Читать книгу Ein Bruder für Luca - Tom J Schreiber - Страница 7

Оглавление

2

Ich hatte noch nie einen Toten gesehen, aber so mussten die Augen eines Toten aussehen. Während der ganzen Rede unseres Rektors saß der Junge vor mir. Ich wagte es nicht, mich zu ihm zu drehen. Zu skurril und beängstigend war die Situation. Ich hatte diesen Schüler noch nie auf dem College bemerkt. Warum träumte ich von ihm und was hatte der Traum zu bedeuten? Als der Rektor offiziell die Ferien eingeläutet hatte, brach ein Tumult los. Alle drängten nach draußen. Der Ausgang der Aula führte direkt an dem Jungen vorbei. Ich blieb sitzen und wartete, bis ihn die Meute verschlungen hatte. Auf keinen Fall wollte ich ihm näherkommen.

»Bewegst du dich mal?« Marcel war aufgestanden und sah mich ungeduldig an. Vorsichtig ließ ich meinen Blick an ihm vorbei wandern. Erleichtert stellte ich fest, dass der Junge weg war. Gemeinsam verließen wir das Collegegebäude. Draußen entdeckte ich ihn, ein paar Köpfe weiter vorn, wieder. Von hinten war nichts Außergewöhnliches zu bemerken. Jetzt war ich doch neugierig. Konnte es überhaupt sein, dass sein Gesicht so abartig aussah? Ich hatte mich sicher getäuscht. Mein Verstand musste mir einen Streich gespielt haben. Denn wenn nicht, würde ihn jeder anstarren oder schreiend davon rennen. Aber nichts dergleichen passierte. Plötzlich hatte ich es eilig. Ich musste mich vergewissern, dass er ein ganz gewöhnlicher Junge war. Meine Schritte wurden schneller.

»Beeil dich mal«, sagte ich zu Marcel. Gleichzeitig boxte ich mich durch die Horde Schüler, um den Jungen einzuholen.

»Wo willst du denn plötzlich so schnell hin? Wir kommen schon noch rechtzeitig zu Lea an den Strand«, keuchte Marcel hinter mir.

»Scheiß auf Lea. Beeil dich einfach«, rief ich zurück und achtete nicht darauf, ob er mithalten konnte. Ich musste den Jungen einholen. Endlich lichtete sich die Menge. Ich stand auf dem Hof, vor dem gusseisernen Tor und sah auf die Straße. Der Junge war weg.

»Verdammt«, fluchte ich.

»Bro, was ist denn mit dir? Erst hockst du ’rum wie erstarrt und dann rennst du los, als wäre der Leibhaftige hinter dir her«, japste Marcel, der ebenfalls am Tor angelangt war.

»Wer bitte ist der Leibhaftige?«, wollte ich irritiert wissen.

»Weiß nicht«, zuckte Marcel grinsend die Schultern. »Sagt man halt so.«

»Na dann«, antwortete ich in Gedanken.

»Wem wolltest du denn nach?«, fragte er noch mal gespannt.

»Ach egal, lass uns nach Hause fahren.« Ich war froh, dass Marcel nicht weiter nachbohrte. Auch das zeichnete ihn eben aus.

