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Als er sich am Morgen des nächsten Tages den Vorgarten des Hauses, in dem seine Kanzlei heimisch war, genauer betrachtete, hatte Punzel den Eindruck, dass sich in ihm etwas verändert hatte. Darin stellte der Steinmetz aus dem Erdgeschoss einige Musterexemplare seines Schaffens aus, sämtlich Grabsteine. Sehr schnell merkte Punzel, dass er recht hatte mit seinem Gefühl: Es war ein neuer hinzugekommen, jedenfalls bemerkte er ihn zum ersten Mal. Und wieder einmal hatte der Meister nicht widerstehen können, darauf ein Beispiel für seinen Sarkasmus einzumeißeln.

Dieses Mal lautete die inscriptio: „Hier ruht N.N. der Erzphilister * nichts war er * nicht mal Magister“. Das hatte er sich bestimmt nicht aus den Fingern gesogen, es war wohl eher eine verbürgte historische Inschrift.

„Ganz schön harter Tobak“, dachte Punzel. „Hatte Ehrlichkeit nicht doch auch Grenzen? Vielleicht sogar im Diesseits?“ Gina wäre die rechte Partnerin, über solche Dinge mal wieder nachzudenken.

Grundgütiger! An Gina hatte er ja gar nicht mehr gedacht. Seit sie sich auf dem Flughafen getrennt hatten, hatten sie gar nicht mehr miteinander geredet. Er würde sie am Abend anrufen. Obwohl: Die untreue Nuss hatte sich ja auch nicht gemeldet. Was war da los?

Erst einmal wandte sich Punzel aber an eine andere Frau.

„Guten Morgen“, begrüßte er seine Assistentin, die auch die Mitarbeiterin seiner Kompagnons war, und grinste ihr freundlich zu. Sie schenkte ihm wie fast immer ihr Lächeln von unübertrefflicher Herzlichkeit.

„Guten Morgen, Chef, schön Sie so früh zu sehen. Gibt es einen besonderen Grund für Ihr zeitiges Erscheinen?“

„Und ob, Romy. Kommen Sie bitte gleich mal in mein Büro! Und wenn Sie vorher noch Herrn Seiler für heute Nachmittag zu uns bitten würden? Vielen Dank!“ „Herr Seiler kommt um drei“, sagte Romy, als sie wenige Minuten später in Punzels Zimmer trat. „Was kann ich sonst noch für Sie tun?“

„Es gibt wieder eine größere Sache, Romy, und ich wäre Ihnen außerordentlich dankbar, wenn Sie mir da helfen könnten.“

„Aber Herr Punzel, das haben wir doch beschlossen. Sehr gern!“

Ihr Chef nickte zufrieden. Er setzte Romy kurz ins Bild, was seinen Mandanten und seine Ansprüche an das Anwesen anging, und dass seine Schwester ihn seit gestern Morgen vermisste.

„Von der Borgen soll um halb elf Uhr mit dem Vorstand der Stiftung verabredet gewesen sein. Seit seiner Abfahrt dorthin hat sie nichts mehr von ihm gehört. Sie und ich waren am Nachmittag dort, haben auf dem Grundstück aber nichts gefunden. Die Herrschaften sind nicht zu erreichen, wir sind somit erst einmal ahnungs- und ratlos.“

„Das ist ja gespenstisch. Wie kann ich mich nützlich machen?“

„Es ist noch nicht ganz ausgegoren, aber wie es der Zufall will sucht der Vorstand gerade eine Office-Managerin. Wenn wir nicht weiterkommen, könnte ich Sie dann bitten, sich bei den Herrschaften zu bewerben? Sie würden mit Kusshand genommen, da habe ich keinen Zweifel. Vielleicht könnten Sie sich ein wenig umsehen und – sollten Sie den Job bekommen – drei, vier Tage, nicht länger, dort arbeiten.“

„Das würde ich gerne tun. Ich kann ja schon mal alles vorbereiten. Vielleicht gefällt es mir ja dort und ich komme gar nicht mehr zurück.“

„Das“, lachte Punzel, „werden Sie ganz sicher nicht tun, da habe ich keine Sorge. Mit dieser ganz speziellen Art von Leuten werden Sie so wenig zu tun haben wollen wie ich. Und ich hoffe, ihr Engagement dort wird auch gar nicht nötig sein.“

In diesem Augenblick ging das Telefon. Romy nahm ab, meldete sich und hielt ihrem Chef dann den Hörer hin.

