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1 Kopfkino

Geschichten schreiben ist was für Lutscher, dachte Xaver, während er auf das neue Notizbuch in seinen Händen starrte. Seine Mutter hatte den Tipp seiner Deutschlehrerin also nicht vergessen.

Die Erinnerungen an den Elternsprechtag vor drei Wochen wurden wieder lebendig.

Alles begann mit diesem bescheuerten Termin bei der Miller.

»Du musst einfach ein bisschen mehr Übung im Schreiben bekommen. Regelmäßiges Geschichtenschreiben ist dafür ein ganz tolles Training. Am besten, du kaufst dir ein schönes Notizbuch und schreibst einfach rein, was dich so im Innersten bewegt. Das macht nebenbei auch noch richtig viel Freude«, gab die Miller in einem Singsang von sich, den selbst Xavers kleine Schwester Issy lächerlich gefunden hätte. Dann blickte sie Xaver direkt an und schob ihm den Kopf entgegen wie eine alte Schildkröte. »Du kannst dabei ganz viel loswerden und über deine Gefühle erzählen, weißt du? Ich mache das auch so.« Die Schildkröte nickte lächelnd und befeuchtete ihre Lippen mit der Zungenspitze.

Haben Schildkröten überhaupt Zungen?, überlegte Xaver, während er mechanisch zurücklächelte. Angestrengt stellte er sich seine vor einem Jahr verstorbene Schildkröte vor. Er konnte sich beim besten Willen nicht mehr erinnern, ob sie eine Zunge gehabt hatte.

»Xaver?«, fragte ihn da die Schildkröte. Ihre Augenlider schlossen sich wie im Zeitlupentempo. Kurz darauf kam wieder ihre Zungenspitze zum Vorschein.

Xaver schüttelte den Kopf und blinzelte. Die Konturen der Schildkröte verschwammen und sie verwandelte sich zurück in seine Deutschlehrerin. Frau Miller war rund 40 Jahre alt. Starkes Übergewicht hatte bei ihr vor allem den Rumpf, nicht aber Arme und Beine anschwellen lassen. Diese Optik sorgte dafür, dass sie in ihrer Abwesenheit von allen nur »Turtle« genannt wurde.

»Äh, ja?«, stammelte Xaver verwirrt.

»Dann meldest du dich einfach bei mir, nicht wahr?«, schloss Turtle. Ihr Kopf nickte wieder, dieses Mal auffordernd. Es schien lediglich eine rhetorische Frage zu sein.

Xaver fing den Blick seiner Mutter auf. Die saß neben ihm und lächelte auch, doch ihre Augen signalisierten: SAG! JETZT! JA!

Er überlegte fieberhaft, was die beiden gerade besprochen haben könnten. Die Entschuldigung, er habe nicht zugehört, da er über Schildkröten nachgedacht habe, wäre selbstmörderisch gewesen. Spätestens seit einem legendären Spieleabend des Lehrerkollegiums war die bloße Erwähnung dieses Tieres in Gegenwart von Miller tabu. Schulleiter Schlicht soll zu vorgerückter Stunde beim Versuch, das Wort Schildkröte pantomimisch darzustellen, einen Lachkrampf bekommen haben. Mit tränennassem Gesicht und dem Erstickungstod nahe, habe er schließlich einfach auf Miller gezeigt. Zwei Drittel des Kollegiums riefen daraufhin sofort: »Schild-kröte!«

»Okay … einverstanden«, gab Xaver nach. Das schien die gewünschte Antwort zu sein, denn Mutter und Lehrerin wirkten zufrieden, die Audienz war beendet und Xaver verließ mit seiner Mutter den Klassenraum.

»Ich finde es wirklich gut, dass du an dieser AG teilnimmst«, murmelte Xavers Mutter geistesabwesend, während sie den ausgedruckten Raumplan nach dem Weg zum nächsten Lehrer absuchte.

Xaver blieb fassungslos stehen. »Äh … Mom? Woran werde ich teilnehmen?«

»Na, wie eben besprochen. An Frau Millers AG zum kreativen Schreiben.«

»Bitte was?!«

»Das ist doch ein super Angebot von ihr.«

»Dann geh selber hin! Mich wirst du dort nicht treffen. Never!«

Seine Mutter seufzte und stemmte einen Arm in die Hüfte. »Ach komm, jetzt sei nicht so. Das ist nur einmal in der Woche und es sind ja auch nur acht Termine. Dann starten schon die Sommerferien.«

»Und was passiert in dieser AG?«

»Ihr bringt eigene Texte mit und besprecht sie mit Frau Miller. Damit ihr auch was lernt, weißt du? Hast du denn gar nicht zugehört?«, erwiderte sie ungeduldig.

