Читать книгу Sollbruchstelle - Tom Gear - Страница 5
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Nur wenige Minuten nach der Landung war er schon wieder startklar. Urlaub schön und gut, aber Punzel wollte wieder aktiv werden. Er hatte in den letzten Monaten richtig Spaß an der Arbeit gefunden, am Ermitteln in Strafsachen. Der Doppelmord an den Frauen aus dem Swingerclub war nur der erste spektakuläre Fall gewesen. Damit war er in die Medien gekommen, und seitdem hatten sich weitere Klienten an ihn gewandt, um mit seiner Hilfe Verbrechen aufzuklären und zu ihrem Recht zu kommen.
Die Woche mit Gina auf Sardinien hatte seine Akkus wieder vollständig aufgeladen. Von den sonnigen Tagen musste Punzel im düsteren Berliner Herbst noch lange zehren. Aber lange konnte es ja nicht mehr dauern, dann würde die Klimakatastrophe schon für einen erneut viel zu warmen Winter und einen heißen Frühling sorgen.
Unmittelbar nachdem er ihr Gepäck vom Band gehievt hatte, trennten er und seine Reisebegleiterin sich. Sie waren sich während der wohlverdienten Auszeit an Strand und Bar sehr zugetan gewesen. Auch hatten sie es geschafft, die ganze Zeit keinen einzigen Blick auf Handy-Nachrichten zu werfen. Jedenfalls Punzel nicht, oder jedenfalls nur ganz selten, nicht öfter als vielleicht fünfmal am Tag. Was Ginas diesbezügliche Askese anging, war er ganz sicher, sich auf sie verlassen zu können. Um so eiliger hatten sie es, sich sobald wie möglich nach dem Touchdown wieder um ihre Geschäfte zu kümmern.
Vom Flughafen fuhr Punzel auf nur eine Stippvisite in seiner Wohnung vorbei, machte sich frisch und „headed for the office“. Er hatte keine Ahnung, warum er gedanklich in diese Sprache verfiel, vermutlich, weil er auf der Mittelmeerinsel mehr Englisch zu sprechen gezwungen war, als er eigentlich beabsichtigt hatte. Sein Italienisch allerdings war auch nicht gut genug, um damit sehr weit zu kommen. Und des Sardischen war er nun absolut gar nicht kundig. Vom Anwaltsdeutsch, ja, davon verstand er was, und das würde in den nächste Monaten erst einmal wieder seine Lingua franca sein.
Punzel, der in letzter Zeit überwiegend gut gelaunte, 1,75 Meter große, dunkelblond gelockte, etwas untersetzte Vertreter des Rechts, hatte im Urlaub seinen 36. Geburtstag begangen. Kein Deut weniger gelenkig als vor diesem Jahrestag stürmte er förmlich an der Grabmalausstellung im Vorgarten des Hauses vorbei, in dem sich seine Kanzlei mit den Kollegen Dr. Schult und Kühne befand, und flog die Treppen der ersten beiden Etagen hinauf, ehe er der ungewohnten Anstrengung Tribut zollen musste. Doch erreichte er den vierten Stock schließlich glücklich, wenn auch außer Atem. Als er in die Kanzlei eintrat, staunte er nicht schlecht, als Romy zwar mit einem entspanntem Gesicht aufblickte, dieser Ausdruck sich aber augenblicklich verdüsterte. Keine Spur von dem so lieb gewonnenen entzückenden Lächeln seiner Assistentin.
„Romy, was ist los? Was soll dieser feindselige Blick? Ich bin's, Ihr so schmerzlich vermisster Chef, glücklich zurück von gar nicht mal so fernen Gestaden.“
„Herr Punzel“, sagte Romy nur und schien sich in Papierkram vertiefen zu wollen. „Willkommen zurück! Sie wundern sich, dass ich so reserviert bin? Was würden Sie denn sagen, wenn ich einfach mit einer anderen in Urlaub fahren würde?“
„Das würde mich gar nicht stören. Oder müsste es das, mit einer Frau?“
„Sie wissen ganz genau, was ich meine. Sie betrügen mich, während ich hier für ein Butterbrot die Stellung halten muss. Und da verlangen Sie ein Lächeln?“
„Aber das mit Gina, das ist doch nur …“
„Genau davon rede ich ja, von Ihren Schweinigeleien. Pah, eine bessere Reisebegleiterin bin allemal ich.“
„Sagt wer? Ihre zahllosen Reisebegleiter? Sie werden sehen: Ich zaubere Ihnen schon wieder ein Lächeln ins Gesicht.“
„Da bin ich aber gespannt, wie Sie das anstellen wollen.“
„Heute Mittag, Sie sind eingeladen. Beim Italiener. Dem guten.“
„Um eins?“
„Wenn ich Ihre Turtelei kurz unterbrechen dürfte.“ Keiner von beiden hatte bemerkt, dass Dr. Schult aus seinem Zimmer gekommen war und nun in beider Rücken stand. Eine Antwort wartete er nicht ab.