Unsanft schlug die Wohnungstür hinter mir zu. Wie jeden Mittag nach der Schule warf ich unserer Haushälterin ein »Hey Manuelle« zu, um danach in meinem Zimmer zu verschwinden. Eine Antwort wartete ich nicht ab. Vielleicht hatte sie es längst aufgegeben und akzeptiert, dass meine Zimmertür schneller ins Schloss fiel, als sie reagieren konnte. Wahrscheinlich interessierte sie es gar nicht. Gleichgültig warf ich den Rucksack auf den Boden. Mit einem Tritt beförderte ich ihn unters Bett. Dort würde er für die nächsten acht Wochen sein Zuhause finden. Mit dem Handy warf ich mich auf die Zudecke. Ferien! Zwei Monate keine Schule und vor allem keine Lehrer. Eigentlich sollte ich tierisch froh sein, aber worüber? Dieses Jahr war es schlimmer als je zuvor. Genau wie ich meine Lehrer nicht sehen würde, würde ich meine Freunde auch nicht treffen können. Marcel eingeschlossen. Übermorgen musste ich mit Dad, in den alljährlichen, ‚heile Welt - Vater&Sohn - Urlaub‘ an die Adria. Die Chance hierzubleiben, hatte ich heute Morgen wohl endgültig verwirkt. Der Urlaub würde wie immer, der totale Horror werden. Mein Vater arbeitete zwei Drittel davon, um mir die andere Zeit mit seinem Männerdinggehabe auf die Nerven zu fallen. Ich verstand ohnehin nicht, warum wir an die Adria fuhren, wo wir das Meer vor der Haustür hatten. Nicht genug, entdeckte er genau dann seine Vaterrolle, wenn für mich der Urlaub schön wurde, weil ich Leute kennengelernt hatte, mit denen ich abhängen wollte. Er ging mit mir in pompöse Strandrestaurants und nannte es die Höhepunkte des gemeinsamen Urlaubs. Für mich war es der Horror. Lieber hätte ich tagsüber mit ihm im Wasser getobt, Fußball am Strand gespielt oder irgendwie sonst das Gefühl gehabt, dass er etwas wegen mir machte. Ein Burger in irgendeiner Frittenbude hätte mir dabei völlig gereicht. Für ihn war das alles nichts. So lungerte ich den ganzen Tag im Hotel herum. Neidisch sah ich anderen Familien zu, die gemeinsam Spaß hatten. Wenn ich es mir recht überlegte, war für meinen Vater der einzige Unterschied zum Alltag, der Ort, an dem wir uns befanden und das essen gehen. Wenn wir in drei Wochen wieder zurück waren, fuhr Marcel in ein Ferienlager nach Spanien. Das waren weitere endlose Tage, in denen ich mich langweilte. Mein alter Herr war der Meinung, es wäre zu viel des Guten, sechs Wochen zu verreisen. Dass er mir damit die beste Zeit des Jahres kaputt machte, ignorierte er völlig. Seit ich Zehn war, führten wir die gleiche Diskussion. Immer mit demselben Ergebnis. Ich blieb zu Hause. Letzte Ferien war der Streit dermaßen eskaliert, dass er mir acht Wochen Nachhilfeunterricht aufbrummte. Selbst im gemeinsamen Urlaub verzichtete er nicht darauf. Wie ich es hasste. Er hatte uns nie die Chance gegeben, Vater und Sohn zu sein. Wir lebten zwar unter einem Dach, aber morgens war er aus dem Haus, bevor ich aufstand. Am Abend setzte er sich ins Wohnzimmer, um direkt nach den Nachrichten im Bett zu verschwinden. Mitunter hatte ich das Gefühl, ihm war gar nicht klar, dass da jemand in seinem Zimmer saß, der darauf wartete, er würde hereinkommen und wenn es nur wäre, um eine gute Nacht zu wünschen. Als ich noch kleiner war, hatte ich oft bei ihm gesessen, um in seiner Nähe zu sein, immer darauf bedacht, ihn nicht zu stören. Er hatte mich nie geschlagen, aber er war regelmäßig sauer geworden, wenn ich ihn angesprochen, oder versucht hatte mit ihm zu kuscheln. So hatte ich es eines Tages gelassen. Nüchtern betrachtet, glaubte ich nicht, dass er auf mich als seinen Sohn erpicht war. In seinem Leben würde ohne mich nichts fehlen. Mit Marcels Eltern war es dagegen toll. Mit dessen Dad war ich oft beim Angeln oder am Strand. Wir hatten eine Menge Spaß. Er liebte Marcel und ich hatte das Gefühl, er liebte sogar mich. Zumindest mehr, als mein eigener Vater. Es ist komisch das zu sagen. Ich hoffe, keiner, der das liest, kann es verstehen. Wie immer bei solchen Gedanken und wenn ich auf Dad sauer war, überkam mich ein seltsames Gefühl. Heute jedoch stärker als je zuvor. Ich kannte meinen Vater nicht. Denke nach, sagte ich mir. Dir muss doch einfallen, wann er dich einmal in den Arm genommen hat, um dich zu trösten oder zu zeigen, dass er dich liebt. So angestrengt ich auch nachdachte, mir fiel nichts ein. Es war nie passiert. An keinem Tag hatte ich mir das so sehr bewusst gemacht, wie in diesem Augenblick. Ich weinte. Tränen rannen mir über die Wangen, in die Mundwinkel. Das Salz schmeckte genauso bitter, wie ich mich fühlte. Eine eisige Einsamkeit umhüllte mich. Eine Einsamkeit, die ich bis heute nie wieder gespürt habe. Zum Glück! Vergessen werde ich dieses Gefühl nie. Allein und verzweifelt, durchströmte mich eine schreckliche Sehnsucht nach meiner Mutter. Dad sprach nie über sie. Weder über ihren Tod, noch wie sie gewesen war. Manchmal versuchte ich, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Er wurde dann immer ungehalten. Des Öftern kam mir der Gedanke, dass ich mit ihrem Tod zu tun hatte und es ihm deshalb nicht möglich war, väterliche Gefühle für mich zu entwickeln. Ab und zu fühlte ich mich meiner Mutter derart nahe, als könnte ich sie im Raum spüren. Ich hasste diese Gedanken. Ich sehnte mich nach ihr, aber es machte mich traurig an sie zu denken, ohne eine echte Erinnerung zu haben. Auf der anderen Seite hatte ich etwas, das für das Verhalten meines Vaters sprach. So konnte ich es bei ihm aushalten. Ich hatte ein Dach über dem Kopf, jeden Tag zu essen und auch sonst mangelte es mir an nichts. Sicher gab es viele Jugendliche auf der Welt, die weitaus schlimmer dran waren. Dennoch, ein wichtiger Teil meines Lebens, hatte nie stattgefunden. Oft lag ich weinend im Bett oder tyrannisierte andere, mit meinen Wutanfällen. Sogar Marcel bekam es manchmal ab, obwohl er es gut drauf hatte, mich von zu Hause abzulenken. Er war eben mein bester Freund und der Mensch, von dem ich wusste, dass er es nie böse mit mir meinte. Die Schule machte mir zum Glück keine Sorgen. Meine Lehrer konnte ich nicht leiden, aber gute Leistungen gaben mir etwas von der Anerkennung zurück, die ich zu Hause vermisste. Meinen Vater beeindrucken zu wollen, hatte ich vor langer Zeit aufgegeben.

