Читать книгу Die Reise Beginnt (Die Drei-Welten-Saga: 1) - Tobias Melder - Страница 9
Kapitel 5: Das Erwachen
ОглавлениеAls Tom aus seinem Schlaf erwachte, musste er erst einmal Ordnung in seine noch wirren Gedanken bringen. Sofort durchfluteten die Erinnerungen an den grausamen Abend seinen Geist. Er hoffte inständig, dass all das nur ein böser Traum gewesen war, wie er schon so oft erlebt hatte. Dass, wenn er seine Augen öffnete, er die weiße Decke seiner kleinen Wohnung anstarren würde. Dass ihm ein weiterer langer und öder Tag an der Universität bevorstünde. Allerdings war es diesmal anders als sonst. Er konnte sich an jede Kleinigkeit dieses Albtraums erinnern. Auch die harte Matratze auf der er lag schmälerte die Hoffnung, dass alles tatsächlich nur ein böser Traum war, ebenso wie der stechende Schmerz, den er bei jedem Atemzug verspürte. Dennoch klammerte er sich verzweifelt an diesen winzig kleinen Hoffnungsschimmer. Es konnte, es durfte einfach nicht passiert sein.
Tom atmete tief ein. Der Schmerz, der durch seine Glieder fuhr, war so heftig, dass er den Atem kurz anhielt, ehe er langsam ausatmete und seine Augen öffnete. Die Sonne strahlte hell durch das dunkle, grüne Tuch, das über seinem Bett gespannt worden war. Sein Herz begann immer schneller zu schlagen. All die Erinnerungen brachen nun noch heftiger über ihn herein. Er durchlebte noch einmal die Geschehnisse der letzten Nacht. Die Monster, die toten Mädchen, die zahllosen zerstückelten Leichen, ihr Kampf, ihre Flucht durch das Licht. Und immer wieder sah er Chris, wie er reglos und blutüberströmt auf dem Boden lag.
Tom schüttelte seinen Kopf, um die schrecklichen Erinnerungen zu vertreiben, ehe er sich mühsam aufrichtete. Sein ganzer Körper schmerzte und weigerte sich, ihm zu gehorchen. Es bedurfte einer enormen Kraftanstrengung, bis er es schließlich geschafft hatte, sich aufrecht hinzusetzen. Das harte Bett, wenn man es überhaupt so nennen konnte, bestand aus einigen Strohballen, über die ein weißes Bettlaken gelegt worden war, das mit getrockneten Blutflecken übersäht war. Ist das alles mein Blut?, fragte er sich, während er den Verband an seiner Schulter begutachtete. Gut möglich. Er hatte in der Nacht einiges abbekommen. Seine verletzte Schulter pochte immer noch bei jedem Herzschlag. Übelkeit stieg in ihm auf und ihm wurde schwindelig. Sein Kreislauf schien nicht einverstanden damit zu sein, dass er sich so schnell aufgesetzt hatte. Er musste sich an den Strohballen festkrallen, damit er nicht einfach wieder umfiel.
Als der erste Schwindel sich etwas gelegt hatte, begann Tom, sich umzusehen. Er saß inmitten eines kleinen, eckigen Zeltes. Der dunkle grüne Stoff bildete die Zeltwand. In der Mitte des Zeltdachs befand sich eine kreisrunde Öffnung, durch die der Rauch abzog, welcher von dem kleinen Lagerfeuer in der Zeltmitte ausging. Über dem Feuer hing ein gusseiserner Topf an einem Holzgestell, in dem etwas leise vor sich hin köchelte. Es duftete nach frischem Gemüse und Kartoffeln, allerdings verspürte er im Moment nicht den geringsten Hunger. Nun erst fiel sein Blick auf Ben, der auf einem ähnlichen Bett wie dem seinem ihm gegenübersaß. So wie er dahockte, mit gebeugtem Rücken und gedankenverlorenem Blick, wirkte er viel kleiner als gewöhnlich. Auch Ben schien ihn erst jetzt zu bemerken und seine düstere Miene begann sich ein wenig aufzuhellen.