„Willkommen daheim, Punzel! Und sicher stirbst du schon vor Hunger nach Arbeit. Siehst du: Dir, Mann, kann geholfen werden.“
Sein Kompagnon wollte etwas einwenden, doch Dr. Schult ließ keine Zwischenfragen zu.
„Angenehmes und Nützliches verbinden ist die Devise. Dazu möchte ich dich gleich heute Abend in die sogenannten Besseren Kreise einführen. Wenn nicht gleich in die besten. Hier!“ – er übergab Punzel ein Billett –, „die Einladung zu einem Empfang einer gemeinnützigen Stiftung in ihrer Residenz am Stölpchensee. Bin ja öfter in der Nähe, mein Golfplatz liegt dort. Egal. Wir, also unsere Kanzlei, zeigen dort heute Präsenz. Ein bisschen gut Essen und edle Getränke und Smalltalk, du weißt schon. Kann uns auch beruflich nur nutzen.“
Punzels Begeisterung hielt sich in Grenzen. Widerspruch ließ Dr. Schult aber nicht zu.
„Ich hole dich um sieben hier ab. Wir müssen ja mit einem angemessenen Wagen vorfahren. Zieh dir was Ordentliches an. Also, pünktlich!“
Und damit war er auch schon wieder in seinem Büro verschwunden.
„Um sieben, natürlich, ganz klar“, hauchte Punzel dem längst Entwichenen hinterher.
„Was ist denn jetzt? Um eins?“ Romy holte ihn zurück in die Vor-Dr.-Schult-Zeit.
„Nein, um sieben, das haben Sie doch gehört“, wandte sich Punzel zu seiner Assistentin.
„Ihre Einladung kam früher als dieser Gestellungsbefehl. Können Sie sich noch an die Vorgänge von vor zwei Minuten erinnern?“
„Aber Romy, ich habe ein Elefantengedächtnis. Wir beide treffen uns um eins, nicht wahr? Wir gehen in …, nach …“
„Zum Italiener. Dem guten“, half Romy aus und zweifelte noch stärker an Punzels Zauberkünsten hinsichtlich des Lächelns in ihrem Gesicht. „Alles andere ist heute zweitrangig.“
„Zweitrangig, genau, die Ersten Kreise der Gesellschaft seitzen heute auf den billigen Plätzen.“
Im Zweifel war ihm Romys Gesellschaft in jedem Fall lieber als sich aufzubrezeln, um einen steifen Empfang mit seiner Gegenwart zu beehren; oder wohl eher: ihn damit zu belästigen. Aber Punzel sah ein, aussichtslos war es zu versuchen, Dr. Schult von seinem Entschluss, ihn dort einzuführen, abzubringen. Entweder hatte der begonnen, Punzels Arbeit als Anwalt wirklich zu schätzen – möglich –, oder er sah die Chance, von seines Kompagnons jüngstem Ruhm zu profitieren – sehr viel wahrscheinlicher.
Immerhin war Punzel kürzlich schon mit einem ziemlich Prominenten, einem Landesgruppen-Chef im Deutschen Bundestag, bekannt geworden. Dem hatte er in einer Schadenersatzklage gegen ein Satireblatt zu einem Verhandlungserfolg verholfen. Punzel war bei der Angelegenheit nicht ganz wohl gewesen, denn der Politiker hatte sich die ironischen Attacken in Wort und Bild wegen seiner eitlen Art bei gleichzeitig saudummen Vorschlägen zur Verkehrspolitik mehr als verdient. Aber der Anwalt konnte es sich nicht leisten, ein so einträgliches Mandat abzulehnen. Und, tröstete er sich, der Schlimmste von allen war dieser Volksvertreter Dr. Breuer ja auch wieder nicht. Auf diese Geschichte hatte sich die Presse im übrigen auch wieder gestürzt. Punzel blieb im Gespräch.
„Also, dann hellen Sie mal meine Stimmung auf!“ Romy hatte gerade den ersten Bissen ihres Carpaccios mit geschlossenen Augen genossen, als sie von Punzel die Einlösung seines Versprechens einforderte.
„Na, alles deutet darauf hin, dass ich auf dem besten Wege bin“, antwortete der. „Die Vorspeise ist mir schon mal eine Hilfe. Und dann der Wein. Probieren Sie den Roten doch gleich mal. Dem Cannonau habe ich jeden Abend auf Sardinien zugesprochen, und er war gleichfalls ziemlich beredt. Urteilen Sie selbst! Salute!“
Tatsächlich erwies sich auch das so gelobte Getränk als Stimmungsaufheller.
„Sommer, Sonne, Mittelmeer“, fasste Romy das Ergebnis der Weinprobe zusammen und war versucht, dem ein Lächeln hinterherzuschicken. Aber so leicht darf man es untreuen Männern natürlich nicht machen.
