Читать книгу Tick Tack Fuck. #echthartezeiten - Tom Limes - Страница 11

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5 Projektstart

Noch mürrisch vom Stunt an der Bushaltestelle, betrat Xaver zusammen mit Toni den Schulhof und blickte sich suchend nach Charly um. Eine Gruppe von Schülern lachte wieder bei seinem Anblick und begann, synchron auf den Zehen tippelnd, imaginäre Fahrräder zu steuern.

Einer der Schüler war größer. Er trat aus der Menge hervor und animierte weitere Schüler mitzumachen. Es war natürlich Piet. Grinsend von einem Ohr zum anderen, warf er Xaver einen Luftkuss zu, um sich dann lässig in den Schritt zu fassen. Charly stand neben ihm – und sie kicherte.

In Xaver brodelte es. Irgendwo in den tiefen Windungen seines Gehirns hörte er zwar ein leises Stimmchen, das verdächtig nach seiner Mutter klang, sagen, dass Gewalt keine Lösung war, doch dieses Mal ignorierte er sie. Piet zog ihn seit Monaten andauernd auf und nun reichte es einfach.

Als Piet mit seinen Trippelschritten näher kam, brannte in Xaver eine Sicherung durch und er rammte ihm mit voller Wucht ein Knie zwischen die Beine. Piet hatte keine Chance, ihm auszuweichen, und ging stattdessen mit einem piepsigen Wimmern vor Xaver auf die Knie.

Auf dem Schulhof wurde es still.

»Was zum Teufel …?«, hörte Xaver wie durch Watte. Schulleiter Schlicht, der kurz darauf vor ihm stand und zu Piet heruntersah.

»Von Götschling«, knurrte Schlicht, nachdem die Aufsichtslehrerin sich des Verletzten angenommen hatte. »Du kommst jetzt sofort mit mir.«

Wortlos gingen sie durch die Eingangshalle in den Lehrertrakt und dann ins Direktorenbüro. Schlicht schloss die schalldichte Doppeltür und alle Fenster. Seit dem Verlassen des Schulhofs hatte er nichts mehr von sich gegeben.

»Von Göttschling. Was du da gemacht hast, kann für dich ernste Konsequenzen bis hin zum Schulverweis haben. Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um …« Er atmete pfeifend ein und wirkte sehr aufgewühlt.

»Es tut mir leid«, stammelte Xaver. Sein plötzlicher Gewaltausbruch überraschte ihn selbst immer noch.

»Unterbrich mich nicht, halt einfach den Mund, hörst du? Also. Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, damit du möglichst ungeschoren davonkommst.«

Xaver klappte die Kinnlade herunter und er schob fragend den Kopf nach vorne. Hatte er sich gerade verhört?

Da begann der dürre, grauhaarige Schlicht, mit den Schultern zu zucken, sein Atem rasselte und sein Gesicht verzerrte sich zu einer hässlichen Maske. Er lachte, realisierte Xaver. »Du guckst, so wie mich Miller auch immer anschaut. Wie eine gottverdammte Schildkröte … Hahaha …«

Xaver lächelte pflichtbewusst, Schlichts Lachanfall wurde nahtlos zum Hustenkrampf, der den Direktor sich krümmen ließ. Als der Husten wieder zu rasselndem Atmen schrumpfte, trocknete Schlicht ein paar Tränen mit dem Taschentuch, reichte Xaver die rechte Hand und legte seine Linke gönnerhaft obendrauf.