»Mit Turtle meine Texte besprechen? Hallo?« Xaver breitete fassungslos seine Arme aus.

»Habt ihr beide eben so vereinbart.«

»Nein, ganz sicher nicht. Das war ein Versehen. Ein Missverständnis! Wir müssen noch mal kurz reingehen, ich war irgendwie abgelenkt«, protestierte Xaver.

Doch seine Mutter rauschte bereits weiter und die Tür zum Schildkrötengehege hatte sich hinter der nächsten Sprechtagsmutti schon wieder geschlossen.

Xaver eilte seiner Mutter hinterher. »Warte … Hey … Das ist wichtig!«

»Xaver, nerv mich jetzt nicht. Da hättest du wohl einfach einmal besser aufpassen müssen, anstatt immer nur zu träumen. Nun ist es so – und wie es ist, ist es gut«, war der letzte Satz, den seine Mutter zu diesem Thema sagte. Es war Moms Standardsatz zum finalen Abwürgen lästiger Diskussionen.

Alle weiteren Lehrertermine des Tages verfolgte er nun mit größter Konzentration. Und er stimmte nur noch dann Vorschlägen zu, wenn er sich auch wirklich zu hundert Prozent sicher war, dass er alles exakt richtig verstanden hatte.

Am Ende des Sprechtages fühlte er sich völlig ausgelaugt. Gleichzeitig bekam er diesen bescheuerten hyperwachen und betont interessierten Ausdruck nicht mehr aus seinen Gesichtszügen herausgebügelt: Stirn leicht runzeln, Augen weit aufreißen, mit minimal geneigtem Kopf immer lächeln und in den passenden Momenten nicken. Das hatte sein Vater mit ihm vor dem Spiegel geübt und verraten, dass er selber so in langweiligen Besprechungen dem Redenden ein Höchstmaß an Interesse und Wertschätzung signalisieren könne, ohne überhaupt bei der Sache zu sein. Xaver nannte es das Ahsobla-Gesicht (Aha-aha-so-so-bla-bla) und das Krasseste war: Der Scheiß funktionierte echt.

Das Gegenüber fühlte sich in seiner Arbeit bestätigt und freute sich über so viel »ehrliche« Aufmerksamkeit. Es fiel meist nicht auf, wenn Xaver gar nicht mehr zuhörte, zum Beispiel, wenn seine Energie nach einer kurzen Nacht nur noch dafür reichte, wach zu bleiben, nicht aber, um zu begreifen, worum es im Unterricht eigentlich ging.

Das konnte natürlich auch schiefgehen, wie vorhin beim Turtle-Date.

Zu Xavers Teilnahme an der Turtle-AG war es dann allerdings doch nicht gekommen, weil sich ein bedauernswerter Konflikt mit einem anderen regelmäßigen und superwichtigen Termin ergeben hatte. Dachte zumindest die Miller, der er das aufgetischt hatte. Und Xavers Mutter hatte enttäuscht zur Kenntnis nehmen müssen, dass das Schreibtraining mangels Anmeldungen nicht zustande gekommen sei. Tja, so kann’s gehen …

Es war also alles beim Alten geblieben und Xaver hatte den lästigen Schreibkurs schon erfolgreich verdrängt, als seine Mutter unaufgefordert mit einem Päckchen in sein Zimmer platzte.

»Leg’s dahin«, murmelte er und zeigte grob in Richtung seines Schreibtischs.

Seiner Mutter genügte das jedoch nicht. Erwartungsvoll reichte sie Xaver das Paket und forderte ihn auf, es sofort zu öffnen. Er gab nach und zog ein Notizbuch aus der Verpackung. Der Einband war aus weichem Leder mit einem goldverzierten Rand.

»Oh, äh, danke? Das ist ja ziemlich … schick!«

»Es ist die Marke der Genies und Schriftsteller«, sagte seine Mutter stolz. »Ich dachte, wenn der Kurs schon ausfällt, dann kannst du ja trotzdem Geschichten schreiben. Und nun dreh das Buch doch mal um …«

Das Verhalten seiner Mutter machte ihm Angst. Zu Recht, wie er beim Anblick der Vorderseite feststellte.

Geschichten, Band 1 – von Xaver von Göttschling stand dort in Goldprägung.

»Oh, Mom … Du hast das jetzt echt für diesen Geschichten-Scheiß besorgt? Wieso? Der Kurs findet doch gar nicht statt. Und was soll der dämliche Titel vorne drauf?«

Anscheinend hatte seine Mutter mit mehr Begeisterung gerechnet, denn keine Sekunde später rauschte sie beleidigt schnaubend aus seinem Zimmer.

