Читать книгу Totenwache - Tonda Knorr - Страница 7

Kapitel 5

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Als Lisa die schwere Metalltür ihres Lofts aufschob, klimperte Sarahs Schlüsselbund am Türgriff. Einen Augenblick später fiel er auf die Erde und wurde durch die Tür über den Fußboden geschoben.

„Sarah?“ Fast wie ein Echo hallte der Name durch den Raum. Lisa hatte das Gefühl einer wohligen Wärme in ihrer Wohnung. Es lief leise die Musik von Sally Oldfield. Lisa freute sich auf den Abend mit ihrer besten Freundin. Zu lange hatten sie sich nicht mehr gesehen.

„Sarah?“, wiederholte sie. Wieder keine Antwort. Langsam trat Lisa um die spanische Wand, die vor ihrer Wohnungstür stand, um den direkten Blick in ihr Loft zu verdecken.

Mitten in dem riesigen Zimmer stand wie ein Thron auf einem Podest ihre Badewanne. Sie konnte trotz des gedämmten Lichts der zahlreichen Kerzen Sarahs Kopf auf dem Wannenrand erkennen. Ihr Gesicht richtete sich mit geschlossenen Augen hoch zur Decke. Ihre langen, nassen Haare hingen über die Wanne. Kleine Wassertropfen fielen auf den Boden. Ihre zarten Hände ragten über den Rand. In der rechten hielt sie mit zwei Fingern ein halbvolles Weinglas. Die schon fast leere Flasche stand auf dem Fußboden. Lisa erstarrte. Ihr Herz pochte wie verrückt.

„Sarah?“, flüsterte sie fast unverständlich. Sarah deutete mit einer kleinen Handbewegung an, dass sie noch unter den Lebenden weilte. Erleichtert flog Lisas Handtasche in die Ecke. Sie zog sich den Blazer aus, quälte sich aus ihren Pumps und schwang sich in die Badewanne. Dass sie immer noch ihre Bluse und ihre Jeans anhatte, störte sie nicht. Sie saß quer in der Wanne. Sarah hatte es gerade noch geschafft, ihre Beine beiseite zu nehmen, sodass Lisas Hintern genug Platz hatte.

„Ich dachte schon …“, plapperte sie freudig los. Sarah lehnte sich wieder zurück und verfolgte den Wasserdampf auf dem Weg zur Zimmerdecke. Lisa hatte sich die Weinflasche geschnappt, beäugte Sarah aus den Augenwinkeln und nahm einen Schluck aus der Flasche.

„Youuuu aaare the moorning off my liiiiife“, trällerte Sarah plötzlich zum Refrain von Sally Oldfield. „Duhu …“, versuchte Sarah sich zu artikulieren, „bist … daaas … Besssste …“ Sarah unterbrach ihren Satz und trank ihr Glas mit einem Zug leer. „…waaas mir je passssiert is.“

Sie schaute Lisa mit riesengroßen, verdrehten Augen an. Lisa betrachtete sie wehmütig, legte ihren Kopf zur Seite und beobachtete Sarah. Sie benetzte ihre Fingerspitzen und ließ die Wassertropfen über dem Tal zwischen Sarahs Brüsten auf ihre Haut perlen.

„Und du …“ begann sie langsam zu reden, „bist das Schönste, was ich je gesehen habe.“

Sarah verzog ihren Mund zu einer Schnute, wie es kleine, bockige Kinder tun. Sie pustete und rutschte mit ihrem ganzen Körper unter Wasser, bis sich das Pusten aus ihrem Mund in blubbernde Wasserblasen verwandelte. Lisa verlor durch Sarahs Bewegung das Gleichgewicht und rutschte mit runter. Beide planschten und kicherten wie zwei kleine Kinder. Sie hielten inne und schauten sich an.

„Schlüpperabend?“

Sarah musterte Lisa von oben bis unten.

„Na, wer von uns beiden hat denn hier seine Klamotten noch an?“

Lisa schaute an sich runter. Mit einem Schwung hievte sie sich aus der Wanne, wodurch Sarah wieder unter Wasser rutschte. Sie pellte sich aus ihrer klatschnassen Hose und drehte sich verstohlen zu Sarah um. Mit einem Lächeln warf sie ihr ein Badetuch zu.