»Dieser Piet und seine ganze Familie …« Er schaute sich noch einmal vorsichtig im Zimmer um, als wolle er sichergehen, dass nicht mittlerweile weitere Zuhörer anwesend waren. »… diese hochnäsigen Arschlöcher gehen mir so auf die Nerven. Piets Vater kommt hier ständig angedackelt und will neue Investitionen durchboxen, die dann ganz zufällig seinem Sohnemann zugutekommen. So ein Lackaffe! Danke, dass du wenigstens seinem Sohn mal so richtig einen gegeben hast. Danke.«

Schlicht löste den Handgriff und schritt, nun beschwingt grinsend, durch sein Büro. »Aber versteh mich nicht falsch!«, rief er. »Gewalt geht nicht. Gar nicht! Ich muss das eigentlich auch ahnden, aber in diesem einen – und nur in diesem – Fall werde ich ich mich darum bemühen, dass du davonkommst.« Seine Augen stachen bedrohlich hervor. »Doch jetzt verlass erst mal die Schule. Einschließlich Donnerstag bist du beurlaubt. Danach wird es wohl noch eine Schulkonferenz geben.«

Und dann ging er langsam auf ihn zu, bis er so nah stand, dass Xaver seinen muffigen Atem riechen konnte. »Und wenn ein Satz oder auch nur ein einziges klitzekleines Wort von dem, was ich dir hier gerade gesagt habe, nach außen dringt … dann werde ich dich zerstören. Also wage es nicht.«

Xaver spürte feine Spucketropfen, die Schlichts Mund wie Geschosse verlassen hatten, auf seinem Gesicht, doch traute sich nicht, sie wegzuwischen. Nun war wieder das böse Blitzen in den Augen des Direktors zu sehen, welches ihm deutlich besser stand als die kurze Freundlichkeit.

Nichts ist so leer wie Schulflure außerhalb der Pausen. Noch immer völlig verwirrt von Schlichts Reaktion, schritt Xaver an den Klassenzimmern vorbei und hörte gedämpfte Stimmen aus den Räumen. Französisch. Mathe. Englisch. Ethik. Jede Tür eine andere Welt. Hinter jeder Tür saßen Schüler und ärgerten sich, ignorierten einander oder schmachteten sich an.

Und Xaver? Er war ausgeschlossen worden. Ausgespien aus einem System, zu dem er vor Minuten noch gehörte. Ein paar Tage schulfrei klang eigentlich verlockend, doch dieses Mal schmeckten sie wie der kräftige Biss in einen faulen Apfel.

Er fuhr nach Hause, aber keiner war da. Hungrig schnappte er sich aus dem Kühlschrank einen Nudelrest von gestern Abend und schlang ihn im Stehen kalt herunter. Was werden meine Mitschüler jetzt machen? Was wird wohl Charly gerade tun? Als Xaver in seinem Zimmer war, zog er sein Smartphone aus der Tasche und blätterte in den Fotos. Es gab dort einen eigenen Ordner mit Charly-Fotos. Auf seinem Lieblingsfoto lächelte sie strahlend in die Kamera. Ein Milchbart, den sie vom Nippen an ihrem Latte Macchiato hatte, gab dem festgehaltenen Moment etwas sehr Intimes.

Das Piepsen des Handys ließ das Bild verschwinden und stattdessen ein Foto von Mom auftauchen.

Verdammt.

»Xaver, der Direktor hat mich angerufen und gesagt, dass du … also …«

»Ja, Mom, ich habe Piet getreten.«

»Genau, das hat er gesagt. Was soll das denn? Bist du verrückt geworden?«

»Nö? Eigentlich nicht.«

»So was hast du noch nie gemacht.«

»Stimmt. Aber weißt du … Es musste sein.«

»Xaver, Gewalt ist nie eine Lösung.«

»Jaja, schon klar. Aber Piet …«

»Nein, auch der wird wohl nicht verdient haben, getreten zu werden.« Ihre Stimme hatte sich mittlerweile noch eine Oktave höhergeschraubt.

»Oh doch!«

Seine Mutter seufzte ebenfalls. »Es gibt immer einen anderen Weg, mein Schatz.«

»… außer der ganze Schulhof lacht sich über dich kaputt«, fügte Xaver hinzu.

»Was? Über dich? Und das war Piets Schuld?« Mom klang ernsthaft entrüstet. Das Telefonat schien sich gut zu entwickeln.

