Читать книгу Tick Tack Fuck. #echthartezeiten - Tom Limes - Страница 8

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2 Getroffen

Der nächste Montagmorgen begann brutal, wie immer. Xaver litt bereits seit längerer Zeit vor allem unter der Woche darunter, dass sich sein Schlafbedürfnis sehr ungleichmäßig auf den Tag verteilte. Während er sich abends und nachts angenehm wach und ausgeruht fühlte, empfand er die Morgenstunden als puren Horror.

Als sie in Bio mal über das Thema Diabetes gesprochen hatten, war er in Panik geraten. Die dort besprochenen Symptome trafen vollständig auf seinen allmorgendlichen Zustand zu:

- Kopfschmerzen

- Müdigkeit

- Konzentrationsstörungen

- Koordinationsstörungen

- Sprach- und Sehstörungen

- psychische Wesensänderungen (vor allem Aggressivität)

- Bewusstseinsstörungen

Er hatte seinen Eltern direkt mitgeteilt, dass er Diabetiker sei, zumindest phasenweise. Sie hatten ihn ausgelacht. Frustriert und enttäuscht – es ging hier schließlich um sein Leben! –, bat er seinen Hausarzt um Rat. Doch der arrogante alte Sack nahm nicht mal Blut ab und sagte nur, Xaver solle mal früher ins Bett gehen und nicht immer »bis in die Puppen im Internet surfen«.

Tja, genau das war das Problem der Schwerkranken. Sie werden einfach von keinem ernst genommen, bis es dann irgendwann zu spät war. Xaver fühlte sich mies und nahm sich vor, seinen Symptomen weiter auf den Grund zu gehen, solange er noch dazu in der Lage war.

Geschwächt schlurfte er also an jenem Morgen von seinem Dachzimmer nach unten. Auf halber Strecke feierte seine kleine Schwester schon wieder das Leben, indem sie wie ein Flummi durch ihr Zimmer hopste. Sie musste als Säugling echt in einen Powerdrink-Kessel geplumpst sein, anders ließ sich ihre unbändige Energie nicht erklären. Heute hörte er sie Was soll ich heute tun, was soll ich tun …? im Duett mit Pipi Langstrumpf kreischen. In Xavers Ohren klang das eindeutig nach einer Drohung. Er hatte es fast geschafft, unbemerkt an ihrem Zimmer vorbeizukommen, als eine singende rosafarbene Elfe im Glitzer-Tutu in den Flur huschte und begann, um ihn herumzutanzen.

Na ja. Das war auf jeden Fall mal ein gewagtes Outfit für die Schule, dachte Xaver.

»Hey, kleiner Onkel … Lass uns zur Quelle reiten und schauen, was es dort heute zu futtern gibt«, forderte Issy ihn auf.

»Bitteissymalnbisschenruhigerja?«, presste Xaver zwischen fast geschlossenen Lippen hervor und hielt sich mit seiner Hand am Geländer fest. Issy hatte sich für ihren Weg nach unten bereits an seinen Schultern festgekrallt. Die Rollen waren klar verteilt: er Pferd, sie Reiterin, Widerspruch zwecklos. Sie war eh die Hartnäckigste der ganzen Familie. Mit endloser Ausdauer redete sie auf Xaver ein und konnte es nicht akzeptieren, dass sich ihr Bruder morgens völlig anders verhielt als abends.

Mit unsicherem Gang und dröhnendem Kopf schleppte er sich mit Issy auf seinem Rücken Schritt für Schritt die Treppe hinunter.

In der Küche zwitscherte seine Mutter, als hätte sie zum Frühstück ein Rotkehlchen gefuttert, während sein Vater vorgab, ausgesprochen konzentriert einen Artikel in der Zeitung zu lesen.

Issy war abgestiegen und bestürmte jetzt ihre Mutter, sodass Xaver seine Frühstückinfusion exen konnte. Es war eine von Moms »Hallo-Wach-Smoothie-Kreationen«. Der Geschmack war heute dank vieler Zitronen akzeptabel und es musste immerhin nicht gekaut werden. Es folgte ein großer Becher bereits auf Trinktemperatur abgekühlten Kaffees auf dem Weg zur Dusche. Abtrocknen, Jeans und Hoodie anziehen, seine widerspenstigen dunkelbraunen Haare in Form gelen, Pickelcheck und raus.