Unter dem T-Shirt rann mir der Schweiß über den Bauch. Aus den Gedanken gerissen, sprang ich auf. Es war noch nicht übermorgen. Zumindest bis dahin wollte ich die Zeit mit meinen Freunden verbringen.

»Kommst du essen, Jean«, rief es aus der Küche.

»Kein Hunger.«

»Wenigstens eine Kleinigkeit«, ertönte es direkt hinter mir. Manuelle stand in der Tür. Die Uhr zeigte bereits zehn vor eins. Muffig drehte ich mich um.

»Was ist an, ich habe keinen Hunger, nicht zu verstehen?«

»Nun komm schon, ich habe extra für dich gekocht.« Der Ton, den sie anschlug, bewegte mich fast meine schlechte Laune zu vergessen. Aber nur fast.

»Sorry, aber die anderen warten schon. Ich werde später essen«, sagte ich freundlicher. Sie konnte ja nichts für meinen Vater.

»Na gut, ich stelle es in den Kühlschrank. Vielleicht hast du am Abend Appetit«, zog sie resigniert von dannen, während ich hastig meine Badeshorts überzog. Mit einem knappen »au revoir, Manuelle«, war ich zur Tür raus. Um keine Zeit zu verlieren, rannte ich, mehrere Stufen überspringend, die Treppe hinunter. Den letzten Absatz erwischte ich nicht richtig und kam ins Straucheln. Gerade noch rechtzeitig bekam ich die Klinke der Haustür zu fassen, um nicht zu stürzen. Ich war dermaßen in Fahrt, dass ich mit einem lauten Schlag, der im ganzen Treppenhaus widerhallte, dagegen krachte. Meine Schulter schmerzte und ich hob vorsichtig den Arm, um zu sehen, ob Schlimmeres passiert war. Es schien alles in Ordnung. Hastig stürzte ich ins Freie. Manuelle war zuzutrauen, dass sie nachsehen würde, was den Lärm verursacht hatte. Das Letzte, was ich gebrauchen konnte, war ihre Fürsorge.

