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Kapitel 2
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25. Oktober 2037, 3:00 Uhr
Jahr fünf nach dem Ausbruch
Palo Duro Canyon, Texas
Battle warf das Satellitentelefon auf den mit Holz beschlagenen Tisch, der vor Juliana Paagal stand. Es rutschte bis knapp vor die Kante und blieb dann zwischen ihren Ellenbogen liegen. Paagal saß nach vorn gebeugt da, ihr Kinn ruhte auf den Knöcheln ihrer ineinander gefalteten Hände.
Sie war eine Frau mit königlicher Ausstrahlung, die sich ruhig und würdevoll zu bewegen wusste. Ihre tintenschwarzen kurzen Haare verliehen ihr ein jugendliches Aussehen, das über ihr tatsächliches Alter hinwegtäuschte. Ihre kaffeefarbene Haut verschmolz fast mit dem hellbraunen ärmellosen Oberteil, das über ihre schmalen Schultern drapiert war.
Paagal, die Battle gebeten hatte, sie nur mit ihrem Nachnamen anzusprechen, hatte die abgekämpften Reisenden, ohne nachzufragen willkommen geheißen. Sie vertraute dem Urteil von Baadal, der ebenfalls zu den Dwellern gehörte, wie ihrem eigenen.
Sie und Battle waren gerade allein in ihrem großen Zehn-Personen-Zelt. Der Regen trommelte unablässig und ohrenbetäubend gegen die roten Nylonwände. In der Mitte des großen Raums, den Paagal ihr Zuhause nannte, hing eine einsame Lampe. In der Ecke stand ein Bettgestell mit einer unbezogenen Matratze und einem klumpigen Federkissen darauf, in einer anderen ein fadenscheiniges Sofa. Ein orangefarbenes Verlängerungskabel schlängelte sich über den nackten Erdboden und lieferte gerade genug Strom, um die Lampe und eine Kochplatte, die am Rand des Tisches stand, mit Strom zu versorgen.
»Sie hatten also recht«, sagte sie, und ihre eisblauen Augen starrten Battle, ohne zu blinzeln, und ohne den Blick auf das Satellitentelefon zu senken, an. »Er war tatsächlich ein Spion.«
»Ich bitte um Entschuldigung dafür, dass ich ihn hierher gebracht habe«, sagte Battle. »Es ist meine Schuld.«
Paagal schüttelte den Kopf und lächelte. Ihre Augen wurden schmal, als sie weitersprach. »Es war nicht Ihre Schuld, Marcus. Ich bin diejenige, die euch gestattet hat, zu bleiben. Die Schuld liegt also ganz bei mir.«
»Er hat eine Ihrer Wachen getötet«, erklärte Battle jetzt. »Ein paar Meilen von hier entfernt in einem Kommunikationsbunker. Ich bin ihm leider nicht nahe genug auf den Fersen gewesen, um ihn daran zu hindern.«
»Ah«, sagte sie, senkte die Arme und nickte. »Das muss Sahaayak gewesen sein. Er war ein guter Helfer. Wir werden seine Güte und seine Seele vermissen.«
Battle nickte in Richtung des Telefons. »Sehen Sie sich das genau an«, sagte er. »Pierce hat es benutzt, um das Kartell anzurufen. Ich vermute mal, er hat ihnen Informationen über euer Funksystem gegeben.«
Das Lächeln verschwand daraufhin aus Paagals Gesicht. »Wo ist Pierce jetzt?«, fragte sie. »Ich kann ihn selbst fragen, was er getan hat. Ich möchte lieber keine Vermutungen anstellen.«
Battle zögerte und biss sich auf die Innenseite seiner Wange. »Er ist tot.«
Paagal hielt sich eine Hand hinter das Ohr und brachte damit unwillkürlich den großen Holzring zum Schwingen, der an ihrem Ohrläppchen hing. »Er ist was?«
Das Geräusch des auf Nylon prasselnden Regens machte es schwierig, das Gespräch fortzusetzen, besonders angesichts der Tatsache, dass Battle gut darauf verzichten konnte.
»Ich habe ihn getötet«, sagte er laut, um das Umgebungsgeräusch zu übertönen.
