Читать книгу Veyron Swift und das Grabmal der Engel - Tobias Fischer - Страница 8
Mitten ins Herz
ОглавлениеDie Rückkehr in die Wisteria Road gestaltete sich problemlos. Zu Toms Erleichterung waren sie rechtzeitig zurückgekehrt, sodass er die Willkommenswoche an der Universität nicht verpasste. In aller Ruhe konnte er seine neue Unterkunft besichtigen und notdürftig einrichten. Sie lag in einem kleinen Mehrfamilienhaus am Stadtrand, wo er eines von drei Zimmern für sich allein hatte. Die anderen beiden gehörten George Rand und Lisa Harris, Kommilitonen aus den USA. George war in seinem Alter und Lisa zwei Jahre älter. Beide waren nur selten zuhause. An der Uni schrieb er sich in seine ganzen Kurse ein und lernte das eine oder andere zu den ganzen Abläufen. Von nun an gab es keinen Veyron mehr, der ihn mitten in der Nacht für irgendwelche verrückten Exkursionen weckte. Andererseits stellte sich recht schnell eine Art von Heimweh ein. Bereits jetzt vermisste er die Abenteuer. Mit Vanessa telefonierte er jeden Abend über Skype. Von dem, was in der Wisteria Road passierte, wusste sie allerdings nichts. Es kümmerte sie nicht weiter, was Veyrons Nachforschungen machten. Immer wieder kam sie auf Kommando Bracket zu sprechen. Genau wie er wunderte sie sich, wie Jordi und die anderen überhaupt von dieser Organisation erfahren hatten.
Freitagnachmittag ließ Tom das altehrwürdige Oxford hinter sich und fuhr zurück nach Harrow. Immer wieder kam ihm „nach Hause“ in den Sinn, wenn er darüber nachdachte. Es fühlte sich fast ein wenig seltsam an, als er abends die schrägen Stufen zur Haustür nahm. Diesmal steckte er nicht wie selbstverständlich den Schlüssel ins Schloss, sondern drückte zuerst die Klingel. Erst nachdem sich niemand rührte, sperrte er auf. Ein wenig schuldbewusst, weil er sich die ganze Woche nicht bei Veyron gemeldet hatte, stieg er hoch zu dessen kleinem Arbeitszimmer. Es wirkte ungewöhnlich aufgeräumt. Keine Bücherstapel, keine mit Messern und Dartpfeilen an die Wand gespickte Papierfetzen. Das magische Daring-Schwert mit zwei verbogenen Nägeln über dem Fenster festgemacht, der Schreibtisch sauber. Keine verbrannten Pülverchen, keine Laborröhrchen, keine zerfetzten Buchseiten. War Veyron ausgeflogen? Auch unten im Wohnzimmer fand Tom alles feinsäuberlich aufgeräumt vor. Die Bücherregale und sogar die Couch hatten ihren Weg dorthin zurückgefunden. Die Wände für das Labyrinth standen jedoch weiterhin in Bereitschaft. Das Einzige, was fehlte, war Veyron Swift. In der Küche fand Tom schließlich eine Nachricht von Mrs. Fuller, der liebenswerten Nachbarin.
Ich konnte nicht anders, sorry.
LG, Sarah
Aha, daher also die ungewohnte Ordnung. Offenbar war Veyron schon seit Tagen weg. Die pausbackige Mrs. Fuller schaute ja hin und wieder vorbei, kochte für sie beide oder richtete Tom regelmäßig das Frühstück her. Wenn das Haus leer war, konnte sie nicht widerstehen, aufzuräumen. Das schien ein innerer Zwang von ihr zu sein. Frech musste Tom zugeben, dass er sich noch nie darüber beschwert hatte, anders als Veyron.
»Mrs. Fuller, alles hier hat seinen festen Platz, auch wenn Sie das nicht verstehen. Jedes Teil, jeder Müll, jeder Fetzen ist aus ganz bestimmtem Grund genau da, wo er sich eben befindet! Sie bringen mir alles durcheinander!«, wies Veyron sie stets aufs Neue zurecht. Tom glaubte sogar, dass es Mrs. Fuller in Wirklichkeit eine diebische Freude bereitete, Veyron mit ihrem Ordnungsfimmel aufzuregen.
Seufzend kehrte Tom ins Wohnzimmer zurück, setzte sich auf die Couch. Sofort spürte er die alten Federn, die sich ihm ins Sitzfleisch bohrten. Mann, dieses Monstrum würde er sicher nicht vermissen. Auf dem kleinen Beistelltisch lag ein einziges altes Buch. Er nahm es in die Hand und drehte es herum.
Die Elfenwelt-Trilogie von John Rashton. Unweigerlich musste Tom schmunzeln. Es war jener Fantasy-Schmöker, der Veyron vor inzwischen zwölf Jahren auf die Spuren Elderwelts führte. Seltsam, dachte Tom. Ich habe es bis heute noch nicht gelesen. Vielleicht fange ich heute mal damit an.
Er schlug das Buch auf und begann mit der Einleitung von Mr. Rashton, die sprachlich sehr komplex ausfiel und viele Erklärungen zu den nachfolgenden Geschichten enthielt. Nach knapp fünfzehn Minuten schlief Tom ein, nicht weiter als sechs Seiten Einleitung.
»Aufwachen, Tom. Es gibt Arbeit!«
Schnell wie eine Sprungfeder war er auf den Beinen, als er Veyrons dunkle Stimme hörte.
»Wie spät ist es?«
»Zwei Uhr morgens.«
»Was? Dann hab’ ich richtig lang geschlafen. Was ist los?«
»Ein Mord. Gregson verlangt nach uns.«
Tom schüttelte benommen den Kopf. Seine rechte Wange fühlte sich taub an. Er musste auf dem Buch eingeschlafen sein. Um munterer zu werden, verpasste er sich eine Ohrfeige.
»Mein Wagen parkt vor der Tür.«
»Schlaftrunken ans Steuer eines übermotorisierten VW-Käfers, mit einem halben Bataillon des CID im Nacken? Nein, lieber nicht. Wir steigen besser bei Willkins ein.«
Jane! Von ihr hatten sie seit dem verkorksten Dinner im Atelier nichts mehr gehört.
Rasch folgte er Veyron zur Tür. Zwei Polizeiwagen standen unten auf der Straße, beide mit Blaulicht. Jane Willkins saß am Steuer des vorderen. Ein frostiges »Einsteigen«, war alles, was sie sich als Begrüßung abringen konnte. Tom strafte sie mit einem vorwurfsvollen Blick. Er konnte ja wirklich nichts für Veyrons Eskapaden! Ohne weitere Worte fuhren sie los.
»Wollen Sie uns nicht aufklären, Willkins, oder spielen Sie nach zehn Tagen lieber weiterhin die Beleidigte?«, fragte Veyron sie nach ein paar Minuten unangenehmen Schweigens.
»Sie wussten es, nicht wahr? Sie wussten es die ganze Zeit!«, giftete sie ihn schließlich an.
»Wenn Sie die vorgetäuschten Gefühle Ihres Verflossenen meinen: Nein, erst zu dem Zeitpunkt, als ich ihm gegenübersaß. Es bestand zwar eine dreizehnprozentige Chance, dass ich mich irre, aber …«
»Sie sind ein Mistkerl, Veyron Swift!« Sie brüllte es regelrecht. Was folgte, waren ein paar weitere Minuten Totenstille.