»Yep.«

Xaver erzählte knapp, was passiert war, und merkte zufrieden, wie sich die Wut seiner Mutter nun gegen Piet richtete. »So ein widerlicher, arroganter Schnösel«, zischte sie am Ende seiner Beschreibung.

»Mutter!«, sagte Xaver gespielt entrüstet, während sich gleichzeitig ein Lächeln auf seine Lippen stahl. »Ich bitte dich!«

»Xaver, nun mach dich nicht lustig darüber! Lass uns später noch mal drüber reden, okay?«

Sie legten auf und das Display wechselte wieder zum Charly-Fotoalbum.

Mit Zeigefinger und Daumen vergrößerte Xaver das erste Foto von Charly und betrachtete jeden Pixel ihres Gesichts. Mit geschlossenen Augen stellte er sich vor, wie es wäre, sie zu küssen. Wie mag es überhaupt sein, jemanden zu küssen? So richtig auf den Mund und mit Zunge? Andere Jungen wussten das ja schon aus Grundschulzeiten, als sie dem einen oder anderen Mädchen einfach einen Kuss aufgedrückt hatten. Xaver fand das damals ziemlich bescheuert. Das war wohl die Quittung der verdammten »werteorientierten Erziehung«, von der seine Eltern gerne so stolz sprachen. Von früh an wurde ihm eingeimpft, dass er sich nicht verschenken, sondern auf die Richtige warten solle. Am Ende würde er ihnen noch dankbar sein dafür.

Einen Scheißdreck würde er!

Ich hab dieses Gelaber wirklich geglaubt, dachte Xaver. Klar ist es vielleicht toll, wenn irgendwann die Richtige kommt und dann Yippie! … aber was, wenn die Richtige erst den Weg zu mir findet, wenn ich 20 oder 30 bin? Und wenn ich dann merke, dass es die Falsche ist? Aber auch das wüsste ich ja noch nicht mal, weil ich keinen Vergleich hätte. Ich bin 16 und der einzige Vollpfosten auf diesem Kontinent, der noch keine Doktorspiele gemacht hat und der bei »Wahrheit oder Pflicht« immer seine Schildkröte füttern gegangen ist.

Ich bin fast erwachsen und habe den sexuellen Erfahrungsstand eines Neugeborenen. Gut, es gab da eine Phase des allgemeinen Pimmelvergleichs und so ein bisschen experimentelles Rumgefummel unter Jungs. Damals dachte ich noch, alles sei okay. Heute weiß ich, dass ich da irgendwo falsch abgebogen bin. Stecken geblieben in einer Endlosschleife zwischen feuchtem Traum und erstem Mal. Also: Werte hin, Werte her. Ich bin Xaver und ich habe es satt, ein »guter Junge« zu sein, feuerte er sich an.

In knapp vier Wochen würde er 17 Jahre alt werden und er durfte auf keinen Fall – unter keinen Umständen – dann immer noch Jungfrau sein. Also ging er entschlossen zum Fenster und angelte sich sein goldverziertes Storybuch.

Wenn er eines von seinem Vater gelernt hatte, dann war es effizientes Projektmanagement, und genau das war jetzt gefragt. Dad war früher so ein Ober-Kontrolletti gewesen, dessen Job es war, erst Projekte zu planen und später zu prüfen, ob alles klappt. Deshalb kannte Xaver sie alle, die wichtigen Projektphasen, von der Definition eines Projektes über die exakte Planung und Durchführung bis hin zum erfolgreichen Abschluss.

Die größten Fehler, die der erfolgreichen Realisierung eines Projektes im Wege stehen, sind ungenaue Definitionen und unrealistische Ziele. Berücksichtigt man das, kann man jedes Projekt umsetzen. Jedes, verstehst du?, dozierte Xavers Vater gerne.