Xaver sah auf die Uhr. 23 Minuten vom Aufstehen bis zum Verlassen des Hauses. Perfekt. So würde er es schaffen, Charly heute wieder auf dem Schulweg abzufangen. Natürlich »rein zufällig«.

Charly … tja, was sollte man über Charly sagen. Sie war blond, schlank, fast genauso groß wie Xaver und sie war schon seit längerer Zeit seine absolute Traumfrau. Nicht dass er ihr das jemals gesagt hätte, aber er war der festen Überzeugung, dass sie füreinander bestimmt waren. Dummerweise hatte sie erstens nur Augen für ältere Jungs und zweitens meistens eh schon einen Freund und liierte Mädels waren selbstverständlich tabu.

Es sei denn, der Freund war ein Megaspacken, was in Xavers Augen auf die Gesamtheit der bisherigen Charly-Freunde ausnahmslos zutraf. Er beschloss deshalb, dass Punkt zwei in diesem Fall zu vernachlässigen war.

Er fuhr mit dem Rad die Strecke bis zu der Bushaltelle, an der Charly morgens einstieg. Von Weitem sah er schon ihre glänzenden blonden Haare … nicht.

Er war zu früh dran. Shit. Ungefähr 100 Meter vor der Haltestelle hielt er deshalb an und überlegte, wie er die Wartezeit unauffällig überbrücken konnte. Er bückte sich, um seine Schnürsenkel möglichst umständlich zu verknoten. Immer noch keine Charly zu sehen. Nächster Schuh, mühsam knoten, laut fluchen, damit es wirkte, als ärgere er sich über den Zeitverlust.

»Hey, Xaver, was machst du denn da?«

Xaver drehte sich ruckartig um. Hinter ihm hatte Leo mit seinem rostigen Mountainbike angehalten.

»Das ist eine gute Frage«, lobte er Leo mit einem Blick auf seinen Schuh. »Eine seeehr gute Frage. Ach, jetzt fällt es mir wieder ein: Ich glaube, man nennt es ›Schnürsenkel zubinden‹.«

»Bist du krank? Schnürsenkel?! Hattest du hier auf dem Weg zur Schule eben plötzlich die Eingebung, das Schleifenbinden zu üben, oder was?« Leo kratzte sich ratlos seinen stoppelig rasierten Schädel.

»Fahr einfach weiter, okay?«

Leos Blick wanderte den Gehweg in Richtung Schule entlang, als suche er dort nach einem Grund für Xavers Verhalten. Dann blickte er ihn ratlos an. »Häh?«

Xaver richtete sich mit gequältem Blick auf. Wenn es darum ging, Stimmungen zu checken, war Leo noch nie die hellste Kerze auf dem Leuchter gewesen, was er gerade wieder eindrucksvoll unter Beweis stellte. »Leo, wir sehen uns gleich in der Schule. Ich muss jetzt erst noch was erledigen.«

»Lass uns doch zusammen fahren. Ich warte, bis du fertig bist.«

»Alter«, setzte Xaver an, doch da war endlich der Moment gekommen: Charly tauchte auf. Xaver setzte sich schnell auf sein Rad und ließ den irritierten Leo einfach stehen.

»Ah, Charly. Hi!«, rief er zu ihr herüber.

Charly drehte sich um. »Oh hallo, Xaver.«

Oh Gott. Dieser Augenaufschlag und dieser lässige, leicht verruchte Blick! Charly war einfach der Hammer. Halb geschlossene Augenlider, dazu dieses unglaublich erotische Lächeln und dann noch eine Bluse, die mehr zeigte, als es für Xaver gut gewesen wäre, denn er spürte feuchte Handflächen, eine beginnende Erektion und wurde von einer akuten Sprechhemmung überfallen. Immer wieder hatte er trainiert, was er in Momenten wie diesem sagen würde. Vergebens, denn er mutierte auch jetzt wieder zu einem verschüchterten Schwachkopf, dem die Gedanken an seine Spielzeugeisenbahn erheblich besser stünden als der Wunsch nach einem Date mit dem angesagtesten Mädchen der Schule.