Paagal nickte. »Ich verstehe.«
»Ich habe ihn erschossen. Er liegt neben Saya…«
Paagal sprach langsam, eine Silbe nach der anderen betonend. »Sa-ha-a-yak.«
»Sahaayak«, wiederholte Battle. »Sie sind vielleicht eine Viertelmeile vom Bunker entfernt.«
»Nun …« Paagal seufzte, »dann spreche ich jetzt mal eine Vermutung aus: Ich gehe davon aus, dass Ihr Leben in Gefahr war und Sie keine andere Wahl hatten, als sich zu verteidigen, denn andernfalls wäre Pierce zu töten eine rücksichtslose und grausame Tat gewesen, die einem Mann, den ich bis jetzt sehr respektiert habe, nicht gut zu Gesicht stehen würde. Sie waren schließlich beim Militär. Sie kennen daher den Wert eines Gefangenen, der Informationen hat, die er freiwillig weitergeben kann … oder auch unfreiwillig. Vor allem angesichts der zusätzlichen Patrouillen des Kartells, die sich in letzter Zeit immer wieder dem Rand des Canyons nähern.«
Battle zog nun einen Stuhl hervor und setzte sich Paagal gegenüber an den Tisch. Er beugte sich vor, seine Unterarme ruhten auf dem rauen Holz. »Mein Leben war nicht in Gefahr. Ich wünschte, ich könnte sagen, es wäre Selbstverteidigung gewesen. Ich glaube, ich habe diesen Mechanismus, meine Impulse zu kontrollieren, einfach schon vor langer Zeit verloren.«
Paagal lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und verschränkte die langen schlanken Arme vor der Brust. Ihr Bizeps bewegte sich, als sie ihre Position änderte. »Ich sollte nicht auf die gleiche Weise über Sie urteilen, wie Sie über Pierce geurteilt haben«, sagte sie mit nur einem Hauch Ironie. »Wir alle lernen zu funktionieren und auf unterschiedliche Art und Weise damit umzugehen. Ihre ist es anscheinend, schon der kleinsten Bedrohung mit einem Angriff zu begegnen. Ich sehe hier einen Mann, der mit seiner eigenen Dunkelheit kämpft. Sie sehen das Licht, sie wollen im Licht leben, aber die Dunkelheit ist angenehmer für Sie, also schlüpfen Sie bei jeder Gelegenheit in ihre Umarmung.«
Battle lachte. »Sie waren in Ihrem früheren Leben bestimmt eine Seelenklempnerin, oder?«
Paagal nickte. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. »Man könnte sagen, dass ich das immer noch bin«, sagte sie. »Eine Anführerin zu sein erfordert nun mal den effektiven Einsatz von Psychologie.«
Battle runzelte die Stirn. »Und jetzt?«
»Ich denke, diese Frage sollte ich Ihnen stellen«, sagte Paagal. »Sie sind vor einer Woche hier angekommen, Sie haben sich von Ihren Verletzungen erholt und Ihre Frau Lola ist …«
»Sie ist nicht meine Frau«, sagte Battle nachdrücklich.
Paagal zog zweifelnd die Augenbrauen in die Höhe. Sie hob in einer abwehrenden Geste die Hände. »Was auch immer Sie meinen, Ihre Freundin Lola läuft wieder, ohne zu hinken, und auch ihr Sohn scheint wieder gesund zu sein.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Wir haben noch nicht über Ihre Pläne gesprochen«, antwortete sie. »Sie sind so lange unser Gast, wie Sie wollen«, sagte sie jetzt mit leiser werdender Stimme.
»Aber …?«
»Aber«, fuhr sie fort, »uns steht ein Krieg bevor und Sie sind nun mal Soldat.«
»Ich war Soldat.«
»Bloße Semantik, Mr. Battle«, antwortete sie. »Werden Sie uns helfen? Immerhin klopft unser gemeinsamer Feind an unsere Tür.«
Battle kniff die Augen zusammen und rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel. »Ich will ehrlich zu Ihnen sein«, sagte er. »Ich muss auf die andere Seite des Walls.«
»Der Wall.«
»Der Wall«, wiederholte er. »Lola und Sawyer brauchen einen Neuanfang, so neu wie man ihn in dieser Einöde eben bekommen kann.«
»Und Sie?«
Battle zuckte mit den Schultern. »Ich habe keine Ahnung, was aus mir wird, aber ich muss sie dorthin bringen.«
»Für mich klingt das so, als suchten Sie nach einer Allianz auf Gegenseitigkeit«, sagte Paagal. »Sie helfen uns, wir helfen Ihnen. Ich weiß, dass Baadal mit Ihnen über den Wall und das, was dahinter liegt, gesprochen hat.«
»Er hat mir nicht gesagt, was auf der anderen Seite ist«, erwiderte Battle. »Ich weiß nur, dass das Kartell weder nördlich, östlich noch westlich dieses Walls existiert.«
Juliana Paagal starrte Battle einige Minuten lang an, ohne etwas zu sagen. Battle hatte das Gefühl, als würde sie eine Art psychisches Inventar erstellen und sich ohne Erlaubnis geistige Notizen machen. Er saß da, starrte zurück und versuchte nicht die kleinste Kleinigkeit preiszugeben.
