Читать книгу Die Reise Beginnt (Die Drei-Welten-Saga: 1) - Tobias Melder - Страница 6
Kapitel 2: Der Angriff
ОглавлениеTom erkannte den Hünen von einem Türsteher sofort, der mit der Security Jacke noch beeindruckender wirkte, als ohnehin schon. Es handelte sich um Ben, einen ehemaligen Kommilitonen von ihm, der jedoch schon während dem zweiten Jahr erkannt hatte, dass das Studium nichts für ihn war, woraufhin er es kurzerhand geschmissen hatte. Da er einer der Wenigen gewesen war, mit denen Tom sich gut verstand, hatte ihn dessen Weggang sehr geschmerzt. Gleichzeitig hatte er ihn um seine Entscheidung beneidet. Denn auch Tom war sich von Monat zu Monat unsicherer, ob das Studium denn überhaupt noch etwas für ihn war. Obwohl er eigentlich keinen Grund fand, der noch für das Studium sprach, schaffte er es dennoch nicht, wie Ben alles hinzuschmeißen. Vor allem die Angst, was denn danach kommen würde, hielt ihn davon ab, denn er wusste nicht, was er stattdessen machen sollte. Als sie näher kamen, erkannte ihn auch Ben.
„Hey Tom, schön dich mal wieder hier zu sehen“, begrüßte er ihn. „Schon lange her, wie geht’s dir denn?“
„Ganz gut so weit“, log Tom und versuchte dabei das stetig größer werdende mulmige Gefühl in seiner Magengegend zu verdrängen. „Und bei dir? Bereust du mittlerweile deinen Abbruch?“, fragte Tom augenzwinkernd.
„Ganz und gar nicht“, antwortete Ben. „War die beste Entscheidung, die ich je getroffen habe. Ich fühle mich so gut, wie schon lange nicht mehr.“
Tom bewunderte Ben jetzt noch mehr für seinen Mut, den er selbst nie aufbringen würde. „Und was macht deine Boxkarriere so?“, fragte Tom. Bens großer Traum war es schon immer, Profiboxer zu werden, und er setzte alles daran dies auch in die Tat umzusetzen.
„Es geht voran“, antwortete Ben. „Nächsten Monat habe ich meinen ersten größeren Kampf hier in Bobbys Boxstudio. Wenn du willst, kannst du gerne vorbeikommen, ich reserviere dir gute Plätze.“
„Ich überleg es mir“, log Tom, denn mit Boxen konnte er so rein gar nichts anfangen. Insgeheim fragte er sich, warum jemand wie Ben, der eigentlich keiner Fliege etwas zu leide tun konnte, ausgerechnet Boxer werden wollte. „Ist schon viel los?“, fragte er, um das Thema wieder zu wechseln.
„Ihr seid sehr früh dran. Noch ist es recht leer, wird aber mit Sicherheit wieder voll heute“, antwortete Ben. „Dann mal viel Spaß, man sieht sich“, schon hatte sich Ben den nächsten Gästen zugewandt, die er seiner Begrüßung nach zu urteilen ebenfalls gut kannte.
Tom, Chris und Lucy liefen gerade die lange, breite Treppe der Diskothek hinunter, als Tom ein leichtes Donnergrollen aus weiter Ferne vernahm. Nur wenige Augenblicke später begann die Erde kurz zu beben. Oder hatte er sich das eben nur eingebildet? Sonst schien niemand anderes etwas bemerkt zu haben, denn alle gingen lachend und schwatzend weiter die Treppe hinunter. Aber irgendetwas war gerade passiert, das konnte er fühlen. Er spürte, wie sich Gänsehaut über seinem gesamten Körper ausbreitete, während das mulmige Gefühl tief in seinem Inneren stetig weiter heranwuchs. Ein Gefühl, dass er so bis jetzt noch nie derart intensiv gespürt hatte, das ihm zu sagen schien, dass hier irgendetwas ganz und gar nicht stimmte. Doch er hatte keine Ahnung, was der Auslöser für dieses Gefühl war. Er sah zu den Wänden und hoffte fast, dort Anzeichen für ein Beben oder Ähnliches zu erkennen, doch keines der dort befestigten Bilder bewegte sich auch nur einen Millimeter. Ich muss mir das wohl doch nur eingebildet haben, sagte Tom zu sich. Er blickte zurück, die steile Treppe hinauf. Aber auch dort sah er keinerlei Anzeichen dafür, dass etwas nicht stimmte. Mit jedem Schritt, den er auf der glatten marmorierten Steintreppe weiter nach unten machte, wuchs das mulmige Gefühl in ihm immer stärker an. Er hatte schon des Öfteren leichte Panikattacken erlebt, doch keine davon hatte sich auch nur im Entferntesten so heftig angefühlt, wie das, was er gerade in diesem Moment erlebte. Seine Brust verengte sich immer mehr, das Atmen fiel ihm schwer, dazu begann sich sein Magen zu verkrampfen. Auch hatte er das Gefühl, pausenlos von jemandem beobachtet zu werden. Er sah sich noch einmal um, jedoch war kein Mensch in der Nähe.
„Bist du dir sicher, dass er der Richtige ist?“ Die Stimme eines jungen Mannes hallte in seinem Kopf wider. Obwohl Tom diese Stimme ganz deutlich hören konnte, vermochte er nicht zu sagen, aus welcher Richtung sie kam. „Er sieht nicht gerade so aus, wie ich es erwartet hätte“, fuhr der Unbekannte fort.
