Читать книгу Ein Bruder für Luca - Tom J Schreiber - Страница 8

Оглавление

3

Wie so oft, hatte Marcel den Umweg über meine Straße, in Kauf genommen.

»Ich hol dich in drei Stunden wieder ab«, meinte er kurz, gab mir einen Faustcheck und fuhr weiter. Ich freute mich darauf, mit Marcel zum Strand zurückzukehren, um die laue Sommernacht zu genießen. Davon würde mich nichts auf der Welt abhalten.

»Wie versprochen!«, rief ich hinterher.

Während ich das Treppenhaus zu unserer Wohnung hinaufstieg, kam der Gedanke an den Fremden von heute Mittag zurück. Nach der Auseinandersetzung mit Marcel hatte ich ihn ganz vergessen. Vorsichtig schloss ich die Tür auf und ließ sie hinter mir leise wieder zufallen. Die Wohnzimmertür war geschlossen. Ich hörte Stimmen, konnte aber nicht verstehen, was gesprochen wurde. Sicher war es nicht die feine Art, in meiner eigenen Wohnung zu spionieren, aber ich wollte wissen, wer der Typ war. Wenn es sich um einen Geschäftsfreund meines Vaters handelte, würde ich im Zimmer verschwinden. Auf meinen Dad hatte ich heute eh keinen Bock mehr. Ich schlich ins Esszimmer. Dort gab es eine Schiebetür mit einem Spalt, durch den man unauffällig ins Wohnzimmer schauen konnte. Hier war ich in meinem Leben schon oft gesessen. Früher hatte ich durch den Schlitz, manchmal noch etwas ferngesehen. Einmal hatte ich die halbe Nacht nicht schlafen können, weil ich einen spannenden Thriller mit angeschaut hatte. Deutlich sah ich Vater und den Fremden beieinander sitzen. So nah an der Tür, konnte ich jedes Wort verstehen.

»Ich kann nicht länger warten«, hörte ich den Fremden sagen. War es doch ein Geschäftspartner?

»Was wirst du jetzt tun?«, fragte mein Vater voller Zurückhaltung.

»Ich habe dir gesagt, dass ich nichts unternehmen werde. Ich fahre zurück nach München«, antwortete der Unbekannte resigniert, schon fast traurig. Mit einer Sache hatte ich richtig gelegen. Er war Deutscher. Mein Vater kannte ihn wohl besser als gedacht. Es gab nicht viele Menschen, die ‚du‘ zu ihm sagen durften. Der Mann wandte sich ab, um zu gehen, auch ich wollte mich schon in mein Zimmer zurückziehen.

»Er ist ja ohnehin, ganz offiziell, mein leiblicher Sohn.« Dad sprach den Satz mit einer Genugtuung, als wäre er ihm bereits die ganze Zeit auf der Zunge gelegen. Nun, da er ihn ausgesprochen hatte, merkte er, dass es ein Fehler gewesen war. Augenblicklich fuhr der Fremde herum. Seine Augen hatten sich zu Schlitzen verengt.

»Ein DNA-Test würde die Wahrheit wohl schnell ans Licht bringen«, sagte dieser scharf. »Ich finde es ein starkes Stück, dass du in meiner Gegenwart von deinem leiblichen Sohn sprichst.« Ich war auf die Reaktion meines Ernährers gespannt. So ließ er sicher nicht mit sich reden. Niemand sprach so mit ihm.

»Vielleicht habe ich einen Fehler gemacht«, hörte ich Vater sagen und konnte kaum glauben, wie kleinlaut er war. »Aber es ist nun zu spät, es wäre nicht richtig ihn aus seiner gewohnten Umgebung zu reißen«, beschwichtigte er seinen Gast, hörte sich dabei aber nicht sehr selbstbewusst an. Was ging da vor zwischen den beiden?

