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Kapitel 8

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25. Oktober 2037, 15:43 Uhr

Jahr fünf nach dem Ausbruch

Palo Duro Canyon, Texas

Felipe Baadal stand vor dem Eingang zu Juliana Paagals Zelt. Er schaute nach oben in die Sonne und bemerkte, dass sie ungefähr um fünfzehn Grad gesunken war, seit er hier wartete. Inzwischen musste also locker eine Stunde vergangen sein. Als er gegangen war, hatte sie über ein Satellitentelefon mit jemandem in Houston gesprochen. Sie hatte ihn dabei höflich gebeten, ihr etwas Privatsphäre zu geben. Es war ein Gespräch auf höchster Ebene, hatte sie gesagt.

In der kühlen, trockenen Oktoberluft war das Warten allerdings gut auszuhalten. Jedenfalls fühlte es sich deutlich besser an als eine Patrouille in der Wüste Mitte Juli. Baadal stemmte die Hände in die Hüften, drehte sich hin und her und streckte dann seinen Rücken. Er fasste mit einer Hand an seinen gegenüberliegenden Ellenbogen und zog daran. Er schnurrte fast vor Behagen und Erleichterung.

»Eine Zerrung?« Paagal trat aus dem Zelt ins Sonnenlicht, während sie mit der Hand den roten Stoff des Zelteingangs hielt.

Baadal hielt mitten in der Bewegung inne und drehte sich mit einem Lächeln um. Ein Wärmestrom durchflutete seinen Körper und seine Wangen röteten sich. »Es ist die Matratze.«

»Ah«, sagte Paagal. »Die Matratze.«

Baadals Augen weiteten sich, als er sich daran erinnerte, wie seine Finger über ihre Arme gestrichen hatten. Seine olivfarbene Haut hatte ihren glatten braunen Teint wundervoll ergänzt. Sein Puls beschleunigte sich, als sich in seinem Kopf die Szenen abspielten, die geschehen waren, bevor er auf der klumpigen Matratze eingeschlafen war. Bevor er das Zelt hatte verlassen müssen, weil Battle mitten in der Nacht mit dringenden Neuigkeiten aufgetaucht war.

»Weißt du«, sagte sie und trat näher, »du bist der erste Mann seit langer Zeit, der …« Sie lächelte. Ihre Augenbrauen kräuselten sich zu einem Bogen und beendeten so den Satz an ihrer Stelle.

Baadal wollte sie am liebsten sofort zurück ins Zelt schieben, aber er wusste, dass das warten musste. Es gab schließlich etwas zu erledigen.

»Und du bist die erste Frau in ich weiß nicht wie langer Zeit.«

Sie berührte seine Brust mit ihrer flachen Hand. Ihre Augen verrieten ihm, dass sie genauso begierig darauf war wie er, sich im anderen zu verlieren.

Das Lächeln verschwand aus Baadals Gesicht. »Ich muss dich daran erinnern«, sagte er ernst, »dass ich kein guter Mann bin.«

Juliana Paagal nahm ihre Hand von seiner Brust und berührte Baadals glatte Wange. »Und ich bin keine gute Frau«, gab sie zurück. »Aber wir sind beide Überlebende. Das ist der Punkt, von dem aus wir neu anfangen können. Ich wünschte, ich hätte dich schon früher besser kennengelernt.«

Ihre Augen wandten sich von seinen ab und sie blickte über seine Schulter. Baadal drehte sich um und sah, was ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte.

»Ich muss leider schon wieder stören«, sagte Marcus Battle mit Lola und Sawyer im Schlepptau. »Es tut mir leid. Ich will kein Spielverderber sein.«

Paagal ließ die Hand sinken und schüttelte den Kopf. »Ist schon okay.«

»Ist es offenbar nicht«, sagte Battle. »Sie haben nämlich Ihren Kopf geschüttelt, als Sie gesagt haben, es sei okay. Unterbewusst wäre es Ihnen also lieber, wenn ich Sie nicht gestört hätte.«

Paagal verzog den Mund zu einem Schmunzeln. »Sie verabreichen mir gerade sozusagen eine Dosis meiner eigenen Medizin?«

Battle zuckte mit den Schultern. »Vielleicht. Doch ich glaube, Sie werden hören wollen, was wir zu sagen haben.«

Lola stellte sich neben Battle. Sie nahm Sawyers Hand und hielt sie fest. Ihre Finger und die ihres Sohnes griffen ineinander. Paagal verschränkte die Arme vor der Brust.