Die Sonne tauchte die Straße in ein gleißendes Licht. Heiß brannte sie auf den Asphalt, sodass sich die Luft verschwommen darauf spiegelte. Der Himmel hatte ein perfektes Blau, wie man es sich nicht ausdenken konnte. Keinem Maler der Welt würde es gelingen, ein solches Blau anzumischen. Ich blinzelte, da ich versehentlich in die Sonne gesehen hatte. Der Weg zum Strand war die perfekte Chance für eine Laufeinheit. Meine Schuhe berührten gerade den Gehweg, als ich auf jemanden aufmerksam wurde. Ein Mann, etwa vierzig Jahre alt, nobel gekleidet. Kein Anzug oder Krawatte, aber modisch. Für die Hitze auf jeden Fall unpassend. Er war aus einem Taxi gestiegen und blickte zu mir herüber.

»He Junge, kannst du mir helfen?«, rief er mir fragend zu. Er sprach ein fast akzentfreies Französisch, konnte aber nicht verbergen, dass er Ausländer war.

»Wenn es schnell geht«, sagte ich kurz angebunden. »Was gibts denn?«, setzte ich höflicher nach, mich meiner guten Kinderstube erinnernd. Zumindest das hatte mein Vater ja hinbekommen. Nebenbei war ich neugierig, was er wollte.

»Oh, entschuldige bitte. Ich möchte dich keinesfalls aufhalten. Dachte, du wüsstest eventuell, ob hier Familie Bellier wohnt.«

»Was ist denn das für ’ne Frage? Das Taxi hat Sie doch hergebracht, oder?«, sagte ich schroff.

»Da hast du recht. Entschuldige bitte«, zuckte er nervös lächelnd zusammen.

»Wenn weiter nichts ist, würde ich gerne los. Ich habs nämlich echt eilig. Sie müssen sich nicht andauernd entschuldigen«, grinste ich ihn an. Zu unhöflich wollte ich auch nicht wirken. Er sah erleichtert aus und lächelte.

»Wie heißt du eigentlich?«, rief er hinter mir her, während ich mich in Bewegung setzte. Was will er denn jetzt von mir, dachte ich und drehte mich um. Da er die Hand gehoben hatte, winkte ich zurück, gab aber keine Antwort. Hatte er Tränen in den Augen? Seltsam! Mein Vater hatte nichts von einem Besuch erwähnt. Zwei Tage vor unserer Urlaubsreise. Das passte gar nicht zu ihm. Fast wäre ich umgekehrt, um den Grund zu erfahren, lief aber weiter. Am Ende der Straße sah ich zurück. Der Mann, stand immer noch an der gleichen Stelle und schaute mir nach - unheimlich. Komischer Kauz. Ich zog das Tempo an und bog um die Kurve. Schließlich hatte ich schon genug Zeit verloren.

Ich konzentriere mich auf den Asphalt unter meinen Füßen. So kann ich meine Geschwindigkeit am besten wahrnehmen. Schnell verlieren sich meine Gedanken im Nichts. Ungewöhnlich schnell, fühle ich mich frei. Kurz sehe ich die Spitze meiner Sneaker, dann wieder Asphalt. Ich konzentriere mich auf meine Fußsohlen, so spüre ich Meter für Meter, der sich unter ihnen wegbewegt. Alles um mich herum verschwimmt und wird eins mit meinem Körper. Obwohl der Weg ganz eben ist, kann ich kaum atmen. Tief aus meinen Lungen, ziehe ich die letzten Sauerstoffreserven. Ich beginne zu röcheln. Mein Atem wird hektisch. Ich werde schwächer. Alles wird schwarz.