„Gott sei Dank, du bist endlich wach!“, entgegnete Ben. Erleichterung, aber auch eine gewisse Trauer und Resignation schwangen in seiner Stimme mit, während er aufstand und zu Tom herübereilte. „Wie geht es dir?“
Tom reckte sich leicht und der stechende Schmerz fuhr ihm so durch alle Glieder, dass er sogleich zusammenzuckte. Sein schmerzverzerrtes Gesicht musste Ben erschreckt haben, denn der blieb kurz vor ihm stehen. „Was ist los? Du siehst noch nicht gut aus. Vielleicht solltest du dich lieber wieder hinlegen“, sagte er in sorgenvollem Ton, während er Tom genau beobachtete.
„Alles gut, ich … Ben … Ich ... Was ist passiert? Wo sind wir hier?“, fragte Tom benommen von den Schmerzen und dem Schwindelanfall.
„Ich wünschte, ich könnte dir etwas sagen, jedoch habe ich keine Ahnung“, antwortete Ben niedergeschlagen. „Niemand hier will mit uns reden, niemand will uns sagen, was passiert ist, niemand sagt uns wie es weiter gehen soll. Sie sagen uns nicht einmal, wo wir hier sind. Ich hoffe nur, dass wir bald wieder nach Hause können. Ich muss zu meiner Familie. Wenigstens geht es dir wieder etwas besser, ich hatte Angst, dass du es nicht schaffst. Du hast drei Tage durchgeschlafen und niemand konnte sagen, ob du jemals wieder aufwachst.“ Der Hauch eines Lächelns kroch über seine Lippen, während er vorsichtig eine Hand auf Toms unverletzte Schulter legte.
„Drei ganze Tage?“, entgegnete Tom ungläubig. In den letzten zwei Jahren hat er kaum einmal mehr als vier Stunden am Stück geschlafen und jetzt gleich mehrere Tage.
„Ja, ich habe mir wirklich Sorgen gemacht“, kam es von Ben zurück. „Sie sagten, sie haben alles Menschenmögliche getan, um dir zu helfen und es liegt nun an dir, ob du es schaffst oder nicht. Ob du kämpfst oder aufgibst. Mann, bin ich froh, dass du nicht aufgegeben hast“, er machte eine kurze Pause und blickte zum Zelteingang. „Ich kann mir einfach keinen Reim auf all das machen, was passiert ist, geschweige denn auf diesen Ort hier. Es ist einfach alles so… seltsam. Mir kommt es beinahe so vor, als wären wir im Mittelalter gelandet. Die anderen, die gerettet wurden, wissen auch nicht mehr.“ Der Frust war ihm deutlich anzumerken.
„Es gibt noch andere?“, fragte Tom.
„Ja, einige“, erwiderte Ben. „Sie berichten alle dasselbe. Alle wurden von irgendwelchen Monstern angegriffen und landeten dann hier, als sie durch dieses Licht gingen. Aber auch keiner von ihnen kennt diesen Ort.“
Tom blickte sich in dem Zelt um. Außer Ben war niemand hier. Er atmete einmal tief ein, doch brauchte er noch etwas, um den Mut aufzubringen, die Frage zu stellen, deren Antwort er womöglich nicht hören wollte. „Wie… Wie geht es Chris?“, fragte er stotternd.