Zusammengekauert saß Sarah, das Badetuch über die Schultern gezogen, auf der Couch. Lisa stellte eine neue Flasche Wein auf den Tisch und setzte sich vor den Couchtisch auf den Fußboden. Mittlerweile war sie, bis auf die Decke in die sie sich gehüllt hatte, splitterfasernackt. Sarah beobachtete das Funkeln der Kerzen in dem Metall der Kette, die Lisa schmückte. Lisa musterte Sarah. So haben sie früher oft die Abende verbracht, aber eben seit dieser einen Nacht nicht mehr.

„Und? Wie war es bei Kuntz?“

„Ich glaube, mein Vater steckt da schon wieder mit drin“, begann sie langsam zu erzählen. Verwundert hakte Lisa nach. „Dein Vater? Was hat der denn damit zu tun?“

„Na, als es darum ging, mich in den Ruhestand zu versetzen, wurden bei ihm offene Türen eingerannt.“

„Ach so?“

„Wieso hast du dich damals eigentlich versetzen lassen?“, fragte Sarah wie aus heiterem Himmel, was Lisa sichtlich überraschte.

„Es wurde mir nahegelegt, um eine Versetzung zu bitten.“

„Was? Warum?“

„Ich bin am nächsten Morgen zum diensthabenden Einsatzleiter gegangen und habe dem gleich gesagt, dass ich die ganze Heuchelei und die Ausreden, von wegen Befehle und Vorschriften, nicht mitmachen werde. Weißt du, was der gesagt hat?“ Lisa zögerte und überlegte, wie sie weiter erzählen sollte.

„Bloß weil die kleine Misthure Scheiße gebaut hat, soll ich jetzt nicht so einen Aufstand machen. Wenn mir was nicht passt, kann ich mich gerne versetzen lassen.“

Lisa zögerte wieder, nahm ihr Glas und stieß damit gegen Sarahs Glas, das auf dem Tisch stand.

„Prost!“ Dann trank sie mit einem Zug das ganze Glas aus. „Was soll ich dir sagen, dann habe ich ihm seine Kaffeetasse übern Frack gehauen und ihm gesagt, dass er das größte Machobullenarschloch sei, was ich je in Uniform gesehen habe.“ Lisa musste kurz auflachen. Auch Sarah schmunzelte, weil sie sich gut vorstellen konnte, wie Lisa ausgerastet war. So mancher ihrer Verflossenen hatte das schon zu spüren bekommen, und wenn Sarah das Glück hatte, dabei sein zu dürfen, fand sie Lisa in dem Augenblick immer besonders sexy.

„Und am Nachmittag kam dann der Anruf vom Polizeipräsidium, ob ich denn nicht Interesse hätte, dort zu arbeiten. Büroarbeit und so’n Scheiß. Polizeidirektor Kuntz hätte mich persönlich empfohlen.“ Lisa verdrehte das Gesicht, während sie weiterredete. „Der kannte mich doch gar nicht.“

„Aber mein Vater kannte dich.“

„Dein Vater?“

„Mein Vater kennt Bernhard Kuntz. Hier ein Empfang, da ein Empfang. Hier ein Skatabend, da ein Golfwochenende. Die hängen doch, wenn sie Zeit haben, ständig miteinander rum. Das passt alles schön zusammen.“

„Na ja, Kuntz hat nur gesagt, dass du sowieso nicht wieder zurückkommst.“ Lisa beobachtete, wie Sarah die Augen zusammenkniff. Sie wusste aber nicht, ob Sarah gerade überlegte, kombinierte oder ob der Wein ihre Augen müde werden ließ.

„Die wollten uns aus der Schusslinie nehmen.“ Sarah riss plötzlich die Augen auf. „Lisa! Die wollten uns von der Bildfläche haben, uns unter Kontrolle haben. Und wo geht das besser als im Präsidium? Dich versetzen sie und mich hauen die gleich ganz raus. Und meinem Vater ist das natürlich nur recht.“

Sarah unterbrach ihren Redefluss und sah Lisa mitleidig an. „Warum hast du mir nichts davon erzählt?“ Sie musste schlucken. Wieder wusste Lisa nicht, ob Sarah heulen wollte. „Es tut mir so leid.“

