am Steg war, sprang Tom einfach zu ihnen hinüber. Er schlug Jordi freundschaftlich auf die Schulter und drückte Sarah kurz.

»Ich kann ja nicht einfach tatenlos zusehen, wenn ihr euch gegen den Dunklen Meister in die Schlacht werft. Da braucht es doch jemanden, der mit Verstand dabei ist«, behauptete Tom frech. Ein Wenig schämte er sich dafür, Jordi und Sarah die Wahrheit verschweigen zu müssen, aber zumindest war seine Aussage nicht gänzlich gelogen. Veyron hatte nicht spezifiziert, was er alles tun durfte und was nicht. Soweit es ging, würde er Kommando Bracket also unterstützen.

»Wo ist Angel? Ich muss unbedingt mit ihr sprechen«, wechselte er gleich darauf das Thema. Schlagartig wurde Jordi ernst, Sarahs Blicke zu ihm verhießen nichts Gutes.

»Sie … ist nicht hier«, druckste Jordi herum. »Eine wichtige Mission in Fernwelt, verstehst du?«

»Alles klar. Sie vernichtet die Vampire der ZTC«, sagte Tom.

Sarah weitete überrascht die Augen. »Woher weißt du das?«

In ihrer Stimme schwang ein unüberhörbares Misstrauen mit. Jordi schien zu verblüfft für irgendeine Reaktion.

»Leute«, mahnte Tom die beiden. »Es läuft die Nachrichten rauf und runter. Sie wird bereits von der Polizei gesucht.«

Ein erleichterndes Seufzen verließ Sarah. »Dann wissen nun also alle Bescheid. Die verbrecherischen Vampire sind enttarnt!«

Tom schüttelte den Kopf. »Nein, sind sie nicht. Die Polizei hält die Wahrheit unter Verschluss. Owain und Ellen sind auch nicht hier, oder? Normalerweise kann euch doch nichts trennen.«

»Sie haben Angel nach Fernwelt begleitet. Dass es eine gefährliche Operation wird, war uns klar. Wir wollten alle mit, aber Angel ließ nur zwei gehen. Wir haben Strohhalme gezogen. Owain und Ellen hatten die kürzesten.« Jordis Erklärung klang betroffen. Er machte sich wirkliche Sorgen um seine Freunde. Sarah noch mehr. Ellen war ihre beste Freundin. Gemeinsam hatten sie sich der Schwarzen Horde angeschlossen und aufeinander aufgepasst, als es um Leben und Tod ging.

»Ist ihnen etwas zugestoßen? Tom, wir müssen die Wahrheit wissen.«

»Ich weiß es nicht. Torrini ist tot und Angel auf der Flucht. Das ist alles, was die Nachrichten hergeben.« Er überlegte einen Moment. »Aber wenn es euch beruhigt: Veyron hat den Tatort untersucht und keine Spuren von anderen Verletzten oder Toten gefunden. Owain und Ellen fehlt schon nichts, da bin ich sicher.«

Das schien Sarah ein wenig zu beruhigen. Jordi gewann sein breites Grinsen zurück. »Hab doch gleich gesagt, dass alles gut gehen wir. Komm, Tom. Wir bringen dich in deine Unterkunft. Merope hat uns von dir erzählt. Alles ist vorbereitet. Es wird dir gefallen.«

Sein neues Zimmer lag irgendwo auf halber Höhe zwischen dem Gemeinschaftssaal und der Zelle, in die man ihn zuletzt gesteckt hatte. Ein paar Schießscharten boten einen Blick auf das flache Meer Fleutians, in der Ecke gab es einen Kaminofen, davor ein Bett mit strohgefüllten Kissen und mehreren Decken, einen Tisch und einen Stuhl. Alles sehr spartanisch und provisorisch. Immerhin wies die Tür seines Raumes kein Schloss auf. Diesmal war er also kein Gefangener.

Wenig später klopfte es. Tom bat herein. Zwei Mädchen, beide etwa sechzehn, um die Augen dunkel geschminkt und ihre nicht ganz schlanken Körper in viel zu enge Korsetts und Lederhosen gepresst. Die Pseudo-Kriegerinnen wirkten aufgeregt.

»Lord Packard«, riefen sie ihm zu, aber er winkte sofort ab.

»Einfach nur Tom.«

Beide kicherten verlegen. »Tom, wir wollten dich fragen, ob es stimmt, dass du der Anführer der Allianz der Verlorenen bist?«

»Das war ich eine Zeitlang, stimmt.«

Ihre Enttäuschung, dass er nicht mehr der Anführer jenes Bündnisses war, hielt gerademal eine Sekunde, dann überhäuften sie ihn mit weiteren Fragen zur Allianz, zum Kampf gegen die Schwarze Horde, was er von Kommando Bracket hielt, was er zu Angel sagte und noch mehr. Sie kamen rasch ins Plaudern. Ohne dass er viel fragen musste, erfuhr nahezu alles aus dem Leben der beiden — und vieler anderer, die sie in den letzten drei Monaten bei Kommando Bracket kennengelernt hatten. Am späten Nachmittag ließen ihn die beiden — Alicia und Mia — allein. Nach den beiden Mädchen kündigte sich eine Gruppe Jungs an, die von Tom praktische Tipps haben wollten, wie man Schrate, Trolle oder Fenriswölfe am besten umbrachte. Wie es aussah, galt er bei Kommando Bracket als Berühmtheit und Vorbild. Er erfuhr des Weiteren, dass die meisten Geschichten über ihn nicht einmal von Jordi, Ellen oder Sarah stammten, sondern von Angel. Sie schien eine ganze Menge über ihn zu wissen; prinzipiell fast alles, was er jemals irgendwann in Elderwelt getan hatte.

In der Nacht ließ man ihn in Ruhe. Er schlief sehr unruhig und träumte von Merope, die ihm drohte; dann von Krähen, die um sein Bett hockten; und von erschlagenen Teenagern auf den Stufen der Ruine. Am Ende tauchte auch noch Angel auf, die ihm den Finger auf die Lippen legte, als er etwas zu ihr sagen wollte. Mehr als einmal schlug er die Augen auf, um sich zu vergewissern, dass er wirklich nur träumte. Der nächste Morgen konnte gar nicht früh genug kommen.

Lautes Gebrüll weckte Tom.

»Sie sind wieder da! Sie sind wieder da! Sie sind wieder da!«

Diese Rufe hallten vielfach die Treppen rauf und runter, Stiefel trampelten an seiner Tür vorbei, es wurde gejubelt und gelacht. Sofort war ihm klar, wen die Krieger Kommando Brackets feierten: Angel und die anderen. Tom beeilte sich, in seine Hosen zu schlüpfen, anschließend eilte er das Treppenhaus hinunter, bis er in den Eingang der großen Gemeinschaftshalle kam. Sämtliche Krieger von Kommando Bracket drängten sich um den offenen Innenhof, klatschten und stießen Jubelschreie aus.

Wie Helden wurden die vier Krieger begrüßt, als das Landungsboot sie an den Steg brachte. Angel sprang als Erstes aus, danach Owain und Sarah. Zuletzt war Vanessa an der Reihe.