»Hören Sie zu, Marcus Battle«, sagte sie schließlich. »Sie helfen uns, das Kartell zu besiegen oder sie wenigstens so zu schwächen, dass sie es nicht wagen, uns erneut anzugreifen, dann werden wir Ihnen helfen, Ihren Weg zum Wall und darüber hinaus zu finden.«
Battle schüttelte den Kopf. »Sie können sie nicht besiegen«, sagte er. »Sie sind nicht nur hier aktiv, sie sind überall. In Abilene, Houston, Dallas, San Antonio, Austin und Galveston. Das wissen Sie besser als ich.«
»Dieser Mann, Pierce, der, den Sie hierher gebracht haben, ist nicht der einzige Spion«, erklärte sie. »Auch wir sind in der Lage, den Feind zu infiltrieren.«
»Tatsächlich?« Es war weniger eine Frage als vielmehr ein ironischer Ausdruck seines Zweifels.
»Seit dem Waffenstillstand haben wir Widerstandszellen gebildet«, erklärte sie. »Sie haben inmitten des Kartells gelebt und gearbeitet – in allen von den von Ihnen aufgezählten Städten. Sie haben sorgfältig weitere Verbündete rekrutiert, und sie alle sind bereit, aktiv zu werden, wenn wir ihnen ein Zeichen geben. Wir können das Kartell vernichten! Sie sind genau zur richtigen Zeit gekommen.«
»Oder zur falschen Zeit.« Er seufzte. »Sie sprechen da von einem Krieg.«
Paagal presste die Lippen aufeinander, kratzte sich am linken Bizeps und nickte. »Ich nenne es allerdings lieber einen Aufstand oder eine Revolution.«
»Bloße Semantik«, sagte er.
»Touché.«
»Also sind Sie überzeugt davon, dass Sie das Kartell vernichten können?«
»Wir glauben fest daran«, sagte sie. »Die Zeit dafür ist reif.«
»Nun ja, wenn das Kartell vernichtet ist«, meinte Battle und beugte sich vor, »werde ich Ihre Hilfe nicht mehr brauchen.«
»Doch, das werden Sie«, antwortete sie. »Denn das Kartell ist die größte und niederträchtigste aller organisierten Gruppen, die nach dem Ausbruch der Krankheit aufgetaucht ist. Aber sie ist nicht die einzige. Es gibt Dutzende Banden von Dieben und Mördern, die entlang des Walls leben, sich wie Parasiten von einer Seite zur anderen fressen und sich von denen ernähren, die passieren wollen. Sie werden also unsere Hilfe brauchen.«
Battle lehnte sich zurück und nickte. Er wusste, dass er keine andere Wahl hatte. »Dafür, dass Sie immer betonen, Pazifistin zu sein, sind Sie aber ganz schön begierig darauf, in den Kampf zu ziehen«, stellte Battle fest. »Das macht irgendwie einen scheinheiligen Eindruck auf mich.«
»Ist das so?«, fragte Paagal mit unverändertem Gesichtsausdruck.
»Gewalt ist mein Instrument, weil ich Gewalt mag«, erklärte er. »Auch wenn es mir nicht gefällt, das zuzugeben. Doch dieses Kreuz muss ich nun mal tragen.« Battle wurde bewusst, dass er, schon seit Tagen nicht mehr gebetet hatte. Er war dabei, seine Religion in der Wildnis der ungezähmten Landschaft, die ihn umgab, zu verlieren. Es war nicht so, dass er vergessen hatte, wie es war, zu beten, er hatte nur kein Bedürfnis mehr danach.
»Interessante Selbsterkenntnis«, antwortete Paagal. »Ich würde entgegnen, dass ich Gewalt nur anzuwenden bereit bin, wenn Gewaltlosigkeit bedeutet, die Lösung eines Problems weiter aufzuschieben.«
»Sie zitieren gerade Malcolm X, oder?«, fragte Battle.
Ein Grinsen huschte über Paagals Gesicht, wobei ihre wundersam weißen Zähne im rötlichen Licht des Zeltinneren förmlich leuchteten. »Sei friedlich, sei höflich, befolge das Gesetz, respektiere alle; aber wenn jemand Hand an dich legt, dann schicke ihn auf den Friedhof«, sagte sie. »Und zwar mit allen Mitteln.«