»Was ist los?«, fragte Baadal, als niemand etwas sagte. Er spürte, dass Battle, Lola und Sawyer ihnen etwas Wichtiges und Dringendes mitzuteilen hatten. Er konnte es an ihren Gesichtern ablesen.

Battle, so hatte er festgestellt, trug einen wirklich treffenden Namen. Das lag nicht nur an seinen Überlebensfähigkeiten oder seinem Kampfeswillen, es lag auch daran, dass der Mann immer so aussah, als hätte er Schmerzen und als würden große Konflikte in ihm brodeln. Marcus Battle wirkte auf ihn wie ein Vulkan, der bis zum Bersten unter Spannung stand und stets bereit war, unter den richtigen – oder falschen – Bedingungen auszubrechen.

Was Lola anbetraf … obwohl Baadal sie erst kurze Zeit kannte, war er zu dem Schluss gekommen, dass ihre Emotionen wie ein offenes Buch waren … und zwar ein Buch mit großer, fett gedruckter Schrift. Was sie empfand, breitete sich unmittelbar auf ihrem Gesicht aus und spiegelte sich in ihren Bewegungen ebenso wie im Tonfall ihrer Stimme wider.

Lola drückte die Hand ihres Sohnes und räusperte sich. »Battle hat uns erzählt, dass Sie gegen das Kartell in den Krieg ziehen. Sie planen das schon lange, hat er gesagt.«

Paagal nickte. Ihre Augen wanderten zwischen Lola und Battle hin und her. »Ja, das ist richtig.«

»Er sagte, Sie würden uns helfen, den Wall zu überwinden, wenn wir jetzt erst einmal hierbleiben und mit ihnen kämpfen«, sagte Lola.

»Ja, auch das ist richtig.«

»Sind Sie wirklich in der Lage, uns auf die andere Seite zu bringen?«

»So ist es.«

Lola machte zusammen mit Sawyer, einen Schritt auf Paagal zu, und hielt der Anführerin der Dweller ihre freie Hand hin. Paagal nahm das Angebot an und schüttelte fest Lolas Hand.

»Wir werden kämpfen«, sagte Lola entschlossen. »Was auch immer wir tun müssen, um sie zu besiegen, wir werden es tun.«

Paagal ließ Lolas Hand wieder los und nickte. »Gut«, sagte sie. »Wir werden heute Abend zusammenkommen, um zu besprechen, wie wir vorgehen werden. Der Plan selbst ist bereits in vollem Gange.«

Battles Augen bekamen einen harten Glanz und er straffte die Schultern. »Was meinen Sie mit: in vollem Gange

Baadal hatte schon vermutet, dass es bei dem Gespräch, wegen dem er das Zelt hatte verlassen müssen, um den Plan ging, den Paagal initiiert hatte. Er beobachtete, wie sie ihre Lippen aufeinanderpresste. Vermutlich wog sie gerade die Vor- und Nachteile ab, zu viele Informationen an vergleichsweise Außenstehende weiterzugeben.

»Kommen Sie schon«, drängte sie Battle. »Wir werden für Sie kämpfen und unser Leben für Ihre Sache aufs Spiel setzen, da können Sie uns ruhig sagen, was gerade geschieht.«

Paagal verschränkte die Arme und lächelte herablassend. »Wir sollten unsere für beide Seiten vorteilhafte Vereinbarung nicht mit Selbstlosigkeit verwechseln.«

»Was soll das heißen?«, fragte Lola.