Xaver durchblätterte missmutig 192 Blatt gähnend leeren Blankopapiers. Okay, so eine Ansammlung weißer Blätter könnte man natürlich auch für Songtexte, Notizen, Skizzen oder anderen sinnvollen Kram nutzen. Nicht sein Problem, dass das nicht im Sinne seiner Mutter war. Er hatte sich dieses Buch schließlich nicht gewünscht. Bloß weil sie der Meinung war, dass er für sein Abi mehr bräuchte als nur gute Noten in Mathe und Physik, würde er jetzt nicht plötzlich einen auf großer Dichter der Neuzeit machen.

Außer der Kladde befand sich noch ein recht edler Füller in dem Päckchen. Xaver entfernte die Kappe und ließ ihn auf die erste Seite sinken. Was schreibt man in so ein Buch? »Das, was dich so im Innersten bewegt«, hatte Turtle beim Elternsprechtag gesagt und komisch wissend gezwinkert. Xaver glaubte nicht, dass eine in ollen Gesundheitslatschen aufrecht durch Schulflure schlurfende Schildkröte auch nur annähernd wusste, was ihn wirklich bewegte. Zumindest hoffte er es. Er betete überhaupt inständig, dass keiner jemals mitbekäme, welche kranken Gedanken seit einigen Monaten in seinem Kopf regelmäßig Partys feierten.

Er blickte auf das aufgeschlagene Buch. Das weiße Blatt nuckelte an der Füllfeder und hatte bereits einen ausgefransten blauen Flecken von der Größe einer Ein-Euro-Münze auf dem Papier erschaffen. Xaver entnahm dem Füller die Patrone und ließ ein paar Tropfen Tinte auf die erste Seite fallen, faltete das Blatt beim Tintenklecks, öffnete es wieder und betrachtete konzentriert die Form des nun entstandenen blauen Flecks.

Kein Zweifel: eine Vagina.

Sie hatten diese Tintenexperimente mal im Kunstunterricht gemacht. Die Mitschüler erkannten in den Klecksen meist tanzende Menschen, Schmetterlinge, Fledermäuse. Er selber fast immer nur Vaginas oder Brüste, selten erigierte Penisse, gelegentlich auch ganze Orgien. Je begeisterter die Mitschüler von ihren tanzenden Schmetterlingen waren, desto stiller war Xaver geworden und hatte beschlossen, seine Assoziationen lieber für sich zu behalten. Eine kurze Internetrecherche bestärkte ihn in seinem Schweigen. Es gab da diesen Psychotest, bei dem man sagen musste, woran man spontan beim Anblick diverser Tintenkleckse dachte. In einem Punkt schienen sich die Experten einig: Siehst du Genitalien oder irgendeinen anderen versauten Kram, sprich mit keinem darüber. Anscheinend entschieden nur die Gedanken des Betrachters, was dieser sah. Drehte sich in seinem Kopf also alles nur um Sex? Die Antwort war einfach, doch bedrohlich: ja.

Für seine Abschlussarbeit in diesem verstörenden Kunstprojekt hatte er eine Eins bekommen, was ein ziemlicher Erfolg war, da Xaver eigentlich fand, dass er seinen künstlerischen Zenit bereits sehr kurz nach der Einschulung erreicht hatte.

Sein bester Kumpel Leo feierte ihn für die Bestnote. Ihm hatte Xaver als Einzigem von seinen Tintenklecks-Assoziationen erzählt. Leo, der ebenfalls 16 war und am liebsten über Mädchen und Videogames sprach, brach daraufhin noch wochenlang jedes Mal wieder in schallendes Gelächter aus, wenn sie gemeinsam klecksähnliche Gebilde sahen. Zum Beispiel die Struktur der ungleichmäßig trocknenden Schultafel oder einen Schuss Sahne in der Suppe.

Dem Genitalien-Arrangement von Tintenklecksen hatte Xaver übrigens den geheimen Titel »Pussyschwarm« gegeben. Begeistert hatte die Kunstlehrerin ausgerechnet sein Werk für die Besprechung vor der Klasse ausgewählt. Sie lobte Anordnung, Farbgebung, Symmetrien und die Gesamtkomposition. Xaver setzte sein Ahsobla-Gesicht auf und sehnte den Pausengong herbei.