»Was um alles in der Welt …«, schimpfte Tom.

Vanessa! Es war wirklich seine Vanny, die da den anderen dreien folgte. Wie selbstverständlich wurde sie genauso frenetisch begrüßt wie Owain oder Ellen.

»Vanessa!«, rief Tom wütend. Was dachte sie sich nur dabei? Er kämpfte sich durch die Reihen der Krieger, bis er vor den vieren stand. Ein begeistertes Lächeln huschte über Angels wunderschönes Engelsgesicht. Sofort war es ihm unmöglich, seinen Zorn noch länger aufrecht zu halten.

»Tom! Was tust du denn hier?« Vanessa schien vollkommen überrascht zu sein. Mit allem schien sie gerechnet zu haben, abgesehen davon.

»Die Frage wollte ich eigentlich gerade dir stellen.«

Es war Owain, der für Toms Freundin antwortete: »Vanessa gehört jetzt zu Kommando Bracket. Was ist mit dir, Packard?«

»Ich bin als Beobachter hier.« Das war die vollkommene Wahrheit.

»Als Beobachter von Veyron Swift, was? Oder als sein Spion?«, giftete Owain.

Tom ballte die Fäuste. So hatte er Owain nicht in Erinnerung. Klar, er war schon immer der aggressivste der vier ehemaligen Schwarze-Horde-Krieger. Nach dem Ende des letzten Abenteuers hatten sie eigentlich Freundschaft geschlossen.

»Klar, natürlich. Weil ihr so wichtig seid, dass Veyron gleich einen Spion zu euch schickt. Ich dachte, wir kämpfen gegen den Dunklen Meister? Ist das nicht unser gemeinsamer Feind? Ich bin hier, um zu lernen und zu beobachten, mehr nicht!«

Owain sprang vor. Doch Tom war bereit dafür. Er würde diesem feindseligen Großmaul den Arsch versohlen.

Angel verhinderte im letzten Moment Schlimmeres. Sie packte Owain am Handgelenk.

»Lass ihn. Wenn Tom beobachten will, soll er das tun.« Sofort fühlte sich Owain beruhigt. Angel musterte Tom einen Moment, ihre Lippen verzogen sich zu einem höhnischen Lächeln. »Mehr traut er sich nicht.«

Auf der Stelle fühlte er sich provoziert, das Gegenteil zu beweisen. Er würde ihr zeigen, dass er ein weitaus besserer Krieger war als Owain. Tom hatte die Allianz der Verlorenen ins Leben gerufen und die Schlacht von Gentrash angeführt, in der die Schwarze Horde massakriert wurde. Wenn hier jemand mit den Truppen des Dunklen Meisters fertig werden würde, dann er! Zudem ärgerte es ihn, dass Vanessa einfach nur dumm rumstand. Was zum Teufel war nur los mit ihr?

Erst nach einem längeren Moment schien sie sich Gewahr zu werden, dass es ihr Freund war, der hier attackiert wurde.

»Tom ist gut«, meinte sie kleinlaut. »Er kann uns wirklich helfen.«

Angel bedachte ihn immer noch voller Hohn.

»Stimmt«, meinte sie. »Niemand hat so viel Erfahrung wie Tom, wenn es um die Diener des Dunklen Meisters geht. Aber offenbar ist er inzwischen kampfesmüde. Er hat Angst.«

Verwirrung breitete sich in Toms Verstand aus. Aus Angels Verhalten wurde er nicht schlau. Er wusste inzwischen, dass sie alles über seine Abenteuer wusste. Wollte sie ihn mit dieser abwertenden Art einfach nur provozieren? Falls das ihr Ziel war, gelang es ihr meisterhaft.

»Ich habe keine Angst!«, rief er, laut genug, damit es auch der Letzte im Saal hörte. Er stand kurz davor damit zu prahlen, wie vielen Schraten, Kobolden, Fenriswölfen, Dunkel-Harpyien und sogar Trollen er schon den Garaus gemacht hatte, wie er sich mit dem Achten, dem Anführer der Schwarzen Horde, duellierte.

Eine schattenhafte Bewegung am Rande seines Blickfelds ließ ihn herumfahren und aufblicken. Genau in diesem Moment erschien ein Wanderfalke über der Festungsruine. Er kreiste einmal über den versammelten Kriegern, stieß einen Schrei aus und flog wieder davon.

Tom bekam plötzlich Kopfschmerzen, schüttelte sich. Sein Zorn war verflogen, seine Gedanken wieder klar. Es war, als hätte ihm der Schrei des Falken den Verstand gereinigt. Um was ging es eben noch? Ach ja, um seine Erfahrungen.

»Ich kämpfte im Krieg gegen die Horden des Dunklen Meisters. An vorderster Front.« Tom klang jetzt schon viel gelassener und ruhiger als noch vor einem Moment.

»Hey, ist okay«, meinte Angel sichtlich zufrieden. In einer Geste des Vertrauens fasste sie ihm an die Schulter. Anschließend wandte sie sich ihren Kriegern zu, stemmte gebieterisch die Fäuste in die Hüften. »Wir können jede Hilfe brauchen«, verkündete sie laut. »Unser nächster Schlag, Leute, wird sich gegen die obersten Diener des Dunklen Meisters richten. Die Zeit dafür ist reif: Wir greifen die Schatten an!«

Alles jubelte, tobte, klatschte. Nur allein Tom drehte sich förmlich der Magen um. Ein Angriff auf die Schatten? Angel musste den Verstand verloren haben.

Kommt nicht oft vor, dass ich ihn selbst abholen muss, dachte sich Inspector Gregson, als er vor 111 Wisteria Road parkte. In den letzten elf Jahren hatte sich fast immer jemand gefunden, der Veyron zu ihm brachte. Auch wenn er bisweilen immer noch nicht so recht aus dem sonderbaren Spezial-Detektiv schlau wurde, fühlte er doch eine gewisse Vertrautheit zu Veyron. Er war wie ein verrückter Cousin, den man kannte und schätzte, der einen jedoch stets aufs Neue zum Kopfschütteln brachte.

Gregson stellte den Wagen hinter einem babyblauen VW Käfer ab, der den halben Bürgersteig einnahm. Vorschriftsmäßig geparkt war das nicht, aber Regeln und Gesetze interessierten Veyron nur peripher. Anfangs hatte Gregson Veyron Swift für einen totalen Spinner gehalten, für einen Verrückten, den man in die Psychiatrie einweisen sollte. Bis … nun, bis er einer Schar Kobolde auf jenem Schrottplatz gegenüberstand, an dem seine Freundschaft zu Veyron begründet wurde.

