Читать книгу Totenwache - Tonda Knorr - Страница 3

Kapitel 1

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Dumpfe Basstöne dröhnen zu nachtschlafender Zeit durch die Dunkelheit. Die Straße ist eine der zahlreichen unscheinbaren Nebenstraßen, abseits der schillernden Berliner Flaniermeilen. Kreuz und quer parken die Autos, rechts und links der Straße, und man hat das Gefühl, die Straßenverkehrsordnung wurde hier außer Kraft gesetzt. Die Gegend gehört nicht zu den Vorzeigeadressen Berlins. Arbeitslosigkeit, soziale Armut und Verbrechen sind hier an der Tagesordnung. Das Iron Fist, eine abgehalfterte Diskothek, sollte schon längst geschlossen werden, aber ein aufs andere Mal haben es windige Anwälte geschafft, die Schließung zu verhindern oder aufzuschieben. Eingaben von Anwohnern, besorgten Eltern oder die Beanstandungen der zuständigen Ordnungsämter, nichts hat ausgereicht, um diesen Ort zu resozialisieren. Das Iron Fist ist Treffpunkt von Zuhältern, Nutten, Verbrechern, Geldschiebern, Drogendealern und Rockern. All die Leute, denen man nachts nicht auf der Straße begegnen will. Nichtsdestotrotz ist der Laden Woche für Woche gerammelt voll. Prostituierte und Drogenabhängige jeden Alters geben sich hier die versiffte Klinke in die Hand. Die tägliche Präsenz der Polizei, ob in zivil oder in Uniform, wird ignoriert, ist nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Stadtverordnete, die sich das Problem vor Ort anschauen sollten, wurden hier noch nie gesehen. Heute sollte sich daran etwas ändern. Zumindest ein wenig.

Es ist ein lauer Frühsommerabend. In zwei Zivilwagen warten sechs Polizisten auf den lang vorbereiteten Zugriff. Maasji Haagedorn, Kopf einer großflächig strukturierten Organisation und Drahtzieher diverser Verbrechen, will hier und heute den großen Deal abwickeln und sich dann nach Holland absetzen.

Es ist Mai, und wir schreiben das Jahr 2005. Es soll Sarahs großer Tag werden. Sarah Fender ist Hauptkommissarin, fünfunddreißig Jahre alt, bildhübsch und seit fünfzehn Jahren im Polizeidienst. Ihre Liste von Verhaftungen und Verdiensten füllt Seiten. Seit Jahren ist sie hinter Haagedorn her. Immer wieder konnte er ihr und ihren Kollegen entwischen, aber heute schien alles zu klappen. Ein Informant konnte sich nur durch diesen Tipp einer ihn erwartenden härteren Bestrafung entziehen. Nach und nach hatte die Hauptkommissarin das Netz um Haagedorn enger gezogen, und heute sollte die ewige Jagd endlich ein Ende haben. Nachdem sie den Tipp bekommen hatte, fragte sie sich Tag für Tag, ob das eine Falle sein könnte. Für Haagedorn stand aber zu viel auf dem Spiel. Seit sich Europa immer mehr in Richtung Osten erweitert, haben Menschenhandel, Prostitution und Geldwäsche Hochkonjunktur. Auch an diesem Tag sollte eine siebenstellige Summe im Austausch gegen harte Drogen den Besitzer wechseln. Sarah schaute konzentriert die Straße entlang. Ihre Angst war unbegründet. Er war da. Haagedorn war da. Sein dunkelgrüner Hummer stand vor der Tür. Eine hässliche, schwarze Spinne zierte in Miniaturausgabe nicht nur Haagedorns linke Wange, sondern auch Fahrer- und Beifahrertür. Geschmacklos auffällig, wie Sarah fand. Das Einzige, was fehlte, war das SEK und das BKA. Sarah schienen die Diskussionen um die Zuständigkeit endlos und unsinnig. Man einigte sich auf ein gemeinsames Vorgehen, und jetzt, als es soweit war, waren weder das SEK noch das BKA zur Stelle. Sie und ihre Kollegen sollten eigentlich auch nicht da sein. Das ist Sache der Sonderkommandos, wurde ihr gesagt, aber sie ließ sich aus dem Fall nicht ausschließen, und wie man sieht, hatten sich ihre Befürchtungen bewahrheitet. Keiner war rechtzeitig hier. Immer wieder wanderte der Blick der Hauptkommissarin von ihrer Uhr auf die Eingangstür des Iron Fist. Fast zwanzig Minuten war Haagedorn jetzt schon da drin, und von den Einsatzkommandos immer noch keine Spur. Jeden Augenblick konnte er mit seinen Leuten rauskommen, einen prallgefüllten Koffer voller Geldscheine in der Hand, um dann ein für alle Male aus Deutschland zu verschwinden. Die Ware war schon drin. Es wäre genau der richtige Zeitpunkt für den Zugriff gewesen. Das Geld, die Drogen und einen der meist gesuchten Drogendealer, alles wie auf dem Silbertablett serviert. Sarah wurde von Sekunde zu Sekunde unruhiger. Haagedorn konnte nur durch die Vordertür rauskommen. Sie wusste, dass der Laden unter anderem geschlossen werden sollte, weil ein zweiter Ausgang fehlte. Unvorstellbar für eine Diskothek, aber diesmal kam ihr das zugute. Sie zuckte jedes Mal zusammen, wenn hinter den fetten Einlassern die Tür aufging. Und genauso erleichtert war sie, wenn stets nur eine betrunkene Nutte mit einem nicht weniger betrunkenen zwielichtigen Typen raustorkelte, um sich in einem dunklen Treppenaufgang ein paar Meter weiter einem Straßenfick hinzugeben.

