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Romys neugierige Frage am nächsten Morgen konnte er kurz und bündig beantworten.

„Halten Sie sich bloß fern von dieser so genannten Besseren Gesellschaft“, brummte Punzel. „Dekadenz hatte immer schon einen Namen, und es ist heute noch derselbe: Adel. Aber nicht allein der mit dem Blut, schon lange hat sich der mit dem Geld dazugesellt, ja ihn unrühmlich ersetzt.“

„Oh, so schlimm ist es gestern gewesen?“, fragte seine Angestellte mitfühlend nach.

„Unausstehlich. Jetzt will die feudale Klasse sogar wieder in ihre alten Rechte eingesetzt werden. Also, erst einmal will sie ihre Immobilien zurück. Dann dauert's nicht lang, und sie wollen wieder ihre Leibeigenen auf Burg Haveldingskirchen drangsalieren. Aber ein Gutes hatte es gestern doch: Ich darf sie einladen!“

Romy schaute ihn erst erstaunt und – je länger er zögerte weiterzureden – schließlich erwartungsvoll an.

„Erweisen Sie mir, sehr verehrte Frau Schnittker, die Ehre, mich in die Oper zu begleiten?“

„In die Oper? Welche Überraschung!“

Punzel erläuterte ihr kurz die Hintergründe.

„Von Herzen gern!“, strahlte Romy nach dem Ende seiner Ausführungen. „Gerne bin ich an Ihrer Seite. Was wird eigentlich gegeben?“

„La Traviata.“

„Also richtig schön emotional. Oder kitschig, wie Sie wollen.“

„Ich will gar nicht, ich muss. Dr. Manger und Frau, vor allem er, sind eine rechte Zumutung. Aber dank Ihnen wird es ein unvergesslicher Abend werden. Und das ist es, was ich unbedingt will.“

Beide trennten sich in Vorfreude, um bis zum festlichen Abend ihrer Arbeit nachzugehen. Und die sollte es noch in sich haben.

Punzel versuchte sich gerade mit einer Strafprozessordnungsänderung anzufreunden, die zu erheblichen Einschränkungen der Verteidigerrechte führte, als das Telefon ging. Romy meldete einen Anruf.

„Frau von der Borgen. Ich stelle durch.“

Punzel, einigermaßen überrascht sobald wieder von ihr zu hören, meldete sich.

„Ja, Frau von der Borgen, was verschafft mir die Freude Ihres Anrufs?“

„Vielleicht werden Sie sich noch mehr freuen, wenn ich Ihnen sage, dass mein Bruder und ich einen sehr guten Eindruck von Ihnen beiden hatten. Wir haben deshalb gestern noch beschlossen, dass wir uns gerne mit Dr. Schult und Ihnen zusammensetzen würden, um zu sehen, wie Sie uns bei der Durchsetzung unserer berechtigten Ansprüche helfen können. Wäre Ihnen das recht?“ „Aber selbstverständlich, Frau von der Borgen. Sobald mein Kompagnon wieder da ist, werden wir einen Termin finden und Ihnen diesen mitteilen. Über eine Zusammenarbeit würde ich mich freuen.“

Jetzt war es also passiert. Friedrich-Anton Punzel, ein aus eher klein- als glatt bürgerlichem Hause stammender Großstadtanwalt aus der bürgerlichsten Ecke Berlins würde sich auf die Seite der überkommenen, blasierten Elite schlagen. Rächer der Enterbten. Auf den Titel hätte er eigentlich gut verzichten können. Aber wer weiß, wozu dieses Mandat gut sein würde. Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit würde ihm wieder einmal sicher sein. Ruhm und vielleicht sogar Ehre würden gleichsam über seinem Haupte ausgegossen werden – wenn Punzel es darauf abgesehen hätte, hätte er glücklich sein können.