„Hey, hey, hey, das muss dir nicht leidtun. Du bist meine beste Freundin. Sieh dich doch mal an. Meine Knochen sind noch heil. Für dich würde ich sonst was opfern. Das wäre da sowieso nichts mehr geworden. Wenn mir einer von denen unter die Augen gekommen wäre, dann wären da nicht nur die Tassen geflogen. Sarah, das ist okay.“

Lisa streckte ihren Arm über den Tisch und drehte ein paar Mal den Kopf hin und her. „Und wenn ich ganz ehrlich bin, krieg ich da auch mehr Geld.“

Sarah kniff wieder die Augen zu einem schmalen Spalt zusammen. „Warum hast du mir nichts erzählt?“, wiederholte sie ihre Frage.

„Wann denn? Du warst eine Ewigkeit im Krankenhaus, dann bist du zur Reha, dann die Untersuchungen. Du hast nicht zurückgerufen. Dann wurdest du in den Ruhestand versetzt, und dein Vater hat gesagt, du willst keinen sehen.“

Sarah blickte Lisa entsetzt an.

„Mein Handy habe ich bis heute noch nicht wieder. Beweismaterial. Es stimmt schon, ich wollte niemanden sehen. Aber du bist doch nicht niemand, du bist doch meine Freundin.“ Sie machte eine Pause. In ihrem Augenwinkel schimmerte eine Träne. „Aber dich … dich doch immer. Mein Vater hat mir nie was gesagt.“ Die Träne suchte sich den Weg über die Wange und blieb an Sarahs Kinn hängen. „Die haben dich versetzt, dir mehr Geld gegeben und mich in den Ruhestand versetzt. Und schon denken die, die Welt ist in Ordnung.“

Für einen Augenblick starrten sie beide in das Kerzenlicht. Sarah winkte Lisa mit dem Kopf zu sich auf die Couch.

„Es tut mir so leid.“

Lisa stand auf, ging um den Tisch und setzte sich neben Sarah. Ihre Decke legte sie um Sarahs Schultern. Sarah genoss die wohlige Wärme und kuschelte sich an Lisa. Dann begann sie von ihrem Gespräch mit Bernhard Kuntz zu erzählen.

*

Sarah öffnete ihre Augen. Das Sonnenlicht blendete sie. Sie lag ausgestreckt auf dem Bauch in dem überdimensionalen Bett. Sie ließ sich wieder in das Kissen fallen und merkte, dass der Rotwein seine Spuren in ihrem Kopf hinterlassen hatte. Ihre Hand tastete vorsichtig das halbe Bett ab. Von Lisa keine Spur. Sie suchte nach einer Uhr. Halb elf, verriet ihr schließlich die Anzeige des Videorecorders. Vor lauter Anstrengung, die ihr das Bewegen des Kopfes machte, atmete Sarah lange aus. Lisa hatte definitiv recht. Früh aufstehen ist der erste Schritt in die falsche Richtung. Sie kniete sich hin. Das dünne Laken, mit dem sie bedeckt war, rutschte ihren Rücken runter. Ihr Blick landete wieder auf ihrer vernarbten Schulter. Die Haare hingen ihr zerzaust ins Gesicht. Sie musterte das riesige Loft. 138 Quadratmeter, hatte Lisa ihr damals freudestrahlend erzählt. Keine Wände, alles in einem Raum. Nur die Toilette und das riesige Bad waren abgetrennt.

„Da stell ich was vor die Eingangstür und mittenrein knall ich mir die größte Wanne, die ich finden kann. Am besten einen Whirlpool.“ Sarah kann sich noch genau an Lisas Worte erinnern. Wegen dem Whirlpool hatte sie sich ewig mit dem Vermieter gezofft, hatte aber nichts genutzt. Es blieb bei der Badewanne mitten im Raum. Als ob das einen Unterschied macht. Das Loft sah nicht nur am heutigen Morgen aus wie das Zimmer eines pubertierenden Mädchens, das sich für die Disco fertig machte. Kreuz und Quer lagen Lisas Sachen zwischen CDs, Pizzaschachteln und sonstigen Dingen auf dem Fußboden verteilt. Auch Lisas Computerecke war übersät von Klamotten, leeren Zigarettenschachteln und anderem Kram. Sarahs Blick blieb an der Technik hängen. Monitore, Rechner, Kabel, Strippen, zwei Tastaturen und Teile, die von Lisa immer als das neueste und beste gepriesen wurden. Mit Computern konnte Lisa umgehen. Für Sarah war das alles eine fremde Welt, aber Lisa, die war voll auf der Höhe der Zeit.