„Um Ihrer Absolution ganz sicher zu sein, möchte ich gleich noch die nächste Einladung aussprechen. Nicht zum Essen, nicht in eine Bar – obwohl wir mal wieder einen guten Cocktail im Think, Drink. zu uns nehmen könnten – nein. Ich sehe ja, dass Sie sich ein wenig unterfordert fühlen von der Arbeit in der Kanzlei. Was halten Sie deshalb davon, wenn Sie mich bei meinem nächsten Fall wieder unterstützen, wie damals, als wir unseren Doppelmörder im sinnLich-Club gemeinsam das Geständnis entlockt haben? Sobald wieder ein Fall hereinkommt, bei dem ich auf Ihren Esprit angewiesen bin, sind Sie dabei. Was halten Sie davon?“
„Herr Punzel, Sie wissen, wie man eine Frau herumkriegt“, erwiderte Romy, mehr anerkennend als übermäßig erfreut. Sie hob aber ihr Glas, und so stießen sie mit dem sardischen Wein an, zum Zeichen, dass die Verabredung galt.
Jetzt endlich ließ sie ihr wohlvertrautes und anbetungswürdiges Lächeln wieder aus dem Kerker von Missgunst und Eifersucht frei.
„Also gut, Sie haben es mal wieder geschafft. Das, mein unvergleichliches Lächeln, ist die Münze, mit der ich zahlen kann. Und ich zahle immer bar.“
„Mir allemal lieber als seelenlose Kontobewegungen“, pflichtete ihr Chef Romy bei. „Dennoch: Auch finanziell wird Ihre Hilfe ganz sicher nicht Ihr Schaden sein.“
Es hatte den Anschein, auch wenn das Gespräch an dieser Stelle ins eher Geschäftliche abgedriftet war, dass sich Romys legendäres Lächeln fortan noch eine Spur zauberhafter entfaltete. Das war aber gar nicht entscheidend. Punzel jedenfalls war selig.
Nachdem auch Hauptgericht und Dessert zur vollen Zufriedenheit beider ausgefallen waren, gab Romy fürsorglich Punzel noch zu bedenken, dass er für die prunkvolle Abendgesellschaft noch in ein angemessenes Outfit steigen müsse.
„Und ich vermute, damit sieht es in Ihrem Kleiderschrank eher mau aus.“
Sie wusste gar nicht, in welchem Ausmaß sie recht in dieser Annahme ging. Punzels Gesicht begann augenblicklich vor Verlegenheit zu knautschen.
„Dachte ich mir's doch. Was halten Sie davon, wenn ich Sie heute Nachmittag bei einem Anzugkauf begleite? Es sei denn, Ihre famose Reisebegleiterin erhält das Privileg.“
Ihr Arbeitgeber schüttelte noch ein Stück verlegener den Kopf.
„Dann will ich mal nicht so sein“, fuhr sie fort. „Es ist aber ein einmaliger Service, und auch nur, weil es mir ein ganz klein wenig Spaß machen wird, sie zu verkleiden.“
Sie leerte ihren Caffè und blickte ihn herausfordernd an. Punzel fiel keine sonderlich originelle Formulierung seiner Ergebenheit ein.
„Das würden Sie tun? Sie glauben nicht – oh doch: Sie wissen ganz genau, welchen Gefallen Sie mir damit tun.“ Und dann, misstrauisch werdend, lauernd, fügte er an: „Sie werden mich doch nicht durch eine alberne Kostümierung in Misskredit bringen?“
Romy lachte, jetzt völlig entspannt.
„Ihren Kredit haben Sie bei mir ohnehin erst einmal aufgebraucht. Aber keine Angst: Wir werden Ihnen einen wunderbaren Anzug von der Stange verschaffen. Und dazu ein, zwei damit aufs feinste harmonierende Binder. Halt, nein, ich weiß was viel Besseres, fast Überwältigendes. Ich wollte schon immer mal einen Mann mit Plastron haben. Sie werden es sein.“
Bevor er sich, vorsichtshalber errötend, erkundigen konnte, um was es sich bei einem Plastron handelte, drängte ausgerechnet die Angestellte zum Aufbruch. Es galt für sie und ihren Chef wieder den Ort aufzusuchen, von dem aus sie nicht nur Ihre Einkünfte aus einerseits selbständiger, andererseits abhängiger Beschäftigung erzielten, sondern auch ihren Teil dazu beizutragen, der Gerechtigkeit zu ihrem Recht zu verhelfen. Wobei es allerdings Anwälten wie auch ihren staatsexamenlosen Mitarbeitern klar sein sollte, dass ein Satz, in dem Recht und Gerechtigkeit in einen Zusammenhang gebracht werden, zu keiner sinnvollen Aussage führen kann.
Punzel war ausreichend angeheitert, um wieder einmal einen Versuch zu unternehmen, seinen Hut mit einem Wurf aus kurzer Distanz am Garderobenhaken in seinem Zimmer zu platzieren. Das ging verlässlich schief. Bücken, Kopfbedeckung aufheben, über den Haken stülpen – alles inzwischen Routine.
Nie gehört aber waren Romys letzte Worte, bevor er geschäftig tuend in seinem Büro verschwand.
„Sie und diese … Sie hatten ein Doppelzimmer. Leugnen Sie nicht!“