Tom blieb beunruhigt stehen, drehte sich erneut um und blickte die Treppe hinauf. Es war nach wie vor weder jemand zu sehen, der ihn beobachtete, noch konnte er irgendetwas erkennen, das seinen Zustand hätte erklären können. Hinter ihm gingen nur zwei junge Frauen langsam und heftig diskutierend nebeneinanderher. Hätte Tom sie genauer betrachtet, hätte er sie mit Sicherheit hübsch gefunden. Die Linke mit kurzen, dunkelrot gefärbten Haaren und einem schönen, schmalen Gesicht, trug eine bunte Bluse und einen kurzen gelben Minirock, der von einem breitem Nietengürtel gehalten wurde. Die andere hatte ihr langes, blondes Haar zu einem Zopf zusammengebunden. Ihre Augen funkelten im schummrigen Licht dunkelgrün. Sie trug ein einfaches, bauchfreies, weißes T-Shirt und eine kurze, enganliegende Jeans. Doch Tom nahm die zwei Frauen nur am Rande wahr, er versuchte förmlich, durch sie hindurchzusehen, um erkennen zu können, was hinter ihnen im Schatten verborgen lag.
„Habe ich dir jemals einen Grund geliefert, mir nicht zu vertrauen?“ Ein zweiter Mann schien dem ersten zu antworten. Seine Stimme war rauer und tiefer, klang wie die eines alten Mannes. Irgendwie kam ihm diese Stimme seltsam vertraut vor, nur konnte er nicht sagen, wo er sie vorher schon einmal gehört hatte. Auf der Treppe befand sich außer den Frauen und den drei Freunden niemand mehr. Tom blickte zur Decke hinauf, da er mittlerweile das Gefühl hatte, als kämen die Stimmen irgendwo von dort oben. Natürlich war auch dort nichts zu sehen.
„Nein, natürlich nicht“, erwiderte der jüngere Mann. „Aber ich gehe ein enormes Risiko ein und muss wissen, ob er es auch wirklich wert ist.“
„Sonst wären wir jetzt nicht alle hier“, antwortete die zweite Stimme bestimmend. „Du solltest jetzt auf deine Position gehen, wir sollten uns alle bereit machen, es ist gleich so weit.“
Was ist nur los mit mir, fragte sich Tom. Irgendetwas stimmt hier doch nicht, oder verliere ich den Verstand?
„Hey Tom? Auf was wartest du?“ Chris‘ Frage riss ihn aus seinen Gedanken.
„Was…?“ Er schüttelte kurz seinen Kopf, atmete einmal tief durch und richtete seinen Blick wieder nach vorne. „Ja… ich… ich komm schon!“, stammelte Tom und folgte seinen Freunden, die schon einige Stufen weiter gegangen waren, nach unten. Mittlerweile dröhnte der Bass laut durch die Luft. Mit jedem einzelnen Schlag bohrte sich das unangenehme Gefühl noch tiefer in Toms Eingeweide. Als sie schließlich am unteren Ende angekommen waren, drehte es ihm schon fast den Magen um.
„Ist mit dir alles in Ordnung? Du siehst blass aus“, fragte Lucy in leicht besorgtem Ton.
„Ja… ich hab nur…“ Tom richtete nochmal einen kurzen Blick hinauf zur Decke. „Alles okay. Gehen wir weiter.“
Sie befanden sich nun in einem kleinen Vorraum. Ein paar Jugendliche gingen durch die breite Schwungtür auf der rechten Seite in den großen Saal. Die Musik dröhnte heraus und es drang lautes Stimmengewirr zu ihnen herüber, welches sogleich wieder gedämpft wurde, als die Tür sich wieder schloss. Vor ihnen stand ein junger Mann an einen Stehtisch gelehnt. Er starrte unentwegt mit einem gehetzt wirkenden Gesichtsausdruck auf das Smartphone in seiner linken Hand.
Chris und Lucy bogen in einen schmalen Gang ein, um in der dortigen Garderobe ihre Jacken abzugeben. Da Tom keine Jacke dabeihatte, wartete er am Anfang des Ganges auf sie. Er war gerade dabei, in Gedanken zu versinken, als plötzlich ein lauter, schriller Schrei die Luft hinter ihm durchschnitt und den immerwährend donnernden Bass übertönte. Tom drehte sich, um erkennen zu können, was passiert war. Vor Schreck blieb er wie angewurzelt stehen. Das rothaarige Mädchen, das gerade noch hinter ihnen hergelaufen war, lag bäuchlings am Fuße der Treppe, mit dem Gesicht in einem See aus einer matt glänzenden, roten Flüssigkeit, der von Sekunde zu Sekunde weiter anschwoll. Ist das Blut? Ihr Blut?, fragte er sich, während ihm schwindelig wurde. Was zum Teufel geht hier vor? Toms Herz raste wie wild. Er versuchte zu verarbeiten, was da gerade geschah. Sein Blick wanderte nun zu der zweiten Frau, sie musste diejenige gewesen sein, die geschrien hat. Im ersten Moment schien es, als ob sie einfach ein paar Zentimeter in der Luft schwebte. Erst auf den zweiten Blick erkannte er ein paar lange, knochige Finger, die von hinten um ihren Hals gepresst wurden. Jemand hielt sie vor sich hoch. Die Frau blickte genau in Toms Richtung. In ihren wunderschönen dunkelgrünen Augen erkannte er die verzweifelte Bitte um Hilfe, sowie nackte Angst. Dann, nur einen Bruchteil später, riss sie die Augen und ihren schmalen Mund weit auf. Kurz darauf begann sie am ganzen Leib wie wild zu zucken. Etwas Spitzes, glänzendes drang plötzlich in Brusthöhe aus dem weißen T-Shirt hervor, welches sich in kürzester Zeit mit Blut vollsog. Jemand hatte ein Messer von hinten direkt durch ihr Herz gebohrt. Das Messer wurde wieder herausgezogen und ein Schwall Blut strömte aus der Wunde, als ob jemand einen Damm geöffnet hätte. Dann löste sich der Griff um ihren Hals. Sie fiel seitlich auf den Boden, direkt neben ihre Freundin. Heftig zuckend und Blut spuckend, lag sie am Ende der Treppe nun ebenfalls in einem See aus ihrem eigenen Blut, den Blick noch immer auf Tom gerichtet. Langsam erstarben ihre Bewegungen. Ihr Blick trübte sich, fast war es so, als ob sie jetzt durch Tom hindurch ins Leere starrte, ehe endgültig jegliches Leben aus ihr gewichen war.
