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Kapitel 3
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25. Oktober 2037, 7:49 Uhr
Jahr fünf nach dem Ausbruch
Houston, Texas
Ana Montes war spät dran. Sie eilte die kaputte Rolltreppe hinunter und glitt mit der rechten Hand über das Gummigeländer, während sie in die Dunkelheit hinabstieg. Ihre Schuhe klapperten über die Aluminiumstufen. Selbst in der Dunkelheit des unterirdischen Tunnels wusste sie genau, wo sie war und wo sich ihr Ziel befand. Zwanzig Fuß unterhalb der Überreste der Innenstadt von Houston, Texas, stieg Ana von der Rolltreppe und ging fünfzehn Schritte geradeaus, bevor sie sich um neunzig Grad drehte und nach rechts abbog. Ihre Schritte hallten an den Wänden des sechs Meilen langen Tunnelsystems wider. Ein weiteres Mal bog sie neunzig Grad nach rechts ab.
Sie konnte jetzt die gedämpften Stimmen der anderen hören. Sie hatten also offensichtlich ohne sie angefangen. Sie holte tief Luft und betrat den Raum. Im Licht der LED-Taschenlampen waren die Gesichter von einem Dutzend Männer und Frauen zu sehen, die sich um eine Karte auf einem Tisch drängten. Alle sahen zu ihr auf, als sie den Raum betrat.
»Du bist zu spät«, knurrte der Mann in der Mitte der Gruppe. »Wir mussten deshalb ohne dich anfangen.«
»Ich habe es leider nicht eher geschafft, mich loszueisen«, erwiderte sie außer Atem und nahm ihren Platz am Tisch ein. Von ihrem Blickwinkel aus lag die Karte auf dem Kopf. Sie stand also gegenüber von dem Mann, der hier das Sagen hatte.
Er hieß Sidney Reilly. Aber alle nannten ihn Sid. Er war derjenige, der die meisten von ihnen rekrutiert und dazu gebracht hatte, sich dem Widerstand der Dweller anzuschließen.
Sein Blick blieb auf Ana gerichtet, als er weitersprach. »Wie ich schon sagte«, schnaubte er, »wir sind kurz davor. In ein oder zwei Tagen ist es soweit. Unsere Aufgabe ist es …«
»So bald schon?«, unterbrach ihn Ana. »In ein oder zwei Tagen bereits? Ich denke nicht …«
Sid kniff die Augen zusammen. Die Schatten, die das Licht der Taschenlampen warfen, vertieften seine gerunzelte Stirn. »Ich habe nicht danach gefragt, was du denkst. Wir beginnen, wenn wir beginnen. Entweder du bist dabei, oder du bist es nicht, Ana.«
Ana wich vom Tisch zurück und versuchte das brennende Gefühl zu lindern, das zwei Dutzend sie wütend anstarrende Augen in ihr auslösten. Sie nickte und biss sich auf die Unterlippe. »Ich bin dabei.«
Sid nickte und setzte das Briefing fort, doch Ana hörte nicht mehr zu. Sie sah die Männer und Frauen an, die sie umgaben. Einen nach dem anderen hatte Sid davon überzeugt, dass die Herrschaft des Kartells sich dem Ende zuneigte. Alles, was es brauchte, waren genügend Menschen, die den Aufstand wagten. Diejenigen, die jetzt um den Tisch herumstanden, hatten ihm seine Version der Zukunft abgekauft.
Jeder von ihnen hatte anschließend eine eigene Gruppe rekrutiert. Diejenigen wiederum rekrutierten nun ihrerseits neue Gruppen. Es war eine schnell wachsende Revolution, die wie das Schneeballsystem eines Multilevel-Marketing-Unternehmens organisiert war. Das System vieler kleiner Zellen bot außerdem eine gewisse Chance, dass sich der Schaden begrenzen ließ, sollte eine einzelne Zelle tatsächlich vom Kartell entdeckt werden.
Sid schätzte, dass ihnen insgesamt bis zu fünftausend Menschen angehörten. Sie alle wussten, dass das verdammt wenig war im Vergleich zu den Anhängern des Kartells, aber unter den richtigen Umständen waren sie dennoch stark genug, um den Despoten, die momentan über ihre Städte herrschten, verheerende Schläge zu versetzen.
Neben Sid stand Nancy Wake. Sie arbeitete als Buchhalterin für das Kartell. Damit hatte sie Zugang zu all ihren Depots und wusste genau, wie es um ihre Vorräte bestellt war und über welche Bestände von illegalen Drogen, Waffen und Transportmitteln sie verfügten. Ihr Ehemann Wendell war der desillusionierte Kartell-Boss einer kleineren Gruppe. Nancy und Wendell waren am tiefsten von allen in die Struktur des Kartells in Houston eingedrungen.