„Wann kommen die bloß? Wir können nicht mehr lange warten“, fragte Sarah ungeduldig.

„Wir warten. Wir können da nicht mit sechs Mann reingehen. Die machen uns alle.“

Büttner hielt sich an die Vorschriften. Genervt blickte Sarah in die teilnahmslosen Augen ihres Kollegen.

Schon klar, dachte sie sich. Du Pfeife sitzt dir lieber den Arsch breit, als eine eigene Entscheidung zu treffen.

Büttner und sie konnten sich nicht besonders gut leiden. Sie hatten beide gleichzeitig die Ausbildung begonnen. Er war in ihrem Alter und wurde die letzten Jahre öfter mal übergangen, als es darum ging, befördert zu werden. Er war ein Kerl wie ein Baum. Oft schon hatte Sarah sich darüber amüsiert, wie er sich mühsam hinter das Lenkrad zwängte. Auch die anderen Kollegen gehörten nicht zu ihrem Freundeskreis. Eine junge Polizistin, die nicht nur gut aussah, sondern auch noch erfolgreicher war als ihre männlichen Kollegen, hatte es nicht leicht. Immer wieder war sie kleinen Sticheleien ausgesetzt, und es wurden nicht weniger, seitdem Lisa, ihre beste Freundin, auf ihrer Dienststelle angefangen hatte. Es nutzte auch nichts, dass ihr der Polizeidirektor, den sie aufgrund dessen Freundschaft zu ihrem Vater auch privat kannte, wohl gesonnen war. Ganz im Gegenteil. All das war ihr heute aber egal. Ihr ging es nur darum, Haagedorn endlich aus dem Verkehr zu ziehen.

„In fünf Minuten gehen wir rein!“, entschied Sarah.

„Bist du bescheuert? Hier geht keiner irgendwo rein.“ Büttner war sich nicht sicher, ob er Sarahs eindringlichen Vorschlag ernst nehmen sollte.

„Ich leite die Ermittlungen. Wir gehen da rein, wenn keiner kommt“, wiederholte Sarah bestimmend.

„Das BKA leitet die Ermittlungen.“

„Wo siehst du hier das BKA oder sonst irgendwen außer uns?“, fauchte Sarah ihren Kollegen an.

Büttner drehte sich zu ihr um. Sie erwiderte den mürrischen Blick.

