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4 Gletschereis

Den Eingang der Schule schmückten Transparente. Auf ihnen standen Zitate von Xavers Notizzettel. Im Foyer hielt Flo, auf einem Podest stehend, einen Vortrag darüber, wie man ein Date mit seinem Traumpartner klarmacht. Hinter dem Podest knutschten Leo und Charly. Sie lösten ihre Umarmung und verschwanden Händchen haltend auf dem Schulklo. Xaver bahnte sich den Weg durch Spaliere feixender Schüler. Sie zeigten auf ihn und lachten, bis ihr Lachen zu einem Kreischen anschwoll.

Irgendetwas piepste. Er kannte dieses Geräusch.

Es war sein heldenhafter Wecker. Er versuchte, ihn von einer Nacht voller Albträume zu erlösen. Beharrlich piepste er so lange Risse in Xavers Traumwelt, bis er es nicht mehr ignorieren konnte.

»Xaver? Hallo? Was ist denn los mit dir?«

Als Xaver seine Augen öffnete, blickte er in das genervte Gesicht seiner Mutter. Ruckartig setzte er sich auf und schüttelte sich. Was für eine Nacht. Doch war die Realität wirklich besser? Die Erinnerungen an den gestrigen Tag waren sofort wieder präsent. Sollte er heute überhaupt in die Schule gehen? Was, wenn der Traum nur eine Vorwarnung war? Angreifen oder aufgeben?, überlegte Xaver.

»Nun gib endlich Gas«, forderte ihn seine Mutter auf.

Der Blick auf die Uhr gab ihr recht. Wortlos hastete Xaver ins Bad und machte sich in Rekordzeit fertig. Ohne Frühstück und Kaffee verließ er das Haus und schwang sich nur zwei Minuten später als sonst auf sein Rad. Er hatte sich für Angriff entschieden. Heute würde er zeigen, was er draufhatte.

Xaver trat in die Pedale, um die Zeit wieder reinzuholen. In der Ferne tauchte Charlys Bushaltestelle auf. Als er ihre im Wind wehenden langen blonden Haare entdeckte, schöpfte er Hoffnung. Doch er sah auch, dass der Bus schon kurz vor seinem nächsten Stopp war. Er ließ sich auf das Wettrennen ein und raste auf die Haltestelle zu, aber die kurz vor Charly geplante Vollbremsung geriet außer Kontrolle, das Rad schlidderte, Xavers Zeitempfinden wechselte auf Zeitlupe und er stellte sich schon mal vorsorglich auf intensive Schmerzen ein. Hoffentlich würde es wenigstens wie ein cooler Stunt aussehen.

Aber es wurde weder ein beeindruckender Stunt noch spürte er echte Schmerzen. Es war eher wieder mal eines seiner scheißpeinlichen Missgeschicke.

Das Hinterrad fing an zu pendeln wie der Schwanz eines hektischen Terriers, Xaver rutschte von den Pedalen und tat alles, um nicht mit dem Sack auf die Fahrradstange zu knallen, sprich, er tippelte in einem irren Tempo auf Zehenspitzen, als sei er eine Ballerina auf Speed. Nach ein paar Metern war der Spuk vorbei und Xaver kam kurz vor Charly und einer Gruppe lachender Schüler zum Stehen. »Oh hi, Charly …«, keuchte er und versuchte, überrascht zu klingen.

»Hi, Xaver«, sagte Charly mit einem klimpernden Augenaufschlag. »Puh, da hast du aber gerade echt Glück gehabt, was? Mir tut das echt voll superleid mit gestern, bitte nicht böse sein, ja? Wir sehen uns dann gleich in der Schule.«

Bevor Xaver etwas sagen konnte, stieg sie schon in ein rotes Cabrio mit geöffnetem Verdeck. Es hatte anscheinend während seines Bremsmanövers neben ihnen gehalten, um Charly mitzunehmen. Am Steuer saß Piet, der ohne seinen reichen Vater nie ein Auto, ohne Auto keine Chance bei Charly gehabt hätte und auch überhaupt nur deshalb als Einziger in der Klasse einen Führerschein besaß, weil er Rekordhalter im Sitzenbleiben war.