Es sah zugegebenerweise eigentlich ziemlich cool aus, weil sie bei den Abschlussbildern mit Acrylfarben gearbeitet hatten. Das Bild hatte trotzdem nie den Weg zu ihm nach Hause gefunden, weil Xaver befürchtete, dass seine Mutter es sofort neben dem Esstisch aufhängen würde, und das hätte er wirklich nicht ertragen. Er wurde in seiner Sorge bestätigt, denn er entdeckte die Klecksbilder aus dem Kunstunterricht wirklich an den Wänden einiger Mitschüler. Eingerahmte Genitalien als Wandschmuck gutbürgerlicher Häuser und Wohnungen.

Ein einziges Mal meinte Xaver, bemerkt zu haben, dass auch ein anderer keinen Schmetterling wahrnahm. Der Vater eines Mitschülers hatte nur kurz auf den Klecks geblickt und ziemlich entsetzt reagiert. Xaver hätte ihm gerne ein Zeichen gegeben, ihn wissen lassen, dass sie die gleichen Assoziationen hatten und somit quasi Brüder im Geiste waren, doch wie signalisierte man so etwas? Gab es einen Gruß für Vagina-Sehende? Und was, wenn Xaver am Ende unrecht hätte und der Vater auch nur einen Schmetterling sah? Dann doch lieber schweigen und auf eindeutig zweideutige Gesten über den Tisch hinweg verzichten.

»Was mich wirklich bewegt …«, murmelte Xaver mit einem langen Blick auf das Notizbuch und setzte den Füller erneut an, um unter seiner ersten Hinterlassenschaft, der blauen Vagina, nun auch mit dem Schreiben zu beginnen.

Die Leiden des jungen X. oder: Was mich wirklich bewegt, kratzte er mit der Feder auf das Papier, um das Ganze sofort wieder durchzustreichen. Neustart.

Name: Xaver von Göttschling

Alter: fast 17 (noch 27 Tage …)

Klasse: 10

Sternzeichen: Löwe

Besonderes Kennzeichen: jungfräulich seit … Er griff nach seinem Taschenrechner: 148.272 Stunden

Die ersten 120.000 davon waren ja ganz okay gewesen, aber seitdem ist es die Hölle, dachte er.

HÖLLE, schrieb er darunter.

Mit der Gestaltung dieser ersten Seite war das Schicksal des Buches entschieden. Er würde wirklich das aufschreiben, was ihn bewegte, aber weder seine Mutter noch Turtle noch überhaupt jemand durfte seine Notizen jemals zu Gesicht bekommen.

Auf der Suche nach einem geeigneten Versteck blieb Xavers Blick am Dachfenster hängen. Er verpackte es in einer Plastiktüte, befestigte diese an einer Kordel aus seinem Kleiderschrank und ließ es wie an einer Angel die Dachziegel herunterrutschen, bis es von den Blättern des Weins, der sich um ihr Haus rankte, verschluckt wurde. Das Ende des Seils befestigte er am Fenster und hoffte, dass das Buch so vor neugierigen Blicken geschützt war.

»Da bist du ja, Xavi!«, hörte er seine sechsjährige Schwester hinter seinem Rücken.

Xaver richtete sich ruckartig auf. Er knallte mit dem Kopf gegen den Fensterrahmen; ihm wurde schwindelig und er hielt sich an der Wand fest.

»Issy … Shit. Ich hab dich gar nicht kommen hören.«

»Ich hab mich auch extra superleise angeschlichen. Guck mal, so …« Sie setzte katzengleich einen Fuß vor den anderen, was mit ihren zwei blonden Zöpfen und dem ausgefransten Indianerkostüm echt sehr professionell aussah. »Nichts zu hören, ne? Ist ein Indianertrick, hab ich aus Flinke Feders Trickbuch gelernt.«

»Issy, tu mir den Gefallen, klopf einfach an, wenn du zu mir willst. Verstanden?«

»Was hast du denn am Fenster gema-hacht?«

»Hast du mich verstanden? An-klop-fen!«

»Jaja … Und was ist jetzt mit dem Fenster?«

Xaver stöhnte. »Nichts.«

»Glaub ich nicht, du lü-hügst!«

»Okay. Du hast recht … Ich hatte geschaut, ob der fette Guinness da draußen die ganze Zeit miaut hat«, kam es Xaver über die Lippen.

»Gini ist nicht fett«, verteidigte Issy ihren ollen Hauskater. »Außerdem liegt er doch auf deinem Bett.«

Stimmt, da lag er. Fuck.

»Äh, eben. Deshalb hab ich ihn wohl auch nicht draußen gesehen. Und jetzt lass uns runtergehen!«

»Ja … auf deinem Rücken! Yeah, ich reite auf dir durch die Prärie und suche Großer Donner.«

Bevor Xaver überhaupt in Worte fassen konnte, wie sehr das nicht infrage kam, war Issy bereits auf seinen Rücken gesprungen und gab ihm die Sporen.


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