Die darauffolgende Stille und Bens Blick, der ihm auszuweichen versuchte, sowie sein leichtes Kopfschütteln, sagten ihm, was er bereits befürchtet hatte. Chris hatte nicht überlebt. Ein heftiger Stich durchzog seinen ganzen Körper, hundertmal schlimmer noch, als der Messerstich, den er im Kampf erlitten hatte. Er fühlte sich, als würde er in ein tiefes, schwarzes Loch fallen, als würde in diesem Moment auch ein Teil von ihm sterben. Er kannte Chris schon, seit er denken konnte. Er war der Einzige, der in den schlimmsten Stunden für ihn da gewesen war. Er war einfach immer da gewesen. Und nun? Nun würde er nie wieder da sein, ihm nie wieder zur Seite stehen, nie wieder mit ihm reden, lachen oder weinen. Sein Atem wurde schwerer, er konnte kaum mehr einen vernünftigen Gedanken fassen. Tränen füllten seine Augen. Er dachte an all die schönen Erinnerungen, die ihm jetzt als einziges geblieben waren. Dabei schwirrte auch Lucys Gesicht immer wieder durch seinen Kopf. Erst jetzt begann er, langsam zu begreifen, dass Chris nicht der Einzige war, der für ihn da gewesen ist. Lucy. Sie war ebenfalls immer mit dabei, gerade auch in seiner schwersten Zeit. Auch sie war immer für ihn da gewesen. Diese Tatsache wurde ihm erst jetzt wirklich bewusst. Seit er sie kannte, war sie genauso wichtig für ihn wie Chris. Nun brannte ihm die nächste Frage unter den Nägeln, doch fürchtete er sich diese zu stellen, aus Angst, die Antwort könnte dieselbe sein wie vorher.
„Und Lucy? Wie… Wie geht es ihr?“, fragte Tom mit trockenem Mund und mit brüchiger Stimme.
Ben seufzte leicht, eher er antwortete. „Sie ... sie lebt, hat aber seit drei Tagen weder geredet oder gegessen, geschweige denn geschlafen.“
„Wo… Wo ist sie jetzt?“, wollte Tom erleichtert wissen. Er spürte, dass er zu ihr gehen und bei ihr sein musste, um… Um was genau zu tun? Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass er zu ihr musste. Und zwar jetzt gleich.
„Sie sitzt draußen, direkt vor dem Zelt an dem kleinen See“, antwortete Ben in gedämpftem Ton.
Tom stand langsam auf. Er fühlte sich wackelig auf den Beinen und es bedurfte einiger Anstrengung, ehe er aufrecht stehen und einen Fuß vor den anderen setzen konnte. Von einem heftigen Schwindelanfall erfasst, wäre er beinahe wieder nach hinten umgekippt, hätte Ben ihn nicht mit einem beherzten Griff gepackt und festgehalten.
„Alles okay? Ich glaube nicht, dass du schon aufstehen solltest“, fragte Ben besorgt, als er Tom festhielt und in sein kreidebleiches Gesicht schaute.
„Ich … Mir geht’s gut. Ich …“, antwortete Tom trotzig und schwer atmend. „Ich schaff das … alleine, danke.“ Reden und Stehen gleichzeitig beanspruchte ihn sehr. „Ich muss … Ich muss nach Lucy sehen“, japste er atemlos. Dann machte er einen Schritt vorwärts, während Ben seinen Griff etwas lockerte.
Er wankte, immer noch benommen langsam auf den Ausgang zu. Er fühlte sich, als hätte er einen Berg im Sprint bestiegen. Es dauerte eine Weile, bis er den Zeltausgang erreichte. Es kam ihm so vor, als wöge der Stoff mehrere Tonnen und es bedurfte all seiner Kraft, um ihn beiseitezuschieben. Er atmete einige Male tief ein, um dem erneuten Schwindel in seinem Kopf Einhalt zu gebieten. Das Einzige, was er damit jedoch erreichte, war, dass der Schmerz erneut heftig durch seine Glieder fuhr und er einen unterdrückten Schrei von sich ließ. Er sammelte seine Kräfte, ehe er aus dem Zelt schritt und sich dort umsah. Lucy saß einige Meter vor ihm auf dem Boden. Die Arme um ihre Beine geschlungen, starrte sie auf den kleinen, malerischen See hinaus, der sich direkt vor ihrem Zelt erstreckte. Die Wasseroberfläche kräuselte sich leicht im warmen Wind, der sanft zu ihnen herüberwehte. Tom setzte sich schwankend in Bewegung und ging zu ihr hinüber. Als er bei ihr angekommen war, blieb er schwer atmend neben ihr stehen und blickte zu ihr hinunter. Ihre Augen waren verwaschen von den unzähligen Tränen, die sie in den letzten Tagen vergossen haben musste. Sie schien ihn nicht zu bemerken, oder vielleicht wollte sie ihn einfach nicht bemerken. Unfähig, auch nur ein Wort zu sagen und um nicht einfach umzukippen, setzte er sich neben sie auf den Boden. Es kam ihm vor wie eine halbe Ewigkeit, die sie so schweigend nebeneinandersaßen, den Blick auf den Grund des kristallklaren Sees gerichtet.
