Читать книгу Sollbruchstelle - Tom Gear - Страница 7
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Dr. Schult war pünktlich. Wie so viele andere hatte auch er sich kürzlich einen SUV zugelegt. Es gab ja kaum noch anderes zu kaufen. Alle waren sie Hybridfahrzeuge, steuerlich massiv gefördert, weil sie über einen elektrischen Hilfsmotor verfügten. Neueste Untersuchungen hatten ergeben, dass dessen Einsatz im Schnitt bei nicht zu verachtenden knapp 9% der Fahrleistung lag. In fünf Jahren, also Anfang der 30er, sollten 15% gesetzlich verbindlich werden.
„Wer hat, dem wird gegeben“, seufzte Punzel beim Einsteigen und meinte gar nicht mal Dr. Schult persönlich. Dennoch zahlte er irgendwie mit seinen Steuern dessen zivilen Panzer mit.
„Ich habe Dich nicht verstanden“, sagte sein Chauffeur für diesen Abend, als er den Benzinantrieb kurz und diskret aufheulen ließ.
„Nichts, es war nichts. Ich habe mich nur gewundert, warum um diese Zeit noch so viel los ist auf den Straßen. Feierabendverkehr kann es wohl nicht sein, wer nimmt in seinem Homeoffice schon den Wagen, um in die Küche zu kommen.“
„Kroppzeug“, sagte Dr. Schult nur.
„Na, so würde ich über die Leute niemals reden. Nur denken.“
„Kroppzeug“, wiederholte Dr. Schult. „Das ist nichts Prekäres, das ist doch diese Band, von der alle sprechen. Außer dir wahrscheinlich. Die spielen heute Abend im Olympiastadion, und all die Menschen sind auf dem Weg dorthin, blöd wie immer nehmen sie dafür ihre Autos.“ Sein Kompagnon informierte den nichts anderes als den Rock der Siebziger schätzenden Punzel über den phänomenalen Erfolg der Kapelle aus Berchtesgaden; rätselhafter Weise beschränkte sich ihr Triumphzug nicht nur auf Deutschland, sondern erstreckte sich seit neuestem auch auch auf das UK und die Vereinigten Staaten. Progressiver Rhythm and Blues und Rap mit minimalem folkloristischem Einschlag und ebensolcher Besetzung. Und immens politisch.
„Kein Wunder, dass das an mir spurlos vorübergegangen ist. Und an der politischen Botschaft an siebzigtausend SUV-Ergebene bin ich auch nicht interessiert. Ich bedaure!“
„Schon gut. Ich fahr ja nicht hin. Nein, wir haben die Ehre, am Empfang der Stiftung sozkult teilzunehmen.“ „Zu dem wir mit einem Special Utility Vehicle anreisen. Das ist natürlich etwas anderes.“
„Sei nicht neidisch, sei lieber gut informiert. Ich werde dich mal über die Sachlage ins Bild setzen.“
Stratege Dr. Schulz setzte Punzel umständlich auseinander, dass die Stiftung über Kapital ausgestattet sei, das ihr aus politischen und Unternehmerkreisen zugedacht wurde. Prunkstück sei das Gutshaus im Süden der Stadt samt großem Gelände, das aus einer Erbmasse stamme, eine Grundlage für die Kapitalausstattung der Stiftung. Daraus finanziere sie zum einen Stipendien für hoffnungsvolle Talente auf den Gebieten nicht nur der Volks, sondern auch der Betriebswirtschaft; zum anderen unterstütze man generös kulturelle Projekte, insbesondere eines, das kaum gespielte und fast vergessene Opern ausgrub, aufarbeitete und einmal im Jahr aufführte für ein ausgesuchtes Publikum.
Punzel konnte die nicht aufkommende Euphorie, in die ihn dieser Bericht über die ehrenvollen Aktivitäten der Stiftung in keiner Weise versetzte, gut verbergen. Und er konnte es ebenso gut abwarten, mit den Damen und Herren, welche sich in ihrem Umfeld bewegten, noch am selben Abend bekannt gemacht zu werden. Er empfahl Dr. Schult sogar, einen anderen Weg als den von diesem bevorzugten zu wählen. Dadurch wären sie mindestens zehn Minuten später an Ort und Stelle gewesen; ein willkommener Aufschub. Sein Chauffeur schüttelte den Kopf und verschloss sich Punzels Ansinnen.