»Schelten Sie mich ruhig, Willkins, wenn Sie glauben, dass Ihnen das guttut. Machen Sie mich jedoch nicht für die charakterlichen Defizite Ihrer Liebschaften verantwortlich«, gab Veyron schließlich halblaut von sich. »Es sind deren Fehler, nicht die meinen!«
Zum allerersten Mal schien er sich tatsächlich von Janes Vorwürfen angegriffen zu fühlen. Für gewöhnlich steckte er Beleidigungen mit einem schrägen Lächeln weg. Bei Jane war das anders, ihre Kritik nahm er sich tatsächlich zu Herzen. In den letzten Jahren hatte er ihr zu liebe einige seiner Marotten abgelegt. Das Tragische an der Sache war, dass Jane dies nicht erkannte. Sie glaubte immer noch, das läge allein an Toms positivem Einfluss.
»Leute«, rief Tom, um die Situation nicht eskalieren zu lassen. »Wir haben einen Fall. Konzentrieren wir uns lieber darauf.«
Seine Einmischung entpuppte sich nur als Teilerfolg. Anstatt einer Streiterei gab es die ganze Fahrt über nur beleidigtes Schweigen.
Die Fahrt führte in einen Teil Londons, den Tom noch nie gesehen hatte: Belgravia, eines der teuersten Viertel der ganzen Stadt. Sie fuhren die Belgrave Street runter, was ihn ausnahmslos staunen ließ. Er war die Häuserzeilen aus roten Backsteingebäuden gewohnt, wie man sie in Harrow, Ealing, Uxbridge und sonst wo fand. Die abgenutzten Wohnblöcke Paddingtons und East Londons, das war es, was er kannte. Aber Häuserzeilen, wie aus Marmor gemacht, mit Säulen vor weiß vertäfelten Türen, goldenen Türgriffen und Hausnummern, das war etwas ganz Neues. Ihm kam es vor, als habe irgendjemand ein Stück der schwerreichen Insel Talassair aus Elderwelt herausgeschnitten und mitten in das laute, schmutzige London gesetzt. Nicht zu verachten war auch die Sammlung superteurer Sportwagen und SUVs auf den Parkstreifen vor den Häusern.
»Wow«, staunte er.«
Vor einem palastgleichen Gebäude blieben sie schließlich stehen. Solitär von den noblen Häuserzeilen, wo die Straßen Eaton Square und Belgrave Place zusammentrafen, stand 10 Belgrave Place, gestaltet wie die Miniaturausgabe des Buckingham Palace. Hinter dem hohen Tor verrichteten alte Wachhäuschen einsam und verlassen ihren Dienst. Auf der Straße und der Hofeinfahrt warteten in dieser Nacht jedoch keine hoheitlichen Limousinen, sondern Polizeifahrzeuge mit Blaulicht und mehrere Krankenwägen. Uniformierte Constables diskutierten mit den Rettungssanitätern. Offenbar wurden Letztere am Betreten des Gebäudes behindert. Jane hielt ihren Wagen am Straßenrand, und alle drei stiegen aus. Ein kurzes Zeigen von Janes Dienstmarke und ihr barsches »Die zwei gehören zu mir«, ließ sie die Barriere der Constables sofort überwinden.
Sie fanden Detective-Chief-Inspector Bill Gregson im zweiten Stock, in einem Raum, der einmal ein Schlafzimmer gewesen sein musste. Es roch grauenhaft nach verbranntem Fleisch. Von dem großen Bett in der Mitte war nicht viel übriggeblieben. Ein kreisrundes Loch hatte sich durch die Matratze bis auf den teuren Mahagoni-Fußboden gebrannt. Tom fand inmitten des Lochs die verkohlten Überreste eines Menschen. Nur noch das Skelett war übrig, die Arme mit Handschellen am schmiedeeisernen Kopfende des Betts gefesselt.
»Eine ziemliche Sauerei«, grüßte sie der hünenhafte Inspector mit der silbernen Bürstenfrisur. Am anderen Ende des Raumes unterhielt sich Sergeant Palmer mit einer anderen Ermittlerin des CID, der rothaarigen Linda Brown. Beide warfen Veyron und Tom missbilligende Blicke zu.
»Sagen Sie mir bitte, dass es kein Fall spontaner Selbstentzündung ist, Inspector. Im Augenblick habe ich keine Zeit für Banalitäten jeglicher Art«, schickte Veyron eine scharfe Warnung durch den Raum, ehe er sich zu dem Opfer bückte und es in Augenschein nahm.
»Sagen Sie’s mir, Swift. Unser Toter ist Emiliano Torrini, sechsundfünfzig Jahre alt, der Nachkomme italienischer Einwanderer …«
»Sagen Sie nichts mehr!«, unterbrach ihn Veyron. »Emiliano Vincenzo Torrini, Direktor des Unternehmensbereichs Export und Logistik bei der Zaltianna Trading Company. Er war der Sohn eines Vaters gleichen Namens, der vor sechsundfünfzig Jahren unter ungeklärten Umständen verstarb. Wenn Sie tiefer in der Geschichte Torrinis graben, werden sie feststellen, dass sämtliche seiner Vorväter stets am Tag der Geburt ihrer Söhne starben und alle den gleichen Namen trugen. Emiliano Torrini. Aus sechsundfünfzig Jahren sollten Sie besser fünfhundertsechzig Jahre machen. Das dürfte dem wahren Alter Torrinis am nächsten kommen.«
Gregson schenkte zuerst Jane einen ratlosen Blick, danach Tom.
»Okay, mir ist egal, wer von euch beiden es tut, aber ihr klärt mich jetzt auf«, befahl er streng. Veyron tat es selbst, gerade als sowohl Tom wie Jane Luft holen wollten.
»Das ganze Direktorium der ZTC besteht aus Vampiren, mein lieber Inspector. Uralte Vampire, welche die ZTC vor Jahrhunderten gründeten und sie seither leiten. Sehen Sie sich nur die Leiche an. Haben Sie sich nicht auch schon gewundert, woher die verlängerten Eckzähne kommen und die Klauen an den Fingern? Das ist doch der Grund, warum ich hier bin, nicht wahr? Anderenfalls hätte Ihnen ein fantasieloser Ermittler wie Sergeant Palmer auch gereicht.«
»Hey! Passen Sie bloß auf!«, rief Palmer, der Kopf im Nu rot angeschwollen. Sergeant Brown, eine große, schlanke Frau etwa in Janes Alter, hielt ihn zurück. »Du kennst den Spinner doch«, hörte Tom sie flüstern. Veyron tat es sicher auch, aber er ignorierte es. Stattdessen nahm er die verkohlten Knochen genauer in Augenschein.
»In welchem Zustand haben Sie Torrini aufgefunden?«
»Eine junge Frau hat uns angerufen. Brown war zuerst am Tatort. Zunächst wollten seine Leibwächter sie nicht ins Haus lassen, darum forderte sie Verstärkung an. Als Palmer und ich mit einer ganzen Mannschaft antraten, zeigten sich die Herren etwas kooperativer. Wir fanden Torrini bereits in diesem Zustand, allerdings qualmte sein Skelett da noch. Normalerweise hätte das ganze Zimmer verbrennen müssen. Abgesehen von dem Loch in der Matratze ist alles andere jedoch unberührt.«
Veyron blickte zu Brown. »Wer war die Zeugin, wo ist sie jetzt?«
Die Polizistin schüttelte den Kopf. »Nicht auffindbar. Torrinis Leibwächter zeigen sich nur wenig kooperativ. Sie leugnen, dass überhaupt irgendjemand außer Torrini in diesem Haus war.«
»Interessant. Nun, irgendjemand muss Torrini ja an dieses Bett gefesselt haben. Eine Frau etwa, von welcher er gewisse sexuelle Handlungen erwartete. Ich weiß, dass Torrini zahlreiche gut bezahlte Liebschaften unterhielt.«
»Eine Prostituierte«, meinte Palmer Veyron verbessern zu müssen. »Eine verdammte Hure.«
»Ein unfreundlicher Ausdruck, Palmer. Seltsam, wo Sie doch selbst derartige Dienste bei Zeiten in Anspruch nehmen.«
Augenblicklich wurde Palmer wieder rot im Gesicht.