Und zu Jane. Als sie sich damals kennenlernten, war sie eine junge Streifenpolizistin, noch keine fünf Jahre im Dienst. Gregson wusste noch gut, als Jane zum „Team“ stieß, wie er die kleine Verschwörung zwischen ihnen nannte. Zunächst war der Fall mit den Kobolden wohl in ihre Zuständigkeit gefallen. Der alte Pete Tweet, Eigentümer jenes Schrottplatzes, galt auf dem Revier von Potters Bar schon lange als Spinner. Janes Vorgesetzter wollte der blutjungen Polizistin wohl eine Lektion erteilen, als er sie darauf ansetzte. Jane hielt plündernde Jugendliche für die Übeltäter, die Nacht für Nacht Tweets Schrottplatz heimsuchten. Veyrons Kobold-Theorie lehnte sie verständlicher Weise als Wahnvorstellungen ab. Weil er bei Jane nicht weiterkam, verständigte Veyron daraufhin den CID und rief Gregson auf den Plan. Darüber war Jane sehr verärgert und hatte es sich nicht nehmen lassen, Veyron hinterher zu spionieren. In ihren Augen war dieser „Spinner“ tatverdächtig. Als es letztlich zum Kampf gegen die Kobolde kam, war es ironischerweise gerade Jane, die den Tag rettete. Anderenfalls hätten die kleinen Monster Veyron und Gregson sicherlich zerfleischt. Von diesem Moment an gehörte sie dazu. Bei jedem neuen Fall forderte Gregson Willkins als Unterstützung an, meistens auf Veyrons Betreiben.

»Vergessen Sie Willkins nicht, Inspector. Sie könnte uns erneut behilflich sein.«

Diesen Satz hörte er immer wieder. Warum Veyron sie jedes Mal unbedingt dabeihaben wollte, erschloss sich Gregson nie so richtig. Schließlich wurde es der Regelfall und niemand stellte mehr Fragen.

Gregson stapfte die Treppen zur Haustür hoch und drückte die Klingel. Einen Moment tat sich gar nichts, dann wurde die Tür aufgerissen. Veyron Swift stand vor ihm, das schwarze Haar ordentlich frisiert und seinen schlaksigen Körper in einen teuren Anzug gezwängt.

»Fliege oder Krawatte?« Veyron spielte mit den Fingern an seinem Kragen herum. Das Hemd schneeweiß, Sakko und Hose tiefschwarz, ebenso die Schuhe.

»Wir gehen auf eine Party, Veyron. Nicht auf eine Beerdigung.«

»Es ist in erster Linie Arbeit, Inspector. Für Belanglosigkeiten wie eine Party vergeude ich keine Zeit. Wir sollten die heutige Nacht nutzen, um so viele Informationen zu gewinnen wie möglich. Uns bietet sich nicht jeden Tag die Gelegenheit, ins Herz des Bösen eingeladen zu werden.«

Gregson seufzte. »Nehmen Sie die Fliege, das passt besser zu Ihnen.«

Noch während sich Veyorn die Fliege um den Kragen band, marschierten sie zu Gregsons Wagen. Im Westen versank bereits die Sonne hinter dem Horizont.

»Wo sind Sergeant Brown und Willkins?«, wollte Veyron schließlich wissen, als er Gregsons Dienstwagen leer vorfand.

»Die beiden fahren separat. Jane hat angerufen und mitgeteilt, dass ihr Dorian Vane eine Limousine geschickt hat. Die beiden holen Brown ab«, erklärte Gregson. Gleich darauf traf ihn der misstrauische Blick Veyrons.

»Die beiden

»Vane und Jane, Veyron. Er holt sie ab, und die beiden lesen dabei noch Brown auf. Das wollte sich Vane nicht nehmen lassen, nehme ich an. Ist alles in Ordnung bei Ihnen? Sie werden ja ganz rot im Gesicht.«

»Der Kragen sitzt etwas eng. Fahren wir.« Endlich stieg er ein.

Diesmal brauchte Gregson für den Weg zum Zaltic-Tower kein Navigationsgerät; er hatte Veyron dabei. Präziser als jeder Bordcomputer, auf den Meter genau, brachten ihn Swifts Anweisungen auf das Gelände des schwarzen Turms der Zaltianna Trading Company.

Problemlos wurden sie auf den Parkplatz gelassen und kamen von dort in die Lobby des Towers. Die wie üblich in Weiß und Schwarz uniformierten Empfangsdamen wiesen ihnen den Weg zum Aufzug. Die Party fand in den 135. und 136. Stockwerken statt. Oben fanden sie sich in einer weiteren Lobby wieder, doch wo sich die Party befand, war sehr schnell klar: Überall!

Männer und Frauen in teuren Roben und Anzügen schlenderten umher, unterhielten sich oder ließen Kellner Champagner servieren. Neben der Lobby und den etwas abgelegenen Toiletten bestand das ganze Stockwerk aus nur einem einzigen riesigen Saal, durch Treppen, Plattformen und Emporen in mehrere Ebenen unterteilt. Im Zentrum davon thronte eine große Bar, deren Kellner zu allen vier Seiten die Gäste bedienten. Der riesige Partysaal war von gedämpfter Musik erfüllt. Im oberen Stockwerk befand sich der Tanzsaal, wo teuer bezahlte DJs auflegten und eine Live-Band spielte.

»Bill!«, hörten sie Jane rufen. Gregson hob kurz die Augenbrauen. Sie trug ein Abendkleid, eine lange, champagnerfarbene Robe, die ihre optischen Vorzüge wie noch nie zur Geltung brachte.

»Oh, wow«, raunte er Veyron zu. »Was meinen Sie? Sie sieht umwerfend aus, oder?«

Veyron atmete tief ein. Im gedimmten Licht war nicht zu erkennen, ob sein sonst eher blasses Gesicht Farbe gewann. Gregson glaubte es zumindest.

»Ja, sehr hübsch«, meinte Veyron einen Moment später. »Wie immer.«

Jane kam zu ihnen, grinste von einem Ohr zum anderen. »Oben herrscht total die ausgelassene Stimmung. Man mag von Vampiren halten, was man will, aber feiern können sie.« Erst jetzt schien sie Veyron zu bemerken. »Swift.«

»Willkins.«

Gregson entging nicht, dass Veyron der Polizistin einen längeren Blick zuwarf. So neutral und geschäftsmäßig er auch dreinschauen mochte, Gregson kannte Veyron gut genug, um zu erkennen, dass ihm die neuen Feindseligkeiten mit Willkins zusetzten. Sogar ein Veyron Swift war eben nur ein Mensch.

»Wo ist Linda?«, versuchte er das Thema zu wechseln. Sergeant Brown war nirgendwo zu sehen. Schließlich nickte Jane in Richtung Bar.

»Du weißt ja, wie kontaktfreudig sie ist. Sofort war ein junger Gentleman zur Stelle, der ihr einen Drink anbot.«

Jane hakte sich bei Gregson unter den Arm und schlenderte mit ihm hinüber, Veyron folgte in respektvollem Abstand.

»Nicht so steif, Bill. Vampire spüren sowas«, raunte sie ihm grinsend zu.

»Du hast gut reden. Im Gegensatz zu dir habe ich noch keine Elderwelt-Erfahrungen. Ich kann ja noch nicht einmal sagen, wer von den ganzen Leuten überhaupt ein Vampir ist und wer nicht.«

Da musste Jane plötzlich auflachen. »Ich auch nicht.«

»Ich schon«, kam es halblaut von Veyron. Jane entschied sich, diesen Einwurf vollständig zu ignorieren. Sie setzte sich auf einen Hocker und raffte ihr langes Samtkleid ein wenig. Gregson erhaschte einen kurzen Blick auf ihre High Heels.