So erreichten sie den Hof ganz ohne Müh' und Not, genauer: das Gutshaus. Punzel konnte kaum fassen, was als Erstes geschah, aber er träumte nicht. Ein livrierter Bediensteter erbat den Autoschlüssel, um den Wagen zu parken. Dr. Schult übergab ihn lässig und schob Punzel Richtung Eingang des beeindruckenden Anwesens.
Die dort wachhabenden Aufpasser in schwarzen Anzügen, einige davon mit Knopf im Ohr, warfen nur einen kurzen prüfenden Blick auf ihre Tickets, dann waren sie schon berechtigt, wenn nicht das Allerheiligste, so doch doch das alles andere als profane Gebäude zu betreten.
Im Innern, Dr. Schult kannte sich offensichtlich aus, waren es nur wenige Schritte bis zum Festsaal. Unter einem monströsen Kristalllüster hatten sich teils an den weißbehussten Stehtischen, teils frei im Raum verteilt, zahlreiche Damen und Herren in Abendkleidern, Fracks und Anzügen in kleinen Gruppen zusammengefunden. Die beiden Neuankömmlinge nickten erst einmal grüßend allgemein in jede Richtung, was unerwidert blieb, ergriffen dann jeder ein Glas Champagner vom, von einem Livrierten dargebotenen, Tablett und orientierten sich.
Nicht lange hatten sie Gelegenheit, das prächtige Interieur, etwa die wertvollen Wandtapeten, zu bewundern oder sich einen genaueren Eindruck von den Gästen zu verschaffen, denn schon gesellte sich ein Mann zu ihnen. Punzel schätzte ihn auf Mitte sechzig.
„Erst sieht man sich nie, dann sieht man sich immer“, sprach der kleine Herr. „Wann, sehr verehrter Herr Dr. Schulz, hatten wir das letzte Mal das Vergnügen?“
„Es muss im Amtsgericht Charlottenburg gewesen sein, Herr Dr. Manger“, gab der Angesprochene zurück, „am 14. März.“
„Sie haben ein Gedächtnis wie ein Elefant“, lächelte Dr. Manger, wohl selbst beeindruckt von seiner Schlagfertigkeit. „Aber ohne Fleiß kein Preis. Sie sind wahrlich kein Feld-Wald-und-Wiesen-Anwalt.“
„Wir waren in einem Verfahren Gegner“, erläuterte Dr. Schult seinem Kompagnon.
„Und er hat kurzen Prozess gemacht“, kam Dr. Manger seiner Erinnerung zu Hilfe.
„Auch mein Kollege, den ich Ihnen vorstellen möchte, muss sich als Anwalt nicht verstecken. Ein großes Talent: Richard-Anton Punzel.“
„Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Herr Dr. Manger“, sagte Punzel artig.
„Die Freude ist ganz auf meiner Seite. Ich sage immer: Recht haben und Recht bekommen sind zweierlei. Ist es nicht so?“
„Wie wahr, Herr Dr. Manger, wie wahr“, kam Dr. Schult seinem Kollegen zuvor, der wohl mit Recht eine unangemessen lakonische Entgegnung nach dem Muster „Wo Sie recht haben, haben Sie recht“ fürchtete. Rasch ergänzte er noch: „Herr Dr. Manger ist Vorstandschef der Brill AG. Du wirst sie kennen.“
Punzel hatte keine Ahnung, nickte aber, vorgeblich bestens orientiert.
„Eine schöne Frau, in diesem Fall meine, soll man nicht warten lassen“, sagte ihr Gesprächspartner dann. „Verweilen Sie noch viele Augenblicke, sie sind so schön.“
Sobald Dr. Manger außer Hörweite war, hob Punzel zu einer Frage an. Dr. Schult kam ihm erneut zuvor.
„Ich habe von ihm auch noch nie einen Satz gehört, der nicht eine Sentenz, eine Redensart, ein Zitat war. Das hält man nicht lange aus und es macht die Zusammenarbeit nicht einfach. Kein Schimmer, wie er damit so erfolgreich werden konnte. Reich, auch einflussreich, ist er jedenfalls.“
„Was macht man eigentlich, wenn man etwas Wichtiges sagen will, aber es fällt einem partout keine passende Redensart ein?“, dachte Punzel. „Wie viel muss da ungesagt bleiben. Eine interessante Welt, in der sich der alte Herr da bewegt.“
Sie sollten ihm an diesem Abend noch einmal begegnen. Einstweilen genossen die beiden Anwälte das ausgesprochen vielfältige und exquisite Buffet, wobei Punzel auf Drängen seines Partners erstmals die Bekanntschaft mit Austern machte. Eine künftige, innigere Beziehung mit ihnen konnte er aber danach mit hoher Wahrscheinlichkeit ausschließen.