„Was Bill Gates kann, das kann ich auch“, waren immer ihre Worte. „Bloß das der eine Schweinekohle damit verdient“, ergänzte sie dann meistens noch. Ein aufs andere Mal konnte Lisa ihr durch ihre Computerfertigkeit helfen. Sie loggte sich in fremde Netzwerke ein, und Sarah grübelte, ob das nicht die Grenze der Legalität überschritt.

„Mach dir mal keine Sorgen, schließlich sind wir die Polizei“, beschwichtigte sie ihre Freundin dann immer. Auch vor dem Polizeirechner machte sie nicht halt, und selbst Haagedorns Spur konnte sie bis nach Holland verfolgen, aber irgendwann verlor sie den Kontakt. Sarah bemühte sich aufzustehen und schlenderte zu der im amerikanischen Stil gehaltenen Küche. Im Vorbeigehen hob sie Lisas immer noch nasse Jeans auf. Sie lag an derselben Stelle, an der Lisa sich gestern Abend ihrer entledigt hatte. Die Küche war überraschenderweise aufgeräumt. In der Kaffeemaschine duftete noch Kaffee. Sarah goss sich eine Tasse ein und schwang sich in ihrem Evakostüm auf einen der Barhocker. Auf dem Tisch stand ein Glas mit einer Rose, ein Teller mit einem frisch aufgebackenen Croissant und ein Brief von Lisa. Sarah knabberte an dem Croissant, schnupperte an der Rose und begann den Brief zu lesen.

„Liebe Sarah, bleib so lange, du willst. Meine Wohnung ist dein Zuhause.“ In großen Buchstaben las sie dann FREUNDIN. Sarah schmunzelte und drehte das Blatt um. Auf der Rückseite stand:

„P.S.: Die Aspirin liegen auf der Mikrowelle.“ Sarah ging langsam zur Mikrowelle und musterte die Aspirin-Schachtel. Sie nahm gleich zwei, lehnte sich an den Küchentisch und durchwanderte mit ihren Augen das Schlachtfeld. Dann duschte sie ausgiebig, räumte das Loft auf und schrieb Lisa einen Brief.

„Du solltest dir mal eine Vase zulegen. Ich muss mein Leben wieder in den Griff bekommen. Besuch mich. Wenn du Glostelitz findest, findest du auch mich. DANKE.“ Sarah überlegte kurz. Dann unterschrieb sie den Brief mit (Beste) FREUNDIN.

Sarah nahm ihre Tasche, ihren Schlüssel, drehte sich noch mal um und zog langsam die Tür ins Schloss.

*

„Sind meine Eltern da?“

„Guten Tag, Frau Fender.“

„Hallo Elisabeth. Sind meine Eltern da?

„Wie geht es Ihnen?“, fragte Elisabeth immer noch ruhig und gelassen. Sie ließ sich von Sarahs Hektik nicht anstecken.

„Mir geht es ganz gut.“ Sarah bemühte sich um ein Lächeln. „Elisabeth. ich habe dir doch schon so oft gesagt, dass du mich Sarah nennen sollst.“

„Na ja, Sie sind die Tochter vom Chef.“

„Elisabeth.“ Sarah fasste Elisabeth mit beiden Händen an die Schultern. „Du bist doch hier die gute Seele des Hauses. Als kleines Kind habe ich schon unter deinem Schreibtisch gespielt. 1989 am Brandenburger Tor, als ich noch gar nicht so recht wusste, was da hinter der Mauer ist, hast du dir mit meinem Taschentuch die Tränen getrocknet. Für dich bin ich immer Sarah.“ Sarah drückte Elisabeth herzlich und erinnerte sich, wie ihre Mutter und sie protestiert hatten, als ihr Vater mal auf die Idee gekommen war, eine junge Sekretärin einstellen zu wollen. Ihre Mutter hatte nur gesagt:

„Wenn Elisabeth geht, dann gehen wir auch. Wenn du junge Hühner begaffen willst, hol dir gefälligst ’ne Zeitung.“ Mit einem energischen Blick und Sarah samt ihrer Puppe im Arm an ihrer Hand, hatte sie ihre Drohung untermauert. Das war jetzt über fünfundzwanzig Jahre her, und das Thema war seither ein für allemal vom Tisch.