Jetzt erst gewahrte Tom die widerliche Gestalt, die hinter den Toten gestanden hatte. Die Kreatur war vielleicht eineinhalb Meter groß, mit einer ledrigen, dunklen, graugrünen Haut. Sie trug nur einen Lendenschutz aus abgerissenem, fleckigem, braunem Stoff. Die Bestie hatte lange, staksige Arme, in denen sie aber allen Anschein nach genug Kraft besaß, um ein Mädchen mühelos mit nur einem Arm in die Luft zu heben. Das Gesicht und der Körper waren von unzähligen Narben übersäht. Der breite Mund quoll förmlich über vor lauter schiefer, spitzer Reißzähne. Ihre überlange Nase sah so aus, als wäre sie schon dutzende Male gebrochen worden, doch was Tom wirklich die Nackenhaare zu Berge stehen ließ, waren ihre Augen. Kleine, kreisrunde Augen, die von innen heraus orangerot glühten. Zu Toms Entsetzen nahmen diese nun ihn Visier. In dem durchbohrenden Blick lag blanker Hass. Die Kreatur bleckte die Zähne und leckte das Blut mit seiner langen, ledrigen Zunge von seinem krummen Messer ab, welches er gerade aus dem Körper des Mädchens gezogen hatte. In diesem Moment kamen noch weitere dieser Monster die Treppe hinuntergerannt. Toms Herz raste, stand kurz vor der Explosion. Die Neuankömmlinge beachteten Tom jedoch gar nicht, sondern liefen schnurstracks durch die Schwungtür in den großen Saal.
Tom stand immer noch starr vor Angst da. In seinem Kopf drehte sich jetzt alles. Was geht hier vor? Ich… Ich muss träumen. Das muss wieder ein Albtraum sein. Übelkeit stieg in ihm empor. Das Monster warf sein Messer zur Seite und setzte ein schiefes, verzerrtes Lächeln auf. Dann zog die Gestalt einen kleinen, hölzernen Bogen, den sie um die Schulter getragen hatte, hervor, legte einen Pfeil auf und begann den Bogen zu spannen. Sie zielte damit genau auf Toms Brust.
Toms Gedanken rasten noch schneller. Was… ist das da und warum macht es das alles? Was… was soll ich nur machen? Muss… Muss ich jetzt sterben?, fragte er sich. Langsam begann sich seine Starre ein wenig zu lösen und er taumelte panisch rückwärts.
Die Kreatur lies die Sehne los. Der Pfeil pfiff durch die Luft und raste direkt auf seine Brust zu. Tom spürte einen harten Schlag gegen seine Wade. Noch im selben Augenblick verlor er sein Gleichgewicht und kippte nach hinten um. Noch im Fallen sah Tom den Pfeil über seinen Kopf hinwegbrausen. Kurz darauf hörte er das Krachen, als dieser an der Wand zerschellte. Ein umgekippter Tisch, der quer auf dem Boden lag, hatte ihm das Leben gerettet. Vorerst. Er lag in etwas Feuchtem, Warmem und Klebrigem. Als Tom sich umsah, stellte er erschrocken fest, dass er in einer Blutlache lag, die von dem Jungen ausging, der zuvor noch auf diesem Tisch gelehnt hatte. Er lag dicht neben Tom auf dem Boden, einen Pfeil mitten in der Brust steckend. Sein Smartphone hielt er immer noch in seiner linken Hand, während es wild vibrierte.
Tom mühte sich, den Blick wieder von dem Jungen abzuwenden, denn die Kreatur stieß einen schrillen, wilden Schrei aus. Sie stürmte bereits mit erhobenem Messer auf ihn zu. Ihm war jetzt speiübel. Er wusste nicht, was er tun sollte. Er sah sich panisch um, die Kreatur versperrte ihm aber den einzigen Ausgang. Sie war nur noch wenige Schritte von ihm entfernt. Tom kroch ein Stück nach hinten, seine Kleider wogen schwer von dem vielen Blut, das sie aufgesogen hatten, seine Füße rutschten auf dem schmierigen Untergrund immer wieder weg. Sein Rücken traf schließlich auf die Wand, er drängte sich daran. NEIN! Ich will noch nicht sterben, waren seine letzten Gedanken, als die Kreatur bereits über ihn gebeugt stand, während sie mit dem Arm zum Schlag ausholte, um ihn mit dem Messer zu erstechen. NEIN, schrie Tom, vor Angst erstarrt, still in sich hinein.