Plötzlich ein Ruck. Neue Luft strömt durch meinen Körper. Wind bläst durch meine Haare. Ich spüre ihn, bis in die Haarwurzeln. Überall kann ich ihn fühlen. Es ist ein schönes Gefühl. Licht blendet mich. Meine Luftröhre ist wieder frei. Dennoch bin ich schwach. Wie lange habe ich nicht geatmet? Um ein Haar zu lange. Die Frau - sieht mich an. Sie weint - genau wie ich. Der Asphalt unter meinen Sneakern verschwindet - Sand. Ich bin am Strand angekommen, werde langsamer. Ich atme schwer und tief ein - brauche Sauerstoff. Ich bin schneller gelaufen, als gedacht.

»Bro, wo bleibst du denn so lang?«, rief mir Marcel von Weitem entgegen. Lea und Dennis, ein anderer Junge aus unserer Klasse, waren auch schon da. Ich ließ mich erschöpft in den Sand fallen.

»Scheiße ist das warm heute«, sagte ich nach Luft schnappend. Mit einem gezielten Wurf landeten meine Schuhe direkt neben Marcels Kopf. Gleichzeitig zog ich das T-Shirt aus. »Sorry, dass ich so spät dran bin, aber mir ist gerade was echt Komisches passiert.«

Marcel sprang auf. »Ich lach nachher drüber, erst gehen wir uns abkühlen. Der Letzte ist ein Muttersöhnchen«, rief er und rannte los. Hastig entledigte ich mich meiner Shorts und fegte, hinter den anderen her. Ich war kein schlechter Läufer, deshalb schaffte ich es, zumindest Dennis, zu überholen. Marcel war noch nicht wieder aufgetaucht, als ich neben ihm in die Wellen hüpfte und ihn unter Wasser festhielt. Er hatte nicht damit gerechnet, entsprechend schnell ging ihm die Luft aus. Wild zappelnd versuchte er mich abzuschütteln. Lachend ließ ich los.

»Du bist tot, Bro!«, sagte er vergnügt, als er sich wieder einigermaßen erholt hatte. Er wollte sich auf mich stürzen, griff aber ins Leere. Ich hatte seine Attacke kommen sehen und war unter ihm weggetaucht. So begann eine wilde Jagd durchs Wasser.

Am Ende lagen wir beide abgekämpft in den seichten Wellen und beobachteten das Treiben des Meeres. In Momenten wie diesen liebte ich das Leben. Was konnte es Besseres geben, als mit seinen Freunden, bei dreißig Grad, am Strand rumzuhängen? Ich betrachtete das gleißende Sonnenlicht, das sich im Wasser brach. Es formte die unterschiedlichsten Schatten auf meiner Brust. Ich schloss die Augen und sog die Luft ein. Ich hörte dem Rauschen der Wellen zu, genoss das regelmäßige auf und ab der Brandung und roch das Salz des Wassers. Zusammen mit dem Duft der Bäume und dem Geruch des Sandes ergab sich eine Mischung, die ich überall auf der Welt wiedererkennen würde.

