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Kapitel 6
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25. Oktober 2037, 13:45 Uhr
Jahr fünf nach dem Ausbruch
Houston, Texas
Ana wiegte ihre Tochter tröstend auf dem Schaukelstuhl vor und zurück und ihre Zehen rollten auf dem kalten Holzboden auf und ab. Anas Bluse war aufgeknöpft. Sie war gerade fertig geworden mit dem Stillen und das Baby griff jetzt nach ihrem offenstehenden Kragen. Das kleine Mädchen gab leise gurrende Laute von sich und machte ein Bäuerchen in den Nacken ihrer Mutter.
Ana schloss die Augen, während sie ihr Kind schaukelte. Vor und zurück. Vor und zurück. Die Bewegung beruhigte das Baby. Für die Mutter fühlte es sich eher wie ein Äquivalent der Unruhe an, so als liefe sie ängstlich auf und ab. Erneut flutete Bedauern ihre Gedanken.
Sie hätte sich niemals den Dwellern anschließen dürfen. Sie hätte niemals zustimmen sollen, das zu tun, was jetzt von ihr verlangt wurde. Sie hätte dieses Kind niemals bekommen dürfen.
Eine Welle von Schuldgefühlen überschwemmte sie, als dieser letzte Gedanke sich immer tiefer in ihrem Kopf festsetzte. Sie nahm ihre Hand vom Rücken des Babys und streichelte sanft das kleine Köpfchen. Ihr schwarzes Haar war so unglaublich weich. Es war lockig und wuchs schon über ihren gesamten Kopf. Ana kuschelte mit ihrem Mädchen und inhalierte tief ihren Duft, bevor sie ihr einen Kuss direkt hinter das Ohr gab.
Das Kind hieß Penny. Sie begann bereits Beziehungen zu Personen aufzubauen, Wörter und Sätze zu verstehen und sie nachzuplappern. Ana wusste, dass es nur noch ein paar Wochen dauern würde, bis Penny die ersten Laufversuche starten würde. Sie zog sich bereits von Tisch zu Tisch, von Stuhl zu Stuhl.
Sie schlug die anderen Menschen genauso schnell in ihren Bann wie ihre Mutter. Sie hatte große, einladende braune Augen und hellbraune Haut. Jeder, der sie sah, fühlte sich sofort zu ihr hingezogen, als würde ihre Aura sie einladen.
Ana war mit der gleichen Gabe gesegnet – oder vielleicht auch verflucht. Denn diese Gabe war der Grund, weshalb die Dweller sie überhaupt angeworben hatten. Sie wussten, dass sie für die Aufgabe, die sie ihr gegeben hatten, wie geschaffen war. Sie würde Erfolg haben, hatten sie ihr gesagt.
Bisher war das schon mehr der Fall, als ihr lieb war.
Sie hob Penny von einer Schulter zur anderen und streichelte ihr sanft über den Rücken, bis sie spürte, dass ihre Tochter eingeschlafen war. Pennys Kopf ruhte nun an ihrer Schulter und mit einem leisen Schnarchen kitzelte ihr Atem ihre Mutter jedes Mal, wenn sie ausatmete.
Ana hörte auf, sie zu wiegen, und versuchte mit einer Hand ihre Bluse zuzuknöpfen, ohne Penny dabei zu wecken. Sie hatte drei Knöpfe geschafft, als eine Stimme in der Tür sie erschreckte.
»Meinetwegen musst du dir die Bluse nicht zuknöpfen«, sagte der große, wettergegerbte Mann, der im Türrahmen lehnte. Ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus und er zwinkerte ihr anzüglich zu.
Beim Klang seiner Stimme zuckte Ana unwillkürlich zusammen und schaffte es gerade noch, das Baby nicht zu wecken. Sie hielt einen Zeigefinger an die Lippen. »Wann bist du nach Hause gekommen?«, flüsterte sie.
Der Mann betrat das Kinderzimmer, als ob es ihm gehörte. Was ja eigentlich tatsächlich der Fall war. Seine Stiefel stampften über den Boden, als er auf Ana und Penny zuging. Er erreichte den Schaukelstuhl und streichelte dem Baby über den Kopf.
»Sie schläft«, sagte Ana. »Es kommt nicht mehr oft vor, dass sie ein Mittagsschläfchen hält. Sie wird langsam zu groß dafür.«
Die Hand des Mannes wanderte zu Anas Gesicht und er berührte ihre Wange. Er ragte hoch über ihr auf, das Kinn auf seine Brust gepresst. Wortlos blickte er auf sie herab. Er schob seine Hand in ihre offene Bluse und fuhr mit seinen Fingern über ihren Körper. Seine regungslosen Augen fixierten die ihren.