»Ach?«, entfuhr es Brown. Sie verpasste ihrem Kollegen einen wütenden Rempler gegen die Schulter und ging auf deutlichem Abstand.
»Veyron«, grummelte Gregson. »Lassen Sie das Privatleben meiner Leute aus dem Spiel, sagen Sie mir besser was zu Torrini!«
»Ich brauche die Aufzeichnung des Notrufs. Vielleicht können wir die Dame, die den Notruf abgesetzt hat, auf diese Weise identifizieren«, meinte Veyron. Er stand auf und ging zur Schlafzimmertür. Zweiflüglig und aus teuerstem Holz, wie Tom erkannte. Erst jetzt fiel ihm auf, dass die Ränder abgesplittert waren. Am Türstock war das Schloss halb herausgebrochen.
»Jemand ist eingebrochen. Die Tür wurde aufgetreten.«
Brown nickte. »Als wir ankamen, war die Tür von innen verschlossen. Wir vermuteten die Frau in höchster Gefahr. Einer von Torrinis Leibwächtern hat die Tür daraufhin aufgetreten. Dieser Kerl hatte eine immense Kraft. Wir brauchen für so etwas eigentlich den Rammbock.«
»Der Mann ist ja auch ein Vampir, Sergeant Brown«, ließ Veyron sie wissen.
Ihre Augen weiteten sich ungläubig. »Echt? Oh«, meinte sie verlegen.
»Der Raum war von innen verschlossen. Der Notruf wurde wahrscheinlich mit einem Handy abgesetzt. Ich kann hier nämlich nirgendwo ein Telefon entdecken. Zur Tür kam Torrinis Liebschaft nicht hinaus. Sie wäre dort auf die Leibwächter gestoßen, und die hätten sie zweifellos zerfleischt«, führte Veyron aus, während er im Schlafzimmer auf und ab marschierte, die Decke und die Wände genau untersuchte. Er klopfte an ein paar Stellen, schüttelte den Kopf und ging weiter. Zuletzt wandte er sich den Fenstern zu.
»Das können Sie sich sparen. Die sind verschlossen«, rief ihm Jane zu.
Veyron hob interessiert die Augenbrauen. »Die ganze Zeit über?«
Jane wusste es nicht, aber Brown bestätigte es. Seit der Entdeckung der Leiche wurde nichts in diesem Raum verändert.
Einen Moment dachte Veyron über etwas nach. Plötzlich bückte er sich und untersuchte den Boden. Verwundert schauten ihm Tom und die vier Polizisten zu. Nach einer Weile schien er gefunden zu haben, wonach er suchte. Eine hauchdünne schwarze Linie zog sich über das Parkett, etwa zwei Meter lang und schnurgerade. Ein Blick zur Decke verriet, dass sich dort der gleiche Strich befand.
»Wie bei Lautenthal«, murmelte Veyron kaum hörbar. Er stand auf, rieb sich die Hände und kehrte zu Torrinis schaurigen Resten zurück.
»Einen Vampir tötet man nicht so leicht. Es muss außergewöhnlich schnell gegangen sein und seine Mörderin war obendrein sehr stark. Haben wir die Mordwaffe?«
Nun war es an Brown, ein klein wenig zu triumphieren. Sie hielt einen Plastikbeutel mit einem verkohlten Holzpflock hoch.
»Steckte zwischen den Rippenknochen. Wie bei Dracula«, gluckste sie, tippte sich dabei mit weit ausholender Geste auf die Brust. »Mitten ins Herz.«
Veyron nahm ihr den Beutel ab und drehte ihn von einer Seite zur anderen, bis er den Pflock genauestes untersucht hatte.
»Inspector«, sagte er schließlich an Gregson gewandt. »Ich brauche unbedingt die Aufzeichnung des Notrufs. Unser weiblicher van Helsing hat sich Torrini als Prostituierte angeboten, ihn beim Liebesspiel gefesselt und dann gepfählt. Wir suchen nach einer über einmeterachtzig großen Blondine, außergewöhnlich hübsch, sehr schlank; Modelmaße. Aber lassen Sie sich nicht täuschen: Sie ist schnell wie ein Gepard und stark wie eine Löwin.«
Tom schluckte. Ohne Zweifel beschrieb Veyron gerade Angel. Er wusste ja, dass sie die ZTC bekämpfte. Doch erst jetzt wurde ihm bewusst, wie ernst es ihr dabei schien.
»Ich bin überzeugt davon, dass sie die Polizei informiert hat, mit dem Ziel, dass Torrinis Ermordung publik wird. Anderenfalls hätte die ZTC sein Ableben verschwiegen und die Sache selbst geregelt. Zu guter Letzt …« Veyron unterbrach sich. Nachdenklich warf er einen Blick auf die dünne schwarze Linie am Boden. »Nun, zu guter Letzt ist sie imstande, sich aus geschlossenen Räumen zu teleportieren.«
»Ihnen brennt doch der Hut«, polterte Palmer auf der Stelle los. Brown musste kichern und sogar Jane schüttelte den Kopf.
»Veyron, ich habe ja schon viel gehört, aber teleportieren?«
Mit Daumen und Zeigefinger drückte sich Veyron die Augenlider zu, während er tief durchatmete. Tom wusste, wie sein Patenonkel innerlich die Fantasielosigkeit der versammelten Polizisten beklagte.
»Mich wundert, liebe Willkins, dass Sie den Schattenkönig so schnell vergessen haben. Er kann sich teleportieren. Sie haben es am eigenen Leib zu spüren bekommen«, schalt Veyron sie.
Sofort fasste sich Jane mit der Rechten an die Hüfte. Für einen Sekundenbruchteil verzerrte ein sichtlicher Schmerz ihr Gesicht. »Habe ich nicht«, kam ihre kleinlaute Antwort.
Tom schluckte. Der Schattenkönig. Seines Zeichens oberster Dämon und rechte Hand des Dunklen Meisters. Vor drei Jahren hätte er Jane beinahe umgebracht. Ihn konnte man nicht vergessen.
»Sehr schön. Ich sage nicht, dass unsere Mörderin die gleichen Fähigkeiten besitzt wie der Schattenkönig. Aber zweifellos ist hier irgendeine Form von Magie im Einsatz. Wie sonst erklären Sie sich die von innen verschlossenen Fenster und Türen, sowie das gleichzeitige Verschwinden der Mörderin? Es gibt hier weder Falltüren noch versteckte Fluchtwege in den Wänden. Warum hat sich unsere schöne Mörderin nicht gleich auf diese Weise hinein teleportiert? Ja, Sie haben mich zu Recht hinzugezogen, Bill. Das ist alles sehr vielversprechend.«
Tom kam nicht darum herum, eine fast schon kindliche Begeisterung bei Veyron auszumachen. Gregson schien mit der Analyse von Toms Patenonkel jedoch nicht viel anfangen zu können.
»Veyron, wen suchen wir eigentlich? Wer ist diese Frau? Eine Hexe? Ein anderer Vampir?«
»Das vermag ich Ihnen nicht zu sagen, Inspector. Eines steht zweifelsfrei fest: Sie ist nicht von dieser Welt.«
Ohne weitere Erklärung wandte er sich zum Ausgang, enteilte dem Tatort forschen Schrittes. Tom, Jane und Gregson hatten Mühe, mit ihm mitzuhalten. Wo immer Veyron hinwollte, es schien dringend zu sein. Unterwegs tippte er blitzschnell auf seinem Smartphone herum.