IN GEDANKEN VERSUNKEN, BLICKTE SIE, ENTLANG DER STEINBÖSCHUNG, AUF DIE KLEINE BRÜCKE HINÜBER. DAHINTER LAG EINE WINZIGE BUCHT MIT EINEM SANDSTRAND. SIE SAß HIER OFT. DIE BRANDUNG ZU BEOBACHTEN ENTSPANNTE UND BERUHIGTE SIE. AUCH WENN AN MANCHEN TAGEN DIE GISCHT SO STARK WAR, DASS SIE BIS HINAUF AUF DIE TERRASSE DES CAFÉS SPRITZTE. SIE FÜHLTE SICH DANN BEINAHE WIE AUF DIESER GEFÄNGNISINSEL IM PAZIFIK, IN DER BUCHT VOR SAN FRANCISCO. SIE WAR NIE DORT GEWESEN, ABER SO MUSSTE ES DA SEIN. SEIT DREIZEHN JAHREN WAR SIE GEFANGEN. GEPEINIGTE IHRER ERINNERUNGEN. ERINNERUNGEN AN IHREN SOHN. WARUM HATTE ER STERBEN MÜSSEN? NIEMALS HÄTTE SIE IHM DIESES SPIELZEUG AUF DIE DECKE LEGEN DÜRFEN. ER WAR DOCH NOCH VIEL ZU KLEIN DAFÜR. SIE HÄTTE ES VERHINDERN KÖNNEN. DIE TÜR IHRES GEFÄNGNISSES WAR ZUGEFALLEN, ALS DIE ÄRZTE GESAGT HATTEN, DASS ES ZU SPÄT GEWESEN WAR. SIE WAR GEFANGEN MIT IHRER SCHULD. SIE HATTE NICHT GESCHAFFT, IHREN SOHN NOCH EINMAL ANZUSEHEN. »DU HAST MICH IM STICH GELASSEN«, HÄTTE ER GESAGT. SIE WAR EINFACH WEGGEGANGEN. KEINE ZEICHEN. WAS HÄTTE SIE IHREM MANN AUCH SAGEN SOLLEN? SIE KONNTE IHM NICHT MEHR UNTER DIE AUGEN TRETEN. WEIT WEG WOLLTE SIE SEIN, WO SIE NICHTS DARAN ERINNERN WÜRDE. EIN TOLLER JUNGE HÄTTE ER WERDEN KÖNNEN. EINE GUTE ZUKUNFT HÄTTE ER GEHABT. SIE HATTE IHM ALLES GENOMMEN. SIE WÜRDE ES NIEMALS VERGESSEN. IN DER ERSTEN ZEIT HATTE SIE DARAN GEDACHT, SCHLUSS ZU MACHEN, SICH SCHLIEßLICH FÜR DIE GRÖßERE STRAFE ENTSCHIEDEN. SIE LEBTE MIT IHREM VERGEHEN. ES AUSZUHALTEN WAR DIE BÜRDE, DIE SIE TRAGEN MUSSTE. SIE KONNTE ES NICHT MEHR GUT MACHEN. DAS WAR DIE EINZIGE MÖGLICHKEIT DER BUßE. DARUM WAR SIE HIERGEBLIEBEN. SEIT EINIGER ZEIT HATTE SIE DAS GEFÜHL, DASS DARAN ETWAS NICHT STIMMTE. ETWAS HATTE SICH VERÄNDERT. SIE WUSSTE NICHT WAS. IHR BLICK WAR NOCH IMMER AN DER STELLE HÄNGEN GEBLIEBEN, HINTER DER DIE KLEINE BUCHT BEGANN. SIE WAR NIE DORT GEWESEN. DENNOCH ZOG SIE ES MAGISCH AN. MANCHMAL, WENN SIE HINÜBER SAH, LIEF IHR EIN SCHAUER ÜBER DEN RÜcken – so wie jetzt.

Kälte kroch mir in den Körper. Langsam breitete sie sich aus. Über die Zehen, meine Füße die Beine hinauf. Es schüttelte mich, zurück in die Wirklichkeit. Noch immer lag ich neben Marcel in den Wellen und noch immer brannte die Sonne heiß auf uns herunter.

»Bro, was war das denn?«, sah mich Marcel irritiert an.

»Keine Ahnung«, sagte ich wahrheitsgemäß. »Hat mich irgendwie geschüttelt.«

»Wolltest mir erzählen, was dir Komisches passiert ist«, erinnerte er sich. Ich schlug die Augen auf und drehte mich zu ihm.

»Stimmt, hab ich gar nicht mehr dran gedacht. Ich wollte vorher gerade weg, als so einen Typ vorm Haus aus einem Taxi gestiegen ist. Hat mich gefragt, ob da die Belliers wohnen.«

»Und?«, sah er mich gespannt an, als würde er auf die Pointe warten. »Ist doch nix Ungewöhnliches.«

Ich blickte ihn fordernd an. »Überleg doch mal. Das Taxi hält direkt vor unserer Haustür. Wer wird dem Fahrer wohl gesagt haben, wo er hinfahren soll?« Manchmal war Marcel etwas langsamer mit den Gedanken und so dauerte es einen Moment, bis er zu nicken begann.

»Stimmt auch wieder. Vielleicht war er sich wegen der Adresse nicht sicher«, schlug er vor.

»Ja und da spricht er besser einen wildfremden Jungen an, als einfach auf die Klingel zu schauen«, sagte ich verächtlich.