»Ein Fehler?«, lachte der Deutsche höhnisch. »Ein Verbrechen ist wohl die bessere Formulierung. Ich kann dir sagen, was richtig wäre. Wenn er immer noch auf den Namen hören würde, den ich mit meiner Frau für ihn ausgesucht hatte, er in München wohnen würde und seine Mutter noch bei uns wäre. Der Himmel weiß, was sie sich angetan hat.« Der Fremde nahm die Hände vors Gesicht. Ich verstand kein Wort von dem, was er sagte. Es verwirrte mich und langsam bekam ich das Gefühl, meinem Vater zur Seite stehen zu müssen. Es war nicht richtig, dass er in seinen eigenen vier Wänden in die Enge getrieben wurde. Irgendetwas hielt mich zurück. Nachdem sich Dad wieder gefasst hatte, erklang erneut seine Stimme. Sie zitterte. So hatte ich ihn noch nie erlebt.

»Jean hat ein gutes Zuhause. Du hast dich dreizehn Jahre nicht um ihn gekümmert. Etwas spät, um Ansprüche zu stellen«, sagte Vater angriffslustig. Paff, das hatte gesessen. Wie ein Faustschlag hallte mein Name in meinem Kopf. Was war ich für ein Idiot! Natürlich ging es um mich. Der Mann war wegen mir nach Frankreich gekommen. Deshalb hatte er mir hinterher gesehen und gefragt, wie ich heiße.

»Komm schon«, sagte der Fremde aufgebracht. »Wem willst du hier etwas vor machen? Du weißt genau, dass ich die ganzen Jahre nicht gewusst habe wo Alex steckt. Er ist mein Sohn und ich liebe ihn über alles. Wenn ich vor dreizehn Jahren bereits eine Ahnung von dem hier gehabt hätte, hätte ich ihn schon damals sofort zurückgeholt. In keiner Weise hätte ich unseren Alex im Stich gelassen!«

»Dann geh und mach sein Leben nicht kaputt«, sagte Dad leise aber bestimmt. Noch nie hatte ich jemanden so mit meinem Vater reden hören. Für jeden, den ich kannte, war er eine Respektsperson, sogar für Marcels Dad. Ich wusste nicht, was ich denken sollte. War ich Alex? Unmöglich. War ich gestohlen worden? Niemals. Vater war unausstehlich, aber doch kein Verbrecher. Was sollte der Fremde sonst für einen Grund haben, hierher zu kommen? Noch dazu war es ein Gespräch, nur unter den beiden. Es gab niemanden, dem er etwas vormachen musste und er hatte auch nicht widersprochen. Auf jeden Fall spürte ich Wut in mir hochkochen. Aber warum? In meinem Kopf war ein einziger Ameisenhaufen. Meine Gedanken liefen auf kleinen Füßchen kreuz und quer durcheinander. Ich hatte keine Chance, sie zur Ordnung zu rufen.

»So, wie du unseres kaputt gemacht hast?«, fragte der Fremde. »Ich habe die ganzen Jahre darunter gelitten, dass Alex vermeintlich gestorben war und meine Frau nicht zurückkehrte, oder was dachtest du, wie es mir ging? Ich werde dennoch verschwinden, weil du in einem Punkt recht hast. Ich möchte Alex’ Leben nicht durcheinanderbringen. Ich gehe nur aus einem einzigen Grund. Dem Jungen zuliebe. Aber Alex ist schlau. Er wird herausfinden, was damals passiert ist. Ich hoffe, du wirst den Preis bezahlen, für das, was du getan hast!«