In diesem Moment berührte Toms rechte Hand etwas Kaltes, Metallisches. Was jetzt folgte, konnte er sich noch weniger erklären als all das, was bisher geschehen war. Mit einem Mal beruhigte sich sein Herzschlag, er atmete völlig entspannt ein und aus, in seinem Kopf herrschte nun absolute Klarheit. Das panische Gefühl in seiner Magengegend war komplett verschwunden. Alles um ihn herum war plötzlich verstummt. Er hörte weder den donnernden Bass, noch die entsetzlichen Schreie, die mittlerweile aus dem Saal kamen. Er hörte nur sein ruhiges, fest schlagendes Herz, seinen gleichmäßigen Atem und das leise Klirren von Metall, das aufeinandertraf. Wie in Trance, ohne dass er es selbst bemerkte, hatte er den Hieb des Monsters abgewehrt. Doch womit eigentlich? Er betrachtete das, was er dort vom Boden aufgehoben hatte mit einem ungläubigen Blick. In seiner Hand befand sich ein Schwert. Ein einfaches kurzes Schwert, geziert nur von einem kleinen scharlachroten Edelstein, der in das Heft eingefasst worden war. Etwas schien in die Klinge eingraviert worden zu sein, doch Tom erkannte nicht, um was es sich dabei handelte. Irgendeine Art unnatürliche Energie strömte von dem Schwert über seinen Arm direkt in ihn hinein und wurde mit jedem Herzschlag durch seinen gesamten Körper gepumpt. Er fühlte sich so ruhig und gleichzeitig so lebendig wie noch nie zuvor in seinem Leben. Sein Körper wusste mit einem Mal ganz genau, was er zu tun hatte. Mit einem eleganten Satz richtete er sich auf und blickte nun seinerseits auf die Kreatur hinab, die daraufhin einen kleinen Sprung nach hinten machte. Offenbar war sie ebenso überrascht von der Wendung der Ereignisse wie er selbst. Als Tom aufrecht vor ihr stand, bemerkte er, wie klein sie eigentlich war. Er fühlte sich unbesiegbar.
Allerdings währte die Überraschung seines Gegenübers nur sehr kurz. Sofort stach er weiter mit dem Messer auf Tom ein. In ihrem lächelnden Gesichtsausdruck lag das sichere Gefühl des Sieges, doch Tom wehrte die Stiche ohne jegliche Mühe ab. Es kam ihm so vor, als ob das Schwert vollkommen für sich alleine kämpfte, er musste nur den Arm heben und die Klinge erledigte den Rest wie von selbst. Er war immer noch absolut ruhig. Die Welt um ihn herum war, bis auf das Keuchen des Angreifers vor ihm und dem Klirren, das bei jedem Aufeinandertreffen der Klingen ertönte, weiterhin vollkommen still. Es war fast so, als läge der Rest der Welt hinter dichten Nebelschwaden verborgen. Die Kreatur stach nun immer wilder auf Tom ein, ohne auch nur annähernd zu treffen. Ihr vorhin noch so siegessicherer Blick veränderte sich langsam, wurde immer wütender und verzweifelter. Sie legte nun ihre gesamte Kraft in einen letzten Angriff, den Tom jedoch ebenfalls mühelos abwehrte. Die Kreatur schnaubte heftig und legte eine kurze Pause ein, offenbar, um sich eine neue Strategie zurechtzulegen.
Auf diese Pause hatte Tom, oder vielmehr das Schwert anscheinend gewartet. Er holte nur kurz mit der Hand aus und stach zu. Die Klinge bohrte sich durch die ledrige Haut tief hinein in die Brust des Monsters. Die Schneide glitt einfach hindurch. Ohne jeglichen Widerstand trat sie auf der anderen Seite wieder aus. Warmes, klebrig schwarzes Blut sickerte zähflüssig aus der Wunde. Die Kreatur starrte ihn ungläubig mit ihren aufgerissenen orangerot glühenden Augen an, ehe das Leuchten in ihnen erlosch. Tom zog das Schwert wieder aus deren Brust, woraufhin das Wesen tot in sich zusammenbrach.
So langsam erwachte er aus seiner Trance. Er begann wieder, alles um sich herum wahrzunehmen, zunächst noch ganz verschwommen, als ob es aus weiter Ferne käme. Er hörte die verzweifelten und verängstigten Schreie. Es war so, als ob die Geräusche nur langsam näherkommen würden. Er bemerkte, dass die Musik aufgehört hatte. Die qualvollen Rufe und Schluchzer wurden immer lauter. Tom starrte immer noch ungläubig auf die reglos am Boden liegende Kreatur vor ihm.
In der Zwischenzeit waren auch Chris und Lucy um die Ecke gebogen. Sie hatten das Ende des sich ihnen hier bietenden Schauspiels fassungslos mit angesehen. Völlig entgeistert standen sie da, unfähig zu erfassen, was gerade geschehen war. Der Raum wurde nun beinahe unentwegt von kleineren Beben erschüttert, wobei das Licht dabei jedes Mal heftig flackerte. Aus der Ferne konnte Tom leise Explosionen vernehmen. Wir müssen hier so schnell wie möglich raus, ging es ihm durch den Kopf, als er wieder etwas zu sich gekommen war. Er wandte seinen Blick von dem Toten ab und sah zu Chris und Lucy hinüber. Er rannte auf sie zu, seine Kleidung klebte, nass und schwer von dem vielen Blut, an seinem Körper. Eine weitere Erschütterung durchzog den Raum, dieses Mal noch heftiger. Staub und Putz begann von der Decke zu rieseln, in der sich jetzt ein breiter Riss bildete. Als er bei ihnen angekommen war, stammelte Lucy: „Was …was ist hier passiert?“, ihre weit aufgerissenen tiefblauen Augen waren erfüllt von blankem Entsetzen.