»Veyron, wie geht’s jetzt weiter? Das hier lässt sich nicht mehr vertuschen«, rief Gregson. In der Tat. Im Freien hatten sich schon zahlreiche fremde Autos eingefunden, und Menschen mit Fotoapparaten, Kameras und gezückten Smartphones drängten sich an die uniformierten Constables heran.
»Haben Sie die Presse informiert?«, fragte Veyron kalt.
»Nein. Natürlich nicht!«
»Dann war es unsere Mörderin. Jemand will, dass der Mord an Torrini publik wird. Lassen Sie niemanden zum Tatort, keiner darf die Leiche zu Gesicht bekommen. Schaffen Sie Torrini sofort in die Pathologie. Rufen Sie meinen Freund Strangley an, der kennt sich mit solchen Fällen aus. Das Übliche eben.«
»Und was sagen wir den Journalisten?«
»Geben Sie eine Pressekonferenz, erzählen Sie die Wahrheit. Das Torrini erstochen wurde, von einer mutmaßlichen Prostituierten. Motiv unbekannt, Täterin auf der Flucht. Hochgewachsen, schlank und blond. Mehr wissen Sie zum gegebenen Zeitpunkt noch nicht.«
Schnurstracks schlug Veyron den Weg zu Willkins Wagen ein. Die anderen folgtem ihm.
»Kümmern Sie sich um einen Termin bei der Zaltianna Trading Company. Durch diesen Mord wird die Company zu einem öffentlichen Statement gezwungen sein. Tun Sie ganz einfach Ihre Arbeit, Inspector«, meinte Veyron zum Abschied noch. »Willkins, fahren Sie Tom und mich bitte zurück in die Wisteria Road.«
Gregson und Jane nickten, wandten sich ab, um noch einige Details zu besprechen. Tom und Veyron stiegen in den Wagen. Die ganze Zeit über hatte Veyron auf seinem Smartphone herumgetippt, jetzt endlich steckte er es weg.
»Gut, sobald wir in 111 Wisteria Road sind, brechen wir nach Schottland auf. Du musst nach Elderwelt reisen, zurück nach Fleutian«, entschied Veyron.
Sofort schüttelte Tom den Kopf. »Veyron, das geht nicht. Montag habe ich meine ersten Vorlesungen. Ich muss lernen und mich vorbereiten.«
»Wimille und ich haben schon alles mit dem Dekan der Universität geregelt. Du hast die Lesungen abgesagt wegen einer Studienreise.«
»Was? Veyron, das ist mein Studium, nicht das Ihre!«
»Menschenleben stehen auf dem Spiel, Tom! Niemand kann so einfach in die Privatgemächer der ZTC-Oberen einbrechen und einen Mord begehen. Ganz sicher nicht irgendeine kleine Söldnertruppe mit einer magischen Anführerin. Es steckt viel mehr dahinter. Ich brauche dich jetzt in Fleutian und nicht in den Hörsälen von Oxford. Das muss warten.«
Beinahe hätte Tom gesagt, dass es nur Vampire waren, die da ermordet wurden. Das war jedoch nur ein scheußlicher spontaner Gedanke, der sich sofort wieder verflüchtigte. In den letzten fünf Jahren hatte er gelernt, dass das Leben anderer genauso viel wert war – auch wenn es keine Menschen waren. Selbst wenn momentan die ZTC-Anführer betroffen waren — ihre Feinde — so lag die Wahrscheinlichkeit hoch, dass durch weitere Attacken oder Racheaktionen der ZTC Unschuldige ums Leben kämen. Dabei kam ihm noch ein weiterer Gedanke.
»Woher wissen Sie eigentlich, dass Angel hinter diesem Attentat steckt? Es könnte doch auch irgendeine x-beliebige Vampirjägerin gewesen sein.«
Veyron hauchte die Seitenscheibe an und kritzelte mit dem Finger ein kleines Symbol in den Beschlag: Einen kleinen, stilisierten Engel.
»Das Grabmal der Engel«, keuchte Tom. »Sie haben es irgendwo gesehen. Auf dem Pflock, nicht wahr?«
»Tief eingraviert auf der Kopfseite, wo es am ehesten von der Hitze geschützt ist, wenn das Vampiropfer zu Asche vergeht. Jemand wollte, dass wir wissen, wer für den Tod Torrinis verantwortlich ist. Das ist einer der Gründe, warum du nach Fleutian zurückkehren musst. Finde alles über Angel heraus, über ihre Motive, den Aufbau von Kommando Bracket und welche Aktionen sie als nächstes plant. Ich sorge dafür, dass deine Informationen an mich weitergeleitet werden, ganz geheim und unauffällig.«
Seufzend erklärte sich Tom einverstanden. Angel. Ihre betörende Schönheit hatte ihn fast um den Verstand gebracht. Seltsam, dass er erst jetzt wieder an sie denken musste. Die ganze Woche war sie ihm nicht einmal in den Sinn gekommen.
»Okay, ich mach’s. Sie können sich auf mich verlassen.«
Eine Sekunde später stieg Jane ein. Sie warf den beiden einen skeptischen Blick zu.
»Was habt ihr jetzt wieder ausgeheckt? Sollte ich davon wissen?«
»Wir werden für die nächsten zwei Tage nach Schottland fahren. Nur eine kleine Nachforschungsmission, nichts Aufregendes. In achtundvierzig Stunden stehe ich Gregson und Ihnen wieder im vollen Umfang zur Verfügung.«
Die Selbstverständlichkeit und Eiseskälte, mit der Veyron Jane ins Gesicht log, fand Tom erschreckend. Auf der anderen Seite würde sie wohl aus der Haut fahren, wenn sie die Wahrheit wüsste. Dass etwas nicht stimmte, schien Jane dennoch zu spüren.
»Wenn Sie das sagen«, murrte sie, legte den Gang ein und die Fahrt ging los.
Joy Jennings sah wie üblich fantastisch aus, fand Vanessa. Ganz anders als sie selbst. Vanessa fand ihre Nase zu spitz, ihren Busen zu groß, ihre Beine zu kurz, und überhaupt war sie viel zu dick. Klar, Tom sah das ganz anders — die meisten anderen Männer und Frauen auch. Sie nannten sie eine Schönheit. Aber Joy Jennings, die war wirklich schön. Eine wahre Elfe.
»Was sagen Sie zur Ermordung von Emiliano Torrini? Kommt Ihnen diese Tatsache nicht sehr gelegen?«, wollte Miss Jennings von ihrem Gesprächspartner eben wissen. Dabei rammte sie ihm ihr Mikro beinahe ins Gesicht.
John Cyrus Doe brauchte einen Moment für die Antwort. Nachdenklich fuhr er sich mit der Rechten durch seinen blondierten Scheitel.
»Es ist eine Tragödie, denn es zeigt uns, wie weit es in unserem schönen Land gekommen ist. Jetzt zeigt sich das wahre Gesicht der internationalen Hochfinanz mit der Zaltianna Trading Company an ihrer Spitze. Die Verbrecher ermorden sich gegenseitig.«
Vanessa hätte beinahe laut aufgelacht. So sehr sie Feuer und Flamme für Does Kampf gegen die ZTC war, doch diesmal wusste sie mehr als der Vorsitzende von MEGA.
»Könnte der Mord nicht auch von einem Ihrer Anhänger begangen worden sein?«, hakte Jennings nach. Doe strafte sie dafür mit einem zornigen Blick.