Ulrich von der Borgen, den Dr. Schult in dem Gewusel entdeckte, wie er, neben einer etwa gleichaltrigen Frau stehend, mit einem Champagnerglas in der Hand auf den Kronleuchter starrte, würde ihm allerdings auf gewisse Weise länger erhalten bleiben. Nur: Woher hätte Punzel das ahnen sollen, als er dem Mann mit dem Adligen im Namen vorgestellt wurde?
Sein Kompagnon übernahm das.
„Mein Mitarbeiter, Richard-Anton Punzel.“
Mitarbeiter! Punzel guckte säuerlich, fasste sich aber schnell und streckte die Hand aus.
„Ulrich von der Borgen. Meine Schwester.“ Man verneigte sich zur Begrüßung voreinander. Frau von der Borgen blieb im Folgenden schweigsam.
„Sehr angenehm. Herr von der Borgen und ich kennen uns vom Golfsport und nicht – oder soll ich sagen: noch nicht? – vom Geschäftlichen her“, erläuterte Dr. Schult.
„Das ist richtig. Mag sein, dass sich das ändert. Wissen Sie, ich habe das ungute Gefühl, dass mein alter, ich muss sagen: sehr alter Rechtsvertreter von der Komplexität meiner aktuellen juristischen Auseinandersetzung doch überfordert ist.“
„Das hört man gern …“, vergriff sich Punzel und musste sich von seinem Kollegen diplomatisch interpretieren lassen.
„Wir meinen natürlich, wir wären jederzeit bereit, Ihnen unsere Unterstützung anzubieten.“
„Das allerdings“, sagte von der Borgen bedächtig, „erwäge ich schon seit einiger Zeit. Deshalb freue ich mich, Sie hier zu sehen. Können wir uns, für einen ersten Gedankenaustausch, an einem der nächsten Tage treffen? Übermorgen würde es mir zum Beispiel sehr gut passen.“
„Perfekt!“ Punzel übernahm jetzt Verantwortung. „Wir freuen uns. Ich darf Ihnen unsere Karte überreichen?“
„Nicht nötig“, wehrte ihr potentieller neuer Mandant ab, „ich kenne nicht nur Ihre Kontaktdaten, ich weiß alles über Ihre Kanzlei.“
Dr. Schult wurde ein bisschen bleich.
„Wissen Sie, das hier“, er blickte nach oben und in die Runde, „das hier hat alles mal meiner Familie gehört, das ganze Gutshaus. Man hat es uns abgeluchst, damals. Sie wissen, wovon ich rede. Wir sehen jetzt gute Chancen auf Restitution. Und Sie sind klug und gewitzt, so viel weiß ich. Schauen wir doch, ob wir zusammenpassen und etwas erreichen können.“
Er empfahl sich, ohne eine Antwort abzuwarten.
„Ah jaaaa“, machte Dr. Schult. „Alter Adel, will wieder in seine vermeintlichen Rechte eingesetzt werden. Ein bisschen unappetitlich, was meinst du?“
Punzel überlegte nicht lange.
„Unappetitlich, das trifft es. Aber höchst lukrativ, wenn ich mich nicht irre, hihihi. Da ist ein ordentlicher Streitwert zu erwarten. Ich bin kein Freund des Blaublütigen, aber hören wir ihn doch mal an. Wenn er im Recht ist, wird er sein Recht schon bekommen, warum sollen wir da nicht mitwirken und mitkassieren?“
„So gefällst du mir!“ Sein Kompagnon schlug Punzel auf die Schulter. „Hast dir doch was bei mir abgeschaut, was?“
Jetzt wurde Punzel bleich.
„Ich hoffe doch nicht. Wenn du meinst, ich orientiere mich an deinem starren Blick aufs Geld – vergiss es! Aber wenn die fidelen Feudalen meinen, wieder ihre Privilegien einklagen zu müssen, dann habe ich nichts dagegen, wenn etwas dabei für mich abfällt. Sie werden schon nicht wieder ans Ruder kommen.“
„Ans Ruder? Werden sie nicht?“ Dr. Schult war sich da nicht so sicher. „Dein Wort in des Kaisers Ohr.“
In diesem Augenblick hob ein Quartett zu streichen an. Die beiden Anwälte lauschten, wie die anderen Gäste auch, eine halbe Stunde lang den klassischen Klängen.