„Mach dir keine Sorgen, wenn es sein muss, gehe ich da allein rein. Ihr müsst mir nur den Rücken freihalten. Diese Absteige hat keinen zweiten Ausgang.“

„Das hat jetzt nichts damit zu tun, dass wir uns vielleicht nicht leiden können, aber das ist doch Wahnsinn. Was ist mit Fenstern? Woher willst du wissen, ob er überhaupt noch drin ist?“

Sarah verzweifelte innerlich. Das konnte doch nicht wahr sein. Hatte er nicht zugehört, was sie gerade gesagt hatte?

„Gib mir das Funkgerät.“ Büttner reichte ihr widerwillig das Gerät.

„Fuhrmann? Kommissar Fuhrmann?“

„Ja?“

„Wo bleibt das SEK, das BKA?“

„Sind unterwegs. Zwanzig Minuten. Die Stadt ist dicht.“

Sarah warf das Funkgerät auf das Polster, während sie mit verschlossenen Augen auf der Rückbank des BMWs kniete.

„Scheiße“, fluchte sie.

Sie begann an ihrem Gürtel und dem Pistolenhalfter rumzuzerren.

„Was hast du vor?“, fragte Büttner skeptisch.

Während Sarah das Funkgerät wieder in die Hand nahm, blickte sie Büttner direkt in die Augen.

„Zugriff.“

„Was?“

„Fuhrmann!“, brüllte sie erneut in das Funkgerät. „So viel Zeit ist nicht mehr. Zugriff. Ich gehe rein, drei Mann von dir hinterher. Büttner hält uns den Rücken frei.“

Das „Nein, auf keinen Fall“ hörte sie schon nicht mehr. Sie stand im Dunkel der Hauswand. Ihr Pistolenhalfter flog auf den Rücksitz. Sie steckte sich ihre Waffe hinten in den Hosenbund. Die Jeansjacke, mit zwei Magazinen versehen, verdeckte den Knauf, irgendwie musste sie ja an dem Einlasser vorbeikommen, ohne dem gleich ihre Knarre unter die Nase zu halten.

„Fender, mach keinen Quatsch.“

Fast schon sorgenvoll klang die Stimme von Büttner, aber Sarah war schon auf die knapp fünfzig Meter Laufweg fixiert und registrierte gerade noch so, wie von dem anderen Polizeiwagen die Türen aufgingen. Ihr Schritt war ruhig. Sie war fest entschlossen.

„Die Jungs gehören zu mir“, beruhigte sie den Einlasser.

„Welche Jungs auch immer du meinst, immer rein mit dir.“

Das Lachen des schmierigen Türstehers, der eklige Mundgeruch, seine Bierfahne und der Gestank seiner pissigen Lederklamotten schockte sie nicht so wie der Blick zurück über ihre Schulter. Sie war alleine. Keiner war ihr gefolgt. Jetzt bloß nichts anmerken lassen. Sie stand schon in der offenen Tür und tauchte ein in ein Bad von Nebelschwaden, blitzender und grell flackernder Lichter, dröhnend lauter Musik und dem fürchterlichen Gestank von all dem, was man sich durch Rauchen reinziehen konnte. Sie war die drei Stufen noch nicht ganz unten, da hatte sie schon das Gefühl eines stechenden Kopfschmerzes. Sie bemerkte, wie einige Typen sie am Ärmel zerrten. Alles lief in Sekundenschnelle ab. Durch das wilde Flackern des Lichtes nahm sie um sich herum nur kurz die verschiedenen Gesichter wahr. Sie wollte sich aus den lästigen Umklammerungen befreien, da sah sie für einen kurzen Augenblick sein Gesicht. Die tätowierte Spinne unter seinem Auge erkannte sie sofort, und auch er sah sie. Haagedorn grinste und schaute ihr ins Gesicht. Wieder spürte sie den stechenden Schmerz im Kopf und dann, wie etwas Warmes ihren Hals runterlief. Sie registrierte, wie nicht nur der Griff an ihren Armen fester wurde, sondern sah auch die Blutspuren auf ihrer Schulter. Sie hatte einen stumpfen Gegenstand gegen den Kopf bekommen. Die Arme, mit denen sie zu kämpfen hatte, rammten ihr eine Spritze in den Hals. Gleichzeitig bemerkte sie den Griff einer fremden Hand an ihrer Dienstwaffe. Im Nu drehte sich alles. Sie konnte ihre Arme und Beine nicht mehr bewegen, ihre eigene Stimme hörte sie nur noch wie weit entfernt. Es war keine Gegenwehr gegenüber den sie festhaltenden Händen möglich, und weit und breit war keiner ihrer Kollegen zu sehen. Halb abwesend versuchte sie, ihre Sinne zu konzentrieren. Keine Chance. Die Männer zerrten sie über die Tanzfläche. Aus den Augenwinkeln konnte sie verschwommen erkennen, dass kein Gast sich für diesen Angriff interessierte und keiner auf ihre gestammelten Hilferufe reagierte. Plötzlich sah sie wieder Haagedorn, der mit zwei seiner Schläger in Richtung Klotür ging. Aus den Augenwinkeln lächelte er ihr zu. Seine schulterlangen Haare hingen rechts und links zottelig an seinem Kopf herunter. Sie wollte ihm gerade ein „Verhaftet!“ hinterher rufen, als sie spürte, wie die Hände, die sie bisher so schmerzhaft festhielten, plötzlich und mit Schwung ihre Arme losließen und sie achtkantig durch die Klotür flog, um gegen das erstbeste Waschbecken zu knallen. Die Fliesen, auf denen sie lag, waren kalt. Alles war verschwommen. Einer der Männer blieb draußen vor der Tür stehen. Sie spürte wieder diese nasse, klebrige Wärme an ihrem Kopf.