Vater entgegnete nichts. Es war alles gesagt und ich hatte genug gehört. Rasch schlich ich mich in mein Zimmer. Kurz darauf, hörte ich die Wohnungstür ins Schloss fallen. Ohne dass ich es steuern konnte, trat ich ans Fenster. Es dauerte nicht lange und der Fremde kam aus der Haustür. Während er sein Handy ans Ohr hielt, blieb er stehen. Er sah an der Fassade herauf. Reflexartig zog ich den Vorhang vor mein Gesicht. Mit den Gedanken weit weg, sah ich ihn die Straße auf und ab gehen. Immer wieder hatte ich das Gefühl, dass er verstohlen zu mir heraufblickte. Manchmal blieb er stehen und rieb sich die Augen. Ich dachte, dass er müde von der langen Reise sein musste. Heute weiß ich, dass es Tränen waren, die er wegwischte. Wäre mir das damals klar gewesen, hätte sich die Geschichte vielleicht anders entwickelt. Vielleicht wäre ich sofort nach unten gelaufen, um ihn zurückzuholen. Wenn ich es recht überlege, hätte ich dadurch sogar ein Menschenleben retten können. Na ja, nur wenn man nicht an Schicksal glaubt. Bis zum heutigen Tag bin ich mir nie ganz klar darüber geworden, warum ich ihn damals habe wegfahren lassen. Marcel würde sagen, weil mein Kopf manchmal mehr mit denken beschäftigt ist als mit handeln. Tatsächlich schaute ich wie erstarrt zu ihm hinunter. Es dauerte eine ganze Zeit, bis sein Taxi eintraf. Als er einstieg, verirrte sich sein Blick ein letztes Mal zu mir herauf. Er verzog den Mund zu einem traurigen Lächeln und hob die Hand, als wolle er sich von mir verabschieden. Dann stieg er in den Wagen. Ich schaute ihm nach, bis er nicht mehr zu sehen war. Erst jetzt merkte ich, dass ich ebenfalls die Hand gehoben hatte. Traurig ließ ich sie wieder sinken.

Keine Ahnung, wie lange ich am Fenster gestanden hatte.

»Du bist ja schon zu Hause«, hörte ich die Stimme meines Vaters. Ich antwortete nicht, als ich mich umdrehte, sondern sah ihm forschend in die Augen.

»Ich habe alles gehört. Wer war der Mann?«, platzte es aus mir heraus. Warum sollte ich meine Gedanken quälen, wenn ich alles von ihm direkt erfahren konnte. Zögernd kam er herein und setzte sich aufs Bett.

»Dein Onkel«, sagte er ernst. Ich konnte keine Anzeichen entdecken, die mir verrieten, ob er es mit einer Notlüge versuchte oder mir die Wahrheit erzählte.

»Er ist der Bruder deiner verstorbenen Mutter«, sagte er ernst. »Als du geboren wurdest, war seine Frau, mit ihrem ebenfalls gerade geborenen Sohn, bei uns zu Besuch«, sprach er weiter. Ich musterte ihn scharf dabei. »Es gab einen tragischen Unfall. Ihr Sohn verstarb, noch während ihres Aufenthaltes hier.«

»Aber er hat gesagt, ich wäre sein Sohn!«

Vater nickte. »Das behauptet er auf einmal. Ich weiß nicht, was in ihn gefahren ist nach so langer Zeit.«

Ich sah ihn bestimmt an. »Du hast ihm nicht widersprochen, als er das behauptet hat.«

Er lächelte. »Er hat aus gutem Grund versprochen nichts zu unternehmen. Es war nicht nötig, sich mit ihm zu streiten!« Ich war noch immer misstrauisch. Er stand auf und streifte mir sanft lächelnd über die Stirn, »mach dir keine Sorgen, er wird uns nicht weiter belästigen.«

»Dad«, sagte ich, noch bevor er die Tür erreicht hatte. »Du würdest mich nicht anlügen, oder?« Er schüttelte lächelnd den Kopf und ging hinaus.

Ich war verzweifelt. War das die Erklärung, warum sich mein Vater so wenig für mich interessierte? War der Besuch die Erklärung, warum mein Kampf von meinem Vater akzeptiert und geliebt zu werden von vornherein verloren gewesen war? Oder war es tatsächlich der crazy Onkel aus Deutschland? Es hatte alles so echt geklungen, was er gesagt hatte. Warum sollte er einfach wieder gehen, wenn er verrückt genug war, extra nach Frankreich zu kommen, um mich zu sehen? Warum war Dad im Gespräch darauf eingegangen, dass der Fremde mein Vater war? Wollte er ihn wirklich nur nicht reizen, oder hatte er mich dreist belogen? Durfte ich überhaupt daran zweifeln, was er sagte? Er war mein Dad. Auch wenn ich oft wütend auf ihn war, ich vertraute ihm … eigentlich. Ich musste mit jemandem darüber reden und war froh, dass ich mein Handy hatte.