Tatsächlich aber hatte ihn das letzte Jahr nicht groß verändert. Eigentlich war er immer noch ein ein wenig eitler, zurückhaltender Typ. Selbstbewusstsein: Ja, in dieser Hinsicht brachte er nun bedeutend mehr auf die Waage. Und das war ihm auch am meisten wert. Immerhin war es nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass sein Verhältnis zu Frauen sich merklich entspannt hatte. Aber in irgendeiner Weise bedeutend zu sein, wonach so viele in diesen Zeiten strebten, das war nicht Punzels Ding. Besonders waren nach seiner Erfahrung immer die, von denen man eher nichts Spektakuläres sah und hörte.

Weil es ihn spontan interessierte, was denn an der Sache dran war mit den Restitutionsansprüchen des alten Adels und den Chancen der Durchsetzung, versuchte er sich im Internet darüber schlau zu machen. Viele Fälle waren nicht dokumentiert, schließlich machten sich die von Hohenzollern und Konsorten erst seit wenigen Jahren anheischig, aus ihren Hütten herauszukommen und wieder ihre Paläste beziehen zu können. Und alles in allem schienen die meisten Verfahren für die längst obsolet gedachte Parallelwelt des Hofknicks, der höfischen Marotten und des vornehmen Dünkels einen eher enttäuschenden Verlauf genommen zu haben. Genaueres aber wollte natürlich noch recherchiert sein, und zwar dann, wenn die Entlohnung dafür sichergestellt war.

Am Nachmittag vereinbarte er mit Dr. Schult jenen Termin, zu dem die von der Borgens Audienz in der Kanzlei erhalten sollten, und beide verständigten sich kurz über eine erste Strategie. Die potentiellen Klienten sollten vorbringen, worauf sich ihre Ansprüche stützten, wobei es beide Anwälte besonders interessierte, warum sie erst jetzt darauf pochten. Hatten die Rechtsgelehrten nicht mitbekommen, dass die Rechtslage sich geändert hatte oder hatte sich schlicht der gesellschaftliche oder kulturelle Wind gedreht? Oder standen sie gar kurz vor einem Putsch von ganz oben?

„Mitnichten“, so war Dr. Schults Ansicht. „Doch sobald wir irgendeinen Hinweis haben, dass unsere Klienten da Größeres, also vollständig überholte feudale Ansprüche im Sinne haben, sind wir draußen. Da sind wir uns einig.“

Punzel musste dem nicht eigens zustimmen, von ihm wusste jedermann, wenn nicht gar auch jede Frau, dass er recht eigentlich ein Anwalt der kleinen Leute war. Wobei die modernen Zeiten wollten, dass nur noch schwer ersichtlich war, wer denn zu dieser erlesenen Gruppe überhaupt noch zu zählen war. Denn allzu viele, die sich dazu rechnen würden, waren totale soziale Nieten und hätten von daher keinen Rechtsschutz durch Schult und Kühne und Punzel zu erwarten.

Wer konnte ahnen, dass all diese Überlegungen schon obsolet waren, kaum dass sie gedacht?

Einmal dem Fehlläuten des Telefons gefolgt, und das Leben ändert sich fundamental – oder ist sogar ganz zu Ende. Franz Kafka, das erinnerte Punzel noch aus der Schule, wusste Novellen davon zu schreiben.

Gerade als er von seinem Stuhl aufstand, um Feierabend zu machen, stellte Romy noch einmal einen Anruf durch.

„Frau von der Borgen für Sie.“

Punzel kam gar nicht dazu, sie förmlich zu begrüßen. Die Anruferin sprudelte sofort los.

