Читать книгу Sollbruchstelle - Tom Gear - Страница 6

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„Der feine Herr geht also zum Bankett“, spottete Gustav am Telefon. Sein Kompagnon hatte Punzel angerufen, weil er ihn willkommen heißen wollte und sie sich im Büro nicht gesehen hatten. „Klar, er ist ja jetzt auch ein Prominentenanwalt. Geh ruhig, mir bleiben immer noch die Brosamen des Arbeitsrechts.Vielleicht darf ich ja mal diesen Bayernkanzler vertreten, wenn er mal wegen groben Unfugs endlich geschasst ist.“

Punzel wollte seinem ihm lieb gewordenen Kollegen nicht die Hoffnung auf lukrative und medienwirksame Auftritte nehmen und schwieg vornehm.

„Überhaupt hätte ich heute Abend gar keine Zeit. Ich muss mich auf eine Verhandlung morgen noch vorbereiten. Mal wieder ein Gütetermin.“

Dieses Wort alarmierte seinen Partner regelmäßig. Prüfend schaute er den um wenige Jahre älteren, kaum größeren, dafür aber deutlich korpulenteren Gustav an, der – um ebenso intensiv zurückstieren zu können – seine modische, breitrandige Brille von der Nase nahm.

„Gütetermin! Justav, mein Justav, versprich mir, dass du dabei nicht wieder die Pferde mit dir durchgehen lässt. Es handelt sich doch, wie dir der Name vielleicht sagt, um Vermittlung, Einigung, und zwar um eine einvernehmliche. Lass das doch nicht so an dich 'rankommen.“

Ob er mit diesem Appell Erfolg haben würde, daran zweifelte Punzel mit Fug; vor allen Dingen, berufsbedingt, aber mit Recht. Er wusste ja, wie sehr seinem Kollegen und Freund die ewigen Arbeitssachen auf die Nerven gingen. Wie glücklich war Gustav im letzten Sommer gewesen, als er seinen Anteil an der Ergreifung des Frauenmörders Richie hatte leisten können.

Rechtsanwalt Richard-Anton Punzel fühlte sich verantwortlich. Schon wieder. Denn wenn er schon Romy ein Angebot machte, dass sie, wie erwartet, nicht ablehnen konnte, so würde er auch Gustav eines in Aussicht stellen müssen.

Fragte sich nur, woher in diesem Fall der Fall kam, also das Verbrechen, das Großdelikt, das Megaprojekt, an dem sich wieder ein größeres Team hätte abarbeiten dürfen? Er konnte ja schlecht selbst in dieser Hinsicht aktiv werden, um Arbeitsplätze und das Glück der ihm Nahestehenden zu sichern.

Einstweilen vertröstete Punzel Gustav auf ein Feierabendbier im Absacker an einem der folgenden Abende. Dann könnten sie ihr Bündnis erneuern, auch ohne einen aktuellen, brisanten Fall.

Derjenige, der ihm im Moment am meisten zu schaffen machte, war keiner solchen Kalibers. Es ging um einen Fall von Körperverletzung, immerhin. Sein Mandant war beschuldigt, seinen potentiellen Schwiegervater übel zugerichtet zu haben, so dass der gefallen war und sich das Handgelenk gebrochen hatte. Uwe Seiler, sein Klient, stellte die Vorkommnisse aber so dar, dass der Schwiegervater ins Stolpern gekommen sei, und als er ihn habe auffangen wollen, habe er ihn unglücklich erwischt und ihm den Arm ausgekugelt. Das Opfer, vor Schmerzen laut aufschreiend, habe er daraufhin losgelassen. Dabei sei es heftig hingeschlagen, und bei dem Versuch, den Fall mit der rechten Hand zu dämpfen, habe es dort eben böse geknackst.