[Besuch ist grade gegangen], schrieb ich, um zu sehen, ob Marcel antwortete.

[und?], kam sofort zurück. Ich musste lächeln. Sicher war Marcel die ganze Zeit, vor seinem Handy gesessen und hatte gespannt auf eine Neuigkeit gewartet.

[Gar nicht so einfach], begann ich. [Könnte kurz dauern.] Ich schrieb ihm von Anfang an, was ich mit angehört hatte und drückte auf senden. Marcel würde erst einmal beschäftigt sein mit lesen. Ich ging in die Küche, um mir aus dem Kühlschrank etwas zu trinken und den Rest Ragout, vom Mittag zu holen.

»Willst du nicht warten? Es gibt doch bald Abendessen«, tönte es hinter mir. Ich war aber schon wieder auf dem Rückweg, was vermutlich auch besser war.

»Kein Bedarf«, rief ich zurück und verschwand in meinem Zimmer.

[Hältst du es für möglich?], hatte Marcel zurückgeschrieben. Ich überlegte.

[Keine Ahnung. Kann grade nicht klar denken. Schätze, ich muss es erst mal sacken lassen.]

[Das glaub ich. Können ja nachher drüber reden. Steht doch noch mit neun, oder?], erschien gleich die Antwort.

[sicher], schrieb ich zurück. [Muss mich halt raus schleichen. Ist mir aber egal, wenn ich Ärger bekomme.]

[alles klar], meinte Marcel. [Muss aufhören, gibt Essen. Bis nachher.]

[Ja, bis nachher], tippte ich. Am liebsten wäre ich gleich los, aber es war erst sieben. So setzte ich mich auf mein Bett, starrte vor mich hin und stocherte gedankenverloren im Ragout. Irgendwann legte ich mich zurück. Trotz der ernsthaften Gedanken, die mir im Kopf schwirrten, lächelte ich. So konnte ich nachdenken.

Als ich das nächste Mal auf meine Uhr sah, schrak ich hoch. Die Zeiger standen auf fünf nach Neun. Ich war eingenickt. Schnell packte ich ein paar Sachen in meinen Rucksack und schlich mich leise aus meinem Zimmer. Mein Herz schlug kräftig, bis ich unten aus dem Haus trat.

»Bro, wo bleibst du denn so ewig«, rief mir Marcel entgegen.

»Entschuldige, Mann«, sagte ich mit ehrlicher Stimme. »Bin eingepennt. War totales Glück, dass ich gerade noch aufgewacht bin.«

Marcel verdrehte die Augen. Er schüttelte grinsend den Kopf. »Da darf er schon mal raus abends und dann knackt er weg.«

»Na ja, ich weiß nicht, ob Dad schon weiß, dass ich noch mal raus darf«, zwinkerte ich ihm zu.

Der Strand war noch ziemlich belebt um diese Uhrzeit. Keine Touristen und überwiegend Jugendliche. Es gab hier nur wenige Autoparkplätze. So war das Ufer für Fremde oder Leute, die weiter entfernt wohnten, nicht interessant. Am Strand angekommen, gingen wir über den Sand zu unserem Stammplatz hinüber. Seit wir ohne Eltern hierher durften, kamen wir immer an die gleiche Stelle und noch nie war der Platz belegt gewesen. Auch diesmal nicht.

»Macht mich echt fertig, dass ich dich heute Nachmittag angeblafft habe, weil dir die Sache mit dem Fremden nicht aus dem Kopf ging. Glaub mir, wenn ich gewusst hätte, dass es so was Ernstes ist, ich hätte niemals so geredet«, entschuldigte sich Marcel, kaum dass wir uns niedergelassen hatten.

»Vergiss es«, unterbrach ich ihn. »Ich hab dir gesagt, dass es vergessen ist. Also brauchst du dir keine Gedanken zu machen.«

Marcel lächelte. »Hast ja recht«, sagte er. »Trotzdem! Aber was meinst du jetzt? War es dein Vater oder wirklich nur dein Onkel?« Ich antwortete nicht darauf, hatte die Frage aber natürlich gut verstanden. Nur wusste ich keine Antwort darauf. Ich blickte in den dunklen Himmel und lauschte dem Meer.