„Sind sie da?“ wiederholte Sarah leise ihre Frage.

„Nur Ihre Mutter. Ihr Vater musste raus nach Glostelitz. Es gibt Ärger.“

„Was?“ Nicht, dass Sarah die Nachricht groß beeindruckt hätte, aber ihr Interesse weckte sie schon. Sie wollte ihrem Vater nach den Gesprächen mit Kuntz und Lisa ein paar unbequeme Fragen stellen und ärgerte sich nun, dass sie sich umsonst einen Schlachtplan zurechtgelegt hatte.

„Ich geh mal rein“, zwinkerte sie Elisabeth zu.

Marianne saß hinter dem klobigen, verschnörkelten Schreibtisch ihres Mannes. Sarah konnte das Ding noch nie leiden. Als kleines Kind hatte sie sich immer beim umherkrabbeln an den geschwungenen Holzleisten den Kopf gestoßen. Deshalb hatte sie auch lieber bei Elisabeth unterm Tisch gespielt als bei ihrem Vater. Ihre Mutter war vertieft in die Akten. Ihre Lesebrille saß so weit unten auf der Nase, dass Sarah ihr, als sie aufschaute, in die Augen sehen konnte. Trotzdem nahm Marianne die Brille ab und ließ sie an der Goldkette runterhängen.

„Das ist aber schön, dass du vorbeischaust“, begrüßte sie ihre Tochter.

„Wo ist denn Herbert?“

Marianne stand auf und ging um den Schreibtisch.

„Erstmal sagt man guten Tag.“ Sie nahm ihre Tochter in den Arm. „Und dann habe ich dich tausend Mal darum gebeten, dass du Papa sagen sollst.“

„Väter intrigieren nicht hinter dem Rücken ihrer Töchter.“

„Wie bitte? Ich höre wohl nicht richtig.“

„Doch, Mama, du hörst richtig. Meine Versetzung in den Ruhestand, das eingestellte Verfahren, die Gutachten, bei alldem hatte Herbert seine Hände im Spiel. Sogar Lisas Versetzung ist mit auf seinem Mist gewachsen.“ Sarah redete sich in Rage. „Das ist so verlogen!“

„Sarah“, unterbrach ihre Mutter sie forsch. „Du redest hier von deinem Vater.“

„Nein, Mama, ich rede hier von deinem Mann.“

„Eben deshalb, weil du hier von meinem Mann, deinem Vater, redest, solltest du dir überlegen, was du sagst. Überschätzt du ihn da nicht ein bisschen? Dein Vater wollte nur, dass das endlich ein Ende hat.“ Marianne Fender versuchte, ihre Fassung wiederzuerlangen.

„Na klar. Typisch Fenders. Einer deckt den anderen. Bloß nicht an der Fassade kratzen.“

„Ich weiß gar nicht, was du hast. Lisa geht es doch gut im Polizeipräsidium.“

„Weißt du, warum man sie versetzt hat?“

„Soviel ich weiß, weil sie darum gebeten hat.“

Sarah hielt sich die flache Hand vor die Stirn und verweilte für einen Augenblick so.

„Mama“, sagte sie eindringlich, „Lisa wurde nahegelegt, sich versetzen zu lassen. Bernhard wollte sie unter seinen Fittichen haben, und Herbert hat das forciert. Lisa hat unserem Vorgesetzten eine Kaffeetasse um die Ohren gehauen und ihm ihre Meinung gesagt.“

„Na, temperamentvoll war sie ja schon immer.“

Sarah blickte ihre Mutter an und fragte sich, ob sie sie nicht verstehen wollte oder nicht konnte. Marianne stellte sich ans Fenster. Sarah folgte ihr und stellte sich neben sie. Sie blickte sie von der Seite an.

„Mama.“ Sarah machte eine Pause. „Die haben mich eine Misthure genannt. Eure Tochter. Wie kommen die auf so was?“

„Was?“ Marianne blickte Sarah entsetzt an.