„Wir müssen sofort raus“, kommandierte Tom, ohne auf die Frage von Lucy einzugehen. Er lief schon in Richtung der Treppe, als er bemerkte, dass weder Chris noch Lucy Anstalten machten, ihm zu folgen. Zu verängstigt, zu geschockt von dem, was sich gerade abgespielt hatte, standen sie einfach nur da und starrten auf die Leichen, die den Boden pflasterten. „Los jetzt, da drinnen sind noch mehr von diesen … diesen Dingern“, rief Tom ihnen energisch zu, während er dabei auf die Tür zum Saal zeigte. Schnell begriff er jedoch, dass Worte nichts nützen würden. Er eilte wieder zurück, packte Lucy am Arm und zog sie hinter sich her. Sie kam zunächst ins Straucheln, fing sich allerdings schnell wieder. Nun lief sie Tom mit wackeligen Schritten hinterher, der schon am Fuß der Treppe angekommen war. Daraufhin begann auch Chris, wieder zu sich zu kommen. Er folgte Tom und sie rannten an den toten Körpern der Frauen vorbei, die am Ende der Treppe in einem Meer aus ihrem eigenen Blut lagen. Keiner von ihnen traute sich, sie im Vorbeigehen anzusehen. Zu viel Angst hatten die drei vor dem Bild, das sich ihnen dort bot, stattdessen starrten sie alle stur die Treppe hinauf, rannten weiter, vorbei an den Größen der Musikgeschichte, die ihnen aus den Bildern gespannt zuzuschauen schienen, wie sie um ihr Leben rannten. Auf ihrem Weg nach oben kamen die Freunde an fünf weiteren, reglos auf der Treppe liegenden Menschen vorbei. Auch ihnen schenkten sie aus Angst keinerlei Beachtung, sie hatten nur noch den Ausgang im Blick, wollten so schnell wie möglich entkommen. Mittlerweile waren sie nur noch wenige Meter von der Tür entfernt. Sie konnten schon das Gelände außerhalb des Clubs sehen, als plötzlich ein donnernder Schlag die Luft durchzog und den Boden zum Beben brachte. Einige der Bilder fielen von den Wänden und Putz rieselte von der Decke auf die drei herab. Tom hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Zu seinem Entsetzen sah er, dass der Türrahmen vor ihnen bereits von breiten Rissen durchzogen war, die von Sekunde zu Sekunde noch größer wurden. Bald würde er nachgeben.
„Los, schneller“, schrie Tom, während er noch einmal sein Tempo erhöhte. Der Rahmen brach langsam unter seiner Last zusammen. Tom setzte zum Sprung an und schaffte es hindurch. Kurz darauf hörte er ein lautes Krachen hinter sich. Der Ausgang hinter ihm war eingestürzt. Panisch drehte er sich um. Chris, Lucy … NEIN, ging es ihm durch den Kopf. Als er sich umdrehte, lagen seine Freunde bäuchlings auf dem Boden, bedeckt von einer dicken Staubschicht. Einen kurzen Moment schien die Welt still zu stehen, während er zu ihnen hinüberstarrte. Lucy regte sich langsam, auch Chris rappelte sich wieder auf. Sie schienen unverletzt zu sein. Tom atmete tief durch, dann half er Lucy wieder auf die Beine.
„Alles in Ordnung?“, fragte er besorgt.
„Ja …“, schnaufte sie erschöpft. „Ich glaube sch...“ Lucy brach mitten im Satz ab, hielt den Atem an und rannte zu der Hecke neben dem Eingang, um sich heftig zu übergeben. Erst jetzt realisierte auch Tom, dass sie sich inmitten eines Leichenfeldes befanden. Sein Magen verkrampfte sich schlagartig. Auch er musste stark gegen die aufkommende Übelkeit ankämpfen. Selbiges galt für Chris, der von Sekunde zu Sekunde blasser im Gesicht wurde. Dutzende reglose Körper säumten den Boden vor der Diskothek. Einige von ihnen waren schrecklich entstellt, mit durchgeschnittenen Kehlen oder abgetrennten Gliedmaßen. Die Diskothek selbst war eingestürzt, Flammen schossen aus den Mauerresten, doch es war bei weitem nicht das einzige Gebäude, welches brannte. Der halbe Straßenzug stand in Flammen. Immer wieder hörten sie Einschläge in der näheren Umgebung. Weiter die Straße hinauf sahen sie noch mehr dieser Kreaturen, die hinter flüchtenden und panisch schreienden Menschen herliefen, wobei jeder, den sie erwischten, reglos auf das Kopfsteinpflaster niedersank.
Doch damit noch nicht genug. Vom anderen Ende der Straße kamen fünf Riesen langsam in ihre Richtung getrottet. Sie waren um die drei Meter groß, hielten gewaltige Keulen in ihren massigen, langen Händen, mit denen sie alles kurz und klein schlugen, was sich in ihrer Reichweite befand. Ein paar von ihnen warfen auf ihrem Weg, weiter die Straße hinauf, die dort parkenden Autos wie Spielzeuge in die noch intakten Häuser. Noch schienen die drei Freunde von niemandem bemerkt worden zu sein, jedoch waren beide Seiten auf der Hauptstraße versperrt. Es blieb also nur noch die schmale Seitengasse als Ausweg, die Tom nun entlangblickte.