Die anderen an dem Tisch waren eine Mischung aus Arbeitern, urbanen Farmern und Geschäftsleuten. Sie vereinten daher eine Vielzahl von Fähigkeiten und Kenntnissen, die die Revolutionäre benötigen würden, um überhaupt eine Chance auf Erfolg zu haben, wenn die Zeit reif war. Die Zeit reifte allerdings gerade schneller, als Ana Montes lieb war.
Ana sah auf die Karte von Texas. Sie war mit sich kreuzenden blauen und roten Linien überzogen. Pfeile kennzeichneten die Richtung von geplanten Vorstößen. Große und kleine Kreise zeigten die zahlenmäßige Stärke der Revolutionäre an den verschiedenen Orten an. Unmittelbar vor Ana, in einem Gebiet in der Nähe von Amarillo, war der Palo Duro Canyon mit fluoreszierendem Gelb hervorgehoben worden.
Das alles wurde ihr viel zu viel. Sie hatte sich der Bewegung ursprünglich mit der Überzeugung angeschlossen, dass der Aufstand gegen das Kartell ein nebulöser Wunschtraum war, der wahrscheinlich niemals Wirklichkeit werden würde. Sie hatte damals eingewilligt, Dinge zu tun, von denen sie nie gedacht hätte, dass sie diese tatsächlich einmal würde tun müssen. Doch jetzt hatte sie die brutale Realität der bevorstehenden Aktionen vor Augen. Ihr Puls beschleunigte sich, ihre Knie fühlten sich wie aus Gummi an, und Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn und ihrer Oberlippe.
»Alles okay bei dir, Ana?«, fragte Nancy Wake und unterbrach damit Sids Ausführungen. »Du siehst gar nicht gut aus.«
Ana lehnte sich an den Tisch, stützte sich mit den Ellenbogen ab und nickte. Sie spürte, wie sich alle Blicke erneut auf sie richteten. »Mir geht es gut«, sagte sie. »Ich …«
Nancys Augen wurden schmal. »Was ist los?«
Ana atmete tief ein und aus und wischte sich mit dem Handrücken über die Oberlippe. »Ich … das ist doch reiner Selbstmord, oder nicht? Ich verstehe nicht, wie wir sie schlagen könnten. Es sind einfach zu viele, und sie haben viel zu viele Waffen.«
»Was willst du damit sagen?«, fragte Sid und legte den Kopf schief. Einige murmelten besorgt. Sie teilten Anas Zweifel offenbar. Sid hob energisch die Hand, um sie zum Schweigen zu bringen.
»Ich fürchte, sie werden uns abschlachten«, gab sie zu. »Ich möchte nicht sterben oder als Sklave enden.«
Sid lachte herablassend. »Sklaven sind wir doch schon längst, Ana. Das Kartell bestimmt bereits die meisten Aspekte unseres Lebens. Wir haben uns diese Menschen schließlich nicht als unsere Herrscher ausgesucht.«
»Sie haben uns unsere Freiheit genommen«, ergänzte Nancy. »Sie haben uns belogen. Wir haben geglaubt, sie würden für Sicherheit und die notwendigen Strukturen sorgen, die wir zum Überleben brauchen, doch dann haben sie uns unsere Rechte genommen, eins nach dem anderen. Sie herrschen nun über uns, als wären wir ihre Knechte. Ich kann so nicht mehr leben. Lieber sterbe ich im Kampf!«
Viele der Umstehenden nickten zustimmend. Einige bezweifelten sogar Anas Loyalität und stellten die Frage, ob man ihr überhaupt noch vertrauen könnte. Sid brachte sie alle erneut zum Schweigen.
»Du kanntest die Gefahren, als ich dich für unsere Sache gewonnen habe«, sagte er. »Du wusstest, dass das Endspiel irgendwann kommen würde. Du hast deiner Aufgabe zugestimmt … deiner für uns überlebenswichtigen Aufgabe. Nichts davon kam überraschend.«
»Ja, du hast recht.« Sie blickte auf die Karte hinab und verfolgte ausdruckslos die farbigen Linien. »Ich bin auch nicht überrascht. Ich habe einfach nur Angst.« Sie blickte auf und Tränen rannen ihr über das Gesicht.
Als Ana sich bereit erklärt hatte mitzumachen, hatte sie noch keinen Grund gehabt, den Tod zu fürchten, denn da war sie noch keine Mutter gewesen. Doch jetzt hatte sie eine neun Monate alte Tochter. Was würde aus ihrem Kind werden, wenn sie starb? Wer würde sie großziehen? Was für eine Frau würde aus ihrer Tochter werden, falls sie überhaupt überlebte?
Nancy sprach leise. »Wir alle haben Angst, Ana, aber ich habe mehr Angst davor, was mit uns passieren wird, wenn wir nichts tun. Unsere Zukunft ist vielleicht ungewiss, wenn wir handeln, aber unsere Zukunft ist sehr düster, wenn wir es nicht tun.«
Ana schluckte und spürte einen dicken Knoten in ihrem Hals. Nancy hatte recht und auch Sid hatte recht. Sie mussten handeln. Sie mussten kämpfen. Sie mussten das Kartell besiegen.