»Verfolgungen planst du heute Nacht wohl nicht mehr«, meinte er mit einem frechen Lächeln. Jane zwinkerte ihm zu. »Zumindest keine, wo ich rennen muss. Unser Kontakt, Dorian, ist sehr nett. Vielleicht tut sich da noch was.«

Gregson fiel auf, wie Veyron kurz die Kiefermuskeln anspannte.

»Wir sind nicht zwecks amouröser Verwicklungen hier, Willkins«, mahnte er streng — ein deutlicher Versuch, ihr den Spaß zu verderben. Doch Janes Grinsen wurde nur noch breiter.

»Sie vielleicht nicht. Aber ich will nicht so langweilig sterben wie Sie.«

In Gregson schrillten alle Alarmglocken. Da bahnte sich die nächste Konfrontation an. In den letzten elf Jahren hatte er das oft genug miterlebt. Es endete meist in fast unverzeihlichen gegenseitigen Gemeinheiten. Er musste schnell das Thema wechseln, um Veyron abzulenken. Das war das Einzige, was die Lage noch retten würde.

»Sagen Sie mir, Veyron, wie können Sie Menschen von Vampiren unterscheiden?«

»Das ist ganz simpel, Inspector. Schauen Sie den Leuten in die Gesichter. Vampire sind Raubtiere, ihre Blicke sehr fokussiert. Nehmen Sie zum Beispiel den jungen Mann da drüben bei Brown.« Veyron deutete auf die gegenüberliegende Seite der Bar, wo Linda Brown mit einem jungen, attraktiven Gentleman plauderte. Gregson fiel auf, wie gut Brown mit offenem Haar aussah. Ihre roten Locken fielen ihr bis weit über die Schultern. Ansonsten trug sie ihre Mähne immer streng zusammengeknotet in einem Zopf. Ihre blaugrünen Augen schienen vor Begeisterung Funken zu sprühen. Ihr Gegenüber hatte sie voll im Griff. Gerade prosteten sie sich zu.

»Brown ist seine Beute, sein Blick beinahe hypnotisch. Schauen Sie nur, wie er auf jedes kleine Geräusch in seiner Umgebung reagiert. Blitzschnelle Zuckungen, kaum zu bemerken. Nichts entgeht ihm. Browns Attraktivität kann ihn nicht im Geringsten ablenken; nichts kann das. Der junge Mann, Inspector, ist ein Vampir«, erläuterte Veyron in aller Seelenruhe.

Gregson ballte die Fäuste. »Dieser Mistkerl! Wenn er Linda etwas antut ...«

Veyrons Hand legte sich auf seine Schulter. »Keine Sorge, Inspector. Die Vampire von heute sind nicht mehr die unzivilisierten Jäger der vergangenen Jahrhunderte. Heutzutage stillen sie ihre Blutsucht mit Konserven. Unauffälligkeit ist das A und O der Vampir-Gesellschaft. Die blutigen Erfolge der großen Vampirjäger Ende des neunzehnten Jahrhunderts waren ihnen eine Lehre. Die Opfer von Vampiren werden oft nur noch auf gegenseitiger Vereinbarung gebissen; Todesfälle gibt es kaum mehr. Mordende Vampire gelten in der Geheimen Gesellschaft, wie sich die Vampir-Gemeinde selbst bezeichnet, als Barbaren.«

Das vermochte Gregson kaum zu beruhigen. »Verdammt, wir hätten Knoblauch mitbringen sollen oder wenigstens ein Kruzifix!«

»Was nichts geholfen hätte, Inspector. Der Geruch von Knoblauch, den Vampire zehnmal so intensiv wahrnehmen wie wir Menschen, mag einen Blutsauger vielleicht vorübergehend von seinem Vorhaben abschrecken, mehr jedoch nicht. Und die Vorstellung, Weihwasser oder religiöse Symbole hätten irgendeinen lähmenden Einfluss auf Vampire, entspricht allein der menschlichen Fantasie.«

»Wie töten wir diese Bestien dann?«

»Inspector! Also wirklich! Nun, wie Sie ja wissen, ist das Pfählen des Herzens eine todsichere Methode. Enthaupten ebenso. Silberkugeln sollen wirken, aber ich bezweifle es weitgehend, außer man träfe direkt das Herz. Verbrennen ist dagegen garantiert tödlich, vorausgesetzt, Sie können sicherstellen, dass der Vampir keine Möglichkeit besitzt, dem Feuer zu entkommen.«

»Was ist mit Sonnenlicht?«

»Absolut tödlich. Sie wissen ja, dass ich auf diese Weise vor Jahren die drei Jones-Brüder, die berüchtigten Surrey-Vampire, ausschalten konnte. Allerdings habe ich erfahren, dass Vampire mit einigen Jahrhunderten Alter einen magischen Schutzschild schaffen können, der sie vor der Wirkung des Sonnenlichts schützt. Die Kehrseite ist, dass dieser Zauber so viel Energie verbraucht, dass ein Vampir auf seine anderen besonderen Kräfte verzichten muss. Er ist tagsüber damit weder schneller noch stärker als Sie oder ich und folglich entsprechend einfach zu töten.«

Gregson seufzte. »Das das also der Trick. Deshalb sind die Manager der ZTC bisher nicht als Vampire aufgefallen. Sie sind am Tage nicht von Menschen zu unterscheiden. Ich habe mich schon die ganze Zeit gefragt, wie diese Burschen ihre Geschäfte führen. Ob es wohl Computer und Telefon in ihren Särgen gibt?«

Veyron bedachte ihn mit einem verständnislosen Blick. »Särge? Ich fürchte, Sie wissen wirklich nur sehr wenig, nicht wahr?«

Gregson sparte es sich eine Antwort. Misstrauisch beäugte er, wie dieser Vampir Brown seinen Arm anbot und die beiden in den Saal schlenderten.

»Wie wird man eigentlich zum Vampir? Durch den Biss?«

»Nein«, widersprach Veyron sofort. »Sie müssen das Blut eines Vampirs trinken. Es ist ein Virus, das weiß man nach Jahrhunderten der Forschung inzwischen. Weder der Biss noch der Kuss eines Vampirs führt zu einer ausreichenden Infektion. Die andere Möglichkeit wäre noch die Einnahme des Schwarzen Elixiers, eines magischen Gebräus, auf dessen Herstellung der Dunkle Meister und seine Schatten spezialisiert sind. In der Geheimen Gesellschaft gelten jene Vampire, die auf diese Weise entstanden, als Fürsten und Anführer.«

»Doch das ist schon seit einem Jahrtausend nicht mehr geschehen«, mischte sich nun eine neue Stimme in ihre kleine Diskussion ein. Gregson und Veyron blickten auf, Jane begann zu strahlen.

»Dorian!«

Elegant und selbstbewusst, wie es seine Art war, schob sich der junge Manager zwischen Gregson und Veyron, legte seinen Arm um Janes Hüfte.

»Sie müssen also Mister Veyron Swift sein. Ich habe schon einiges von Ihnen gehört«, begrüßte Vane Veyron. Die beiden blickten sich in die Augen, keiner wandte den Blick ab, kein Lächeln, keiner reichte dem anderen die Hand.