„Es ist dringender, als ich ahnen konnte, Herr Punzel, ich brauche Sie sofort. Mein Bruder ist verschwunden!“ „Nun beruhigen Sie sich erst einmal, Frau von der Borgen. Seit wann vermissen Sie ihn?“

„Er ist gestern morgen zum Gutshaus gefahren. Ja, er wollte noch einmal das Gespräch mit den Stiftungsvertretern suchen. Seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört. Das kenne ich nicht von ihm. Auch sein Handy …“

„Er geht nicht 'ran?“

„Es ist tot. Auch Textnachrichten werden nicht zugestellt.“

„Nun“, versuchte Punzel weiterhin beruhigend auf seine noch gar nicht mal offizielle Klientin einzuwirken, „das muss noch nichts heißen, das alles lässt sich ja auch technisch erkl …“

„Nein, nein“, unterbrach sie ihren Anwalt in spe, „es muss etwas passiert sein.“

„Haben Sie die Polizei verständigt?“

„Die will nichts unternehmen, nicht nach so kurzer Zeit. Herr Punzel, ich bitte Sie, helfen Sie mir, begleiten Sie mich, ich möchte das Gut aufsuchen und selbst nach dem Rechten sehen.“

Punzel legte das Telefon an die Brust, um genervt durchzuschnauben. Dann sprach er weiter, mit anwaltlicher Verbindlichkeit.

„Gut, treffen wir uns dort?“

„Besser wir fahren zusammen hin und bemühen uns, nicht gesehen zu werden. Seien Sie in einer halben Stunde am Mexikoplatz, unter der Bahnunterführung Richtung Wannsee.“

„Ich werde da sein.“

Er schaffte es gerade soeben, mit dem Taxi pünktlich dort zu sein. Frau von der Borgen wartete bereits, Punzel stieg schnell um in ihren Wagen. Schon bretterte sie mit quietschenden Reifen los.

„Verabredet war er mit Frau Ment“, begann sie ihn in die näheren Umstände ihrer Befürchtung einzuweihen, „eine selten dumme Pute, wenn Sie mich fragen. Wie sie in diese Position gekommen ist, kann man nur ahnen, bzw.: Es kann nur einen Weg geben. Diese Schlampe!“ Das war deutlich genug. Punzel erinnerte sich an den Fleck vom Vorabend, wollte aber Näheres über diese Dame wirklich nur wissen, wenn es unbedingt vonnöten war.

„Ich traue diesen Leute nicht über den Weg“, fuhr seine Chauffeurin fort. „Geld- und machtgieriges Pack, eigentlich zu nichts zu gebrauchen.“

Punzel ließ sie sich austoben. Dann aber wollte er doch Sachdienlicheres erfahren.

„Wie kommen Sie darauf, dass Ihrem Bruder etwas zugestoßen sein könnte? Gibt es Hinweise, gibt es Handfestes, was Sie zu Ihrer Befürchtung veranlasst?“

„Das alles gibt es“, beantwortete sie diese Frage, nachdem sie ein paar Mal durchgeatmet hatte. Auch nahm sie etwas den Fuß vom Gas und hielt sich wieder an die vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit.

„Ulrich, mein Bruder, hat mir vor zwei, höchstens drei Wochen erzählt, dass ihm dieser widerliche Dr. Klein, das ist der größere von den beiden Kerlen im Vorstand, gesagt habe, dass unsere Zeit, also die Zeit der von der Borgens, vorbei sei und sie jetzt am Ruder sind.

„Faktisch alles richtig“, dachte Punzel bei sich.

Thea von der Borgen redete sich in Rage.

„Am Ruder! Diese Amöben wären maritim doch schon auf ihrem albernen Stölpchensee verloren. Ach ja, und dann hat er Ulrich gesagt, er solle besser stillhalten, sonst würde er die Konsequenzen schon zu spüren bekommen. Und als Ulrich ihn gefragt hat, ob das eine Drohung sei, hat Klein nur gelächelt und gesagt, sie würden schon noch klare Verhältnisse schaffen. Obwohl er sich danach umdrehte, konnte Ulrich noch das wahrnehmen, was man wohl als Hals-ab-Geste bezeichnet.“ „Die feinen Herrschaften scheinen auf eine exklusive Justiz zu setzen, aber nicht mit mir“, sagte Punzel und meinte das durchaus ernst. Beide Eliten waren ihm gleichermaßen unsympathisch, aber sich gegen Übergriffe einer Klasse zu stellen, die vor lauter Geld nicht mehr aus den Augen gucken konnte, hieß ja nicht, sich auf die Seite des verarmten Adels zu schlagen.