Auch wenn der Schwiegervater ein ziemliches Ekel sei und meine, seine Tochter habe etwas Besseres verdient als ihn, den Abteilungsleiter bei der Arbeitsagentur, würde er ihm doch niemals einen solchen Schaden zufügen, erst recht nicht ausgerechnet bei seiner eigenen Verlobungsfeier. Außerdem habe den Vorfall, der passiert sei, als der Schwiegervater gerade eine weitere Flasche Wein aus dem Keller holen wollte („der Geizhals holte immer nur eine Flasche“), der Bekannte seiner Frau, ein Hubert K., beobachtet und eigentlich auch bezeugen können, dass er, Seiler, unschuldig an dem Unglück sei. Dieser Augenzeuge, Hubert K., begehrte, soweit er das beurteilen konnte, immer noch seine Verlobte Berta von Binnen. Der Betriebswirtschaftler, Faustballspieler und Geschäftsführer einer bekannten Berliner Spedition sei aber ein ausgesprochener Langweiler, und seine Verlobte habe ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass er, Seiler, es sei, den sie heiraten wolle.

Punzel überlegte auf dem Weg – er hatte sich mit Romy am Bekleidungskaufhaus Beck&Quakenbrück verabredet –, dass er noch in der laufenden Woche versuchen würde, dem schwiegerväterlicherseits ungewollten Liebhaber der Braut auf den Zahn zu fühlen. Außerdem wollte er herausfinden, ob es nicht auch Videoaufnahmen von dem Geschehen gab. Das war schließlich nicht unwahrscheinlich, denn auf solchen Feierlichkeiten lief doch eigentlich ständig irgendeine Handykamera.

Rechtzeitig stand er vor den Toren des Modehauses und konnte nach nur kurzer Wartezeit seiner Assistentin zur Begrüßung einen Wangenkuss schenken.

Die Abendanzüge in der Herrenabteilung waren schnell gefunden. Beinahe noch schneller allerdings erlahmte Punzels Bereitschaft, all zu viel Zeit und Mühe in den Erwerb einer ihn vorteilhaft kleidenden Kombination zu investieren. Seiner Ansicht nach hatte er den Kulminationspunkt seiner stilistisch-modischen Möglichkeiten mit dem Erwerb zweier Hutmodelle erreicht, ja überschritten. Mit dem ersten dunklen Anzug, den ihm Romy reichte, war er sofort einverstanden und verzog sich in die Kabine.

Als er aus ihr wieder herauskam, zeigte sich auch seine modische Beraterin sehr angetan von dem Modell, wollte jedoch noch einige andere Optionen testen. Punzel ergab sich in sein Schicksal. Als nach gut einer Stunde Romys – und selbstverständlich auch seine – Wahl auf einen in jeder Hinsicht passenden Anzug gefallen war, nahm Punzel ihn ihr eilig ab und stand im Nu vor der Kasse, zahlte und war mit dem Paket unter dem Arm schon wieder auf dem Weg nach draußen. Romy erwischte ihn am Ärmel und unterband so seine Flucht aus der Konsumwelt.

„Halt, mein Freund, wer wird denn gleich an die frische Luft gehen“, bremste Romy seinen Freiheitsdrang. „Wir haben doch was ganz Wichtiges vergessen.“

„Was haben wir Wichtiges vergessen?“

„Ein Accessoire, eines, das ich an Ihnen heute nicht missen will, wie Sie wissen.“

„Ach dieses Plastikdingens.“ Punzel erinnerte sich nur ungenau.

„Plastron“, korrigierte sie mit Nachdruck.

„Was um alles in der Welt ist denn das jetzt Unanständiges?“, wollte Punzel endlich wissen.

„Für unanständig halten manche Verklemmte ja sogar Schlipse. Aber ein Plastron, ja, ein Plastron“, dozierte die Lohnabhängige vor ihrem in diesem Moment gar nicht sonderlich wissbegierigen Chef, „ist eine Art breite Krawatte, aber unvergleichlich viel schicker, von ganz besonderer Eleganz. Sie werden, wie so oft zuletzt, damit im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen. Mitkommen, mitstaunen!“

Sie riss ihn mit sich fort, eine Wahl hatte er gar nicht. Das ging ihm nicht als ersten so in den Fängen einer Frau, die ihren Liebsten nach ihrem inneren Bilde vorteilhaft auszustaffieren gewillt ist. Fündig wurden sie bei Beck&Quakenbrück allerdings nicht.