»Sie befinden sich demnach im Vorteil, Sir. Von Ihnen ist mir nur das Wenige bekannt, dass mir Inspector Gregson erzählte. Die Firma, für die Sie arbeiten, kenne ich dafür umso besser.«

»Nur das Wenige, dass Sie gehört haben, Mr. Swift«. Vane gestattete sich ein diebisches Lächeln. »Oder erlebt.«

»Manchmal ist bereits wenig mehr als genug«, konterte Veyron.

Vanes verzog höhnisch die Mundwinkel.

»Sie entschuldigen mich, aber wenn es erlaubt ist, entführe ich Ihre charmante Begleitung«, meinte er mit einem Blick zu Jane. Sofort sprang sie auf und hakte sich bei ihm unter.

»Unbedingt«, meinte sie grinsend.

Vane nickte Gregson zu. Mit Jane am Arm schlenderte er davon, verfolgt von den stechenden Blicken Veyron Swifts. Gregson hob erstaunt die Augenbrauen. Wenn das keine Eifersucht war, die da in Veyrons Augen loderte, was dann? Hätten seine Augen Laserstrahlen abzufeuern vermocht, Dorian Vane wäre nur mehr ein Häuflein Asche. Bestand wirklich die Möglichkeit, dass Veyron … Nein, entschied Gregson sofort. Das wäre ja zu verrückt. Nicht Veyron, dieser Roboter in Menschengestalt.

Die große Bar in der Mitte des Saals war nicht die Einzige. Weiter abseits, an den Nordfenstersn des Towers, gab es noch eine kleinere Bar, wo ausschließlich Cocktails ausgeschenkt wurden. Seufzend lehnte sich Jane gegen den Tresen.

»Danke, Dorian. Du hast mich gerettet.«

»Vor Swifts Vampir-Lehrstunde? Ja, ich kann mir vorstellen, dass das anstrengend sein kann.«

»Kann? Veyron ist anstrengend!« Sie lachte. Das war natürlich nicht ganz fair. Hin und wieder mochte Veyron ein fürchterlicher Angeber sein, aber sein Wissensschatz und seine genauen Analysen führten oft zum Sieg über das Böse. Es wäre gelogen, wenn Jane nicht zugeben würde, diese Fähigkeiten beeindruckend zu finden — eigentlich sogar regelrecht bewundernswert.

Dorian orderte zwei Tequila Sunrise.

Dorian, nicht Mister Vane. Erstaunlich, wie schnell sie miteinander vertraut waren. Dabei hatte er nichts weiter getan, als sie heute Morgen anzurufen und ihr mitzuteilen, dass er sie abholen würde. Bei seiner Ankunft vor knapp dreißig Minuten war er pünktlich gewesen. Erneut hatte er ihr das „Du“ angeboten, ganz locker und entspannt. Dorian Vane war ausgesprochen zuvorkommend und alles andere als arrogant. Nicht nur, dass er ohne ein Zögern bereit war, Linda ebenfalls mitzunehmen.

Um den heißen Brei herumquatschen, das war nicht sein Ding. Er besaß eine sehr direkte Art, bei der man sofort wusste, woran man war. Bei ihm konnte man sich darauf verlassen, dass er meinte, was er sagte. Ein Mann mit Prinzipien.

»Wie gefällt dir die Party?«, wollte er schließlich wissen.

»Ich fühle mich ein wenig deplatziert«, musste sie schließlich zugeben. All die reichen Leute um sie herum, mit Kleidern und Anzügen, gegen die ihr Ballkleid — es war nicht einmal ihr eigenes — wie ein Putzlumpen wirkte.

»Blödsinn«, meinte Dorian sofort. »Du siehst fantastisch aus, Jane. Es gibt keinen Grund, dich zu verstecken. Da sind genug Augenpaare, die allein auf dich gerichtet sind, einschließlich deines Inspectors und Mr. Swift. Heute Nacht bist du eine Königin, also solltest du auch wie eine feiern. Sei frei, öffne dich und mach genau das, was du willst.«

Er sagte ihr das mit einem unerschütterlichen Ernst in der Stimme. Ein neckisches Lächeln umspielte seine Lippen. »Sei wie ein Vampir, Jane.«

»Es gibt Erwartungen …«, begann sie, aber Dorian schüttelte den Kopf. Seine Finger streichelten ihr sanft über die Wange.

»Vergiss die Erwartungen anderer. Sei ganz du selbst. Du bist eine wunderschöne selbstbewusste Frau, lass dir nichts anderes einreden. Nimm dir, was dir gefällt. Du hast es dir verdient.«

Sofort wollte sie es beherzigen, aber eine innere Stimme, der miesepetrige Teil ihres Wesens, meldete sich sofort zu Wort, versuchte ihr klarzumachen, was für ein Unsinn das war. Sie war doch in Wahrheit nur klein und unbedeutend und wie alle Menschen der Erde höheren Mächten ausgeliefert.

»Lernt man das in der Gesellschaft von Vampiren?«, fragte sie mit einem Lächeln, ein Versuch ihre eigene Unsicherheit zu überspielen. Dorian lächelte traurig. Es schmerzte ihn, das erkannte sie. Natürlich sagte er es nicht. Es blieb sein Geheimnis.

»Man lernt so vieles, Jane«, seufzte er. »So vieles und man braucht so lange, um es zu verstehen.«

Er nippte kurz an seinem Cocktail, stellte ihn ab, entschuldigte sich und ließ sie allein. Kurz drehte er sich noch einmal zu ihr um, dann ging er fort.

Was quält dich, Dorian Vane? Wie kann ich dir helfen? Unweigerlich kamen ihr diese Gedanken. Was konnte es sein, dass einen so selbstbewussten, erfolgreichen jungen Mann wie ihn derart beschäftigte?

»Haben Sie sich gut unterhalten?« Veyron Swifts plötzliche Anwesenheit schnitten ihre Gedanken abrupt ab. In seiner Frage klang eine ungewöhnliche Schärfe mit.

»Ja«, gab sie zu, vollkommen ehrlich. »Er ist ein feiner Mensch. Ich würde gern mehr über ihn herausfinden.«

»Dann sollten wir ihm folgen, meinen Sie nicht?«

Verwirrt blickte sie Veyron an. Er hatte Dorians Cocktailglas in der Hand und drehte es hin und her. Plötzlich hielt er es Jane vor die Nase. Deutlich konnte sie verwischte Fingerspuren an dem beschlagenen Glas erkennen. Ein Pfeil nach links war dort kaum merklich zu erkennen.

»Eine geheime Botschaft. Oder eine private Aufforderung«, sprach Veyron Janes Gedanken aus, als habe er sie gelesen. Sie blinzelte, um die aufkeimende Verlegenheit zu verdrängen. Letzteres hatte sie sich in ihrer Fantasie tatsächlich bereits ausgemalt.

»Finden wir es raus«, gab sich Veyron selbst die Antwort, nahm Jane am Handgelenk und zog sie hinter sich her. Genau in die Richtung, in die Dorian verschwunden war.