Sie versuchte, sich aufzurichten und bemerkte, dass ein Teil ihrer Klamotten mit Blut befleckt war. Ein Fußtritt von Haagedorn gegen ihre Schulter ließ sie wieder zurücksacken.

„Sie sind verhaftet“, stammelte Sarah und sah dabei sehnsüchtig zur Tür, in der Hoffnung, endlich einen ihrer Kollegen oder das SEK oder irgendjemanden, der ihr nur helfen würde, zu sehen.

„Hast du blöde Fotze wirklich gedacht, dass du hier einfach so reinspazierst und mich in meinem eigenen Laden hochnehmen kannst?“, sagte Haagedorn ganz ruhig, in fast schon freundlichem Ton.

Für kurze Zeit schloss Sarah die Augen. Also doch eine Falle. Sie konzentrierte sich wieder.

„Jeder Idiot kann dich hochnehmen …“ Noch bevor sie den Satz zu Ende gestammelt hatte, spürte sie, wie sie von Haagedorns Leuten hochgerissen wurde und ihrem Ebenbild entgegen flog. Mit Müh und Not riss sie ihre linke Hand hoch, konnte aber nicht verhindern, dass das zerberstende Spiegelglas ihre Handfläche aufschlitzte und ihr das Blut durch die Finger ran. An ihrem Hals spürte sie den Druck einer Hand, die weiter versuchte, ihr Gesicht gegen die Spiegelscherben an der Wand zu drücken. Sie wollte sich wehren und zappelte wie verrückt. Ihre Knochen wollten ihr einfach nicht gehorchen. Was immer ihr dieser fette, bärtige Typ nach dem Einlass in den Hals gerammt hatte, es wirkte noch immer. Plötzlich wurde ihre Jeansjacke bis auf halbe Höhe der Arme runtergezerrt. Sie hörte, wie die Magazine und ihr Handy auf die Fliesen aufschlugen und musste feststellen, dass sie sich nun fast überhaupt nicht mehr bewegen konnte. Haagedorn zog sie an den Haaren und drehte ihren Kopf zu sich.

„Von wem hast du den Tipp bekommen?“

Doch keine Falle, und trotzdem hatte Haagedorn gewusst, dass sie kommen würde.

„Hast du gedacht, mir fällt nicht auf, wie ihr dämlichen Bullen jeden Tag um meinen Laden schleicht?“

Wieder schloss sie die Augen. Keine Auffälligkeiten in der Nähe des Iron Fist, hatte sie ihre Kollegen immer wieder ermahnt. Wieder fragte sie sich, wo die anderen blieben. Sie hatte das Gefühl, schon seit Ewigkeiten in dem Laden zu sein. Ihr schmerzten alle Glieder, und aus ihrer Hand quoll ununterbrochen das Blut. Sie öffnete ihre Augen und sah das verschmitzte Lächeln von Haagedorn.