Mittlerweile war Arne von Göttschling Trainer, Redner, Coach, also einer von denen, die durchs Land reisten, um andere dazu zu bringen, immer besser und toller zu werden. Im Grunde ein reisender Arschtreter – und er schien ziemlich gut zu sein, denn er war fast ständig weg.

Auf seiner Internetseite sah man ihn als einen Mann, der seinen Job liebte und der ausstrahlte: »Ich habe es geschafft.« Zu Hause war er … ähnlich. Manchmal war das ziemlich anstrengend, aber er war auch recht locker, und das war eigentlich ganz gut.

»Dein Papa ist so ein netter, sportlicher Typ. Nur in Bewegung, hat aber trotzdem immer ein offenes Ohr. Und so hilfsbereit!«, schwärmte die ältere Nachbarin von gegenüber immer. Andere Nachbarn würden das sofort so unterschreiben. Und die paar Sonderheiten, die er hatte, sah man ihm gerne nach.

»Schubladen sind langweilig!«, pflegte sein Vater zu sagen, was dazu führte, dass er durchaus mal mitten in der Fußgängerzone begann, zur Musik aus seinem Kopfhörer zu tanzen, sich neben einen Bettler setzte, um mit ihm Kaffee zu trinken, oder auch in irgendeiner Eckkneipe die Proleten beim Kickern herausforderte.

Heranwachsende Kinder wünschen sich bestimmt so einen Vater, weil er ähnlich bekloppt ist wie sie. Ab circa acht Jahren wurde aber genau das vor allem peinlich, denn man wusste nie, wie ein Ausflug mit ihm endete. Inzwischen begann Xaver jedoch wieder zunehmend, Bewunderung zu entwickeln, wenn er seinen Dad mit seiner Art durchs Leben schweben sah. Er hatte keine Ahnung, ob es etwas gab, was ihn umhauen könnte.

Voller Zuversicht öffnete Xaver das Buch und begann, schwungvoll zu schreiben.

Projektziel: Charly ins Bett kriegen

Zeit bis zum Projektende: 24 Tage

Etappenziel 1: Charly küssen

Grundüberlegungen: Um Charly zu küssen, brauche ich Zeit mit ihr. Ohne Störungen. Charly verbringt Zeit mit Menschen, die sie beeindrucken. Charly beeindrucken Menschen, die …

- Markenklamotten tragen

- Auto fahren

- Fotografen oder Agenten sind

- viel Geld haben

- berühmt sind

- älter, als sie sind

- Bartwuchs haben

- einen trainierten Körper haben

- ihr in der Schule helfen können

- sie zur Schule fahren können

Vorgehen: Charly beeindruckenmit Charly verabredenCharly küssenmit Charly schlafen

Xaver betrachtete die Auflistung und strich gleich wieder alle Punkte durch, die er nicht erfüllte. Stehen blieben die letzten drei, wobei er beim letzten Punkt auch nur den Gepäckträger seines Rades anbieten konnte, was nach der heutigen Aktion nicht gerade megaverlockend erschien. Blieben zwei Punkte. Zu wenig, Scheiße.

Markenklamotten wäre noch eine Möglichkeit. Vielleicht sollte er shoppen gehen? Und mit dem Bartwuchs könnte auch noch was drin sein. Er betastete seinen Oberlippenflaum. Ne, der musste auf jeden Fall weg. Besser keine Haare im Gesicht als so etwas. Er machte ein Fragezeichen an den Punkt und würde recherchieren, was Bärte wirklich sprießen ließ.

To-do: - Klamotten kaufen - Rasierer und Rasierschaum kaufen - Recherche Bartwuchs

Er terminierte die Countdown-App auf seinem Handy auf den Tag vor seinem Geburtstag.

Xaver lächelte siegessicher. Fuck you, Vorzeigesohn, dachte er mit einem Blick auf das Buch. Ich scheiß auf das ganze Wertegedöns. Ab heute wird scharf geschossen.

Tick Tack Fuck. #echthartezeiten

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