»Swift! Was soll das?«, protestierte sie. Drehte er jetzt vollkommen durch? Würde sie es nicht besser wissen, könnte man ihn glatt für eifersüchtig halten.

»Denken Sie nach, Jane! Warum sind wir hier? Weil Dorian Vane öffentlich nicht alles sagen darf, was er weiß. Er will, dass wir hier etwas herausfinden. Das könnte unsere Chance sein. Neben ihm sind auch andere ZTC-Manager von der Party verschwunden. Alle recht zeitnah«, erklärte Veyron.

Sie schlugen den Weg zum Ausgang ein. Außerhalb des Partybereichs kamen sie in einen Korridor, wo ein einzelner breitschultriger Mann Wache stand. Veyron deutete Jane zu warten. Plötzlich schaute der Wachmann auf seine Armbanduhr, bog nach links ab und verschwand.

»Interessant«, murmelte Veyron. »Perfektes Timing. Was für ein Zufall, dass er genau in dem Moment weggeht, als wir hier eintreffen, nicht wahr?« Veyron zog Jane in den vorher bewachten Bereich. Sie hatten ein kurzes Stück Korridor vor sich, links und rechts Türen. Veyron probierte eine nach der anderen aus. Jede schien abgeschlossen. Was sollten sie hier? Vielleicht hatte Veyron Dorians Botschaft missverstanden.

Mit seinen Adleraugen inspizierte er jedoch die Wände, tastete sie ab, bis er ans Ende des Korridors kam.

»Er ist kürzer als alle anderen Korridore auf diesem Stockwerk«, stellte er schnell fest. Er hob nur kurz die Augenbrauen, dann taste er die Wand ab. Mit einem Schnalzen der Zunge trat er zurück. »Was sehen Sie?«

Die Frage traf Jane vollkommen unvorbereitet. Sie versuchte sich zu konzentrieren und starrte auf die dunkle Tapete. »Eine Wand?«, fragte sie verunsichert.

Veyron nahm es jedoch mit einem Seufzen zur Kenntnis. »Achten Sie auf das Tapetenmuster.«

Sie kniff die Augen zusammen, starrte die Wand genauer an, konnte jedoch nichts weiter erkennen als hellgrau bemalte Raufasertapete.

»Ich sehe da gar nichts, Veyron.«

Veyron seufzte, klopfte mit dem Finger gegen die Wand. »Werfen Sie einen Blick auf die Musterung der Tapete. Sie wird von einer dünnen Linie unterbrochen. Man könnte meinen, die rührt daher, weil sich an dieser Stelle zwei Tapetenbahnen treffen. Folgen Sie der Linie jedoch genauer, werden Sie feststellen, dass sie zwanzig Zentimeter unterhalb der Decke plötzlich aufhört und sich einen Meter in horizontaler Weise fortsetzt, ehe sie wieder im perfekten rechten Winkel ins Vertikale übergeht.«

Jetzt wo er es sagte, bemerkte sie es auch. War das etwa eine Tür? Veyron untersuchte die Wand genau. »Die hellgraue Farbe ist von Vorteil, wenn man versucht, Fingerabdrücke zu verbergen. Allerdings hinterlassen Finger immer eine Fettspur, welche die Farben eindunkelt. Zwar nur minimal, aber für das geübte Auge dennoch erkennbar.«

Ohne Zögern tippte er an die obere rechte Ecke der vermeintlichen Geheimtür. Augenblicklich sprang sie einen Spalt weit auf, es klackte. Die Tür schob sich automatisch zur Seite, gab den Blick auf einen kleinen Raum frei, wo sich eine weitere Tür befand; ein Geheimgang!

»Ihr neuer Freund ist ein Mann voller Überraschungen, Willkins«, meinte Veyron und trat in den kleinen Zwischenraum. Sie folgte ihm sofort. Kaum trat sie über die Schwelle, schloss sich die Geheimtür wieder, während sich die zweite Tür öffnete. Sie konnte nichts anderes als staunen.

Ein schneller Blick hinaus in den Flur, der sich ihnen nun offenbarte, verriet, dass sie sich in einem offenbar geheimen Teil des Zaltic-Towers befanden.

»Wozu brauchen die Vampire in ihrem eigenen Turm einen Geheimbereich?«, fragte sie Veyron flüsternd.

»Die Zaltianna Trading Company mag zwar von Vampiren geführt werden, ist jedoch immer noch eine in der Öffentlichkeit agierende Firma. Zaltic und die seinen haben einen Bereich einbauen lassen, den weder Geschäftspartner noch Journalisten oder Spione besuchen können. Wir befinden uns tief im Kern des Towers, bewacht von Wärmebildkameras, Abhöranlagen oder gar Scharfschützen auf den Nachbardächern.« Selbst Veyron wagte hier nur ganz leise zu reden.

Nach ein paar Metern führte der Weg über eine schmale Treppe hinauf in einen dunklen, nur spärlich beleuchteten Korridor mit vier Türen. Gedämpfte Stimmen klangen durch das Halbdunkel. Veyron legte den Zeigefinger auf die Lippen, dann zog er seine Schuhe aus. Jane tat es ihm gleich und schlüpfte aus ihren High Heels.

»Sollte uns jemand begegnen, werde ich Sie umarmen und küssen. Wir müssen wie ein Pärchen wirken, das ein abgelegenes Plätzchen für ein intimes Stündchen sucht«, flüsterte er, während er ihre Schuhe neben die Geheimtür ablegte.

»Das könnte Ihnen so passen«, knurrte sie. Er grinste. Vorsichtig schlichen sie hinaus in den Korridor, dann die Stufen nach oben. Immer dem Geräusch der Stimmen folgend, näherten sie sich einer schweren Tür. Jemand hatte sie einen Spalt weit offengelassen. Veyron presste sich an die Wand und spähte vorsichtig hinein. Er winkte Jane näher, deutete ihr mucksmäuschenstill zu sein.

Hinter der Tür lag ein großer, dunkler Konferenzraum ganz ohne jedes Fenster. Ein langer gläserner Tisch stand in der Mitte, um den sich rund ein Dutzend Männer und Frauen versammelt hatten, darunter auch Dorian. Zu den übrigen Anwesenden gehörte unter anderem Lady Barstowe; eine Schönheit, wie Jane fand. Gertenschlank und groß, mit dunklen Locken, die ihr blasses Gesicht wie ein Gemälde einrahmten. Ihre neidweckenden Rundungen in eine blutrote Abendrobe gehüllt, umkränzt von einer schneeweißen Pelzstola, wirkte sie wie eine Filmdiva des frühen 20. Jahrhunderts; elegant und mondän, eine Königin unter den Vampiren. Neben den ganzen grauen Anzugträgern mit ihren blassen Gesichtern ragte sie heraus, der einzige Farbtupfen in einer kalten Granitwüste. Zu ihrer Rechten saß ihr Gemahl, Lord Harold Barstowe, blass, unauffällig, austauschbar. Ihnen gegenüber befand sich Dorian, und neben ihm ein leerer Sessel. Eins weiter hatte Friedrich Willhelm Maximilian von Schreck-Murnau Platz genommen, ein ellenlanger Kerl mit steifer Haltung und strengem Gesicht. Sein stoischer Blick deutete auf eine ausgeprägte Humorlosigkeit hin. Ernest Noble, ein kleiner, rundlicher Mann mit beginnender Glatze, saß ihm gegenüber.