Tom war überfordert. Er hatte keine Ahnung, was er tun, was er sagen sollte. Er wollte ihr irgendwie helfen, sie irgendwie aufmuntern. Nur wie? Was macht man in solch einer Situation? Er wusste selbst am besten, dass nichts, was man gesagt bekommt, einem in diesem Moment auch nur im Entferntesten helfen kann. Irgendwann war die Anspannung für ihn nicht mehr zu ertragen und er legte ganz vorsichtig seinen unverletzten Arm um ihre Schulter. Er atmete ein paar Mal tief ein, voller Angst, da er nicht wusste, wie sie darauf reagieren würde. Schließlich schmiegte Lucy ihren Kopf ganz sachte an Toms Schulter. Er spürte, wie ihr Körper vor Trauer zu beben begann, fühlte, wie Lucys heiße Tränen auf seine Schulter tropften. Sein Herzschlag beruhigte sich etwas. Er blickte zu ihr herüber und sah in ihr von Trauer zerfressenes Gesicht. Darin war nichts mehr von der Lebensfreude, die es sonst immer ausstrahlte zu sehen. Sogar ihre einstmals tiefblauen Augen schienen all ihre Leuchtkraft verloren zu haben und blickten in mattem Stahlblau weiter stur auf den Grund des Sees. Tom wusste, dass es nun keinerlei Worte bedurfte und legte seinerseits den Kopf sanft auf den Ihren und begann, zusammen mit ihr, unzählige Tränen zu vergießen. Er wusste nicht einmal mehr, wann er das letzte Mal überhaupt geweint hatte. Es war, als würden alle Dämme brechen, als die beiden Arm in Arm hemmungslos zusammen weinten. So saßen sie noch einige Zeit schluchzend nebeneinander am Ufer des Sees, um sich gegenseitig ein wenig Trost zu spenden.
Schon bald verlor Tom sich in seinen eigenen Gedanken. Wäre ich doch nur schneller gewesen, dann könnte er jetzt noch leben, machte Tom sich heftige Vorwürfe. Hätte ich nur anders reagiert. Wäre ich nicht so selbstzufrieden, so arrogant gewesen, nachdem ich zwei von diesen Biestern erlegt hatte. Hätte ich Chris gleich geholfen, würde er jetzt mit Sicherheit noch leben. Wieder einmal begann er, sich selbst innerlich zu zerfleischen, wie er es schon so oft getan hatte. Sein Selbsthass erreichte schon bald völlig neue Dimensionen. Allmählich schweiften seine Gedanken ab, ohne dass er es bemerkte. Tom begann, sich nun wieder an etwas zu erinnern, was er vor einiger Zeit tief in seinem Gedächtnis vergraben hatte. Etwas, von dem er gehofft hatte, dass er niemals wieder daran denken musste, von dem er gehofft hatte, dass er es für immer irgendwo in seinem Geist begraben hatte. Er erinnerte sich wieder so genau daran, als würde es noch einmal geschehen, erlebte noch einmal diesen Tag vor ziemlich genau vier Jahren.
Er war spät nach Hause gekommen, später als sonst üblich. Er öffnete die Haustür und schritt in den engen, dunklen Hausflur. Durch den offenen Türspalt drang gedämpftes Licht und es hallte die leise Melodie eines ruhigen Liedes im Gang wider.