»Warum bist du schon zu Hause?«, drängte ihn Ana. Sie wagte es nicht, seine Hand zu entfernen.
Der Mann nahm seine Finger aber jetzt zu Glück von ihrer Haut und hob einen an seine Lippen. Er deutete auf das Kinderbettchen, bevor er nach dem Mädchen griff. Er nahm Penny, wiegte sie kurz, küsste sie auf die Stirn und ließ sie dann langsam in ihr Bett sinken. Anschließend sah er zurück zu Ana und nickte in Richtung Tür.
Ana stand vom Schaukelstuhl auf und knöpfte ihre Bluse zu. Auf Zehenspitzen verließ sie den Raum und begab sich zu ihrem Mann in das Zimmer, das er gern den Entspannungsraum nannte. Er lag bereits in seinem abgenutzten Sessel und hatte seine Füße auf den gepolsterten Hocker gelegt. Seine Arme ruhten auf den breiten Lehnen des Sessels. Sie setzte sich ihm gegenüber auf das kleine Sofa.
In das ausgesprochen maskuline Dekor des Raumes, das von einem Hirschgeweih über dem Gaskamin komplettiert wurde, hatte er sich schon verliebt, als sie das erste Mal die große Stadtvilla betreten hatten. Das Haus gehörte zu den am besten erhaltenen Gebäuden, die noch in der Nähe der ehemaligen Innenstadt von Houston standen. Es lag nördlich des zentralen Geschäftsviertels, das sie Midtown nannten.
Er hatte das Haus ausgewählt und sogar eine andere Familie daraus verjagt, als Ana eingewilligt hatte, bei ihm einzuziehen. Sie hatte keine Wahl gehabt, denn sie hatte bereits sein Kind in sich getragen, und dass sie zusammenzogen, war Teil des Plans gewesen.
»Was gibt es zu Mittag?«, fragte er. »Machst du mir etwas Feines in der Mikrowelle?«
»Der Strom ist leider wieder ausgefallen«, sagte sie. »Wann bist du nach Hause gekommen?«
»Das Gas sollte aber funktionieren«, sagte er. »Du könntest mir ja eine Maissuppe kochen.«
Ana fuhr sich mit den Fingern durch ihr welliges schwarzes Haar. »Ich habe schon etwas Eintopf im Kühlschrank«, sagte sie. »Den sollte ich wahrscheinlich erst einmal warm machen, denn sonst wird er schlecht, wenn wir ihn jetzt nicht essen.«
Er runzelte die Stirn. »Na gut.« Mit einem Wink scheuchte er sie in die Küche.
Ana zwang sich, aufzustehen. »Wann bist du nach Hause gekommen? Ich habe dich schon mehrmals …«
»Wann bist du denn nach Hause gekommen?«, rief er ihr von seinem Sessel aus hinterher. Seine Worte folgten ihr durch den kurzen Flur bis in die Küche. »Antworte mir.«
Ana tat so, als hätte sie seine Frage gar nicht gehört, und öffnete den Kühlschrank. Die Luft in Inneren hatte schon beinahe Raumtemperatur erreicht. »Was hast du gesagt?«, rief sie. »Ich habe dich nicht verstanden.«
»Wann bist du nach Hause gekommen?«
Ana drehte ein Kochfeld auf und entzündete das ausströmende Gas mit einem Feuerzeug. Die blaue Flamme schoss nach oben und sie drehte das Gas rasch herunter. »Ist schon eine Weile her«, sagte sie. »Vielleicht um elf.«
Er erschien nun in der Tür zur Küche. »Wo warst du denn?« Er nahm sich einen Apfel aus der Obstschale, die auf der Granitplatte stand, und gönnte sich einen großen Bissen. Er kaute laut schmatzend und wischte sich mit dem Ärmel den herunterlaufenden Saft vom Kinn.
»Downtown«, sagte sie. Ana konnte ihn nicht anlügen, denn sie wusste genau, dass er sie soweit wie möglich überwachen ließ. Sie wusste, dass die Nanny, die eigentlich eine Bardame war, ihm genau sagen würde, wann sie gegangen und wann sie zurückgekommen war.
»Wozu?«, fragte er zwischen zwei Bissen Red Delicious.