„So etwas Edles gibt es nur im Westkaufhaus“, proklamierte Romy, und schon kam Punzel endlich an die begehrte, sagenhafte Berliner Luft. Das aber auch nur für wenige Minuten, dann hatten sie das Berliner Traumhaus der exklusiven Konsumwünsche erreicht.

Das Objekt ihrer – also Romys –, Begierde fanden sie aber nicht gleich, so dass sie sich Auskunft heischend an einen Angestellten wandten. Der sprach den Begriff übertrieben nasalierend nach, konnte mit ihm aber nichts anfangen, so dass er einen älteren Kollegen hinzuzog. Des alten Fahrensmannes grüne Augen begannen umgehend zu leuchten.

„Welch seltener Wunsch“, freute er sich. „Selbstverständlich steht Ihnen das Westkaufhaus mit einer Auswahl von Plastrons gerne zur Verfügung, nicht wahr? Bitte setzen Sie sich doch und gedulden Sie sich einen Augenblick, n'est-ce pas!“

Romy und Punzel ließen sich auf den angebotenen Sesseln nieder. Es dauerte nicht lange, und der gute Geist des WEKAHA ließ sich schon wieder blicken, im Arm eine kleine Menge Stoff, bei dem es sich Punzels Vermutung nach um das kleidsame Etwas handelte.

„Ich bitte um Verständnis, nicht wahr, aber soweit ich mich erinnere, haben wir in diesem Jahr noch keinen Plastron veräußert. Ich habe deshalb im Lager nachgesehen. Ich kann Ihnen eine durchaus modische, ja exquisite Auswahl zeigen. Wenn Sie bitte mal schauen möchten, möchten Sie nicht?“

Des Verkäufers Arm, über den er die Stoffe gelegt hatte, richtete sich zwar an Punzel, doch war es Romy, die zugriff.

„Lassen Sie mal sehen: der nicht, der ist zu bunt, der geht, der ist zu grau, und der kam ja schon mit den Streifenhosen aus der Mode.“

Romy wusste wahrscheinlich gar nicht, dass sie soeben, in Gestus und Wortwahl, die Krawattenszene aus Billy Wilders Berlin-Komödie Eins, zwei, drei nachgespielt hatte. Nur der Verkäufer überhörte sein Stichwort, weshalb die Replik „Ach, Sie wollen Streifenhosen!“ unterblieb und die Szene insofern defizitär endete.

„Dieser ist es!“, jubilierte Romy endlich, und der Anwalt war drauf und dran, ihr erneut die Ware zu entreißen und deren Preis umgehend zu entrichten.

„Halt, hiergeblieben, anprobiert!“ Romy duldete keine überstürzten Handlungen in dieser elementaren Angelegenheit.

„Sehr wohl!“, gab Punzel eingeschüchtert zurück. Das vornehme Gebaren des weisen Alten hatte wohl auf ihn abgefärbt. Oder aber er bereitete sich schon mit der Wortwahl auf den Umgang in der Besseren Gesellschaft am Abend vor.

Auch der Verkäufer war bei Romys dominanter Kurzansprache zusammengezuckt, hatte sich aber schnell gesammelt und machte sich daran, den Plastron ihrer – also, wie gesagt, Romys –, Wahl kunstvoll zu falten. Seine Kundin ließ es dann gnädig zu, dass er das fertige Prachtstück dem Kunden um den Hals legte.

Romy blickte ihren Chef von allen Seiten skeptischprüfend an, bevor sie ein Urteil abgab. Der in Ehren gealterte und im WEKAHA ergraute Verkäufer fasste sich schneller.

„Das ist es, gnä' Frau. Perfekt, wenn Sie mich fragen.“

Das tat sie keineswegs, vielmehr neigte die Angesprochene noch einmal den Kopf. Dann war sich die Jury einig.