Erst jetzt erkannte er Ben, den Türsteher, der mit einer weiteren der kleinen Kreaturen rang. Ben überragte sein Gegenüber um Längen, welcher mit einem Dolch auf ihn losging, während Ben sich mit Händen und Füßen wehrte, was ihm bis dahin recht gut zu gelingen schien, denn neben ihm lagen schon zwei der Monster reglos auf dem Boden. Allerdings blutete Ben bereits stark am Arm und am Oberkörper, schwankte heftig und war sichtlich außer Atem. Tom rannte „Hier lang!“ schreiend zu Ben, das Schwert nach wie vor mit der rechten Hand fest umklammernd. Ben wich einem Hieb der Kreatur aus, kam dabei jedoch ins Straucheln und fiel zu Boden. Die Kreatur holte zum finalen Schlag aus. Eine Klinge sauste durch die Luft und bohrte sich durch dessen Brust, wie durch Butter. Das Blut rann schwarz und zähflüssig aus der tiefen Wunde. Tom war gerade noch rechtzeitig angekommen. Eine weitere Kreatur kam aus der Gasse gesprungen und Tom lief ihr entgegen. Er wehrte deren Schlag locker ab und konterte seinerseits mit einem Hieb gegen den Kopf. Der Schlag spaltete die Schädeldecke, woraufhin dunkles Blut in alle Richtungen spritzte, ehe das Monster tot zu Boden fiel.
Ben stöhnte vor Schmerzen, als Lucy bei ihm ankam. „Geht es dir gut?“, fragte sie ihn, immer noch bleich im Gesicht, während sie seine Wunden betrachtete.
„Halb so wild“, antwortete Ben mit schmerzverzerrtem Gesicht, als er sich wiederaufrichtete. „Hat jemand eine Ahnung, was zum Teufel hier los ist? Ich war gerade auf dem Weg zum Rauchen, als ich Schreie hörte und plötzlich von diesen … diesen Viechern angegriffen wurde. Was sind das für Monster und wo kommen die plötzlich alle her? Und seit wann kannst du mit einem Schwert umgehen?“
„Ich habe nicht den geringsten Schimmer“, antwortete Tom. „Aber wir müssen jetzt von hier verschwinden, auf der Straße wimmelt es nur so von diesen Dingern.“ Er sah sich auf dem Boden um und nahm ein Messer, sowie einen abgenutzten runden Holzschild auf, den die Kreaturen getragen hatten. Er gab Chris das Messer und Lucy das Schild. „Das werden wir vielleicht noch brauchen“, sagte er. Ben hob seinerseits ein langes Messer vom Boden auf. In diesem Moment krachte ein Auto in das Gebäude neben ihnen. Eines der riesigen Ungetüme hatte es dort hineingeworfen.
„Okay, lasst uns von hier verschwinden“, rief Ben und sie rannten los in die schmale Seitengasse. Die Gasse führte die vier auf einer langgezogenen Rechtskurve über das unebene Kopfsteinpflaster. Sie rannten um ihr Leben, Ben voraus, dicht gefolgt von Tom, Chris und Lucy mit einigem Abstand dahinter. Sie erreichten das Ende der langen Kurve und Ben blieb mit einem Male abrupt stehen. Tom hielt neben ihm inne.
„Was ist?“, fragte Chris außer Atem, doch als er sie eingeholt hatte, sah er selbst, warum sie stehen geblieben waren.
Die Gasse führte noch gut 100 Meter weiter geradeaus und mündete dann in eine größere Straße. Dort, an der Kreuzung stand ein gutes Dutzend der grünhäutigen Monster. Sie hatten sich um einen groß gewachsenen Mann geschart. Er trug eine dunkle, schwarz-violette Kutte. Dieser schien den Kreaturen Befehle zu erteilen, denn jedes Mal, wenn er mit seinem Arm in eine Richtung zeigte, rannten einige von ihnen dorthin. Schließlich fiel sein Blick auf die vier in der Gasse. Tom blickte sich um. Rechts von ihnen verlief eine gut drei Meter hohe Steinmauer, welche die dahinter liegende Brauerei umgab. Auf der anderen Seite war ein Haus bereits in sich zusammengefallen. Der Kuttenträger lachte kurz auf, als er die Freunde erblickte. „Sieh an, weitere Opfer“, sagte er mit einer tiefen, grollenden Stimme, die Tom ein Schaudern über den Rücken laufen ließ. Es war beinahe so, als hallte dessen Stimme direkt in seinem Kopf wider. Der Mann hob seinen Arm und die übriggebliebenen vier Kreaturen rannten mit wildem Gekreische auf sie zu. Hinter ihnen hörte Tom die schweren Schritte der Riesen, welche ihnen wohl gefolgt waren, bedrohlich näherkommen. Sie saßen in der Falle. Weil er keinen anderen Ausweg sah, stellte sich Tom den Angreifern entgegen. Sein Atem ging schwer und sein Schwertarm begann zu zittern. Ben stellte sich, immer noch blutend, neben ihm auf. Lucy wurde von Chris hinter sich gedrängt und auch er stellte sich nun in die Reihe. So warteten sie auf die heranstürmenden Bestien.