»Du kamst halt grade aus der Haustür«, stellte Marcel nüchtern fest, ohne auf meinen Unterton einzugehen.

»Keine Ahnung«, zuckte ich mit den Schultern. »Jedenfalls hatte er einen komischen Akzent. Sprach ziemlich gut Französisch, aber er war Ausländer. Hat sich ziemlich nach ’nem Deutschen angehört.«

»Deutscher?«, war Marcel überrascht. »Was will so einer denn von euch?« Verachtung spiegelte sich aus seiner Stimme wider.

»Ich sag ja, keine Ahnung. Gekannt hab ich ihn jedenfalls nicht. Er hat mich noch gefragt, wie ich heißen würde und mir ewig hinterhergeschaut.«

»Vielleicht fand er dich süß. Aber er hat mich noch nicht gesehen«, grinste Marcel und streifte sich eitel mit der Hand durch das Haar.

»Blödmann«, lachte ich. »Nein, aber mal im Ernst, wenn ich drüber nachdenke, würde es mich schon interessieren. Du kennst meinen Vater! Zwei Tage, bevor wir in den Urlaub fahren, würde er doch keinen Besuch einladen. Genau genommen hatten wir noch nie Besuch. Noch dazu aus Deutschland!«

»Vielleicht ein Geschäftspartner von deinem Dad«, mutmaßte Marcel.

»Das glaub ich nicht. Soviel ich weiß arbeitet seine Firma, weder mit deutschen Geschäftspartnern, noch hat er jemals geschäftlich jemanden nach Hause eingeladen.«

»Komm schon, verdirb dir nicht den Tag mit so was«, ließ sich Marcel zurück ins Wasser sinken. Er schloss die Augen.

»Hast ja recht«, antwortete ich und legte mich ebenfalls zurück. Diesmal genoss ich nicht das Gefühl des frischen Meerwassers auf meinem Bauch, sondern war in Gedanken ganz woanders. Seit ich mich erinnern konnte, hatten wir nie Besuch bekommen. Es hört sich verrückt an, aber es ist wahr. Nie hatte er irgendwelche Freunde oder Bekannte eingeladen. Selten, dass er selbst einmal ausging.

»Und ich sage dir, da ist was faul. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche«, sagte ich nach einer Weile hartnäckig.

»Bro, kannst du mal wieder von was anderem reden? Dachte, wir sind hier um Spaß zu haben«, erwiderte Marcel leicht genervt.

»Supertoll«, sprang ich auf. »Scheißegal, was mich bedrückt, oder? Hauptsache, du hast deinen Spaß!«

»Beruhig dich halt, sei doch nicht gleich sauer«, sagte Marcel, erschrocken. Ich beruhigte mich nicht.

»Denke schon, dass du meinst was du sagst«, ging ich wütend zurück, packte mein Handtuch und mit einem kurzen »Salut«, war ich auch schon unterwegs zur Straße.

»Jean, jetzt warte mal«, hörte ich Marcel hinter mir herrufen. Ich tat, als würde ich ihn nicht hören und lief trotzig weiter. Kurze Zeit später, spürte ich, wie er mich an der Schulter packte. Ein Schmerz erinnerte mich an den Aufprall gegen die Haustür.

»Jetzt krieg dich halt wieder ein. Ich hätte das nicht sagen dürfen. Es war nicht so gemeint. Entschuldige bitte!«

»Ach ja? Du solltest in Zukunft vielleicht sagen, was du meinst, dann ist es leichter zu verstehen«, blaffte ich zurück. Ich riss mich aus seiner Umklammerung. Sicher würde er einen zweiten Versuch starten, mich zu beruhigen. Diesmal würde ich nachgeben. So schlimm war es wirklich nicht gewesen. Erneut packte mich Marcel bei der Schulter, nun jedoch so hart, dass mir Tränen in die Augen schossen.

»Du wirst hierbleiben. Wir werden einen schönen Nachmittag verbringen und ich werde mich nicht weiter bei dir entschuldigen, weil ich nichts Schlimmes getan habe. Ich habe ehrlich gesagt keinen Bock, mir jedes Mal ein schlechtes Gewissen zu machen, nur weil du leicht erregbar bist. Ich bin dein Freund, lern das endlich!« Ich starrte ihn an. Das war nun nicht die Art von Entschuldigung, die ich erwartet hatte. Aber noch während er redete, wusste ich, dass er recht hatte.