„Fick dich, du …“ Wieder schaffte sie es nicht, den Satz zu beenden. Sie schrie auf, als sie einen fürchterlichen Schmerz an ihrer linken Schulter spürte. Sie hatte das Gefühl, als würde ihr jemand mit etwas Scharfkantigen, eine Art Schlagring oder Kralle die Haut von der Schulter ziehen. Haagedorn wandte seinen Blick von der Hauptkommissarin ab und redete auf seinen übereifrigen Schläger ein.

„Was soll der Quatsch? Hast du keine Ohren? Sie will nicht verprügelt werden, sie will gefickt werden.“ Hämisches Gelächter machte sich breit.

Er wandte sich wieder an Sarah.

„Es tut mir leid, ich muss mich für meine Leute entschuldigen.“

Diesmal kam Haagedorn nicht dazu, seinen Satz zu beenden. Eine Ladung Blut traf ihn, aus Sarahs Mund. Er schmunzelte, während er sich das Blut mit einem sauber gefalteten Taschentuch aus dem Gesicht wischte.

„Nein, mach dir keine Hoffnung. Ich fick keine Bullen, aber meine Leute sind da nicht so wählerisch. Wie das so ist, gutes Personal findet man schwer, und bei euch hier in Deutschland ja bekannter Weise sowieso nicht.“

Akzentfrei. Wieso sprach dieses holländische Arschloch so akzentfrei? Sarah glaubte das hämische Lachen der anderen Typen zu hören, war sich aber nicht sicher, da der ohrenbetäubende Lärm selbst durch die Klotür noch alles übertönte. Ihre Schulter schmerzte fürchterlich, ihre Hand spürte sie kaum noch. Immer noch lag eine schwere Pranke an ihrem Hals.

„Ich denke mal nicht, dass du mir deinen Informanten verrätst, oder? Ich würde ein bisschen Zeit sparen. Helfen kannst du ihm sowieso nicht mehr, aber dir könntest du helfen.“

Haagedorn ließ ihr etwas Zeit, aber Sarah reagierte nicht. Wenn sie könnte, würde sie ihn noch mal anspucken, aber ihr Kopf wurde mit einer solchen Kraft gegen die Wand gedrückt, dass ihr das nicht möglich war.

„Na dann, Frau …“ Haagedorn musterte ihren Dienstausweis. „Frau Hauptkommissarin, wünsch ich Ihnen viel Spaß.“

Er ließ sich auf einem Klodeckel nieder, zündete sich eine Zigarette an und nahm das Magazin aus ihrer Waffe. Jede einzelne Patrone ließ er aus dem Magazin schnappen. Er musterte ihren Dienstausweis.

„Fünfunddreißig Jahre, so schön und schon Hauptkommissarin. Hättest du mich heute verhaftet, hätten sie dich bestimmt befördert, und du hättest dich nicht weiter hochvögeln müssen.“

Endlich wurde die Umklammerung an ihrem Hals gelöst. Sie bekam wieder Luft, und bei jedem Atemzug bildeten sich Blutbläschen auf ihren Lippen. In den Spiegelresten an der Wand sah sie die widerliche Fratze des Typen, der sie bis eben so fest gegen die Wand gedrückt hatte. Sie wollte den Augenblick nutzen, um ihren Ellenbogen ihm in das Gesicht zu hauen, dass sie so abfällig angrinste. Aber bevor sie in ihrem benommenen Zustand ihre Kraft zusammennehmen konnte, wurde sie schon wieder nach unten gepresst. Der Wasserhahn drückte sich in ihr Gesicht. Sie hörte das Schnappen eines Springmessers und spürte im gleichen Moment, wie sich die kalte Klinge zwischen ihren Körper und ihre Hose schob. Mit einem Ruck gab die Hose nach. Ihr Blick hing an Haagedorns Gesicht. Der hatte sich auf dem Klo zurückgelehnt und sah ihr in die Augen. Seine Hand, mit der er seine brennende Zigarette hielt, lag auf seinem hochgestellten Bein auf. Ihn interessierte nicht, was seine Leute mit ihr vorhatten, seine Augen starrten sie an. Mit der anderen Hand schmiss er die entladene Waffe in das Waschbecken vor ihr. Von dem Weiß des Porzellans war kaum noch was zu erkennen. Das Blut aus ihrer Hand und ihrer Schulter tropfte unaufhörlich in das Becken. Sie fühlte sich so elend wie noch nie in ihrem Leben. Ihr Hass verteilte sich auf die ganze Welt. Warum hilft mir nur keiner? Sie war doch schließlich Polizistin. Sie war doch die Gute. Wo blieb nur das SEK?