»Um ehrlich zu sein, hab ich keine Ahnung«, sagte ich nach einer Weile und drehte meinen Kopf in seine Richtung. Er sah mir direkt in die Augen. »Kannst du dir vorstellen, dass man jemanden spüren kann, obwohl man ihn nicht sieht oder gar nicht weiß, ob es ihn überhaupt gibt?«

»Hast du?«, fragte er. Ich zuckte mit den Schultern. Jetzt war es Marcel, der sich auf den Rücken legte und in den Himmel starrte. So lagen wir eine Weile, als er irgendwann das Gespräch weiterführte.

»Schwierig für mich da was zu sagen. Du weißt, dass ich mit deinem Dad nie richtig warm geworden bin. Ich an deiner Stelle, würde es auf jeden Fall herausfinden wollen, glaube ich.«

»Der Zug ist wohl abgefahren.«

»Wer weiß«, grinste Marcel. »Eigentlich ist nur das Taxi abgefahren.«

»Sorry, aber ich bin nicht zu Scherzen aufgelegt.«

»Nein im Ernst! Vielleicht hängt dein Vater noch irgendwo in Marseille ’rum.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Und wenn schon. Wie sollen wir ihn finden? Entweder er schläft in einem Hotel, die du nicht alle abgrasen kannst, oder ist am Bahnhof, oder am Flughafen, oder was weiß ich. Wie willst du da überall nach ihm suchen?«

»Hast wohl recht«, sagte er resigniert. Wir schwiegen wieder. Vielleicht hatte ich tatsächlich die Chance, einen Vater wie Marcel zu bekommen. Aber vielleicht, war auch genau das, das Problem an der Sache.

»Weißt du, ich habe einfach Angst, dass ich mich da in was verrenne, nur weil ich mir immer gewünscht habe einen Dad wie du zu haben. Einen Vater, der mich liebt und der mit mir Zeit verbringt. Es macht alles nur schlimmer, wenn sich herausstellt, dass er mir die Wahrheit gesagt hat. Ich könnte ihm nie wieder in die Augen sehen.«

»Bro, verstehe das bitte nicht falsch, aber allein, weil du darüber nachdenkst, zeigt doch, dass du nur gewinnen kannst«, gab mir Marcel zu bedenken.

»Nein, so ist es nicht, außerdem wird mein Vater nie erlauben, dass ich ihn kennenlerne«, sagte ich ernst. »Schätze, ich lass es einfach mal auf mich zukommen. Wahrscheinlich werden wir übermorgen in Urlaub fahren und in drei Wochen werde ich gar nicht mehr dran denken.«

Marcel sah mich kopfschüttelnd an. »Das glaubst du doch selbst nicht«, sagte er. »In acht Wochen werden die Ferien vorbei sein und du wirst ein ganzes Schuljahr an nichts anderes denken, als daran, ob dein Vater dein richtiger Dad ist. Wenn du ’ne Chance hast es herauszufinden, dann während der Ferien. Sei nicht gleich wieder sauer, aber wenn du es nicht versuchst, bist du echt bescheuert.«

»Super Chance«, bemühte ich mich ruhig zu bleiben. Marcel konnte leicht reden. Er hatte ja seinen Super-Vater.

So oder so war ich machtlos. »Ich weiß nicht mal seinen Namen oder irgendwas. Selbst wenn ich wollte, könnte ich nicht nach ihm suchen.«

»Sag deinem Dad doch einfach, was du denkst. Ich meine, du bist dreizehn Jahre alt. Er sollte verstehen können, dass du Zweifel hast«, forderte Marcel eindringlich.

»Das meinst du nicht ernst«, sagte ich verächtlich. »Drei Wochen Stress werde ich mit meinem Dad haben und da hab ich im Urlaub echt keinen Bock drauf.«

»Wenn du mich fragst, sind drei Wochen Stress nichts gegen die Wahrheit.« Er trieb mich in die Enge und das mochte ich gar nicht.

»Was bringt mir denn die scheiß Wahrheit, außer dass ich wieder enttäuscht werde«, schrie ich ihn an und sprang auf.