»Ist was, Xaver?«

Xaver schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen und entschied sich für einen gespielten Hustenanfall, um sich wieder etwas zu beruhigen. »Sorry, hab mich verschluckt«, röchelte er.

»Oh, du Ärmster«, gab sie zurück und verzog die pinkfarbenen Lippen mitleidig. »Wir sehen uns dann ja gleich in der Schule, okay?«

Und weg war sie. Mit ihren knappen Hotpants quetschte sie sich in den mittlerweile angekommenen Bus und fuhr in Richtung Schule. Stattdessen hielt Leo mit seinem Rad neben Xaver.

»Halloooo, Ksawääärr, mein Süßaaaa …«, äffte er Charly völlig bescheuert nach. »Meine Haare sind leida nicht soooo lang, aber für dich würd ich sie glatt wachsen lassööön.«

Leo war galant vom Rad gesprungen und tänzelte wie eine dürre Zwei-Meter-Bohnenstange mit Megahüftschwung umher, als übe er für eine Karriere als Topmodel.

Xaver stöhnte. Er wusste ja, dass Leo nicht sonderlich viel von Charly hielt. Aber das musste er ihm ja nicht ständig auf die Nase binden. »Boah, halt einfach die Klappe, ja?«

»Jetzt mal im Ernst: Stehst du immer noch auf diese Tussi?«

»Schnauze halten«, knurrte Xaver und schob sein Rad langsam den Gehweg entlang.

Leider folgte ihm Leo sofort. »Es hat die ganze Zeit nicht aufgehört, oder? Du hast nicht mehr über Charly gesprochen, aber du hast immer noch den bescheuerten Plan, sie in die Kiste zu kriegen, ne? Ich fass es nicht. Unser braver Moralapostel Xaver und die größte Bitch der Schule. Ich gebe der Story den Titel ›Der Papst und das Flittchen‹. In den Hauptrollen sehen wir Xa…«

Xaver schob sein Rad nach links gegen Leos, sodass der leicht stolperte.

Leo lachte nur. »Hey, im Ernst. Charly ist strunzdoof«, sagte er. »Übelst arrogant und fickt mit jedem, der gute Kontakte, ein Auto oder Kohle hat. Hmm …« Leo blickte ratlos seine drei beim Abzählen aufgestellten Finger an. »Zu welcher dieser Kategorien gehörst du noch gleich …? Sorry, ich sehe da leider keine Chance für dich.«

»Idiot, red nicht so einen Müll. Ihr macht sie alle nur schlecht, weil ihr null Chancen bei ihr habt.«

»Ach, aber du hast Chancen …? Sorry, das wusste ich jetzt echt nicht. Xaver, Mann. Die nutzt dich doch nur aus! Du willst es bloß nicht sehen.«

Xaver schwieg. Es gab keine Antworten, die Leo nicht direkt zerpflückt hätte. In Sachen Frauen war Leo eh überlegen. Der Glückliche hatte sein erstes Mal nämlich schon längst abgehakt. Und das, obwohl ihm Einfühlungsvermögen völlig fremd war und er diesen Mangel noch nicht mal optisch rausreißen konnte.

Die beiden blickten sich an und beschlossen stillschweigend, das Thema zu beenden, auf die Räder zu steigen und zur Schule zu fahren.

Kurz nachdem der Gong zur ersten Stunde verstummt war, betraten sie das Schulgebäude und rannten durch den Flur.

»Zu spät, die Herren«, zischte es aus Richtung des Lehrertrakts. Direx Schlicht nahm jeden Morgen die Zuspätkommer persönlich in Empfang. »Stehen bleiben!«, rief er ihnen nach, doch sie sprinteten einfach weiter die Treppen hoch. Als sie in den Flur zu ihrem Kursraum einbogen, war der pfeifende Husten des Schulleiters das Letzte, was sie noch von ihm hörten. Er würde in Kürze ein neues Opfer finden und sie vergessen. Vielleicht eine arme Fünftklässlerin, die er dann genüsslich in seinem Büro grillen würde, bis sie in Tränen ausbrach.

Tick Tack Fuck. #echthartezeiten

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