»Immer wieder versucht die Presse, unsere Anhänger in den Fokus von Verbrechen zu schieben. Das ist unerhört! Nein, unser Protest war, ist und bleibt friedlich. Ich kenne die Mörder Torrinis nicht, aber schauen Sie sich an, woher dieser Mann stammt. Seine Vorfahren kamen aus Italien, der Heimat der Mafia!«
Der Unglauben in Joys wundervollen dunklen Rehaugen deckte sich mit dem von Vanessa. Worauf wollte Doe denn jetzt hinaus?
»Ich halte es nicht für gut, dass ausländische Multimillionäre in unserem Land krumme Geschäfte treiben. Es liegt doch auf der Hand, dass diese Verbrecher die kriminellen Elemente ihrer Heimat früher oder später zu uns bringen. Nun ist es offenbar so weit«, fuhr er fort.
»Avron Zaltics Vorfahren kamen vom Balkan, und von Schreck-Murnau ist Deutscher«, warf Jennings spitz ein. »Fürchten Sie etwa das verstärkte Auftreten von Rachemorden oder Nazis?«
»Eine wahrhaft bedrohliche Vorstellung«, meinte er ernst. Der bittere Sarkasmus der jungen Journalistin schien dem Politiker vollkommen entgangen zu sein. »Der Mord an Torrini war erst der Anfang. Wer weiß, welches Übel die anderen Top-Manager der ZTC zu uns gebracht haben. Sollten wir als Nation und Volk diesen Verbrechern nicht endlich einen Riegel vorschieben? Sollten wir nicht besser gleich verhindern, dass sie überhaupt zu uns kommen?«
Eine zerknüllte Dose Coke flog gegen den Fernseher und erschütterte Does Abbild für einen Moment.
»Er ist ein verdammter Rassist«, knurrte Owain. Ellen, die in seinem Armen lag, nickte stumm. Vanessa blickte zu den beiden hinüber. Sie musste ihnen recht geben. Aber Doe war der einzige Politiker im ganzen Land, der etwas gegen die ZTC unternahm. Seine Anhängerschar wuchs beständig — aus allen Lagern der Gesellschaft.
»Ja«, meldete sich nun eine weitere Stimme aus dem Wohnzimmer. »Aber er ist nützlich. Seine Bewegung bietet für unsere Pläne eine Eins-A-Basis.« Es war Angel.
Vanessa hielt kurz die Luft an, ihr Herzschlag beschleunigte sich. Neugierig drehte sie sich zu ihm um.
Angel lehnte lässig im Türstock, das weite, offene Hemd präsentierte seinen gertenschlanken, fast nackten Körper. Na gut, er trug noch seine Jeans. Vanessa kicherte in sich hinein, als sie sich daran erinnerte, wie Tom ihr weiß machen wollte, Angel wäre eine Frau. Okay, mit seinen langen blonden Haaren, dem wunderschönen jugendlichen Gesicht und der schlanken, fast androgynen Statur mochte er aus der Ferne sehr feminin wirken. Aber Angel war durch und durch ein Mann. Tom musste betrunken gewesen sein oder stand unter Drogen. Hatte er nicht über Kopfschmerzen geklagt? Vielleicht eine Folge des harten Kampfes gegen die Schrate …
Ganz gelassen nahm Angel einen Schluck aus der Bierflasche in seiner Rechten.
»Doe ist ein Arschloch«, sagte er in Owains Richtung. »Aber er kann die Menschen anstacheln, er weckt ihren Zorn. Dieser Doe tritt den lahmen Politikern in die Ärsche und zwingt sie zum Handeln. Aber hey, wir müssen uns ja nicht gleich mit ihm ins Bett legen.«
Angels grüne Augen suchten die von Vanessa. Er zwinkerte ihr kurz zu. Sein pragmatischer Ansatz gefiel ihr. Angel war jemand, der wusste, was er wollte und stets das Ziel im Auge behielt. Er war kein so ein Umstandskrämer wie Tom, der alles nur in Gut und Böse einteilte. Es war absolut das Richtige gewesen, Angel zu unterstützen — und Tom nichts davon zu sagen.
Vor drei Tagen waren sie plötzlich mitten in der Nacht vor ihrer Tür gestanden: Owain, Ellen und Angel. Sie brauchten ihre Hilfe. Der nächste Schritt im Kampf gegen die ZTC stand an. Ob sie bei ihr untertauchen könnten, hatten sie gefragt, denn was sie vorhatten, war gefährlich und würde wahrscheinlich Ärger nach sich ziehen; enormen Ärger. Natürlich gewährte Vanessa ihnen Unterschlupf. Ihre WG-Mitbewohner nahmen sowieso kaum Anteil an ihren Gästen, ganz gleich, ob es Tom oder ihre Freundinnen waren. Doch Angels magischem Einfluss konnte sich niemand entziehen. Sie saßen alle zusammen, als er in der Diskussion gegen die ZTC argumentierte und offenlegte, dass diese Verbrecher allesamt Vampire waren. Sie saugten der Welt nicht nur im übertragenen Sinn das Blut aus. Marcus und Herb und sogar die ansonsten desinteressierte Becky waren sofort hellauf begeistert und willens, sich Kommando Bracket anzuschließen. Sie alle wollten etwas tun, sich von der Lethargie der Politik und Polizei befreien. Vanessa zögerte noch. Wie sollte sie das Tom erklären?
Für die nächsten zwei Tage verschwand Angel einfach. Owain war in tiefer Sorge, ebenso Ellen. Zwar kannten sie die Pläne ihres Anführers, aber dass er sie ganz allein umsetzte, gefiel ihnen nicht. Mitten in der zweiten Nacht seiner Abwesenheit kehrte Angel zurück, blutüberströmt und geschwächt. Er war verletzt, blutete aus einer furchtbaren Wunde unterhalt des Brustkorbs. Zusammen mit Owain und Becky schaffte Vanessa ihn nach oben ins Badezimmer. Ellen nähte seine Wunde, während Marcus und Herb ihn mit Alkohol abfüllten, um die Schmerzen zu lindern. Zum Glück war kein Arzt oder eine Krankenschwester anwesend; die hätten sich vor Verzweiflung die Haare gerauft. Aber alles ging gut aus, und obendrein war es ein richtiges Abenteuer. Sie lachten vor Aufregung und Freude. Angel erzählte ihnen, wie er sich bei Torrini eingeschlichen und gegen den Vampir gerungen hatte. Es musste ein furchtbarer Kampf gewesen sein, Vanessa erinnerte sich noch gut an das Geschick und die Geschwindigkeit Angels. Niemand konnte es mit ihm aufnehmen.
Jetzt, keine vierundzwanzig Stunden später, war Angel wieder auf den Beinen, von der Wunde sah man nur noch die Naht. Sie ließ ihn richtig verwegen erscheinen. Angel war ein wirklicher Held. Für Helden hatte Vanessa eine Schwäche; eine ganz enorme Schwäche sogar.
Wieder nahm er einen Schluck Bier, während er auf den Fernseher starrte. Das Interview mit Doe war beendet, dafür schaltete der Sender nun zur Pressekonferenz der Polizei. Inspector Gregson und sein Vorgesetzter, Commissioner Gordon Hopkins, erläuterten Details zum Mord und zum dürftigen Ermittlungsstand. Sie bemerkte, wie Angel dabei mehr und mehr Anspannung gewann.
»Warum sagst du Arsch nicht einfach, dass der Kerl ein Vampir war?«, schimpfte er plötzlich los. Kopfschüttelnd trat er nach vorn, offenbar Willens, Gregson oder Hopkins durch den Bildschirm hindurch anzugehen.
