Читать книгу Ein Bruder für Luca - Tom J Schreiber - Страница 9

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Schweigend lief Marcel den ganzen Heimweg neben mir her. Immer wieder blickte ich verstohlen zu ihm, konnte aus seinem Gesichtsausdruck aber wenig entnehmen. Auf jeden Fall war es beruhigend, dass er da war und mich nach Hause begleitete. Als wir angekommen waren, sah er mich an und merkte, dass ich bedrückt war.

»Wird schon, Bro«, sagte er lächelnd. »Melde dich gleich, wenn du was hast.«

Ich schwieg, was für Marcel ein Zeichen war, nicht einfach weiterzugehen.

»Ich bin so unsicher. Ich bin doch noch ein Kind.«

Er fing sofort an, verächtlich zu grinsen. »Du, ein Kind? Da lachen ja die Hühner.«

»Dein Selbstbewusstsein hätte ich gern«, sagte ich. »Im Ernst. Ich hab voll Schiss.«

»Dein Dad erwischt dich schon nicht beim schnüffeln«, versuchte er mich zu beruhigen.

»Das meine ich nicht«, winkte ich ab.

»Was denn dann?«

Die Frage war logisch, aber ich hatte die Antwort nicht parat. Er hatte recht, wovor fürchtete ich mich? Ich hasste meinen Vater und doch war er mein Vater. Er hatte mich zu dem gemacht, was ich war. Er hatte mir gezeigt selbstständig zu werden, auch wenn er mitunter vergessen hatte, dass ich noch ein Kind war. Der Deutsche hatte einen netten Eindruck gemacht, aber er war ein völlig Fremder. Ich wusste nicht, ob es möglich sein würde, etwas Vertrautes für jemanden zu empfinden, der dreizehn Jahre nicht da gewesen war. Konnte es nicht ohnehin, kaum mehr als eine Freundschaft werden? Aber da war auch noch etwas anderes.

»Wir müssen durchbrennen, oder?« Wir hatten die ganze Zeit davon gesprochen. Richtig bewusst, hatte ich es mir nicht gemacht. Marcel nickte.

»Kannst du mit hoch kommen?«

»Klar!«, sagte er wie aus der Pistole geschossen.

Ich hatte keine Ahnung, wie mein Vater inzwischen gelaunt war. Er hatte sich vorhin einfühlsam verhalten, was mit Sicherheit der Situation geschuldet war. Wahrscheinlich war er sauer, dass ich mich davon geschlichen hatte und würde nicht begeistert sein, wenn ich um diese Uhrzeit Marcel mitbrachte. Er konnte ihn ohnehin nicht leiden. Vorsichtig steckte ich den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Wohnungstür. Wir hatten Glück. Im Flur brannte kein Licht. Sicher ließ er sich vom Fernseher berieseln. Ich gab Marcel ein Zeichen zu warten und schlich den Flur entlang, bis ich zur Wohnzimmertür sehen konnte. Sie stand weit offen. Mein Dad saß in seinem Fernsehsessel. Mit etwas Glück, würde er uns nicht bemerken. Ich gab Marcel ein weiteres Zeichen und auf leisen Sohlen, waren wir kurz darauf in meinem Zimmer verschwunden. Marcel fläzte sich aufs Bett. Ich setzte mich auf meinen Schreibtischstuhl und sah ihm zu, wie er es sich gemütlich machte.

»Und schon ’ne Idee, wo du suchen kannst?«, fragte er beiläufig.

»Eigentlich nicht, wenn ich ehrlich bin«, zuckte ich mit den Schultern.

»Also, ich bin nur zur moralischen Unterstützung hier, Bro«, grinste Marcel. »Die Arbeit musst du schon selber machen.«

»Affe«, sagte ich feixend. »Im Wohnzimmerschrank hat mein Dad so eine Schublade, da wirft er immer alle möglichen Briefe und Unterlagen rein, die er nicht wegwerfen will, vielleicht wär da was dabei. Im Moment kann ich da aber schlecht rein. Eventuell wenn er im Bett ist.« Ich klang, als wollte ich mich für meine Ideenlosigkeit rechtfertigen. Marcel zog die Stirn in Falten, um zu zeigen, dass er nun ebenfalls überlegte.