Als Punzel auch das überstanden hatte, machte sich Dr. Schult daran, den Gastgeber des Abends, den Vorstand der Stiftung, zu suchen. Er wollte ihn dazu befragen, wie die Chancen der vermeintlichen Erben standen, das Familiensilber bzw. Betongold zurückzuerhalten. Doch war er erfolglos dabei, einen der beiden Herren oder die Dame ausfindig zu machen. Sie waren auch schon eine Weile nicht gesehen worden.
So gesellte er sich wieder zu Punzel, sagte ihm, dass er noch eine Weile bleiben wolle, um vielleicht doch noch seinen Wunsch zu erfüllen. Lange standen sie nicht allein, da promenierte der Manager Dr. Manger samt Gattin wieder an ihnen vorbei und legte einen Halt ein.
„Unverhofft kommt oft“, sprach es ihn, woraufhin er seine Angetraute bat, das Wort zu ergreifen.
Was sie auch tat.
„Wir, mein Mann und ich, haben uns überlegt, ob wir Sie, Herr Punzel, einladen dürften. Würden Sie uns die Freude machen, uns zu einem Opernabend zu begleiten? Sie, junger Mann, haben uns durchaus beeindruckt, weshalb wir gerne mit Ihnen ein paar Stunden in heiterer Atmosphäre verbringen würden. Übermorgen? La Traviata? In der Deutschen Oper? Wunderbar! Sagen Sie dort einfach, dass Sie einer Einladung von Dr. Manger folgen. Bis dahin!“
So schwebten sie davon, nicht ohne dass Dr. Manger noch ein Wort, über die Schulter gesprochen, an sie wandte.
„Spät, aber nicht zu spät.“
Einigermaßen erschlagen von dieser zweiten Begegnung versuchte sich Punzel an den Gedanken zu gewöhnen, gleich einen ganzen Abend mit dem Manger-Paar zu verbringen. Und dann noch in der Oper! Es wäre völlig unzutreffend gewesen, in dem Anwalt einen Connaisseur der klassischen Musik zu wähnen. Gerade war er einem streichenden Vierer glücklich entkommen, schon stand ihm ein Fünfakter ins Haus! (Was so nicht stimmte, aber das wusste er da noch nicht).
„Siehst du, alles entwickelt sich bestens“, strahlte Dr. Schult. „Gutes Essen, erlesene Getränke, Musik vom Feinsten, und dann auch noch einige Geschäfte eingefädelt. Von mir aus können wir gehen.“
Dagegen hatte Punzel nicht das Geringste einzuwenden. Nach einem letzten Glas Champagner orientierten sie sich dann heimwärts. Da tauchte das Triumvirat des Vorstands doch noch auf. Dr. Schult fing sie ab, um seine Fragen loszuwerden.
„Glauben Sie mir“, sprach der eine, Dr. Klein, für alle, „daran ist nichts. Die Stiftung ist rechtmäßige Besitzerin des Gutshauses, und auf welcher Grundlage eine Restitution realisiert werden könnte, kann ich mir beim besten Willen nicht erklären. Haben Sie noch einen angenehmen Abend!“
Immerhin hatten sie nun auch schon einmal die Gegenseite gehört. Punzel allerdings hatte während der kurzen Unterhaltung weniger seine Ohren gespitzt als seine Augen weit geöffnet. Denn, eigentlich unübersehbar, trugen sowohl der Sprecher als auch die Frau zu seiner Linken Spuren eines weißen Pulvers in jeweils einem Nasenloch zur Schau. Und dabei handelte es sich weder um Reste eines Waschmittels noch um Mehlstaub. Punzel hatte keinen Zweifel.
„Die drei haben gekokst!“
Was er aber nur äußerst leise vor sich hinsprach. Vielleicht konnte man dieses Wissen ja noch mal gebrauchen.
Das war aber noch nicht alles. Als Punzels Blick sich, von irgendetwas angezogen, der Dame des Dreigestirns noch einmal intensiver widmete, nahm er einen nicht gerade kleinen, weißlichen Fleck auf dem Aufschlag ihrer Jacke wahr – und auf dem anderen ebenfalls eine solche verräterische Hinterlassenschaft.
„Worum es sich dabei handelt“, dachte er, „kann man sich auch leicht ausmalen, da bedarf es keines Laborbefunds.
Was für eine durch und durch verkommene sie war, diese Bessere Gesellschaft.
Im Auto versuchte er dann die aufkommenden Gedanken an den schon so bald drohenden Opernabend zu verdrängen. Einen hilfreichen ließ er aber noch zu: Er brauchte eine Begleitung. Wer anderes als seine Assistentin konnte ihm beistehen?