Paagal öffnete den Mund, um zu antworten, hielt dann aber inne. Sie holte tief Luft und blies sie durch ihre zusammengepressten Lippen wieder aus. »Es bedeutet«, sagte sie, »dass wir hier eine Vereinbarung auf Gegenseitigkeit haben. Ihr helft uns, wir helfen euch. Das meinte ich auch, als wir heute Morgen miteinander gesprochen haben. Ihr helft uns schließlich nicht aus purer Herzensgüte, Lola, und wir bringen euch nicht zum Wall, weil wir einen kostenlosen Taxiservice anbieten.«

Battle sah zuerst Lola und dann wieder Paagal an. Er zeigte mit dem Finger auf sie und sprach in gemessenem, aber kraftvollen Ton. »Niemand außer Ihnen hat etwas von Selbstlosigkeit oder Geschenken gesagt. Ich meinte damit nur, dass Sie uns genug vertrauen müssen, um uns die Informationen zu geben, die wir für den Kampf brauchen. Egal, was die Motivation für unsere Unterstützung sein mag, soviel schulden Sie uns auf jeden Fall.«

»Ich schulde Ihnen gar nichts«, entgegnete Paagal knapp. »Sie sind als Gäste hierhergekommen. Sie können uns verlassen, wann immer Sie wollen.« Sie hob nun ihrerseits den Finger und zeigte auf Battle, Lola und Sawyer.

Paagal trat näher an Battle heran, die Arme an ihre Seiten gepresst. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt. Jeder Anflug eines Lächelns war jetzt aus ihrem wütenden Blick verschwunden. »Das ganze Geheimnis besteht darin, den Feind zu verwirren, damit er unsere wirklichen Absichten nicht ergründen kann«, zischte sie. »Derjenige, der zuerst auf dem Schlachtfeld erscheint und den Feind erwartet, wird in aller Frische den Kampf führen.«

»Sie können Sun Tzu zitieren«, sagte Battle trocken, und sein Blick hielt dem ihrem stand. »Doch das macht Sie noch lange nicht zu einem General.«

»Soldat sein auch nicht«, polterte sie zurück und ihre muskulösen Arme spannten sich mit der Intensität ihrer Worte an. »Ein Mann am Rande des Wahnsinns ist mit Sicherheit kein guter militärischer Führer. Sie sprechen von Vertrauen? Vertrauen Sie mir denn, wenn ich Ihnen sage, dass wir bereits dabei sind, den Krieg zu gewinnen? Entweder kommen Sie heute Abend zu unserer Zusammenkunft dazu und hören still zu, welche Schritte als Nächstes geplant sind, oder Sie lassen es bleiben.«

Paagal machte auf dem Absatz kehrt und wandte sich wieder ihrem Zelt zu. Sie schob die Zeltplane zur Seite, bückte sich unter den niedrigen Eingang und verschwand. Baadal sah Battle entschuldigend an und folgte seiner Geliebten ins Zelt.

»Was zur Hölle war das denn?«, fragte Lola.

»Sie hat mich gerade wissen lassen, wer hier das Sagen hat«, erklärte er, »und wir sind es nicht.«

***

Battle bedeutete Lola und Sawyer, ihm zurück zu ihren Zelten zu folgen. Sie befanden sich ungefähr hundert Fuß von Paagals Kommandozentrale entfernt inmitten eines Dutzends langer Reihen ähnlicher Vier-Personen-Zelte. Lola hatte angeboten, ihr Zelt mit Battle zu teilen, schließlich wären sie mit ihm nur zu dritt. Ein Zelt für vier Personen müsste für sie drei doch locker ausreichen, hatte sie argumentiert. Doch Battle hatte mit der Ausrede abgelehnt, dass üblicherweise nur die Hälfte der vom Hersteller angegebenen Personen bequem Platz in so einem Zelt fanden. Er hatte gemeint, sie solle sich glücklich schätzen, ein wenig mehr Luft für sich und ihren Sohn zu haben.