„Ach, das hat dir wohl keiner erzählt. Lisa war die Einzige, die zu mir stand.“

„Wir stehen auch zu dir.“

„Ihr manipuliert mein Leben, und dein Mann verrät seine eigene Tochter.“

„Sarah.“ Mariannes Ton wurde leise und eindringlich. „Was sagst du da? Dein Vater würde nie etwas tun, was nicht in deinem Interesse ist. Er wollte, dass du endlich zur Ruhe kommst.“

„Er will mich kontrollieren. Ihm hat es doch noch nie gepasst, dass ich zur Polizei gegangen bin.“

„Das ist ja wohl auch kein Frauenberuf. Er wollte seine Tochter nicht verlieren. Er hat doch nur dich. Er will dich doch nur beschützen.“

„Mama, ich bin Polizistin. Ich brauche seinen Schutz nicht.“

„Das haben wir ja gesehen“, entgegnete Marianne entrüstet.

„Hör auf damit. Ich habe nicht gesagt, dass ich keinen Schutz brauche. Ich habe gesagt, dass ich seinen Schutz nicht brauche. An dem Abend hätte ich Schutz gebraucht, aber nicht von ihm.“ Sarah machte eine Pause. „Die Leute, die mich an dem Abend hätten beschützen sollen, die sind noch da.“

„So geht das nicht“, flüsterte Marianne wieder und schaute dabei aus dem Fenster. Erneut machte sich eine gespenstische Ruhe breit.

„Ich fahre jetzt.“ Auf halbem Weg zur Tür drehte Sarah sich noch mal um. „Ich verstehe Tim, dass er lieber um die Welt reist.“

„Sarah.“ Marianne ignorierte die letzte Bemerkung ihrer Tochter. „Mach jetzt nichts Falsches. Herbert ist in Glostelitz. Es wurde ein Baustopp verhängt. Denk bitte an seine Gesundheit, und vor allem denk daran, dass er dein Vater ist. Ich möchte meinen Mann nicht verlieren. Das ist die Sache nicht wert.“

„Eure Wertvorstellungen. Willst du lieber deine Tochter verlieren?“ Sarah verließ das Zimmer, ohne sich zu verabschieden.

„Wie kann man jemanden nur vor so eine Wahl stellen!“, hörte sie ihre Mutter noch hinterher rufen.

*

„Scheiße, Scheiße, Scheiße!“ Immer wieder haute Sarah mit der Hand auf ihr Lenkrad. Den ganzen Weg ärgerte sie sich über das Gespräch mit ihrer Mutter. Auf der Landstraße kurz vor Glostelitz fuhr sie das Auto an den Straßenrand. Sie sprang raus, knallte die Tür zu und trat mit dem Fuß gegen den Reifen. Nur langsam konnte sie sich wieder beruhigen. Sie lehnte sich gegen die Motorhaube und zündete sich seit langem mal wieder eine Zigarette an. Sie war stolz, dass sie selbst gestern Abend bei Lisa nicht geraucht hatte. Sie dachte an Lisa und daran, wie sehr sie ihr in den letzten Wochen und Monaten gefehlt hatte. Über die Felder konnte sie in weiter Ferne die Dächer von Glostelitz erkennen. Wenn sie ehrlich war, musste sie sich eingestehen, dass sie schon eine gewisse Verbundenheit zu ihrer neuen Bleibe spürte. Sie betrachtete die halb aufgerauchte Zigarette und schmiss sie weg. Wie sollte sie nur ihrem Vater gegenübertreten? Ihr klangen noch die mahnenden Worte ihrer Mutter in den Ohren. Aber die Sache auf sich beruhen lassen, konnte und wollte sie auch nicht. Sie fürchtete sich davor, dass der Konflikt eskalieren könnte. Zögernd setzte sie sich wieder ins Auto. Einen Augenblick noch hielt sie inne, dann fuhr sie los. Langsam bog sie nach Glostelitz ein. In den Ort führte nur diese eine Straße. Mehr waren auch nicht nötig. Die Häuser reihten sich fast aneinander. Nur ab und zu ging eine Straße rechts und links ab, aber auch da standen nur ein paar Häuser. Fast alle waren große Gehöfte. Alt und von den Jahren gezeichnet. Die neuen Häuser konnte sie an einer Hand abzählen, und selbst die schienen teilweise unbewohnt. Hier musste früher viel Landwirtschaft betrieben worden sein. Aber nichts schien hier so, als ob wirtschaftlich noch was in Bewegung wäre. Eines der Häuser deutete auf eine alte Werkstatt hin. Es war das größte einzeln stehende Haus am Dorfanger. Mit großen, verwitterten Buchstaben stand Schlosserei Gram an der Giebelwand.