„Na…? Wenn du könntest, würdest du mich jetzt erschießen?“ Sarah nahm Haagedorns Gerede nur als Wortfetzen wahr. Sie spürte die Hände der schmierigen Typen am ganzen Körper. Eine Hand drückte ihren Kopf permanent gegen diesen beschissenen Wasserhahn, die anderen Hände hielten ihre Arme. Ihre Hose hing mittlerweile zerrissen auf Höhe ihrer Kniekehlen. Sie war so müde. Ihr war, als ob sie gleich fürchterlich kotzen müsste. Am liebsten hätte sie die Augen geschlossen. Das warme, brennende Gefühl des verschmierten Blutes in ihrem Gesicht und ihr eigener Stolz ließen sie daran zweifeln, dass sie bisher geweint hatte, aber in dem Augenblick, als sie nicht nur die kratzige, stopplige Haut des ekelhaft stinkenden Mannes an ihrem Hintern spürte, konnte sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie schloss die Augen.

„Maasji, das SEK kommt.“ Eine schrille Stimme ließ sie aufschrecken.

Wie lange sie auf der Erde gelegen hatte, wusste sie nicht. War sie ohnmächtig, oder hatte ihr nur die Spritze in ihrem Hals jegliche Wahrnehmung genommen? Sie wusste es nicht, spürte nur die kalten Fliesen auf ihrer Haut und den Schmerz zwischen ihren Beinen. Sie sah ihr Handy neben sich liegen. „Los, raus hier! Zur Not ballern wir uns den Weg frei. Solange die wissen, dass hier einer ihrer Leute drin ist, schießen die nicht.“

Hektik machte sich breit. Das Durchladen von schweren Maschinenpistolen war zu hören.

„Wo ist ihre Knarre? Sucht ihr Handy.“

„Raus hier! Raus hier!“

„Den Koffer. Passt auf den Koffer auf.“

„Die haben die Straße gesperrt.“

„Raus hier. Da kommen wir durch.“

„Wir nehmen sie mit.“

„Zu spät, raus hier. Wo ist ihr Handy?“

Die Stimmen wurden immer hektischer. Plötzlich spürte Sarah wieder den Griff in ihren Haaren. Ihr Kopf wurde hochgerissen. Ein Fuß stand auf ihrer von den Spiegelscherben zerschnittenen Hand.

„Ich hoffe, es hat dir Spaß gemacht.“

Sie sah in Haagedorns Gesicht. Seine Augen waren kalt und leer. Kein Anzeichen einer emotionalen Regung. Hässlich prangte die kleine, tätowierte Spinne unter seinem Auge.

„Du kleine, dreckige Fotze. Beim nächsten Mal wechsle lieber die Seiten. Wie du siehst, von deinen Leuten hilft dir keiner, und für einen geilen Fick wie dich ist bei uns allemal Platz.“ Dann ließ er ihre Haare los, und ihr Kopf knallte auf die Fliesen. Sie hörte Schüsse und versuchte nur noch, mit zittriger Hand durch die Scherben auf dem Fußboden ihr Handy zu erreichen. So schwer es ihr auch fiel, danach zu greifen, noch schwerer tat sie sich dabei, es zu öffnen. Mit ihrer blutverschmierten, geschwollenen Hand konnte sie die Tasten kaum bedienen. Es gab keine Stelle an ihrem Körper, die ihr nicht wehtat. Das war das Letzte, was ihr aus dieser Nacht in Erinnerung geblieben ist. Haagedorns letzte Worte, die tätowierte Spinne und der Anblick ihres Handys in ihrer blutenden Hand.

Totenwache

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