Als sie ihre Zeltreihe erreichten – ihre Zelte lagen direkt nebeneinander – schlug Battle vor, die Chance auf Ruhe zu nutzen, denn wenn die Kämpfe erst einmal begonnen hatten, konnte es Tage dauern, bis sie wieder Schlaf bekamen.

Sawyer schob die Eingangsluke auf und verschwand. Lola und Battle blieben allein in der Gasse zwischen den Zelten zurück. Es war still, nur das leise Flattern gespannten Nylonstoffs im Wind und das Rascheln durstiger, sterbender Blätter der Seifenbäume auf dem nahe gelegenen Felsvorsprung war zu hören.

»Ich glaube, du hast vorhin bei ihr eine Grenze überschritten«, sagte Lola sanft.

Battle legte den Kopf schief. »Wie denn das?«

»Die Sache mit dem Vertrauen«, sagte sie. »Jeder hat ein Recht darauf skeptisch zu sein, ohne dafür verurteilt zu werden, Marcus.«

Battle lachte. »Einige vielleicht«, sagte er, »aber bestimmt nicht alle.«

Lola schaute zu Boden. »Masochismus ist nicht gerade anziehend«, erwiderte sie und trat einen Schritt näher an Battle heran. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, zog ihn an den Schultern nach vorne und küsste ihn auf die Wange. Dabei errötete sie.

»Ich mache jetzt ein Nickerchen, so wie du vorgeschlagen hast«, sagte sie und begab sich in ihr Zelt, ohne darauf zu warten, dass ihr sprachloses Gegenüber reagierte.

Battle stand einen Moment lang vollkommen regungslos da. Es war so schnell passiert und er hatte sich der Situation einfach hingegeben, ohne sich ihr zu entziehen. Was bedeutete das?

»Es bedeutet, dass du auch nur ein Mensch bist.« Sylvias Stimme war zurück. »Es bedeutet, dass du nicht ganz verloren hast, wer du bist.«

Hastig öffnete Battle sein Zelt und kroch hinein. Obwohl ihn der beruhigende, sanfte Blauton des Innenraums umgab, legte sich seine Aufregung kein bisschen. Er zog seine Stiefel aus und warf sie achtlos in die Ecke. Sie wirbelten Staub auf, als sie erst auf den Boden und dann auf die straffe blaue Nylonwand trafen.

»Du hörst mir nicht zu«, meldete sich Sylvia erneut zu Wort. »Sie sagt dir, was sie empfindet, sie möchte offenbar eine emotionale Verbindung mit dir, Marcus. Daran ist nichts auszusetzen.«

Marcus versuchte Sylvia zu ignorieren und konzentrierte sich stattdessen auf das, was Paagal zu ihm gesagt hatte, bevor sie wütend verschwunden war. Sie hatte Sun Tzu mit Bedacht zitiert. Sie musste diese Passage aus einem ganz bestimmten Grund gewählt haben. Das war kein Zufall gewesen.

Sie hatte gewollt, dass er im Groben wusste, was ihr Plan war, ohne dass es so aussah, als würde sie seinen Forderungen nachgegeben. Sie wollte nach außen hin stark und entschlossen wirken. Das war eine kluge Herangehensweise, musste Battle sich eingestehen. Baadal und die anderen konnten nur eine starke Führung respektieren, die sich stets weigerte nachzugeben.

Hätte sie ihm ihre Pläne direkt nach seiner Beschwerde geschildert, hätte es für die anderen so ausgesehen, als hätte sie wider besseres Wissen nachgegeben. In Nullkommanichts hätte es sich daraufhin im Lager verbreitet, dass Battle Paagal dazu gebracht hatte, sensible Informationen preiszugeben.

Sie hätte dadurch schwach und machtlos gewirkt, er dagegen stark und mächtig. Die Dweller hätten sich daraufhin gegen sie wenden können, um stattdessen ihm zu folgen, sich ihm zu unterwerfen und für ihn zu sterben.

Battle saß auf der schwammigen Matratze, die den größten Teil seines Zeltes füllte, und zog die Knie an die Brust. Er saß im Schneidersitz, schlang die Arme um seine Beine und hielt sie mit verschränkten Händen fest. Er wiegte sich langsam vor und zurück und dachte an die Unterhaltung in Paagals Zelt an diesem Morgen.