Der Kopf des Tisches wurde von Baron Avron Zaltic eingenommen, einem angeblichen Nachfahren des Firmengründers. Mit dem Wissen über die Struktur des Konzerns im Hinterkopf, vermutete Jane, dass Zaltic nicht etwa ein Nachfahre, sondern tatsächlich der Gründer der ZTC war; ein Vampir von mindestens sechshundert Jahren Alter. Anders als die übrigen schien er ein alter Mann zu sein, mit zurückweichendem dünnem, weißem Haar, einer Geiernase und eingefallenen Wangen. Die restlichen Manager des Konzerns befanden sich nicht im Blickfeld.

»Wie viele Tonnen, sagten Sie?«, fragte Zaltic eben. Seine schneidende, gebieterische Stimme wollte gar nicht recht zu einem halbverfallenen Äußeren passen.

»Er verlangt rund zweihunderttausend Tonnen als Abschluss von Operation Transfer«, antwortete Noble.

Eine ganze Weile herrschte beängstigendes Schweigen am Konferenztisch, ehe der alte Zaltic wieder das Wort ergriff.

»Sagen Sie ihm, dass das nicht in Frage kommt. Nennt er uns irgendeinen Gegenwert für diese immense Investition?«

Lady Barstowe antwortete: »Nein, Avron. Er hat nichts angeboten.« Es folgte weiteres Schweigen.

»Wir haben inzwischen genug Geld verloren wegen seiner größenwahnsinnigen Pläne. Harold, listen Sie das einmal alles auf«, befahl Zaltic kalt. Er war es gewohnt, dass ihm jeder an diesem Tisch gehorchte.

»Sechzehn Milliarden Pfund für das Projekt Iris samt Turm und Reaktoreinheit in Nagmar, inklusive der Verschwiegenheitsklauseln für einhundertfünfzig Ingenieure und rund zweitausend Bauarbeiter. Weitere zwölf Millionen Pfund für die Beseitigung der Letztgenannten. Gefolgt von rund dreißig Milliarden Pfund für Reaktor, Torapparat und den Staudamm-Komplex in Carundel. Was haben wir noch? Ach ja, fünfhundert Millionen Entwicklungskosten für das Projekt P-1000N, dreihundert Millionen als Investition in das Triton-Unternehmen, drei Milliarden für Entwicklung, Bau und Betrieb der Zaltic Asp. Vergessen wir auch die zwei Milliarden für den Tor-Apparat, Reaktor und Anlage in Seramak nicht. Selbige Kosten für die geheimen Anlagen bei Kishon und in Teyrnas Annoth. Weitere zweihundert Millionen flossen in die Modifikation und Wiederinbetriebnahme des Tor-Apparats in Kadingira.«

Lord Barstowe wischte auf einem Tablet Bilder und Statistiken und Zahlendiagamme rauf und runter.

»Vierundfünfzig Milliarden und ein paar Peanuts«, zischte Zaltic mit sichtlichem Entsetzen. »Was haben wir im Gegenzug erhalten?«

»Ganze zweihundert Millionen Pfund an seltenen Metallen und Edelsteinen, Avron.«

Diesmal hielt das Schweigen länger an. Schließlich sagte Zaltic: »Wir haben zwanzig Jahre lang nur schlechte Geschäfte mit ihm gemacht. Es ist überfällig, dass wir diese Allianz beenden.«

»Das wird er nicht ohne weiteres hinnehmen«, meinte von Schreck-Murnau halblaut.

Zaltics Gesicht blieb so unbewegt wie die Fratze eines Piranhas.

»Wir zahlen, wir bestimmen! Also zum Teufel mit ihm!«

»Sir, er ist der Teufel«, erwiderte Noble kleinlaut. »Und er befehligt Dämonen, denen wir nicht gewachsen sind.«

»Sie meinen den Schattenkönig und Konsorten? Ach was! Er ist nicht von dieser Welt, genauso wenig wie seine Schatten. Wo kommt das ganze Geld her, mit denen er Könige, Generäle und andere Verbrecher besticht? Sie überschätzen seine tatsächliche Macht«, meinte Zaltic mit kaum zu überbietender Arroganz.

»Der Dunkle Meister braucht uns mehr als wir ihn«, pflichtete Lady Barstowe ihrem Vorsitzenden bei. »Wir sind unabkömmlich für seine Pläne.« Fast gelangweilt wickelte sie eine Strähne ihres Haars um die Finger. »Er mag toben und brüllen, aber am Ende muss er sich unseren Konditionen fügen.«

»Was ist mit dem Grabmal der Engel?«, warf Dorian plötzlich in den Raum. Die Vampire schwiegen sich ratlos an.

»Das war Lautenthals Projekt, nicht wahr? Was soll damit sein?«, blaffte von Schreck-Murnau.

»Das Symbol war auf dem Pflock, mit dem man Emiliano ermordet hat.« Vane wirkte sehr bedrückt, als er das sagte. Auf der Seite von Lady und Lord Barstowe herrschte sichtliches Erstaunen.

Jane bemerkte, wie Veyron neben ihr merklich zusammenzuckte.

»Lautenthal und Emiliano, beide federführend, was das Grabmal der Engel betrifft, beide tot. Vielleicht will man uns eine Warnung zukommen lassen«, meinte Dorian. »Mit Grüßen vom Dunklen Meister.«

»Das ist Unfug! Wer soll diesen Konzern leiten, wenn nicht wir? Etwa die Schatten des Dunklen Meisters? Die verstehen vom Geschäftemachen und von Verträgen nichts. Elderwelt mag der Dunkle Meister vielleicht beherrschen, wenn er will. Die Meister dieser Welt, das sind jedoch wir«, giftete Zaltic. »Und Torrini war ein Narr! Ich habe ihn stets davor gewarnt, sich diese Dirnen ins Bett zu holen und sie auszusaugen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis eine Vampirjägerin diese Schwäche ausnutzt und ihn beseitigt.«

Dorian ließ jedoch nicht locker. »Und Lautenthal? Er war ein gewöhnlicher Mensch. Wer hat ihn auf dem Gewissen? Sicher keine Vampirjäger. Es gibt noch eine Gemeinsamkeit: Zwei Morde, begangen durch geschlossene Türen und Fenster.«

Falls der junge Manager damit erreichen wollte, dass sich die Vampire erneut ratlos anschauten, war er damit erfolgreich. Der alte Zaltic krümmte sich zusammen wie eine streitsüchtige Katze, doch schaffte er es, sich zu beherrschen.

»Wenn das wahr ist, besteht in der Tat Gefahr«, glaubte von Schreck-Murnau zu erkennen. »Lautenthal war der Chefentwickler unserer Tor-Maschinen, und gleichgültig, welche Schwächen Torrini auch hatte, er besaß einen hervorragenden Schutz. Für mich hört sich das nach einem Werk des Schattenkönigs an.«

»Zwei mörderische Botschaften«, meinte auch Noble. Der Vampir zitterte. »Der Dunkle Meister will uns beseitigen, soviel ist sicher. Wir müssen ihm nachgeben, oder es wird unser Ende sein.«

Augenblicklich schoss Zaltic aus dem Sessel, die Krallen seiner Hände ausgefahren, die spitzen Vampirzähne gebleckt.