„Rücken wir ihnen auf die Pelle und durchsuchen ihr Hoheitsgebiet.“

Frau von der Borgen hatte gerade bei diesen ihren Worten den Motor des Wagens abgestellt. Sie parkte wenige hundert Meter von dem Gutshaus entfernt. Die Distanz war schnell zurückgelegt; zu wenig Zeit, um sich eine Strategie zurechtzulegen, wie sie in den Park, der das Haus umgab, gelangen wollten.

Auf ihr Klingeln an der Tür hatte niemand geöffnet. Die Tore waren natürlich verschlossen, und der Zaun um das Grundstück zu hoch, um ihn zu überwinden. Punzel kam eine Idee: Es handelte sich um ein Wassergrundstück, was lag näher, als sich ihm vom Fluss her zu nähern. Nun war Punzel kein guter Schwimmer, eine Badehose hatte er ohnehin nicht dabei, und die Wassertemperaturen waren Mitte November nicht für einen Aufenthalt von länger als einer Sekunde Dauer geeignet. Vielleicht fand sich ein anderer Weg.

„Gibt es hier einen Bootsverleih?“, fragte er seine Mitstreiterin.

„Und wenn? Mitte November?“

„Ach ja, völliger Unsinn, entschuldigen Sie.“

„Nein, warten Sie, die von Waldhausens, die haben ein Wochenendhaus in der Nähe, und die haben ein Paddelboot. Soll ich die mal fragen?“

„Das wäre natürlich … Ja, unbedingt!“

Sie hatten Glück. Frau von der Borgens Bekannter erwartete sie in seinem Wochenendhaus, in dem er gerade Handwerkliches zu erledigen hatte. Schnell war alles Nötige erklärt und schon sehr bald saßen sie in einem Boot.

„Gnä' Frau, wenn ich eines ganz sicher bin, dann eine Landratte“, sagte Punzel, als sie sich auf große Fahrt begaben. „Erwarten sie bitte nicht zu viel von mir.“

Sehr viel war auch gar nicht von ihm gefordert. Schon nach weniger als hundert Paddelschlägen langten sie an ihrem Ziel an, machten das Boot fest und gingen an Land.

Da sie recht sicher sein konnten, dass sich zur Zeit niemand im Gutshaus und auf dem umgebenden Gelände aufhielt, mussten sie nicht allzu vorsichtig operieren. Der Anwalt verständigte sich aber mit Frau von der Borgen, dass sie möglichst rasch ihre Untersuchungen beenden wollten.

Sie teilten sich den Park untereinander auf und suchten mehr oder minder systematisch das Gelände ab. Nach einer halben Stunde kamen sie wieder zusammen. Eine Spur von Ulrich von der Borgen hatten sie nicht gefunden.

„Mir ist das unheimlich“, sagte seine Schwester. „Er ist vom Erdboden verschwunden.“

„Lassen Sie uns zurückfahren“, sagte Punzel. „Im Augenblick können wir hier nichts mehr ausrichten.“

Auf dem Rückweg zum Boot ließ er seine Augen noch einmal am Ufer der Havel entlanggleiten. Irgendetwas kam ihm seltsam vor, ohne dass er im Mindesten hätte sagen können, was es war. Aufmerksam die angrenzenden Ufer und die Wasseroberfläche scannend, ruderte er zurück zu ihrem Bootsausleiher.

Wieder am Mexikoplatz, trennten sie sich, nachdem sie verabredet hatten, sobald wie möglich wenigstens einen der Vorstände ans Telefon zu bekommen. Punzel fiel aber noch etwas ein.

„Ist ihr Bruder eigentlich ein guter Schwimmer?“, fragte der Anwalt seine neue Klientin.

„Ganz sicher nicht. Ich kann mich nicht entsinnen, ihn jemals auch nur in einer Badehose gesehen zu haben. Wieso fragen Sie mich das?“

„Ach, nur so eine ganz schwammige, nicht ganz wasserfeste Idee.“

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