Er erinnerte sich wieder an das hypnotische Geräusch des Regens auf dem Zeltstoff, an das atmosphärisch rote Leuchten, das den Raum erfüllt hatte und auch an Paagals ruhige Bestimmtheit. Sie hatte ihm schon zu diesem Zeitpunkt zu verstehen gegeben, dass der Krieg zu ihren Bedingungen beginnen würde.

»Die ganze Zeit seit dem Waffenstillstand«, hatte sie gesagt, »haben wir Undercover-Zellen aufgebaut. Sie haben unter dem Kartell in den von Ihnen genannten Städten gelebt und gearbeitet. Jede dieser Zellen hat wiederum sehr sorgfältig Verbündete rekrutiert, und alle sind bereit, loszulegen, sobald wir ihnen ein Zeichen geben. Wir können das Kartell besiegen. Sie sind genau zur richtigen Zeit hierhergekommen.«

Sie hatte ihnen das Zeichen gegeben. Die Viruszellen, die sie in das Kartell implantiert hatte, waren zum Leben erwacht. Sie breiteten sich aus. Sie taten, was das Kartell am wenigsten erwartete, und griffen sie ohne Vorwarnung auf ihrem eigenen Territorium an.

Paagal war schlau. Battle hörte auf, sich vor und zurück zu wiegen, lockerte den Griff um seine Beine und fiel zurück auf die Matratze, die nach Schimmel und Schweiß roch und nur mäßig angenehmer war als der schmutzige Felsboden. Aber sie würde ihren Zweck erfüllen, und er hatte schon an schlimmeren Orten geschlafen.

Er drehte sich auf die Seite und schloss die Augen. Battle versuchte sich das Chaos in den großen Städten des Kartells auszumalen. Er lächelte bei der Vorstellung und dachte weiter darüber nach.

Irgendwann fiel er in einen leichten Schlaf und wog ab, wie wahrscheinlich es war, dass sie tatsächlich gewannen. Sie hatten eine gute Chance auf den Sieg, zumindest aber darauf, das Kartell so weit zu schwächen, dass sie es auf die andere Seite des Walls schaffen konnten.

***

Felipe Baadal saß Paagal nun in ihrem Zelt gegenüber. Sie biss die Zähne aufeinander und klopfte mit den Fingerknöcheln ungeduldig auf den Schreibtisch. In der halben Stunde, seit Battle sie beinahe zum Explodieren gebracht hatte, hatte sie kein Wort zu ihm gesagt. Aber Baadal war insgeheim genauso begierig darauf, ihre Pläne zu erfahren wie Battle.

»Was liegt überhaupt jenseits des Walls?«, fragte er. Er versuchte sich über einen Umweg dem eigentlichen Punkt zu nähern. Das Klopfen von Paagals Knöcheln auf dem Tisch verstummte. »Warum willst du das wissen?«

»Ich bin halt neugierig«, gab er zu. »Ich habe niemals darüber nachgedacht, doch jetzt will Battle auf einmal auf die andere Seite. Ich frage mich, was er dort vorfinden wird.«

Paagal stützte sich auf ihre Ellenbogen auf und seufzte. »Was er dort vorfinden wird, kann ich dir nicht sagen«, erklärte sie. »Es kommt nämlich darauf an, wo genau er den Wall überquert, und es hängt auch von der Tageszeit ab. So viele verschiedene Faktoren spielen dabei eine Rolle.«

»Du warst schon drüben?«, fragte Baadal. Wie es aussah, hatte er das Gespräch ins Laufen gebracht. »Du warst also auf der anderen Seite?«

»Zweimal«, sagte sie. »Und das war mehr als genug.«

Baadal runzelte die Stirn. »Was willst du damit sagen?«

»Du hast den Wall also noch nie überquert?«, fragte Paagal zurück. »Ich hätte gedacht, dass du als Scout auch nördlich davon unterwegs gewesen bist.«

Baadal senkte den Blick und schüttelte den Kopf.