Die erste ankommende Kreatur griff direkt Tom an. Wieder fiel dieser in eine Art Trance. Sein Atem beruhigte sich, sein Herzschlag wurde langsamer, wurde bald zu dem Einzigen, was er noch wahrnahm. Seine fließenden Bewegungen entstanden wieder ohne sein willentliches Zutuen. Er parierte den Schlag der Kreatur geschickt und brachte sie dadurch etwas aus dem Gleichgewicht. Ben nutzte die Gelegenheit und stach zu. Er traf das Monster an der Schulter, woraufhin es laut aufschrie und ein Stück zurückwich. Da stürzte sich auch schon der nächste Feind auf Tom. Diesmal reagierte er zu spät und spürte einen stechenden Schmerz in seinem linken Oberarm, als das Messer die Haut und das Fleisch durchbohrte. Er taumelte einen Schritt zurück, so dass das Messer wieder aus der Wunde glitt. Blut verteilte sich auf dem Boden. In ihm wuchs ein leichtes Schwindelgefühl heran, doch es behinderte Tom kaum. Ohne bewusst zu wissen, wie er sich bewegen sollte, kämpfte er einfach weiter. Das Monster holte erneut aus. Diesmal war Tom jedoch schneller, wich seitlich aus und stach seinerseits zu. Sein Schwert durchbohrte die Kehle seines Gegenübers. Gleich darauf zog er die Klinge wieder heraus und traf in einer fließenden Bewegung mit einem tiefen Stich die zweite, bereits verwundete Kreatur in der Magengegend. Beide fielen nahezu gleichzeitig tot zu Boden. Tom fühlte sich wie in einem Rausch. Mit Stolz und Genugtuung betrachtete er die Ungetüme, die er gerade erledigt hatte. Er fühlte sich trotz all der Umstände so gut wie schon seit langem nicht mehr. Kommt nur her, mich besiegt ihr nicht, dachte er. Tom fühlte sich nun wieder unbesiegbar.
Ein lauter Schrei riss ihn jäh aus seinen überheblichen Gedanken. Es war Lucys schrille Stimme, die die Luft durchbrach. Er drehte sich in ihre Richtung und erkannte sofort, was sie erschreckt hatte. Chris lag reglos auf dem Boden, während Blut aus einer tiefen Wunde in seiner Brust rann. Eine unbändige Wut packte Tom. Er rannte auf die Kreatur zu, die über Chris gebeugt stand, um ihr mit einem kräftigen Hieb den Kopf von ihren Schultern zu trennen. Dem letzten verbleibenden Gegner säbelte er, bevor dieser überhaupt reagieren konnte, seinen rechten Arm ab, ehe Tom ihn mit einem Stich direkt durch das Herz niederstreckte. Lucy kniete laut schluchzend neben Chris und zerrte verzweifelt an seiner Schulter. Ben stand reglos daneben und stützte sich dabei an der Mauer ab. Blut sickerte noch immer aus seinen Wunden. Tom warf das Schwert beiseite, zog sein Hemd aus und presste es auf Chris´ Wunde, jedoch war es schon nach wenigen Sekunden völlig mit Blut durchtränkt und es blutete einfach unaufhörlich weiter.
Der ständig bebende Boden kündigte an, dass die Riesen jeden Moment um die Ecke biegen würden. Von der anderen Seite drang die raue Stimme des in die dunkle Robe gehüllten Mannes zu ihnen herüber. „Hierher“, rief dieser im Befehlston, dabei zeigte er auf die Freunde in der schmalen Gasse. Gleich darauf kamen weitere Kreaturen um die Ecke, die sogleich auf sie zu rannten. Toms Herz raste. Er war völlig erschöpft. Ohnmächtig sah er Chris‘ reglosen Körper an, wissend, dass es nun endgültig vorbei war. Er blickte wieder zu den Monstern, die unaufhaltsam auf sie zu rannten. Sein Blick begann zu verschwimmen, seine Gedanken schliefen langsam ein. Er versuchte nach dem Schwert zu greifen, es lag jedoch außerhalb seiner Reichweite. Seine müden Knochen reagierten nur noch widerwillig, doch irgendetwas ließ ihn noch einmal aufhorchen. Hörte er da etwa Pferde? Er versuchte sich noch einmal zu konzentrieren, blickte zu dem Kapuzenmann herüber und bemerkte, dass etwas dessen Aufmerksamkeit erregt hatte, denn dieser blickte nun die breite Straße entlang und wedelte wild mit den Armen.
In diesem Augenblick bog ein Reiter um die Ecke. Seine blankpolierte Rüstung schimmerte silbern durch die unzähligen Feuer, die mittlerweile überall in der Gasse loderten. Er ritt auf einem riesigen, schwarzen Ross, das ebenfalls mit einer glänzenden silbernen Rüstung versehen war. Von dem Reiter ging eine unsagbare Eleganz aus, gleichzeitig wirkte er ungeheuer einschüchternd. Direkt hinter ihm folgten drei weitere Reiter, weniger prächtig ausgestattet, aber dennoch kaum weniger beeindruckend. Der Vorderste rief einige Befehle, jedoch konnte Tom davon nichts mehr verstehen. Es bereitete ihm bereits größte Mühe, dem Geschehen überhaupt noch irgendwie zu folgen. Noch mehr Gegner, fragte sich Tom. Das macht jetzt auch keinen Unterschied mehr. Hinter ihnen stürzte ein weiterer Teil der Mauer ein. Die Riesen hatten sie beinahe erreicht.