„Der Pfarrer“, flüsterte Sarah vor sich hin.

Neben der Schlosserei, fast in der Mitte des Dorfes, war ein größerer Platz, der nicht zum eigentlichen Dorfplatz im herkömmlichen Sinne gehörte, der aber erahnen ließ, dass hier früher mal ein noch größeres Haus, vielleicht eine Kirche, gestanden haben musste. Kurz bevor sie in die Straße einbog, die den Hügel hinauf zu ihrem Haus führte, kam sie an dem Haus vorbei, in dem Pfarrer Gram wohnen musste. Kein Schild wies darauf hin. Rätselnd blickte Sarah auf die Fenster. Sie meinte, gesehen zu haben, wie sich eine Gardine bewegt hatte. Unschlüssig hob sie sicherheitshalber die Hand zum Gruß. Wo war sie hier nur gelandet? Der ganze Ort schien ihr rätselhaft. Ganz selten sah sie hier Leute auf der Straße. Keine Kinder, keine Tiere, nichts, was auf ein normales Leben auf dem Land hingewiesen hätte. Selbst die alte Kneipe gleich neben dem Gemeindehaus machte einen unscheinbaren Eindruck. Plötzlich musste Sarah bremsen. Der Pfarrer stand wie aus heiterem Himmel vor seiner Toreinfahrt. Sarah stieg aus.

„Hallo, Herr Pfarrer!“

„Herr Gram tut es auch“, erwiderte der Pfarrer mürrisch.

„Ist es hier immer so totenstill?“ Der Pfarrer zuckte mit den Schultern.

„Es ist früher Nachmittag. Die meisten, die noch einen Job haben, sind in der Stadt. Was haben Sie erwartet?“

Sarah blickte sich um. Ja, was hatte sie erwartet?

„Wenn Sie Zeit haben, kann ich Ihre Tür reparieren“, bot der Pfarrer an.

Sarah blickte ungläubig.

„Ihre Autotür ist doch kaputt.“

Sarah stammelte:

„Woher wissen Sie …?“

Der Pfarrer schaute gleichgültig drein. „Na, ich habe doch Augen im Kopf, und wenn jemand auf der Beifahrerseite ein und aus steigt, kann man davon ausgehen, dass die Fahrertür kaputt ist, oder?“

„Wieso können Sie …?“ Sarah verschluckte den Rest des Satzes und drehte sich zu dem Haus um, an dem Schlosserei Gram stand.

„Ja, ja, wir sind alle nicht das, wonach wir aussehen.“

Der Pfarrer war Sarah mittlerweile entgegengekommen und reichte ihr nun die Hand.

„Ich bin gelernter Schlosser. Mein Vater war Pfarrer. Aber seitdem er das nicht mehr macht, habe ich das übernommen. So nebenbei. Die Leute brauchen ja so was. Die Kirche sieht das nicht so eng, und den Leuten ist es egal. Hauptsache, sie haben einen, der ihnen zuhört. Vielleicht wäre Seelsorger die bessere Umschreibung.“

Sarah blickte zum Fenster. Wieder bewegte sich die Gardine. „Ihr Vater?“

Der Pfarrer blickte zum Haus.

„Sie sehen viel. Nein, mein Vater ist tot.“ Sarah wusste nicht, ob sie lächeln oder ein trauriges Gesicht machen sollte.

„Oh, das tut mir leid“, sagte sie.

„Kein Problem. Ich kannte ihn nicht einmal.“

Der Pfarrer blickte Sarah erwartungsvoll an.

„Ich komme darauf zurück. Vielen Dank für das Angebot.“ Sarah winkte kurz, schwang sich in ihr Auto und fuhr langsam weiter. Sie schüttelte verwundert den Kopf.

„Werfen Sie mir den Schlüssel einfach in den Briefkasten. Sie haben das Auto dann am nächsten Tag wieder.“

Sarah winkte noch mal aus dem offenen Fenster. Sie war immer noch über die plötzliche Kommunikationsbereitschaft des Pfarrers verwundert.