»Ihr verdammten Lügner! Warum verschweigt ihr die Wahrheit über diese Verbrecherbande?«
»Weil man sie für Idioten halten würde, Angel«, meldete sich Owain. »Keiner würde ihnen das glauben.«
»Es könnte eine Massenpanik geben«, warf Vanessa halblaut ein. Angel schnaubte, drehte sich um und stampfte nach draußen in den Flur. Die Tür des Badezimmers flog knallend zu. Augenblicklich stand Vanessa auf.
»Lass gut sein«, meinte Ellen ernst. »Wenn er wütend ist, lässt man ihn besser allein.«
»Mir egal«, gab Vanessa zurück. Sie folgte Angel nach draußen, wild entschlossen, ihm die Sache zu erklären. Vor der Tür blieb sie einen Moment unentschlossen stehen. Ellens Warnung wurde ihr bewusst. Trotzdem. Sie hatte das untrügliche Gefühl, das er jemanden brauchte.
Vorsichtig klopfte sie. Als er nicht antwortete, öffnete sie die Tür und schlüpfte in das kleine Badezimmer.
Zitternd, das Waschbecken umklammert, starrte Angel in den Spiegel.
»Warum lasst ihr euch nur alle anlügen?«, fragte er leise, noch immer geradeaus starrend. Vorsichtig kam sie näher, berührte ihn zögerlich an der Schulter. Seine Haut fühlte sich so wunderbar sanft an.
»Niemand auf unserer Welt glaubt, dass es Vampire wirklich gibt. Selbst wenn die Beweise direkt vor einem liegen, will man es einfach nicht glauben. Veyron sagte einmal, dass die Menschen lieber eine Lüge akzeptieren als die Wahrheit, wenn die Lüge besser zum eigenen Weltbild passt. Faulheit des Verstandes, nennt er das.«
Angel schnaubte. »Dann sind die Menschen eurer Welt Narren! Eure eigene Polizei hilft der ZTC, die Wahrheit zu verschleiern!«
Vanessa kam noch näher, wollte ihn am liebsten umarmen, ihn noch intensiver berühren. Sie begriff, wie einsam er sich fühlen musste. Wie ein Sehender unter Blinden, ein Ritter im Kampf gegen Windmühlen. Sie zuckte kurz zurück, als ihr plötzlich Tom in den Sinn kam. Sie liebte ihn, das stand ganz klar fest. Aber Angel war anders als Tom. Allein in seiner Nähe zu sein war berauschend. Ihr Puls ging schneller, alle Härchen stellten sich ihr auf, wenn Angel sie berührte. Seine Aura war schlichtweg — ihr Verstand suchte nach dem richtigen Begriff — magisch.
»Wichtig ist doch nur, dass wir die Wahrheit kennen, oder? Wir kämpfen für die anderen, die nicht verstehen wollen, die belogen und getäuscht werden.« Sie musste ihn aufbauen, das spürte sie. Er brauchte sie an seiner Seite. »Wir kriegen die Bande schon noch.« Sie streichelte über seine wunderbare glatte Haut. Innerlich wurde ihr heiß.
Ein trauriges Lachen entfuhr Angels Kehle. »Du warst nicht dabei. Torrini war sehr stark; aber er ist bei Weitem noch nicht der Schlimmste unserer Feinde. Er war nur ein Lakai des Dunklen Meisters.«
Jetzt konnte sie nicht anders, sie musste ihn einfach umarmen. Seine Zweifel suchten nach Trost. Es war, als forderte er sie regelrecht dazu auf. Sie schmiegte sich an ihn.
»Ich werde dir helfen. Keine Ahnung wie, aber ich werde es tun. Ich bin dabei, ganz egal, was passiert.«
Das war ihr felsenfester Entschluss, gleichgültig, was Tom dazu sagen würde. Ihre Zukunft lag bei Kommando Bracket. Sie hatte schon gegen die Schrate der Schwarzen Horde gekämpft, sie würde schon irgendwie klarkommen.
Angel drehte sich in ihrer Umarmung um, streichelte ihr über ihre Wangen. Seine Finger waren nicht die eines Kriegers, sondern die eines Künstlers, schlank und zärtlich.
»Meine schöne tapfere Vanessa«, seufzte er. Dann küsste er sie.
Endlich, endlich, endlich! Insgeheim hatte sie schon seit drei Tagen darauf gewartet, dass es passierte. Er besaß so wunderschöne volle Lippen. Man musste sie einfach küssen. Ihr Herz raste, sie spürte, wie in ihrem Inneren eine Glut entfacht wurde, als er sie in seine Arme nahm. Angel mochte sehr schlank sein, aber die Kraft, die er besaß, glich der eines wilden Kriegers. Er wusste, was er wollte, und er nahm es sich einfach, das gefiel ihr. Ganz anders als Tom, der immer so sanft und vorsichtig war.
Ihre Lippen lösten sich wieder; leider viel zu früh.
»Wir fahren nach Schottland, noch heute Nacht«, verkündete er. Lange sah er sie an, tastete sie prüfend ab. Er streichelte wieder ihr Gesicht, fuhr über ihren Hals hinunter bis zu ihren Brüsten, berührte sie sanft und doch bestimmend.
»Hey, keine Sorge«, versicherte er ihr, »für das haben wir schon Zeit.«
Genau das wollte sie hören.
Auf der Surrey-Seite Londons stand das vielleicht höchste Gebäude der ganzen Stadt. Über dreihundertdreißig Meter hoch, ein einziger viereckiger Block, von oben bis unten mit schwarzem Aluminium verkleidet, überragte der Zaltic-Tower sämtliche andere Wolkenkratzer. Die beiden verspiegelten zylindrischen Zwillingstürme der Ramer-Stiftung, wirkten mit nur Zweidritteln der Höhe dagegen fast winzig. Wie Gut und Böse standen sie sich gegenüber, nur durch das schmutzige Wasser der Themse getrennt. Zumindest kam es Jane so vor, als sie aus dem Fenster ihres Dienstwagens blickte. Es ließ sich nicht leugnen, dass der Zaltic-Tower wesentlich mehr Eindruck machte.
»Irre, wie hoch der ist«, meinte Inspector Gregson, als er sich nach vorne beugte, um einen Blick auf die nadelförmige Spitze des schwarzen Turms zu erhaschen. Jane und er näherten sich langsam dem riesigen und durch mehrere Tore und Schranken abgeriegelten Areal des Turms. Anders als die Ramer-Stiftung, deren Zentrale sich in eine Reihe anderer Bankentürme einreihte, stand der gewaltige Zaltic-Tower solitär, umgeben von zweistöckigen Häuserzeilen an der Rotherhithe Street. Jane erinnerte sich noch gut daran, welchen Aufschrei es vor rund zwanzig Jahren gab, als die Zaltianna Trading Company ein riesiges Areal direkt am Themse-Ufer erwarb und den gewaltigen Tower errichtete.
»Wie der Turm von Barad-dûr«, grummelte Jane. In diesem Fall meinte sie es auch so. In wenigen Minuten würden sie einen der höchsten Tiere der ZTC treffen, sehr wahrscheinlich einen Vampir. Wenn sie das Falsche fragten, könnte es um Leben und Tod gehen. Zwei einfache Menschen in einem Tower voller Vampire. Wir müssen verrückt sein, dachte Jane. Alles nur für ein paar Informationen über Torrini. War es das wirklich wert?
Sie bogen in Richtung Themse ab und erreichten die Tore des Zaltianna-Geländes, wo die Wachmänner lange telefonierten, ehe man sie zum Parkplatz vor der Lobby durchließ. Ihr silbergrauer Dienst-BMW nahm sich gegen all die riesigen Geländewägen, Sportwägen und anderen Luxuslimousinen regelrecht mickrig aus. Als sie ausstiegen, trafen sie auf einen sonnenbebrillten Manager, der sie ungehalten anfuhr, dass es für das Personal die Tiefgarage gäbe.