„Hallo, ich bin wieder zu Hause“, sagte er mit gedrückter Stimme. Keine Antwort kam. „Mum? Ich bin wieder da.“ Nun klang seine Stimme schon etwas lauter. Wieder keine Antwort. Ein mulmiges Gefühl wuchs rasch in ihm heran. Sein Herzschlag beschleunigte sich. „Mum?“, hallte seine Stimme nun laut und dennoch zerbrechlich durch den Flur, während er sich langsam dem Lichtschein näherte, der aus dem Bad drang. „Mum?“ Noch ein letztes Mal erklang seine nun fast schon verzweifelt klingende Stimme, ehe er die Badtür erreichte. Er hörte nur seinen eigenen rasenden Herzschlag und die ruhige, gleichbleibende Melodie des Liedes, welches aus dem Radio im Bad kam. Tom hielt die Luft an, bevor er die Türe vorsichtig zur Seite schob.
Alles, woran er sich danach noch erinnern konnte, war das blutrote Wasser der Badewanne und das starre Gesicht seiner Mutter, die darin lag. Sie hatte sich die Pulsadern aufgeschlitzt. Es schien fast so, als lag ein leichtes Lächeln auf ihrem Gesicht. Ein Anblick, der sich so sehr in sein Gedächtnis eingebrannt hatte, dass ihm nichts anderes übriggeblieben war, als ihn so tief in seinem Geist zu begraben, wie nur irgend möglich. Danach war er wochenlang nicht mehr imstande gewesen, einen klaren Gedanken zu fassen. Später hatte er erfahren, dass sie noch nicht lange tot gewesen sein konnte. Wäre ich doch nur früher nach Hause gekommen, dann hätte ich sie aufhalten können. Ich wusste doch, dass sie krank war. Die alten Vorwürfe, von denen er dachte, er hätte sie längst so tief vergraben, dass sie nie wieder ans Tageslicht gelangen konnten, vermengten sich nun mit den neuen.
Leere begann allmählich, sich in ihm auszubreiten. Und mit der Zeit füllte sich diese Leere mit Wut, mit unbändiger Wut. Wut auf die Welt, die all das geschehen ließ. Wut auf die grässlichen Kreaturen, die all diese grausamen Dinge angerichtet haben, die Chris getötet hatten. Wut auf seine Mutter, die ihn einfach alleine gelassen hatte. Wut auf seinen Vater, der ihn schon vor seiner Geburt verlassen hatte. Wut auf sich selbst, dass er all das nicht verhindern konnte, dass er immer wieder zu spät gekommen war. Ich hätte sie retten können. Sie retten müssen. Ganz allmählich begann sich ein weiteres Gefühl einzuschleichen. Trotz. Ich will nie wieder jemanden verlieren, der mir etwas bedeutet. Er blickte zu Lucy, die nun ruhig atmend in seinen Armen lag. Sie hatte aufgehört zu weinen. Er wusste nicht, wie lange sie schon so am Ufer saßen. Ich werde nie wieder zu spät kommen, gab er sich ein unumstößliches Versprechen. Ich werde nie wieder jemandem im Stich lassen. NIE WIEDER! Langsam schaffte er es, damit aufzuhören, sich selbst weitere Vorwürfe zu machen. NIE WIEDER! Mit jedem Wiederholen dieses Versprechens wuchs seine Entschlossenheit und es begann wieder etwas Lebensmut zurückzukehren. NIE WIEDER! Noch ein letztes Mal schwor er es sich.
Ein lautes Poltern hinter ihm riss ihn vollends aus seinen Gedanken. Er hob seinen Kopf und drehte sich erschrocken um. Hinter ihm wurde eine schwer beladene Holzkarre von zwei riesigen ochsenähnlichen Tieren, die allerdings vier Hörner besaßen, langsam den steinigen Weg entlang gezogen. Auf dem Wagen saß ein älterer, beleibter und kahlköpfiger Mann, der die Zügel locker in seiner Hand hielt, während er laut fluchend versuchte, den Tieren Beine zu machen.