„Frau von der Borgen.“

Punzel hatte es eilig, ans Telefon zu kommen, möglicherweise hatte sie etwas in Erfahrung bringen können.

„Ich grüße Sie, Frau von der Borgen. Gibt es Neuigkeiten? Aha, so. Das wird ja immer rätselhafter. Hören Sie, ich werde heute Nachmittag noch mal auf dem Gutshof vorbeischauen, hoffe, mit dem einen oder anderen sprechen zu können und höre mich mal in der Nachbarschaft um. Ja, ich melde mich dann. Auf Wiederhören!“

Romy teilte er mit, dass die Schwester seines Mandanten zwar den Dr. Klein, einen der Vorstände, gesprochen habe, der aber nichts von einem Termin mit Ulrich von der Borgen wisse.

„Wenn ich nach meinem Besuch auf dem Anwesen heute nicht etwas mehr in Erfahrung gebracht habe, bin ich wohl wirklich auf Ihre Hilfe angewiesen.“

Romy lächelte wie immer gewinnend und verließ ihn dann. Sie hatte ihm vorhin die Post auf den Tisch gelegt, jetzt sah er nach, ob etwas Wichtiges dabei war. Tatsächlich enthielten zwei Umschläge je einen USB-Stick mit Videoaufnahmen des Verlobungsabends von Uwe Seiler. Der hatte die Filmer wohl gebeten, ihre Werke gleich an seinen Anwalt zu schicken.

Dringenderes gab es nicht, so setzte er sich gleich daran, die Aufnahmen auszuwerten. Die des ersten Videos waren von erschreckender technischer und ästhetischer Qualität, mit denen, auch wenn sie die inkriminierten Szenen eingefangen hätten, gar nichts zu belegen gewesen wäre. Die des zweiten allerdings lieferten handfeste Beweise.

Zwar nur vier bis fünf Sekunden lang, aber deutlich genug erkennbar, zeigte es, wie Seilers Schwiegervater stolpert, ins Torkeln kommt, sein Schwiegersohn ihn auffangen will, dabei aber ausrutscht und seinen Schwiegervater zu Boden zieht. Punzel wollte gar nicht ausschließen, dass der Kläger aufgrund der Aneinanderreihung der Unglücksfälle tatsächlich überzeugt war, ein bewusstes Verhalten seines Schwiegersohns sei für seine Verletzungen ursächlich gewesen. Mit diesen Bildern konnte das jedoch definitiv ausgeschlossen werden.

Beides, eine gute und eine schlechte Nachricht, würde Punzel seinem Mandanten zu überbringen haben. Welche Schlüsse der daraus ziehen würde? Eigentlich, fand der Anwalt, kam doch für jeden aufrichtigen und einsichtigen Menschen nur eine Konsequenz infrage.

Seiler wollte zuerst die gute Nachricht hören. Die aber vermittelte Punzel ihm nicht akustisch, sondern der Einfachheit und Klarheit halber audio-visuell, indem er ihm schlicht die entscheidende Stelle im Video vorspielte.

Seinem Mandanten fiel ein Stein vom Herzen ob der Deutlichkeit, mit der sie ihn entlastete; zudem war er, wie sein Anwalt, der Meinung, dass ihn sein Schwiegervater die Körperverletzung möglicherweise ohne böse Absicht unterstellt hatte.

Mangelnden Vorsatz oder sonstwie geartete Gründe der Entlastung fand er dann für seine Verlobte allerdings nicht. Punzel wollte ihn behutsam auf das zweite Video vorbereiten.

„Herr Seiler, haben Sie Anlass an der Treue Ihrer Verlobten zu zweifeln?“

Sein Klient machte große Ohren.

„Aber nein, wie kommen Sie darauf? Hat das mit der schlechten Nachricht zu tun?“

Punzel zögerte mit einer Antwort, doch Seiler wusste, dass es genau darum ging.