»Ich wollte frisches Obst kaufen«, sagte sie und rührte die Suppe um. »Aber der Markt war zu.«
»Heute ist ja auch Sonntag«, sagte er und riss einen weiteren großen Bissen aus der Frucht. »Der Markt ist sonntags immer zu.«
»Ich hatte gedacht, heute wäre Sonnabend«, sagte sie. »Normalerweise bist du sonntags nämlich nicht unterwegs. Als ich heute Morgen aufgewacht bin und du weg warst, dachte ich, es sei Sonnabend.«
»Hm.« Er warf das Kerngehäuse quer durch die Küche in den Mülleimer und drehte sich um. »Wie lange dauert es denn noch?«, rief er im Gehen. »Ich habe Hunger.«
»Nur noch ein paar Minuten«, rief sie zurück und spähte den Flur hinunter. Er war zu seinem Sessel im Wohnzimmer zurückgekehrt. Sie konnte seine Stiefel auf dem Hocker sehen.
Ana schöpfte für sich eine Kelle Suppe in eine Schüssel und öffnete dann den Gefrierschrank. Hinter einigen leeren Eiswürfelformen hatte sie das besondere Geschenk versteckt, das Sidney Reilly ihr am Ende ihres Treffens gegeben hatte.
Sie öffnete die Flasche und sofort traf sie der Geruch von bitteren Mandeln. Sie hielt die Flasche auf Armeslänge von ihrem Gesicht weg und schüttete den Inhalt in den Suppentopf. Die weißen Kristalle, die wie Zucker aussahen, lösten sich sofort in der Flüssigkeit auf.
Sie rührte die Suppe mit einem Holzlöffel um, bis die Flüssigkeit wie von selbst im Topf umherwirbelte, dann verschloss sie die leere Flasche und versteckte sie wieder im Gefrierschrank.
»Ein halbes Gramm Kaliumcyanid wird ihn innerhalb weniger Tage töten«, hatte Sid ihr erklärt. »Hier sind zwei Gramm. Gib ihm alles.«
Um den sauren Geschmack des Giftes zu überdecken, fügte Ana der Suppe eine ordentliche Dosis Chilipulver hinzu und wartete, bis das Gebräu köchelte. Sie wusch sich in der Spüle die Hände, bis das kalte Wasser ihre Finger steif werden ließ, dann trocknete sie ihre Hände mit dem Geschirrtuch ab, das auf der Arbeitsplatte lag. Sie passte auf, dass sie den Dampf nicht einatmete, der aus dem Topf emporstieg. Sidney hatte ihr nämlich erklärt, dass beim Erhitzen des Cyanids ein gefährliches Gas entstehen würde.
»Das Essen ist fast fertig!«, rief sie laut. »Möchtest du auch ein Bier?«
»Das wäre grandios«, kam es aus dem Wohnzimmer zurück. »Etwas Bier, ein wenig Suppe und dann eine ganze Menge dich.«
Ana schluckte die aufstoßende Galle herunter. Die Vorstellung, sich ihm wieder hingeben zu müssen, war ekelerregend. Ein saurer Geschmack blieb in ihrem Mund zurück. Für eine Weile war es ihr gelungen, sich ihm zu entziehen. Aber als das Baby dann da war, der Plan sich verdichtete und der Aufstand näher rückte, war es immer schwieriger geworden, mitzuspielen. Sie hatte schon befürchtet, er hätte etwas bemerkt. Um jeglichen Verdacht im Keim zu ersticken, hatte sie ihren Einsatz auf eine Weise erhöht, die alles andere als ein Genuss für sie gewesen war.
Sie fand ein Tablett in der großzügigen Speisekammer und platzierte darauf seine Suppe, eine Flasche Bier mit Raumtemperatur, einen Löffel und einen Flaschenöffner. Ana holte tief Luft, hielt das Tablett auf Armeslänge von sich und trug sein Mittagessen ins Wohnzimmer.
General Harvey Logan rieb sich die Hände und setzte sich aufrecht hin, als er sie kommen sah. Er strich sich über den kahlen Kopf und leckte sich die Lippen.
»Lass es dir schmecken«, sagte Ana so überzeugend, wie sie konnte. Sie reichte ihm das Tablett, das er auf den Hocker stellte. »Es ist ein bisschen scharf«, fügte sie hinzu. »Wenn du noch ein Bier dazu willst, hole ich dir eins.«
Er sah sie misstrauisch an. »Isst du nichts? Ich mag es, wenn du mit mir zusammen isst.«
Ana nickte und machte auf dem Absatz kehrt, um wieder die Küche anzusteuern. »Natürlich«, sagte sie. »Ich habe mir auch eine Kelle genommen. Ich hole mein Essen, bin gleich wieder da.«
»Ich warte«, sagte er und ließ den Kronkorken von seiner Bierflasche ploppen. Er zeigte mit der Flasche auf sie und machte eine unwirsche Bewegung. »Beeil dich.«
Anas Herz pochte. Sie spürte kalte Feuchtigkeit unter den Armen und unter den Nackenhaaren. Sie nahm ihre Schüssel und einen Löffel. Mit zitternden Händen trug sie beides ins Wohnzimmer und nahm auf dem Sofa Platz.