»Vielleicht … lieber, bevor er im Bett ist«, sagte er geheimnisvoll.

»Meinst du nicht, er will wissen was ich suche, wenn ich da jetzt ran gehe?«, fragte ich unsicher.

»Das meine ich ja gar nicht. Meine Mom hat Sachen, die sie vor mir versteckt immer im Schlafzimmer, weil ich da drin am wenigsten verloren habe«, sagte er sichtlich zufrieden über seine Idee.

»Spinnst du? Wenn er mich da erwischt, ist der Teufel los.«

»Genau deshalb. Überleg doch mal!«

»Du kannst schon recht haben, aber …«

»Ich warte hier«, verschränkte er lächelnd die Arme hinterm Kopf.

Mit einigem Herzklopfen, trat ich auf den Flur. Dad saß in seinem Sessel. Hoffentlich würde die Sendung noch eine Weile dauern, die da lief. Leise schlich ich über den Korridor, öffnete vorsichtig die Schlafzimmertür, huschte hinein und knipste das Licht an. Ich sah mich um. Oft, war ich noch nicht hier drin gewesen. Marcel konnte recht haben mit seiner Einschätzung. Mit frischem Mut machte ich mich daran, etwaige Verstecke zu sondieren. Da waren der große Kleiderschrank, eine Kommode und die beiden Nachttischchen. Ich beschloss, mit den Letzteren zu beginnen. Eilig stöberte ich darin herum. In dem einen lagen nur ein Buch, ein paar Tabletten und seine Lesebrille, das andere war ganz leer. Ich hatte gehofft, darin etwas zu finden, und war enttäuscht. Niedergeschlagen öffnete ich jede Tür des Kleiderschrankes. Sorgfältig schob ich jedes Hemd, jeden Pullover und was darin verstaut war, zur Seite, ohne zu wissen was dahinter versteckt sein sollte. Es war nichts zu finden, was mir weiterhelfen konnte. Es war hoffnungslos. Mein Dad, war eben nicht wie andere. Nirgends hatte er Erinnerungen an alte Zeiten versteckt. Nur um nichts auszulassen, zog ich resigniert alle Schubladen der Kommode heraus. Fehlanzeige. Ernüchtert wollte ich die letzte Schublade zurückschieben, als mein Blick auf einen Schuhkarton fiel, der halb von alten T-Shirts verdeckt war. Neugierig zog ich ihn heraus. Mein Puls beschleunigte, als ich den Deckel öffnete. Neben irgendwelchem Krimskrams befanden sich Briefe darin. Ich faltete den obersten auseinander und begann zu lesen. An einem Satz blieb ich hängen. »… Ich freue mich so sehr auf unser gemeinsames Kind. Ich zähle die Tage bis zur Geburt. Sobald das Geschäft hier unter Dach und Fach ist, werde ich zurückfahren.« Es folgten noch einige, megaschmalzige Liebesbekundungen. Unterschrieben war er von meinem Dad. Ich sah auf das Datum des Briefes. Er war einen Monat vor meiner Geburt geschrieben worden. Es gab noch einen zweiten Brief. Dieser steckte in seinem Umschlag. Der Absender war ein Peter Schäfer aus München. Hastig überflog ich ihn und wieder blieb ich an einigen Zeilen hängen. »… Es ist toll, dass auch ihr bald eine Familie werdet, Schwesterherz. Wir müssen uns unbedingt treffen, wenn es so weit ist. Ich bin so stolz Vater zu werden und bin auch auf euren Sprössling gespannt.« Ich hatte tatsächlich gefunden, was ich suchte. Ein Brief meines Onkels, oder Vaters, an seine Schwester. Er musste es sein. Rasch steckte ich die beiden Briefe in meinen Hosenbund. Nur für den Fall, dass mich Dad auf dem Rückweg erwischte. Ich überlegte nicht lange. So kurz vorm Ziel wollte ich keine Zeit mehr verlieren. In meinem Zimmer würde ich sie mit Marcel noch mal näher anschauen. Den Karton verstaute ich zurück in die Schublade und drapierte alles wieder, wie es zuvor ausgesehen hatte. Ehe ich das Schlafzimmer verließ, löschte ich das Licht. Leise huschte ich über den dunklen Flur, zurück in mein Zimmer.