„Verdammte Mistviecher. Bewegt euch endlich. Euretwegen habe ich schon den halben Markttag verpasst.“ Der Mann trug schäbige, abgetragene Kleidung, die ihm etwas zu klein waren. So bedeckten sie den beachtlichen Bauch des Mannes nicht zur Gänze. Auf dem massiven Wagen waren ein gutes Dutzend Holzfässer mit dicken Stricken befestigt worden. Daneben gingen zwei Männer mit Hellebarden bewaffnet und abgetragenen Lederwämsen. Erst jetzt wurde Tom sich seiner neuen Umgebung bewusster. Hinter ihm stand das dunkelgrüne Zelt, aus dem er gekommen war. Allerdings war es bei weitem nicht das einzige Zelt, das dort stand. Mehrere Dutzend Zelte reihten sich dicht gedrängt aneinander und hinter ihnen ragte eine riesige steinerne Mauer gut fünf Meter in die Höhe. Sie war aus massivem, schwarzem Stein errichtet worden. Weiter rechts führte der Weg, den der Wagen entlanggerollt kam, zu einem Tor, das auf die andere Seite der Mauer führte. Oben auf der Mauer erkannte er zwei Männer, die im Gleichschritt nebeneinander hergingen. Sie trugen hellblaue Wappenröcke über einer stählernen Rüstung und patrouillierten auf der Mauer.
Er richtete seinen Blick wieder nach vorne und ließ ihn über den kleinen See schweifen. Direkt gegenüber erblickte er einen schön angelegten, ruhigen Park, in dem einige Menschen in knallbunten Kleidern spazieren gingen, auf den vielen Bänken saßen, sich unterhielten oder Bücher lasen. Je weiter sein Blick in die Ferne schweifte, desto größer wurden seine Augen und desto weniger wollte sein Verstand ihnen Glauben schenken. Direkt hinter dem Park ging es einen sanften Hügel hinauf, auf dem etliche riesige Anwesen standen. Sie waren mit prächtigen Zäunen umgeben und die Gärten blühten in allen nur erdenklichen Farben. Die Gebäude glichen eher kleinen Palästen als Häusern. Am Fuß des Hügels konnte Tom einen gewaltigen Platz ausmachen, auf dem reges Treiben herrschte. Es handelte sich wohl um den Markt, zu dem der beleibte Mann mit seinem Karren unterwegs war. Unzählige Stände reihten sich dicht aneinander, auf denen Waren feilgeboten wurden. Direkt dahinter stand das größte Bauwerk, das er jemals zu Gesicht bekommen hatte. Es sah aus wie eine gigantische Kathedrale. Er konnte jedoch keines der ihm bekannten Glaubenssymbole erkennen, sondern lediglich eine goldene Sonne, die die Spitze des Bauwerks zierte. Wo zur Hölle sind wir hier eigentlich?, fragte Tom sich jetzt.
Langsam löste er seinen Arm von Lucy. Sie hob ihren Kopf und sah ihn mit ihren von den Tränen verschleierten Augen an. „Ich hab Hunger, wir sollten etwas essen“, sagte er und stand mühsam auf. „Drinnen köchelt irgendetwas in einem Kochtopf. Hast du nicht auch Hunger?“, fragte er Lucy, während er ihr seine Hand entgegenstreckte.
Es dauerte etwas, ehe von Lucy eine Regung kam. „Ja, einen wahnsinnigen Hunger“, antwortete sie. Ihm war fast so, als hätte sie für einen kurzen Moment gelächelt, bevor sie seine Hand nahm. Er versuchte ihr zu helfen, wieder auf die Beine zu kommen. Allerdings war das keine allzu kluge Idee gewesen. Schmerzen durchzuckten seinen Körper und er stöhnte laut auf.
„Was ist los?“, fragte Lucy sichtlich besorgt. „Ist alles in Ordnung mit dir? Solltest du nicht eigentlich im Bett sein?“
„Mir… Mir geht es gut“, antwortete Tom durch seine zusammengebissenen Zähne. „Ich hab mich … hab mich wohl nur etwas überschätzt“, dabei versuchte er zu lächeln, was ihm jedoch aufgrund der Schmerzen nicht sonderlich gut gelang. „Bin wohl doch noch nicht zu hundert Prozent fit“, keuchte er. „Komm, lass uns ins Zelt gehen.“
Die beiden machten sich langsam auf den Weg zurück, wobei Tom sich etwas auf Lucy stützte.