Piet am Steuer, Charly auf dem Beifahrersitz, wummerndes Soundsystem, aufheulender Motor, quietschende Reifen und ein Piet, der Xaver zum Abschied breit grinsend mit dem Mittelfinger winkte.

Die wartenden Schüler stiegen in den Bus.

Xaver stierte dem Bus hinterher, aus dessen Rückfenster einige Schüler immer noch auf ihn zeigten und lachten. Nun waren sie wenigstens nicht mehr zu hören, sondern bewegten nur karpfengleich ihre Münder.

Was für ein beschissener Start in den Tag. Warum konnte es nicht einfach mal glattlaufen?

»Alles okay, Xaver?«, hörte er da hinter sich. Er drehte sich um und entdeckte Toni.

»Hi, Toni«, antwortete er möglichst lässig. »Na ja, was soll schon sein? Arme dran, Beine dran.« Er setzte sich wieder auf den Sattel und Toni stieg auf ihr riesiges Longboard. Das war immer ein komischer Anblick bei ihrer Körpergröße von nicht mal eins sechzig, doch jetzt wirkte sie durch ihr heutiges Outfit, eine bunte Stoffhose und einen schlabbrigen Kapuzenpulli, besonders verloren auf dem großen Board. Schweigend setzten sie den Weg zur Schule fort.

Toni – beziehungsweise Antonia Simons – war nur zwei Tage und dreizehn Stunden jünger als Xaver und ihre Mütter hatten sich im Doppelzimmer der Geburtsstation kennengelernt. Tonis Mutter zog dort mit riesigem Bauch und heftigen Wehen ein, während Mini-Xaver schon ziemlich abgeklärt seinen Milchshake aus dem Fläschchen sog. Später dann, als Tonis Mutter mit ihrem frisch gepressten Säugling im Arm aus dem Kreißsaal zurückgeschoben wurde, habe Xaver zu Tonis Begrüßung die Hand zum Peacezeichen erhoben. Natürlich konnten sich weder Xaver noch Toni dran erinnern, aber ihre Mütter hatten es ihnen so oft in den letzten 16 Jahren erzählt, dass sie es nie vergessen würden.

Nach der Geburt blieb der Kontakt und die Mütter verbrachten gemeinsam viel Zeit in all den Kursen, die fürsorgliche Mamis halt mit ihren süßen Kindern so machten. Es sei so niedlich gewesen, die beiden »Nackedeis« beim Spielen zu beobachten. Geschichten, die die Welt nicht braucht. Toni und Xaver guckten sich immer leicht betreten und verlegen an, wenn solche Themen bei Familientreffen ausgebreitet wurden.

Bei einem Kaffeeklatsch vor ungefähr sechs Monaten hatte Toni allerdings etwas getan, für das Xaver sich wohl lebenslang ehrfürchtig vor ihr verneigen würde.

Neben Tom und ihrer Mutter war auch Xavers feine Großtante Bernadette von Göttschling zu Besuch und irgendwann wurden natürlich wieder die muffigen Fotobücher herausgekramt. Fotobücher mit jeder Menge Nacktbilder von Kleinkindern, die nun zwar als Teenager, aber letztendlich ja immer noch mit denselben Genitalien am Tisch saßen.

Nicht zum ersten Mal überlegte Xaver, ob man die Sache nicht mal vor den Gerichtshof für Menschenrechte bringen sollte.

»Ach, wie süß, die zwei. Das würdet ihr wohl heute nicht mehr machen, oder?«, meinte die Großtante gluckernd, während sie auf ein Bild deutete, in dem Xaver und Toni sich splitterfasernackt umarmten. Xavers Mutter stimmte fröhlich kichernd mit ein.

In dem Moment blickte Toni Xaver an und sagte mit lauter, fester Stimme: »Ach, Xaver, warum eigentlich nicht? Komm lass uns mal in dein Zimmer gehen.«

Es wurde sofort sehr still im Raum. Dann sprang Toni auf, schnappte Xavers Hand und zog ihn hinter sich die Treppe hoch.