»Wir sind dienstlich hier«, ließ Gregson den Mann mit einem kurzen Zeigen seiner Dienstmarke wissen. Sonderlich viel Eindruck vermochte er damit nicht zu schinden.
»Die Polizei? Lustig«, mokierte der Typ sich. Er stieg in seinen dreihunderttausend Pfund teuren Sportwagen und raste mit brüllendem Motor davon. Jane schüttelte den Kopf.
»Warum zum Teufel ist Veyron nicht hier?«, maulte Gregson. »Warum muss er in Allerherrgottsfrüh nach Schottland fahren? Was will er denn dort nur?«
»Ehrlich gesagt: keine Ahnung — und ich bin auch ganz froh drum.«
Gregson weitete überrascht die Augen. »Tatsächlich? Du bist doch sonst immer recht gut informiert, was Veyron und Tom so treiben.«
Sie druckste ein wenig herum, ehe sie darauf etwas erwiderte. »Wir haben zurzeit nicht den besten Draht. Es gibt eigentlich gar keinen Kontakt mehr, seit … Du weißt ja, wem ich es zu verdanken habe, dass ich auf dem Single-Markt wieder zu haben bin!«
Gregson blinzelte. »Du sagst mir wirklich, dass es Veyrons schuld ist, dass du mit diesem Norman — oder wie er heißt — Schluss gemacht hast? Soweit du mir erzählt hast, hat dir Veyron klar gemacht, dass dieser Norman ein treuloses Arschloch war.«
Das saß. Innerlich kämpfte Jane gegen einen neuen Tränenschub, nicht wegen des verletzten Herzens, sondern ob des gewaltigen Zornes, den sie empfand.
»Ja, ich bin sauer! Weil Veyron genau in diesem einen Moment die Wahrheit ausplaudern musste. Es hat ihm einfach Spaß gemacht, Norman auseinanderzunehmen. Genau das nehme ich ihm übel!« Ihre Gedanken rasten, befeuerten ihren Zorn, als sie die Szenen jenes Abends Revue passieren ließ.
Gregson brummte verstehend. »Willst du meine Meinung hören?«
»Ja, natürlich.«
»Vielleicht solltest du es mal so sehen: Veyron hat Normans Scharade beendet. Hat der Typ am Ende nicht zugegeben, dass er dich nur haben wollte, weil er noch nie eine Polizistin im Bett hatte? Ich denke, Veyron hat dich letztlich vor einer noch größeren Enttäuschung bewahrt.«
Jane musste tief durchatmen. Das war nicht gerade das, was sie hören wollte. Immerhin konnte sie sich zusammenreißen, Gregson nicht gleich irgendeine Beleidigung an den Kopf zu werfen. Wahrscheinlich hatte er sogar recht.
Ein paar Schritte später standen sie vor dem Haupteingang des Zaltic-Tower, eine riesige Front aus getönten Glasscheiben, zu denen viele Stufen hinaufführten. Ein ganzes Stockwerk lag zwischen Eingang und Parkplatz. Man war regelrecht gezwungen aufzublicken. Mehr furchtbare Symbolik geht eigentlich nicht, dachte Jane. Ihr seid Zwerge und steht vor dem Zentrum der Macht; dunkler Macht.
Nach einem kurzen Blickwechsel stiegen sie die Stufen zur Lobby hoch. Ganz von allein öffneten sich vor ihnen die geschwärzten Glastüren, ließen sie eintreten ins Innere der wahrscheinlich bösartigsten Firma der Welt.
Der finstere Eindruck der Fassade verflüchtigte sich, kaum dass sie über die Schwelle traten. Wände, Böden, Decken, alles in weiß und schwarz, sogar das Mobiliar war mit weißem Leder überzogen. Jane fiel auf, dass am Empfang ausschließlich junge, attraktive Frauen arbeiteten — jede mit den reinsten Modelmaßen, alle mit einem einstudierten Dauerlächeln auf den Lippen. Offenbar gab es einen Uniformzwang bei der ZTC, der aus einem knielangen schwarzen Rock und einem schneeweißen Blazer bestand, mit dem blutroten Firmenlogo am Kragen. Vorgesetzte trugen den Blazer dagegen in Feuerrot.
»Herzlich willkommen im Zaltic-Tower«, wurden sie von Empfangsleiterin begrüßt und sofort an eine Mitarbeiterin mit dem Namen „Judy“ weitergeleitet. Judy wies ihnen den Weg zu den Aufzügen und schickte sie hinauf in den 90. Stock, wo sie einen Mister Dorian Vane treffen sollten. Ein paar Minuten später kamen sie in eine weitere Lobby, wo sie von zwei ebenfalls blutjungen, ausgesprochen attraktiven Damen begrüßt wurden. Jane kam sich mit ihren dreiunddreißig Jahren auf einmal irgendwie uralt vor. Gregson ließ sich nicht anmerken, was er von der Parade junger Idealbild-Frauen hielt.
»Mister Vane wartet auf Sie«, ließ eine der beiden verlauten und öffnete die große schwarze Tür zu einem Büro. Die beiden Polizisten traten ein, und hinter ihnen wurde die Tür lautlos geschlossen. Jane kam der Raum eher wie ein Ballsaal vor. Er erstreckte sich scheinbar über das halbe Stockwerk, mit Glasfronten auf zwei Seiten. Außer dem riesigen schwarzen Schreibtisch und einer kleinen Sitzgruppe daneben war der Raum vollkommen leer. Ihre Schritte hallten regelrecht.
Dorian Vane stand hinter seinem Schreibtisch, die Hände auf den Rücken gelegt und den Blick nach draußen gerichtet. Genau in dem Moment, wo sich die Türe schloss, drehte er sich zu seinen Besuchern um.
»Detective-Inspector Gregson, willkommen«, grüßte Vane die beiden mit einem ernsten Nicken.
Jane war erstaunt, wie jung dieser Vane war. Er schien nur wenige Jahre älter zu sein als sie selbst, hochgewachsen, sportlich, das blonde Haar streng nach hinten frisiert und mit reichlich Gel versehen. Sein grauer, perfekt sitzender Anzug musste ein Vermögen gekostet haben. Hemd, Krawatte, Hose, Schuhe — alles maßgeschneidert und funkelnagelneu. Keine Fussel, kein Staub, alles glänzte wie eben erst ausgepackt.
»Mister Vane«, erwiderte Gregson. »Das ist meine Assistentin, Detective-Constable Jane Willkins.«
»Bitte, nehmen Sie Platz.« Vane deutete auf eine kleine Sitzgruppe etwas abseits seines Schreibtischs. Er selbst schloss sich ihnen nicht an, sondern bevorzugte die Distanz. Immerhin kam er um seinen riesigen, vollkommen sauberen und leeren Schreibtisch herum und lehnte sich gegen die Kante.
»Ich nehme an, Ihr Erscheinen hat mit dem Tod von Emiliano zu tun. Eine furchtbare Sache. Gibt es schon genauere Erkenntnisse?«
»Nein. Darum sind wir hier«, sagte Gregson.
Vane nickte. Jane bemerkte ein kurzes Durchatmen, als kämpfte er irgendein Gefühl nieder. Emiliano, hatte er Torrini genannt. Offenbar verband ihn mehr mit dem alten Vampir als ein reines Dienstverhältnis.
»Kannten Sie Mr. Torrini näher?«, fragte sie ganz unverblümt. In ihrem Inneren nagte noch immer der Zorn auf Veyron und diesen Idioten Norman.