»Renn jetzt ja nicht weg«, mahnte Marcel. »Ich hab echt keine Lust, dir den ganzen Tag hinterherzulaufen.« Ich war mir nicht sicher, ob er mich foppen wollte, oder es eine wirkliche Befürchtung von ihm war. »Aber mal ehrlich, wenn du das ernst meinst, ist die Sache doch entschieden. Du lässt alles beim Alten, wirst nicht enttäuscht und wir genießen noch ein bisschen die Meeresluft.« Er klang sarkastisch. Ich antwortete nicht darauf, legte mich aber zurück auf die Decke. So lagen wir wieder eine Weile da. Mir ging das Gespräch zwischen dem Fremden und meinem Dad durch den Kopf. Vaters Erklärung passte gar nicht zu dem, was ich beobachtet hatte. Seine Reaktion war zu spontan und echt gewesen, als das ich glauben konnte, er wäre nur einer Auseinandersetzung aus dem Weg gegangen.

»Weißt du, was der Fremde zu meinem Dad gesagt hat?«, fragte ich Marcel, der natürlich den Kopf schüttelte. »Dass ich ein kluger Junge bin und schon herausfinden werde, was passiert ist.«

»Was sag ich denn die ganze Zeit?«, sagte Marcel, der sich bestätigt fühlte.

»Blöder Klugscheißer«, lachte ich.

»Und du bist ein jämmerlicher Angsthase.«

»Ich will ihn wiedersehen«, sagte ich spontan. »Keine Ahnung, wie ich es anstelle, aber ich muss wissen was Sache ist. Vielleicht werde ich enttäuscht sein, aber du hast recht! Das ist besser, als immer daran zu denken, was hätte sein können.«

Marcel lächelte. »Wie ich gesagt habe«, triumphierte er.

»Nein, wie ich gesagt habe … Klugscheißer«, gab ich zurück. Wir grinsten beide. Diesmal war es Marcel, der wieder ernst wurde.

»Dann lass uns überlegen, wie wir da ’rangehen!«

»Du bist echt das Beste, was mir im Leben passiert ist«, sagte ich und schlug ihm mit der Faust, sanft auf seine Schulter, die neben mir lag. »Danke, Mann!«

»Jo, lass uns lieber überlegen, wie wir was herausfinden können«, lenkte Marcel ab. Es war ihm immer peinlich, wenn ich ihm sagte, was er für ein toller Freund war. Anfangs fand ich es verletzend, wenn er so tat, als wäre es ihm egal. Irgendwann hatte ich gelernt, dass es einfach nicht seine Art war, über so was zu reden.

»Hab doch schon gesagt, kein Plan«, sagte ich achselzuckend.

»Hat er nie erzählt, wo deine Mom zuletzt in Deutschland gewohnt hat?«

»Hallo, Erde an Marcel. Er hat mir erzählt, meine Mom wäre gestorben. Der Fremde hat gesagt, dass er zurück nach München fährt, aber ich hab halt keine Ahnung, wie er heißt oder wo er genau wohnt.« Ich sah Marcel resigniert an. »Keine Chance würde ich sagen, oder?«

Er wippte nachdenklich mit dem Kopf. »Ich kenn halt echt niemand, der seine Kinder nicht mit Geschichten aus alten Zeiten nervt«, grinste er. »Ich würde sagen, dann musst du es eben selbst in die Hand nehmen«, fügte er mit einem Augenzwinkern hinzu.

»Wie meinst du das denn wieder?«, fragte ich.

»Du musst bei dir zu Hause nach Anhaltspunkten auf die Suche gehen. Es muss was geben. Dein Dad hat das Leben deiner Mutter nicht komplett ausgelöscht! Ich wette, dass er irgendwelche Erinnerungen aufgehoben hat.« Ich nickte. »Aber es ist wichtig, dass du heute noch was findest. Wenn wir bis morgen keinen Plan haben, hast du verspielt. Übermorgen gehts für dich in den Urlaub!«

»Dann los«, stimmte ich zu.

Ein Bruder für Luca

Подняться наверх