„Sie betrügt mich sicher nicht. Ich hatte mal ein bisschen den Hubert K. im Verdacht, aber da ist nichts.“ „Nein, der ist es nicht“, bestätigte ihm Punzel spontan und biss sich auf die Zunge. Doch der angerichtete Personenschaden war schon nicht mehr gutzumachen.

„Wer?“, brüllte Seiler ihn an, schwer getroffen. „Wer ist es? Ach, ich glaube Ihnen kein Wort, wie können Sie es wagen, meine Verlobte derart zu beleidigen!“

Punzel machte ein paar ungelenke Handbewegungen, die ihn beruhigen sollten. Dann wartete er einige Augenblicke, bis er den Stand der Dinge darlegte.

„Leider – es gibt Beweise, Herr Seiler.“

„Was sollen das für Beweise sein, verdammt?“

„Auf einem der Videos, die ich wegen des Unfalls ausgewertet habe, ist zufällig zu sehen …“

„Was ist da zu sehen? Nun reden Sie doch!“

Punzel hob einen USB-Stick hoch, einen anderen, als den von vorhin. Es hatte ihn der Mut verlassen, seinem Mandanten die Wahrheit zu sagen.

Der nickte ihm aber aufmunternd zu, und so öffnete sein Anwalt das Video und rückte es vor bis zu der Stelle, auf die es nun ankam. Dann stand er auf und ließ Seiler mit dem Ansehen der schlechten Nachricht allein.

Der sank nach wenigen Sekunden in sich zusammen, glotzte wie

betäubt weiter auf das vor ihm ablaufende Video, sah dann Punzel mit leerem Gesicht an, stand auf und ging.

Betroffener, als er es vorher erwartet hatte, blieb der Anwalt zurück. Der Mann liebte diese Frau, hatte geglaubt, dass es ihr mit ihm genau so ging, hatte ihr völlig vertraut, und nun war diese Verbindung auf eine denkbar schäbige Art verraten worden. Hatte es so etwas in dieser Dramatik schon einmal gegeben?

„Und ob“, dachte Punzel, „in diesen Minuten überall auf der Welt, tausendfach, ganz zweifellos. Ein Fall von vielen, so leid es mir für jeden Einzelnen der davon Betroffenen tut. Der Mensch irrt, solange er lebt, hätte Dr. Manger jetzt vielleicht gesagt. Und ich fürchte auch: Drum prüfe, wer sich ewig bindet. Und noch so einiges mehr.“

Punzel war ganz froh, dass Seiler gegangen war. Wie hätte er ihn auch trösten sollen? Allein blieb er aber nur kurz, dann klopfte es, und nachdem er zum Eintreten aufgefordert hatte, öffnete Romy die Tür.

„Was war da denn los? Erst brüllt der Mann 'rum, dann torkelt er weiß wie die Wand aus ihrem Zimmer.“

„Dem Mann ist eine böse Enttäuschung zuteil geworden. Und wissen Sie, wer sie ihm verpasst hat? Natürlich ein Weib!“

„Ach kommen Sie, Herr Punzel, pauschalisieren Sie nicht, das ist Sexismus und das wissen Sie. Im Gegenteil: Frauen sind doch so was von herzlich und gutmütig.“

„Von wegen, im Gegengeil.“ Ups, da war ihm ein imposanter Versprecher gelungen. „Ich meine: Sie irren sich, was den guten Mut und die Treue der Frau betrifft.“

„Hat es was mit diesem Video zu tun?“

Das Video war weitergelaufen und zeigte die bis auf den ernsten Zwischenfall ja völlig harmlosen Festlichkeiten. Romy war doch seine beruflich Verbündete, da durfte er sie schon mal in einige Dinge einweihen. Wahrscheinlich würde sie sowieso den Schriftsatz tippen, auf dem die Dinge verbal ausgeführt werden mussten.

„Minute siebensiebenundzwanzig“, sagte er.

Romy stellte das Video exakt auf die Zeit ein und schaute dann konzentriert zu. Doch ihr Blick nahm durchaus nicht den Ausdruck ungläubigen Staunens an, als es an die bewusste Szene ging, vielmehr legte sie den Kopf schief, als prüfte sie mit Kennerblick; das mehrfach und solange, bis sich das Video wieder den harmloseren Teilen des Festes widmete.