»Ja, Constable Willkins. Emiliano war es, der mich vor zehn Jahren in die Firma holte. Ich verdanke ihm sehr, sehr viel. Ohne ihn wäre ich jetzt nicht hier.«
Er wirkte wieder ganz gefasst. Seine stahlblauen Augen musterten Jane eindringlich. Ihr war das glatt ein wenig unangenehm. Sie fühlte sich dabei ertappt, wie umwerfend gutaussehend sie Vane fand. Verlegen rieb sie sich am Hals. Gregson rettete sie aus der Misere.
»Welche Position bekleiden Sie innerhalb der ZTC, Mr. Vane?«
»Ich arbeite als Direktor für den Personalbereich, Inspector.«
Veyron und Wimille hatten Jane und Gregson schon vor geraumer Zeit über die Struktur innerhalb der ZTC aufgeklärt. Das berüchtigte Management Control Department, der KGB-gleiche MCD, unterstand der Personalabteilung. Der junge Vane war also der Kopf der kaltblütigsten Abteilung des ganzen Konzerns. Das gibt satte Minuspunkte, entschied Jane.
Offenbar schien Vane ein Zucken in ihrem Gesicht bemerkt zu haben.
»Sie sind enttäuscht, Constable Willkins?«
»Mich enttäuscht so schnell nichts mehr.«
Für einen Moment huschte Mitleid über sein Gesicht. »Dann wurden Sie in Ihrem Leben schon zu oft enttäuscht.«
Eine zutreffende Feststellung. Überrascht schaute sie ihn an. Konnte er Gedanken lesen? »Sind Sie ein Vampir, Mister Vane?«
Die Direktheit ihrer Frage schien ihn vollständig aus dem Konzept zu bringen. Seine Augen weiteten sich und er rang sichtlich um Kontrolle.
»Wir kennen die Wahrheit, Mister Vane«, warf Gregson rasch ein. »Wir wissen, wer oder was Torrini wirklich war. Wir wissen auch von Elderwelt. Es gibt keinen Grund für Geheimniskrämereien.«
»Sehr interessant«, meinte er. »Dann haben Sie auf der Pressekonferenz gelogen, Inspector.«
»Nun, es gibt Dinge, die muss die Welt nicht wissen. Aber wir sind wegen des Mordes hier, Sir. Mir ist egal, was Mister Torrini war. Er wurde umgebracht, und ich will seinen Mörder finden.«
Vane nickte. »Darin sind wir uns einig.«
»Sie haben die Frage immer noch nicht beantwortet«, hakte Jane nach. Sie wollte es genau wissen. War Vane ein Monster?
»Nein, ich bin kein Vampir, Constable. Leider bin ich vollkommen menschlich. Aber vielleicht, eines Tages, wenn mich die Elite als würdig befindet, erhalte ich dieses Geschenk.«
»Ein Geschenk?«
»Ja, Constable. Ich erwarte nicht, dass Sie das verstehen. Wenn Sie jedoch interessiert sind, werde ich Ihnen gerne mehr erklären.«
»Später vielleicht«, sagte Gregson. »Mister Vane, wissen Sie, ob Torrini Feinde hatte?«
Nun musste Vane lächeln, ehrlich und amüsiert. Sogar Jane kam ein Schmunzeln aus. Kannte man die ZTC, war diese Frage an Naivität nicht zu überbieten.
»Tausende, sogar Abertausende, Inspector. Vielleicht sollten Sie mit Lady Barstowe reden, wie sie sich im Jahre 1798 gegen eine Horde blutrünstiger Vampirjäger zur Wehr setzte. Jeder im Direktorium musste schon mehrmals um sein Leben kämpfen. Vampire haben immer Feinde, überall auf der ganzen Welt.«
Gregson schien einzusehen, wie lächerlich seine Frage war. Deshalb bohrte er auch gar nicht mehr weiter nach.
»Wenn Sie mich fragen, wurde Emiliano Opfer von Vampirjägern. Ich weiß, dass käuflicher Sex eine seiner Schwächen war — schon seit Jahrhunderten. Vielleicht hat sich eine Vampirjägerin als Prostituierte verkauft. Professionelle Jäger besitzen ein hervorragend ausgebildetes, blitzartiges Reaktionsvermögen. Sie sind die größte Gefahr für einen Vampir«, meinte Vane. Er ging um seinen Schreibtisch herum, öffnete eine Schublade und holte vier Tickets heraus.
»Ich kann Ihnen nicht weiterhelfen, wie es scheint. Ihr weiter Weg und die wertvolle Zeit waren wohl leider vergeblich. Darf ich Ihnen zum Abschied jedoch eine Entschädigung anbieten?«
Er schob die Karten über den Tisch in ihre Richtung. Wie fies, dachte Jane. Jetzt zwingt er uns, aufzustehen. Ja, dieser Vane verstand es, seine Macht ganz subtil auszuspielen. Ehe Gregson den Schreibtisch erreichte, trat Jane vor und nahm die Karten an sich.
»Eintrittskarten? Für welches Konzert?«
»Für eine Party, Constable. Für den Inspector, für Sie und zwei Begleitpersonen. Am Dienstag, hier im Zaltic-Tower. Unsere Firma feiert ihr dreihundertfünfzigstes Bestehen. Normalerweise verschenken wir diese Karten an Geschäftspartner, Politiker, Medienvertreter oder Stars. Ich hoffe, Sie akzeptieren die Einladung. Sie werden den Abend sehr aufschlussreich finden.«
In einer Geste, Veyrons ganz ähnlich, faltete Vane die Hände. Jane verstand sofort: Er durfte nicht alles sagen, was er wusste. Auf der Party ergäben sich vielleicht bessere Gelegenheiten, der Wahrheit auf die Schliche zu kommen.
»Vielen herzlichen Dank, Mister Vane«, sagte Jane und nickte ihm zu.
Ein warmes Lächeln flog über seine Lippen. »Nennen Sie mich Dorian, Constable.«
Gregson bedankte sich ebenfalls. Auch er hatte die Absicht Vanes durchschaut. Der junge Manager begleitete sie beide bis zum Aufzug. Sie verabschiedeten sich, wobei Gregson versprach, Vane über den Stand der Ermittlungen auf dem Laufenden zu halten.
Den ganzen Weg nach unten sprachen die beiden Polizisten kein Wort mehr miteinander. Es bestand die nicht unrealistische Gefahr, dass sie belauscht wurden. Erst als sie das Gebäude verlassen hatten, wagte Gregson wieder zu sprechen.
»Ich brauche Veyron, Jane. Ich brauche ihn sofort! Eine Party voller Vampire? Da muss er mit!«
Sowas befürchtete sie schon die ganze Zeit. »Er hat gesagt, dass er in achtundvierzig Stunden wieder hier sein will. Das wäre gerade noch rechtzeitig«, ließ sie den Inspector wissen. Gregson nickte hastig. Sie stiegen ins Auto und schlossen die Tür. Er atmete einmal tief durch, klopfte ungeduldig gegen das Lenkrad, während sich seine Gedanken sortierten.
»Wir sind dabei, etwas ganz Großes aufzudecken, Jane. Diesmal könnte es wirklich gefährlich werden. Vampire, die ZTC, womöglich noch eine Verschwörung, und alles in einem Topf? Das ist ein Hexenkessel, der jeden Moment hochgehen kann.«
»Wir kriegen das hin, Bill.« Davon war sie ehrlich überzeugt. Das Einzige, was sie im Moment wirklich störte, war die Tatsache, dass sie dafür erneut mit Veyron zusammenarbeiten musste.