„Oger“, hörte er einen der Reiter wie aus weiter Ferne schreien. Der ganz in Silber gewandete Reiter verschärfte sein Tempo noch einmal. Er hatte die hässlichen, kleinen Kreaturen, die weiter auf Tom und die anderen zustürmten, schon beinahe eingeholt. Die letzte von ihnen drehte sich um und ließ einen lauten Schrei folgen, eher sie ihre Axt schwang. Doch der Reiter war schneller. Mit einer geschickten Bewegung riss er sein Pferd leicht herum und erledigte die Kreatur mit einem gezielten Hieb seines Schwertes. Die restlichen Monster hatten sich nun ebenfalls umgedreht, um sich dem Reiter zu stellen und stürmten auf ihn zu. Dieser setzte seinen Weg jedoch unbeirrt fort und pflügte geradezu durch die kleinen Bestien. Einer nach dem anderen fiel, getroffen von seinem Schwert oder niedergetrampelt von dem stattlichen Ross. Ist er etwa ein Freund?, fragte sich Tom, wobei es ihm immer schwerer fiel, überhaupt einen klaren Gedanken zu fassen. Einer der anderen Reiter überholte den ersten. Er reckte einen langen, schweren Holzspeer hoch in die Luft. Diesen schleuderte er mit enormer Kraft an den vieren vorbei und traf eines der riesigen Monster an der Brust. Der Speer bohrte sich allerdings nur sehr leicht in die dicke, ledrige Haut des Ungetüms. Dieses schrie laut auf und riss die Lanze mit einem kräftigen Ruck wieder heraus. Ein weiterer Reiter preschte mit einer Lanze in seiner Hand an ihnen vorbei, während der Anführer neben ihnen zum Stehen kam.
„Folgt mir“, rief er ihnen in ruhigem, aber bestimmten Ton zu. Tom und Lucy knieten immer noch neben Chris auf dem Boden. Keiner von ihnen reagierte auf seine Worte. „Kommt schon, oder wollt ihr hier sterben?“, wiederholte er, nun schon etwas energischer. Seine dunklen Augen leuchteten durch das Visier an seinem Helm. Immer noch rührte sich niemand. Diese Stimme? Woher kenne ich sie?, fragte sich Tom, während der Reiter von seinem Pferd stieg, sich Chris schnappte, um ihn dann nahezu mühelos auf den Rücken seines Pferdes zu legen.
„Folgt mir“, rief er ihnen zu und führte sein Pferd am Zaumzeug die Gasse entlang. Hinter ihnen hatte nun der andere Reiter einen der Oger durch einen gezielten Wurf seines Speeres in die linke Augenhöhle zu Boden gebracht. Die Erde bebte heftig, als der gewaltige Körper auf dem Kopfsteinpflaster aufschlug. Ben folgte langsam taumelnd dem Reiter, während Tom zunächst den Boden nach dem Schwert absuchte, das er vorher achtlos auf den Boden geworfen hatte. Er kroch darauf zu, umklammerte es mit seiner rechten Hand und nahm all seine Kraft zusammen, um ebenfalls ihrem geheimnisvollen Retter zu folgen, als er bemerkte, dass Lucy zwar dem Reiter hinterherschaute, aber immer noch keine Anstalten machte, sich zu rühren.
Einer der anderen Reiter wurde unsanft aus seinem Sattel gerissen, als er von dem noch verbliebenen Riesen mit der gewaltigen Holzkeule getroffen wurde. Ein unheilvolles Knacken begleitete seinen Aufprall an der Mauer, wo er reglos liegen blieb. Tom ging zu Lucy hinüber, versuchte sie hochzuziehen, allerdings hatte er dazu nicht mehr genügend Kraft. „Ben, hilf mir“, rief er seinem großen Freund zu. Ben kehrte zurück und half ihm, Lucy gemeinsam hochzuziehen, dann zerrten sie sie mit letzten Kräften weiter die Gasse entlang.
Als sie zur Kreuzung schauten, bot sich ihnen wiederum ein äußerst merkwürdiges Schauspiel. Einer der Reiter lag neben dem Kapuzenmann auf dem Boden, während dieser aus seiner Hand eine Art Feuerball auf einen weiter entfernten Soldaten abfeuerte. Er traf ihn direkt an der Brust und der Aufprall riss ihn aus seinem Sattel. An der Ecke der Gasse entdeckte Tom nun einen weiteren Mann in einer Robe. Diese war jedoch nicht schwarz-violett, sondern in einem hellen Blauton gehalten. Er schien etwas zu murmeln. Als er seine Hände nach oben riss, zuckte ein Blitz vom Himmel, welcher den dunkelgewandeten Mann traf. Ein blendendes Licht ging von ihm aus, gefolgt von einem donnernden Knall. Tom musste seine Augen bedecken. Wenige Augenblicke später erlosch das Licht und der Befehlshaber der Monster brach in sich zusammen. Sie schleppten Lucy bis zum Ende der Gasse. Der Reiter bog dort rechts um die Ecke. Einige Meter entfernt sah Tom ein helles purpurnes Licht, das mitten auf der Straße ohne erkennbare Quelle leuchtete. Um dieses Licht herum befanden sich gut ein Dutzend weitere Soldaten, die es zu bewachen schienen.
„Kart, Rückzug durch das Portal! Sofort!“, rief der Reiter seiner Einheit zu. Daraufhin setzten sich die ersten in Bewegung und liefen direkt in das helle Licht hinein. Allerdings kam keiner von ihnen wieder auf der anderen Seite heraus. Es sah so aus, als ob sie einfach verschwanden. „Jetzt ihr“, sagte er zu den Freunden. Sie sahen sich verdutzt an. „Geht durch das Licht, dann seid ihr in Sicherheit.“ Von beiden Seiten der Straße kamen unzählige kleine und große Kreaturen auf sie zugestürmt. „Los jetzt, uns bleibt keine Zeit mehr“, brüllte er, nun ungeduldig und mit einem Anflug von Wut. „Diese Monster werden uns gleich überrennen.“ Ben und Tom sahen sich unsicher an, sahen jedoch keinen anderen Ausweg, als dem Reiter zu vertrauen. Sie setzten sich langsam wieder in Bewegung. Lucy immer noch in ihrer Mitte tragend, gingen sie auf das Licht zu. Tom kniff seine Augen zusammen, hielt den Atem an, dann trat er zusammen mit Ben hindurch.