In Xavers Hirn liefen die Synapsen Amok. Das war zu viel, zu schnell, zu unerwartet. Meinte sie das jetzt wirklich ernst?? Tausend Gedanken schossen gleichzeitig durch seinen Kopf, angefangen von: Sie ist doch fast meine Schwester!, bis zu: Welche Unterhose hab ich heute Morgen noch mal angezogen?

Im Zimmer angekommen, hatte Xaver einen gefühlten Puls von 250 und stand unter Strom wie ein Atomreaktor. Zu allem Überfluss wölbte sich seine Hose vorne bereits unübersehbar. Möglichst unauffällig streckte er den Po leicht nach hinten, was seine übliche Technik war, um unbeabsichtigte Erregungszustände etwas zu kaschieren. Es verlieh ihm zwar das Aussehen einer Ente, aber besser Ente als Lattenmann.

Toni schmiss sich auf das Bett, zog die Schuhe aus und verknotete sich im Schneidersitz. »Puhhh, sind die anstrengend«, sagte sie und schaltete Xavers Musikanlage an. Dann blätterte sie mit angefeuchtetem Zeigefinger in einem Magazin, das sie neben Xavers Bett gefunden hatte.

Sie hat nur einen Scherz gemacht, verstand Xaver. Und ich habe es echt ernst genommen. Hoffentlich merkt sie meine Reaktion nicht, das ist ja megapeinlich.

Eigentlich war Toni für ihn ein nahezu neutrales Wesen. Klar hatte sie sich körperlich verändert und es gab Jungen aus seiner Klasse, die fanden sie ziemlich hübsch und sogar erregend, wenn sie beim Schwimmunterricht im Badeanzug auflief. Aber für Xaver war sie einfach die kleine Antonia, die er immer schon kannte. Sie war halt ein Teil von ihm, eine Art Zwillingsschwester mit null erotischer Anziehungskraft.

Dennoch hatte ihn die Aussicht, das erste Mal ein Mädchen in seinem Alter in echt völlig nackt zu sehen, eben komplett ausgeknockt. Warum eigentlich nicht Toni? Mädchen war Mädchen, oder nicht? Toni hat doch auch alles, was mich brennend interessiert, schoss ihm deshalb durch den Kopf.

Die Gruppe von Mitschülern, die noch nie ein nacktes Mädchen live gesehen hatten, schmolz nämlich rasant. Xaver war ein Teil dieser aussterbenden Spezies, und wenn er Toni so betrachtete, würde sich das heute nicht mehr ändern. Sie las gerade total entspannt irgendeinen Artikel.

Xaver stand halb verdeckt hinter seiner Zimmerpalme und war erleichtert, dass wenigstens seine Hosenbeule langsam wieder verschwand.

»Ist irgendwas?«, fragte Toni und schaute Xaver irritiert an.

Dann klopfte es an der Tür und fast im selben Moment stand Xavers Mutter im Türrahmen, um Getränke zu bringen. Sie wirkte mächtig nervös und verlegen, was Xaver insgeheim beruhigte. Er war also nicht der Einzige, der Toni ernst genommen hatte. Im Gegensatz zu ihm schien seine Mutter jedoch erleichtert zu sein, dass es nur ein Scherz war.

Der Rest dieses Nachmittags war geprägt davon, dass seine Mom gefühlt alle fünf Minuten den Kopf hereinsteckte, um sich nach Hunger oder Durst zu erkundigen. Xaver konnte sich auf nichts mehr konzentrieren, weil er vollends mit der Frage beschäftigt war, ob es normal sei, sich seine Sandkastenfreundin nackt zu wünschen.

»Was faselst du da?«, riss Toni ihn aus seinen Gedanken.

Xaver schaute sie irritiert an. »Hm? Was meinst du?«

»Na, du hast gerade gemurmelt: ›Ist das nicht schon Inzest‹?«

Xaver wurde schwindelig. Wie fatal war das denn, er schien laut gedacht zu haben. Um Zeit zu gewinnen, rettete er sich wieder einmal in einen Hustenanfall. Als er sich etwas beruhigt hatte, fragte er halbherzig lachend: »Was soll ich gesagt haben? Quatsch, du hörst vielleicht ’nen Scheiß.«

Toni runzelte die Stirn und las dann einfach weiter.