„Ja“, murmelte sie, „ja, durchaus.“ Und dann entschiedener: „Ja, das ist mein Mann, also mein Chef. Der kann, der muss das tragen.“

Man dankte allerseits für Beratung bzw. Kauf, und nachdem für den textilen Körperschmuck eine faire Summe beim zuständigen Kassierer hinterlegt worden war, durfte Punzel endlich den Ort des modischen Geschehens verlassen und Romy zum Dank für ihre Hingabe zum Kaffee einladen.

„Nicht dafür“, sagte sie, als sie sich in den etwas zu plüschig geratenen Fauteuils eines Cafés niedergelassen hatten. „Sie haben mir eine Freude gemacht, ich werde Sie sehr gerne in Anzug und mit Plastron sehen. Das bedeutet: Sie müssen mir ihr neues Outfit gleich noch vorführen.“

Darauf war Punzel nun gar nicht vorbereitet. Sein Heim war, obwohl er es eine Woche lang gar nicht bewohnt hatte, nicht sonderlich aufgeräumt. Allerdings, so überlegte er, verglichen damit, wie es sonst dort aussah, war es doch immerhin erträglich ordentlich. Also zeigte er sich einverstanden und nickte ihr nach einigen Momenten des Erwägens zu.

„Dann möchte ich Ihre Neugier nicht auf die Folter stammen. Per mia casa, per favore!“

Sie tranken aus und machten sich auf den Weg.

Schon seit Tagen ließen sich die vielen Schriftzüge nicht übersehen, die an Hauswänden, auf Stromkästen und Bushaltestellen aufgesprüht oder -gemalt worden waren.

„Wissen Sie, was das soll?“, erkundigte sich Punzel bei seiner Assistentin und wies sie sie auf einen davon hin.

Sie blieben vor einem Tag, wie man es vielleicht früher genannt hätte, stehen. Ein kryptisches „bmenSt“ war da zu lesen.

„Keinen Schimmer“, sagte die. „Wahrscheinlich Infos, die nur Mitglieder einer bestimmten Gang entziffern können. Wenn die Buchstaben denn überhaupt einen Sinn haben.“

„Sicher haben Sie recht. Und doch will man, wenn man damit schon dauernd konfrontiert wird, irgendwann wissen, was sie bedeuten.“

„Sie sind der Detektiv, kriegen Sie's 'raus Das wird Ihnen wieder einmal ein Mordsaufsehen verschaffen. Und ihr Mordsansehen noch einmal steigern.“

„Danke für die zweifelhaften Preiselbeeren. Ich werde es mir überlegen“, sagte Punzel nachdenklich.

Sie kamen gerade an der Nachricht „gtgtbb“ vorbei. Zwei Mal „g“, zwei Mal „t“, zwei Mal „b“.

„Verdammt“, murmelte der Anwalt, „das muss doch zu enträtseln sein.“

An diesem Tag war dafür keine Zeit mehr. Sie nahmen die U-Bahn, und keine zwanzig Minuten später standen sie in seiner Wohnung in Steglitz. Romy schaute sich, jedenfalls so lange er bei ihr war, nicht weiter um und kommentierte den Zustand von Zimmern und Nebengelassen nicht. Nachdem sich ihr Chef umständlich in die neue Schale geworfen hatte, traute er sich, ihr in seinem recht edel aussehenden dunkelblauen Anzug gegenüberzutreten.

„Ich bin sehr zufrieden mit Ihnen“, lächelte sie. „So gewandet machen Sie uns keine Schande, im Gegenteil. Trumpfen Sie richtig auf in der Besseren Gesellschaft. Und vergessen Sie nicht, was Sie mir versprochen haben: Ziehen Sie uns einen neuen, herausfordernden Auftrag an Land!“

„Versprochen“, antwortete er, „ich stelle mein Team wieder zusammen. Wir sind im Auftrag des Rechts unterwegs!“

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