»Battle wird nicht das dort finden, was er sich vorstellt«, erwiderte sie, und ihr Blick ging über Baadals Schulter hinweg in die Ferne. »Es ist …«

»Es ist wie

Paagal wirkte plötzlich abwesend. Vielleicht war sie in Gedanken gerade jenseits des Walls und betrachtete dort Dinge, die sie so schnell nicht wiedersehen würde. Vielleicht dachte sie aber auch an den bevorstehenden Krieg. Baadal fuchtelte mit der Hand vor ihrem Gesicht herum. Sie blinzelte träge und zwang sich in die Gegenwart zurück; in die Enge ihres Kommandozeltes.

»Entschuldige bitte«, sagte sie. »Es ist nicht leicht, darüber zu sprechen.« In ihrer Stimme lag ein leichtes Zittern und ihre Augen waren plötzlich starr und glänzten feucht.

»Ich bin derjenige, der sich entschuldigen sollte«, meinte Baadal. »Ich wusste nicht, dass dich die Frage so berührt.«

»Das konntest du auch nicht wissen«, sagte sie und wischte sich mit den Fingern die Augenwinkel. »Niemand kann es verstehen, es sei denn, er war selbst dort.«

Baadal zuckte mit den Schultern. »Warum will überhaupt jemand auf die andere Seite?«

»Die Menschen wollen immer das, was sie glauben, zu brauchen«, sagte sie. »Und nur selten sind sie mit dem zufrieden, was sie haben. Es liegt einfach in der menschlichen Natur. Es ist die Idee, dass da draußen etwas ist, das sie glücklich, ihr Leben besser machen und die Lücken in ihrem Wesen füllen kann.«

Baadal lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Nennt man das nicht Hoffnung?«

»Wie meinst du das?«

»Ich meine …« Baadal suchte nach den richtigen Worten. »Ich habe kein sehr anständiges Leben geführt. Ich habe gesündigt. Ich war Täter, aber ich war auch Opfer. Doch im Hinterkopf hatte ich immer diese Vorstellung, dass ich ein besserer Mensch sein könnte. Ich dachte, ich könnte mich verändern. Ich wollte glauben, dass mein Leben …« Er suchte nach den richtigen Worten.

»Glücklicher sein könnte?«, schlug Paagal vor.

Baadal nickte. »Ja«, antwortete er. »Das ist das richtige Wort. Glück. Ein glücklicheres Leben. Es ist nicht so, dass ich undankbar bin, ich habe immerhin die Seuche überlebt, in den meisten Nächten ein Dach über dem Kopf und an den meisten Tagen genug zu essen, trotzdem hoffe ich immer noch auf … mehr.«

Paagal saß schweigend da. Sie rückte ihre Ellenbogen auf dem Tisch ein Stückchen zur Seite, erwiderte aber nichts.

»Vielleicht ist das ja alles, was Battle will«, fuhr er fort. »Vielleicht hofft er einfach nur auf ein besseres Leben.«

»Auf der anderen Seite des Walls wird er das aber nicht finden«, sagte sie nachdrücklich.

Baadal beugte sich vor und legte seine Hände flach auf den Tisch. »Warum sagst du ihm das dann nicht?«

»Weil er es selbst herausfinden muss«, erklärte sie.

»Das ist aber nicht sehr …«

»Nett?«

Baadal zuckte mit den Schultern.

»Wie ich dir schon gesagt habe, Felipe«, antwortete sie. »Ich bin kein guter Mensch. Eine Anführerin muss nicht gut sein, sie muss stark sein. Sie muss das tun, was für ihr Überleben notwendig ist.«

Baadal nickte. Er verstand, wie stark die Versuchung war, Selbsterhaltung vor Moral zu setzen. Er entschied sich dagegen, nach den Details der bereits laufenden Planungen zu fragen. Er würde es zusammen mit den anderen erfahren. Vielleicht war es sogar besser, nicht zu viel zu wissen.

DER WALL

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