Als sie sich später mit ihrer Mutter auf den Weg nach Hause machte, war Xaver erleichtert. Die feine Großtante Bernadette hatte bereits ein Taxi genommen, ohne sich von Xaver zu verabschieden.

»So eine ordinäre Göre!«, hatte sie Xavers Mutter im Rausgehen zugespien und war verschwunden. Dabei sollte sie durch Thommy, Xavers Cousin und Bernadettes einzigen echten Neffen, eigentlich Kummer gewohnt sein, denn dieser Motorradmacho war der Prototyp des Mädchenvernaschers, Kopfverdrehers und Herzenbrechers. Vielleicht fürchtete sie jedoch auch, dass durch Tonis Einfluss nun auch die Moral des vorbildlichen Xavers gefährdet wurde.

Seit diesem legendären Nachmittag wurden also keine alten Nacktfotos mehr bei Familie von Göttschling ausgepackt und auch das Thema fortan vermieden. Toni war für Xaver wieder in die Rolle des Neutrums zurückgeschnurzelt. Das beruhigte ihn sehr, denn seine damalige Reaktion hatte ihn nachhaltig verstört.

Leider gehörte er jedoch immer noch zu der Gruppe, die nackte Tatsachen ausschließlich aus dem Internet kannten. Und das, wo mittlerweile auch schon die Gruppe der Mitschüler zu schrumpfen begann, die noch nie mit einem Mädchen rumgemacht hatten, an Weiteres wollte er gar nicht erst denken.

Und er lag ja nicht nur in seiner Schule weit zurück. Bei seinem letzten Friseurbesuch stieß er in einer Illustrierten auf den Artikel »So versext sind Deutschlands Teenies« auf harte Fakten: Die meisten Jungen haben ihr erstes Mal im Alter von 16 bis 17 bereits hinter sich.

Die Entwicklung all dieser Gruppen um sich herum hatte für Xaver also verdammt viel mit Gletschereis und der Erderwärmung zu tun: Ihm schmolz quasi seine Gruppe unterm Arsch weg.

Dabei fing eigentlich alles mal so gut an. In der fünften Klasse war er der erste Junge, der von Mädchen zum Geburtstag eingeladen wurde. Die anderen Jungs hatten ihn dafür beneidet, er reagierte cool, während er innerlich vor Stolz platzte. Sehr bald merkte Xaver aber, dass etwas gehörig schieflief. Der »beste Freund« zu sein, war alles andere als ein Privileg. Das wurde ihm spätestens dann klar, als die Mädels begannen, mit ihm über andere Jungs zu sprechen.

Er erinnerte sich noch daran, wie er mit Anna, dem heißesten Mädchen der sechsten Klasse, schmachtend im Eiscafé saß und sie ihm stundenlang erzählte, wie hammersüß Phil aus der achten Klasse sei und dass sie ohne ihn nicht leben könne. Dann kam Sophie, die ihm im Kino ins Ohr flüsterte, dass sie eben noch Max aus ihrer Klasse in einem Brief gefragt habe, ob er mit ihr gehen wolle, und das, als Xaver gerade im Begriff war, seinen Arm auf ihre Armlehne gleiten zu lassen.

Kurzum: Der beste Freund zu sein, war Folter!

Und was machte Xaver unter dieser Folter? Genau das, was man von so einem lieben und aufmerksamen Jungen erwartete: Er lächelte den Mädchen stets verständnisvoll zu, tröstete sie, wenn sie traurig waren, und baute sie wieder auf. Sein Shirt sog die Tränen der Unglücklichen auf, damit sie wieder Kraft sammeln konnten, um sich dem nächsten Typen hingeben zu können.

Das war nicht fair, aber irgendwie hatte Xaver beim Verteilen der Rollen wohl im falschen Moment »Hier!« gerufen. Und jetzt saß er scheinbar für immer in der Friendzone fest.


Tick Tack Fuck. #echthartezeiten

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