„Nicht übel, die Technik“, äußerte sie sich dann zusammenfassend. „Ihr Partner hat ja auch nicht sehr lange an sich halten können.“

Punzel öffnete den Mund, ohne dass ihm wegen seiner Verwunderung über Romys Prioritäten bei ihrer Analyse eine geeignete Entgegnung einfiel. So ließ er ihn noch eine Weile offenstehen.

„Wenn ich Ihre Reaktion richtig verstehe, ist meine nicht eine, die für Sie wichtig wäre, richtig?“

Punzel schaffte es zu nicken, mit offenem Mund. „Also gut. Ich reime mir Folgendes zusammen: Das ist die Verlobte ihres Mandanten, und was sie da bearbeitet, gehört nicht jenem, und deshalb war er eben, als Sie ihm das vorführten, nicht amüsiert. Danke, jetzt kann ich mir sein Verhalten schon irgendwie auch erklären!“

„Schon irgendwie auch!“ Die Formulierung hatte er vor Romy von irgendjemand Anderem zu oft gehört. Von einem Fußballer oder so. Er kam jetzt nicht drauf, ging aber dazu über, zwecks klarerer Intonation den Mund auch zeitweise wieder zu schließen.

„Wie schön, dass wir uns ganz ohne Worte verstehen, Romy. Die Klage gegen ihn wegen Körperverletzung ist vom Tisch, ob er jetzt seinerseits Ansprüche erhebt gegen die Familie seiner Verlobten, weiß ich nicht. Ich habe auch keine Ahnung, ob man heute noch Kranzgeld einklagen kann, noch dazu als Mann. Aber in Zeiten, in denen selbst der Adel wieder inthronisiert wird, würde ich gar nichts ausschließen.“

„Ach, aus all dem wird nichts, das sagt mir mein Verstand.“

„Ich hoffe, Sie haben recht. Aber da Sie Ihren mir so wertvollen Verstand ins Spiel bringen, den brauche ich in der Tat schneller, als ich gedacht habe. Allerdings im Fall Ulrich von der Borgen. Bitte schicken Sie noch heute Ihre Bewerbungsunterlagen an die Stiftung. Ich fürchte, wir dürfen keine Zeit mehr verlieren, es könnte schlecht um ihn stehen.“

Romy versprach, sich sofort an die Arbeit zu machen, nachdem Punzel ihr die Stellenausschreibung ausgehändigt hätte.

Er wollte einen Imbiss im Café auf der anderen Straßenseite nehmen, um dann noch einmal zum Gutshaus hinauszufahren. Die Vorhaben erfuhren eine kleine Zeitverzögerung dadurch, dass er Gustav im Gespräch mit seiner Assistentin, die ja auch Punzels war, antraf. Er ließ die beiden noch über eine Pointe seines Kollegen zuende lachen, dann mischte er sich ein.

„Hallo, Gustav, so gute Laune heute? Also hattest du keinen Gütetermin, um mal wieder so richtig den Advokaten des Wutes zu geben?“

„Doch, hatte ich“, gab der zur Antwort. „Aber ich hatte vorher schon eine Verhandlung, bei der ich meinem Ärger Luft machen konnte. Und zwar dergestalt, dass …“ „Sei mir nicht böse, Gustav, ich muss dringend weg. Erzähl' mir das doch ein anderes Mal, auch wenn es mir schwerfällt, die Geschichte nicht unverzüglich hören zu können. Pass auf, wie wäre es heute Abend um acht im Absacker?“

„Na schön, um acht. Wahrscheinlich willst du mir wieder mit deinen Kriminalgeschichten imponieren. Aber was soll ein armer Rechtskundiger der Arbeit da schon an Novellen-Geschützen auffahren?“

„Gustav, entspann dich, alles wird gut. Du weißt doch, dass uns – und ich meine uns – bald die Arbeit ausgeht. Da kannst gerade du doch als Experte auf diesem Rechtsgebiet eine richtig ruhige Kugel schieben. Aber wenn es dir zu langweilig wird: Ich werde dich schon zu beschäftigen wissen. Ist doch so: Mag auch die Arbeit verschwinden, das Verbrechen währet immerdar!“

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