»Tata«, sagte ich triumphierend, während ich die Briefe unter meinem T-Shirt hervorzog. Marcel sah mich mit versteinerter Miene an. Noch ehe ich Gelegenheit hatte, mich darüber zu wundern, spürte ich, wie mir die Briefe aus meiner ausgestreckten Hand gerissen wurden. Ich fuhr herum. Mir blieb fast das Herz stehen. Hinter mir stand mein Vater, der gebannt auf die beiden Briefe blickte, die er nun in den Händen hielt.

»Du spionierst mir also nach? Ein sauberes Bürschchen hab ich da großgezogen.«

»Hab ich wohl von dir gelernt, oder was machst du in meinem Zimmer, wenn ich nicht da bin?« Die Worte waren einfach aus mir herausgesprudelt. Ich war selbst verblüfft über meine Schlagfertigkeit.

»Du meinst, weil dein Freund hier ist, frech werden zu müssen«, verengten sich seine Augen zu gefährlichen Schlitzen. Ein bisschen hatte er recht. Marcels Anwesenheit gab mir Selbstvertrauen.

»Ich meine gar nichts wegen meines Freundes. Ich meine, dass du dein Verhältnis zu mir erst mal klären solltest!«

Das hatte gesessen. Mit einem Mal herrschte eisige Stille. Marcel lag nicht mehr entspannt auf meinem Bett, sondern hatte sich aufgesetzt und stierte Löcher in die Luft. Dad schwankte zwischen Schockzustand und Explosion. Die Halsschlagader trat gefährlich hervor, seine Gesichtsfarbe nahm ein bedrohliches Rot an. Ich hatte getroffen. Innerlich triumphierte ich, auch wenn die Äußerung unüberlegt war und alles gefährdete. Es kam, wie es kommen musste. Natürlich würde mein Vater das nicht auf sich sitzen lassen. Seine Reaktion war nicht minder durch die Anwesenheit Marcels beeinflusst. Er fixierte mich zornig.

»Du wirst Marcel nicht wieder sehen. Er hat dir doch diesen Floh ins Ohr gesetzt. Wenn du mich noch mal heimlich belauschst, wirst du mich kennenlernen!«, brüllte er los. Zorn stieg in mir hoch. Was wusste er schon über Freundschaften?

»Du wirst mir nicht verbieten können, Marcel zu treffen. Du musst mir dann auch verbieten, zur Schule zu gehen, und mich den ganzen Tag zu Hause einsperren.«

Bevor mein Vater antworten konnte, war Marcel aufgesprungen. »Lass mal gut sein«, sagte er zu mir gewandt. »Ich geh wirklich besser.«

»Quatsch«, brüllte ich. »Soll er doch gehen.« Wieder setzte mein Vater zu einem Konter an und erneut kam ihm Marcel zuvor.

»Alles gut, Herr Bellier. Ich geh schon!« Er drehte sich zu mir, »ist besser Jean, glaub mir.« Marcel nahm mich bei der Schulter, zwinkerte mir kurz zu und bevor ich etwas sagen konnte, war er zur Tür draußen.

Mit meinem Vater blieb ich zurück.

»Du wirst das Haus morgen nicht verlassen«, sagte er mit ruhiger Stimme, »übermorgen werden wir wie geplant in den Urlaub fahren. Ende der Diskussion.« Mit diesen Worten griff er nach meinem Handy und verließ das Zimmer. Rasend vor Wut, warf ich mich auf mein Bett und grub mein Gesicht ins Kopfkissen. Ich weinte nicht, dazu war ich viel zu wütend. Das Schlimme war, dass ich im Moment nicht wegen meines Vaters sauer war oder weil er mein Handy mitgenommen hatte. Nein, ich war wütend auf Marcel. Er war es doch gewesen, der mich aufgestachelt hatte, und jetzt zog er beim ersten Widerstand den Schwanz ein. Sollte er doch kneifen der Feigling. Ich würde mich aus dem Staub machen, und zwar noch heute Nacht.

Ein Bruder für Luca

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