»Ich lasse mich nicht einschüchtern! Die Zaltianna Trading Company hat zwei Weltkriege überstanden, den Angriff dutzender Vampirjäger, sogar das Große Feuer Londons im Jahr 1666. Einhundert Anschläge auf mein Leben habe ich hinter mir«, zischte er. »Wenn der Dunkle Meister mit uns spielen will, soll er es ruhig versuchen. Wir verdoppeln unsere Sicherheitsmaßnahmen! Schreck-Murnau, Sie reisen sofort nach Elderwelt. Stellen Sie sicher, dass mit Lautenthals Projekt alles in Ordnung ist. Das Grabmal der Engel gehört uns.«

Von Schreck-Murnau schnaubte verächtlich. »Alles nur wegen ein paar schwarzer Knochen.«

»Es sind nicht irgendwelche Knochen, Murnau! Sie haben für den Dunklen Meister offenbar einen sentimentalen Wert, wenn er sie dort aufbewahren lässt. Noble, senden Sie Ihre besten Agenten und Attentäter aus und finden Sie diese blonde Hure samt ihrer kleinen, mörderischen Bande.«

Sichtlich zufrieden mit dem Schweigen seiner Untergebenen nahm Zaltic wieder Platz. »In der Zwischenzeit setzen wir die gegenwärtige Kooperation mit dem Dunklen Meister vorerst fort, unter Vorbehalt versteht sich. Weitere Investitionen oder die Verlegung materieller Reserven von hier nach Elderwelt wird es nicht geben — nicht, solange er uns keinen besseren Deal anbietet.«

Damit schien alles gesagt. Lautlos zog sich Veyron in Richtung Geheimgang zurück, gefolgt von Jane. Sie hörten noch, wie die Vampire und Vane noch mehr Zahlen und Verträge besprachen, die jedoch allesamt nichts mit Elderwelt zu tun hatten. Gerne hätte sie mehr davon erfahren, doch Veyron wollte in die scheinbare Sicherheit des Geheimgangs gelangen.

»Was war das eben? Habe ich das richtig verstanden? Die ZTC stellt sich gegen den Dunklen Meister?«, fragte sie ihn, als sie das Gefühl hatte, nicht mehr bei jedem Atemzug auf die Lautstärke achten zu müssen. Rasch begaben sie sich in die Geheimkabine, in der sich ihre Schuhe befanden. Veyron schloss die Tür ab, dann betrachtete er ihre Schuhe genauer. Sichtlich erleichtert reichte er Jane ihre High Heels, dann wandte er sich der Wand zu. Behutsam drückte er ins Mauerwerk, bis es leise klackte. Die Geheimtür schob sich zur Seite und gab den Korridor in der Nähe des Partysaals frei. Der Wachmann war immer noch nicht zurückgekehrt.

»So scheint es. Offenbar existiert eine Diskrepanz zwischen dem Dunklen Meister und seinen Vampiren. Ich glaube jedoch, dass Mr. Zaltic die Macht seines Geschäftspartners gewaltig unterschätzt. Wenn er will, kann der Dunkle Meister die Vampire vernichten. Vielleicht wird er sogar die gesamte ZTC zerstören.«

Schnell traten Jane und Veyron in den Korridor. Hinter ihnen schloss sich die Wand fast lautlos.

Jane schlüpfte wieder in ihre Schuhe, stets hoffend, dass niemand sie und Veyron „erwischte“. Dann würde es um Leben und Tod gehen. Immerhin fand sie einen Augenblick, um über die ganze Situation nachzudenken. »Also ist es der Dunkle Meister, der Torrini und diesen Lautenthal auf dem Gewissen hat. Meinen Sie, es war wirklich der Schattenkönig?«

»Nein, es war diese junge Dame, Angel. Ob sie eine Agentin des Dunklen Meisters ist, vermag ich Ihnen nicht zu sagen. Es ist auch gut vorstellbar, dass Angel und Kommando Bracket gar nicht wissen, wem sie da zuarbeiten. Der Dunkle Meister liebt komplexe Pläne. Möglichst viele Fäden in der Hand zu halten, verleiht ihm ein Gefühl von Überlegenheit, von Macht. Das ist überhaupt das Einzige, was ihn interessiert. Es ist sehr wahrscheinlich, dass er versucht, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen«, erläuterte er. »Zumindest wissen wir nun Folgendes: Das Grabmal der Engel befindet sich unter Kontrolle der Vampire der ZTC, Lautenthal hatte damit zu tun und jemand will den Vampiren die Kontrolle darüber streitig machen. Angel und Kommando Bracket stehen dazu in direkter Verbindung, darauf deutet das Symbol auf den Armbrustbolzen hin. Doch es gibt noch viele ungeklärte Sachverhalte. Was hat es mit dem Grabmal der Engel auf sich? Wer ist Angel wirklich? Was sind die Ziele des Dunklen Meisters, welches die Absichten der ZTC? Wie fügt sich das alles zusammen?«

Seinem verbissenen Gesichtsausdruck war anzusehen, wie fieberhaft, fast schon verzweifelt, er versuchte, diesem Geheimnis auf den Grund zu gehen. Sich mit etwas einfach abzufinden, war nicht Veyrons Art, raten kam für ihn nicht in Frage. So niederträchtig und herzlos er manchmal sein konnte, an seinen Motiven, die Mächte des Bösen zu bekämpfen, bestand kein Zweifel.

»Immerhin haben wir mit Dorian Vane einen wertvollen Verbündeten«, versuchte Jane ihn aufzumuntern. Ohne Dorians Hilfe hätten sie niemals dieses Gespräch belauschen können. Sie war überzeugt, dass sich Dorian auch für das Fernbleiben des Wachmanns verantwortlich zeigte.

Veyron sog die Luft scharf ein. Sonderlich beruhigt wirkte er nicht gerade. »Ja, das ist auch sehr interessant«, murmelte er.

Zusammen kehrten sie in den Party-Bereich zurück, wo Gregson noch immer an der Bar saß. Der Inspector hatte seinen Drink noch nicht einmal angerührt.

»Wo zum Teufel seid ihr gewesen? Ich habe Brown alarmiert und sie von diesem Vampir-Burschen loseisen können. War nicht gerade einfach«, schimpfte er.

»Wir haben unseren Job gemacht, Bill, und ein paar interessante Dinge herausgefunden«, gab Jane zurück.

»Das ist kein Thema, das wir hier drinnen erörtern sollten. Die Party ist vorbei. Packen wir zusammen und fahren nach Hause«, sagte Veyron. Jane verstand. Zu viele Augen und Ohren — viele davon feindselig.

»Können Sie mir überhaupt irgendwas sagen?«, hakte Gregson nach.

»Nur eines, Inspector: Tom befindet sich in allergrößter Gefahr.«

Veyron Swift und das Grabmal der Engel

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