»Blöder Scheißkerl«, sagte ich zu ihm. Unweigerlich musste ich grinsen. »Dass du auch immer alles so auf den Punkt bringen musst.«

Marcel lächelte zurück. »Na also«, legte er seinen Arm um meine Schulter. »Lass uns zurückgehen.«

»Okay«, sagte ich, während wir uns in Bewegung setzten. »Aber könntest du den anderen erzählen, dass du mich auf Knien gebeten hast hierzubleiben?«

»Vergiss es, Bro«, lachte Marcel. »Ich werde ihnen erzählen, dass ich dir die Meinung gesagt habe und du eingesehen hast, dass du im Unrecht warst.«

»Wirst du nicht«, erwiderte ich und hob drohend den Zeigefinger.

»Wer will mich denn daran hindern?«, hob Marcel die Augenbrauen.

»Wirst du schon sehen.« Ehe er sich versah, hatte ich ihn zu Boden geworfen. Blitzschnell saß ich auf ihm, drückte seine Arme nach hinten und kniete auf seine Oberarme. Er hatte keine Chance, mich abzuschütteln. »Sag, lieber Jean, ich bitte dich vielmals um Entschuldigung.« Marcel gab Geräusche von sich, die irgendwo zwischen jammern und kichern lagen. »Dir wird das Lachen schon noch vergehen«, drückte ich meine Knie noch fester auf seine Muskeln.

»Du tust mir weh«, kam es, wieder teils kichernd, teils schluchzend zurück.

»Was kann ich denn dafür, wenn du nervst …«, der Rest des Satzes ging in einem Aufschrei unter. Ich hatte mit meinem Knie empfindlich in seine Muskeln gedrückt. Natürlich war es Spaß, trotzdem musste es weh tun.

»Sag, entschuldige bitte, zu mir«, forderte ich ihn erneut auf.

»Entschuldige bitte zu mir«, sagte Marcel grinsend und ich ließ mich lachend zur Seite rollen. Ich war froh, dass er mich nicht hatte gehen lassen. Nicht auszudenken, wenn ich auch noch Streit mit meinem besten Freund bekommen hätte. Als wir zu unserem Platz zurückkamen, waren die anderen verschwunden. Vermutlich ins Wasser.

»Mann, ist das ein Tag«, schwärmte Marcel, während er sich auf seine Decke fallen ließ.

»Stimmt, endlich keine Schule mehr«, bestätigte ich.

»Danke übrigens nochmals für deine Unterstützung in Mathe«, meinte Marcel. Ich hatte das Gefühl, dass er mich bewundernd ansah. »Ohne dich hätte ich es nicht geschafft dieses Jahr«, fügte er hinzu.

»Ach was«, winkte ich ab. »Das hab ich doch nicht für dich getan. Ich will mir gar nicht ausmalen, wenn du nicht mehr in meiner Klasse wärst.«

Marcel schmunzelte. »Schon klar. Trotzdem, du warst mir echt ’ne große Hilfe. Was wollen wir denn heute noch machen?«

Ich antwortete nicht gleich. »Wie wär’s wenn wir später zurückkommen und uns einfach bis in die Nacht hier hinflaggen? Wir bringen etwas Verpflegung mit und chillen ’ne Runde.«

»Cool«, meinte Marcel verblüfft. »Das kommt ohnehin viel zu kurz, die nächsten Wochen. Wär mir aber nicht so sicher, dass dein Dad da mitspielt.«

»Ich denke mal, ich werde ihn nicht fragen«, feixte ich.

»Hast den Rebellen in dir geweckt, oder wie?«, grinste Marcel. »Okay, abgemacht. Dann treffen wir uns um neun wieder hier und wenn du einknickst, überleg ich mir was für dich«, sagte er mit gespielt, bedrohlichen Gesichtsausdruck.

»Yes Sir, Bro Sir«, sagte ich lachend.

Ein Bruder für Luca

Подняться наверх