Er nahm einen Schluck Bier und rülpste. »Du zitterst«, sagte er.
»Mir ist auch kalt.«
»Iss einen Löffel heiße Suppe«, befahl er. »Ich warte auf dich. Ich bin schließlich ein Gentleman.« Er zwinkerte ihr zu und leerte die Flasche in einem Zug.
Ana nahm den Löffel an die Lippen und nippte an der warmen, salzigen Suppe. Sie nahm einen weiteren Schluck und dann noch einen. »Das tut gut«, sagte sie und sah auf seine Schüssel.
General Logan stellte die leere Flasche vor sich auf das Tablett und umfasste seine Schüssel mit beiden Händen. Er hob sie an die Lippen, kippte die Schüssel und trank sie in einem Zug aus. Die heiße Flüssigkeit lief ihm zu beiden Seiten über das Gesicht.
»Ahhh«, sagte er schließlich. Er ließ die leere Schüssel auf das Tablett knallen und leckte sich über die Lippen. »Puh«, sagte er. »Das Zeug gibt einem aber einen ordentlichen Kick, nicht wahr?« Er schüttelte den Kopf wie ein nasser Hund und atmete laut aus, wobei er seine Lippen flattern ließ.
Ana aß einen weiteren Löffel. »Zu viel Chilipulver?«
»Puh«, sagte er noch einmal und schlug sich mit der Faust gegen die Brust. »Ich denke schon. Wie viel hast du denn da reingeschüttet?« Auf seinem kahlen Kopf standen die Schweißperlen und der Schmerz zwang ihn aus seinem Sessel.
Ana nahm noch einen Löffel Suppe. »Nicht mehr als sonst auch«, sagte sie gleichmütig, scheinbar ohne zu bemerken, mit welcher Geschwindigkeit es mit dem Vater ihres Kindes zu Ende ging. »Möchtest du noch ein Bier?«
Harvey Logan, einer von den drei Generälen des Kartells, stolperte vorwärts. Seine Augen weiteten sich und er schnappte nach Luft. Er fiel nach vorn und prallte gegen den Holztisch, der seinen Stuhl vom Sofa trennte. Ana kreischte auf und ließ ihre Suppe fallen, die sich daraufhin über ihren Schoß ergoss. Sie zog ihre Beine an und kroch so weit nach hinten auf dem Sofa wie nur möglich.
General Logan fiel auf die Seite und starrte nach oben zu Ana. Er fasste sich an die Kehle, sein ganzer Körper zuckte. Seine Arme und Beine verkrampften sich. Er knurrte etwas und weißer Schaum quoll aus seinem offenen Mund.
Das Gift in Logans Körper blockierte die Fähigkeit, Sauerstoff aufzunehmen. Sein Zentralnervensystem, sein Herz, seine Blutgefäße und seine Lunge verweigerten den Dienst, als hätte jemand den Schalter des elektrischen Generators umgelegt, der sie antrieb. Eine Zelle nach der anderen erstarb und er erstickte von innen nach außen.
Ana schrie ihren Horror laut heraus. Ihre Brust hob und senkte sich hektisch und sie schluchzte hemmungslos angesichts der Realität dessen, was sie gerade getan hatte. Harvey Logan war ein verabscheuungswürdiger, gewalttätiger Mann. Er war für das Elend von Tausenden verantwortlich. Aber er war auch ein Mensch. Seine hervorquellenden Augen und seine bläuliche Haut brannten sich in ihre Erinnerung ein … ewige, unauslöschliche Bilder ihres Verrats.
Ana hatte oft Verwerfliches getan, um nach dem Ausbruch der Seuche zu überleben. Das traf auf die meisten zu. Aber sie hatte noch nie jemanden getötet. Bis jetzt zumindest.
Logan bekam ihre Schreie und ihr Weinen nicht mehr mit, da er schmerzerfüllt ins Koma fiel und dann starb. Ihr Weinen galt ihrer eigenen Seele. Sie war jetzt eine Mörderin.
Aus dem Kinderzimmer hörte sie Penny. Das Schreien des Babys klang durchdringend und wütend. Ana bedeckte ihre Ohren mit den Handflächen und drückte fest zu. Sie zog die Knie an die Brust und schloss die Augen. Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie vergrub den Kopf zwischen den Knien und wiegte sich.