Als sie die Straße zu ihrem Grundstück hochfuhr, sah sie schon von weitem ihren Vater in der Einfahrt hin und her laufen. Wild gestikulierend telefonierte er. Vor dem Grundstück stand Falkners Auto. Der Baustopp schien also nicht nur eine Formalität zu sein, sondern sorgte dafür, dass Falkner persönlich vorbeischaute. Vermutlich wollte er seinen Triumph ihrem Vater gegenüber auskosten. Sarah fuhr bis vor die Einfahrt. Sie stieg aus, nickte der alten Frau zu und musterte ihren Vater. Er hielt kurz inne, nahm das Handy vom Ohr und flüsterte halblaut zu Sarah:

„Bitte nicht jetzt.“

Aha. Ihre Mutter hatte ihren Mann scheinbar schon vorgewarnt. Sarah betrat langsam den Hof. Falkner war mit Verstärkung angerückt. Über Plänen und Akten vertieft, lehnten drei Männer an dem alten Holztisch. Gustav saß gelassen in seiner Raupe und nickte Sarah nur zu.

„Hallo, Frau Fender.“ Falkner kam langsam auf Sarah zu. „Ich habe es Ihnen ja gesagt, wir sehen uns wieder.“

Sarah tat gleichgültig. „Aber mein Haus darf ich noch betreten?“

Falkner ging ihr aus dem Weg.

„Sarah!“, hörte sie die Stimme ihres Vaters. Beide gingen in Richtung Haus. „Sarah, bitte warte!“ Der Ton ihres Vaters klang leise. Sarah blieb stehen und ließ sich von ihrem Vater einholen.

„Ich vermute, dass du Erklärungen von mir hören willst. Ich will mich davor auch nicht drücken, aber bitte nicht jetzt und nicht heute. Drin sind noch die Handwerker. Warmwasser und Strom geht jetzt. Die Treppe wird später repariert.“ Kurz und bündig war die Berichterstattung ihres Vaters, der sich auch gleich in Richtung Falkner aufmachte.

„Die Treppe …“, wollte Sarah sich noch beklagen, gab die Hoffnung aber auf, da ihr Vater schon wieder mit den Gedanken woanders zu sein schien. Sie betrat das Haus. Dank der Handwerker sah alles wieder aus wie am ersten Tag. Anhand der Fußspuren konnte sie genau die Laufwege der Handwerker nachvollziehen. Nicht eine einzige Spur führte zu der Treppe ins Obergeschoß. Ein Pfiff ließ sie aus ihren Gedanken aufschrecken.

„Hallo, schöne Frau!“

„Die Treppe?“

„Ist da hinten“, erwiderte ein schlaksiger Kerl im Overall und setzte ein breites Grinsen auf. Sarah postierte sich frontal vor ihm. Sie stand kerzengerade, streckte ihre Brust raus und stemmte die Arme in ihre Hüfte.

„Ach, einen Witzbold haben wir hier.“ Der schlaksige Kerl ließ sich von Sarah nicht aus der Ruhe bringen.

„Ob nun Witzbold oder nicht, auf alle Fälle kein Zimmermann.“ Wieder dieses breite Grinsen. Durch die Badezimmertür lugte auf einmal noch ein zweites Gesicht. Dasselbe Grinsen.

„Mal ganz ehrlich“, legte das Badezimmergesicht los, „ob in der Stadt oder auf dem Land, Gas-, Wasser-, Scheiße-Klempner finden Sie an jeder Ecke, aber einen guten Zimmermann, da muss Papi sich schon ein bisschen mehr ins Zeug legen.“

„Scheiß Osten“, grummelte Sarah ganz leise und wandte sich ab.

„Das habe ich gehört“, entgegnete der schlaksige Kerl und murmelte genauso leise: „Scheiß West-Tussi.“

„Das habe ich auch gehört“, bemerkte Sarah, die im Begriff war wieder rauszugehen. „Ich hoffe, ihr wollt jetzt nicht die Mauer wieder haben?“, legte sie noch zwischen Tür und Angel nach.

Die beiden Handwerker standen jetzt nebeneinander im Raum, verschränkten ihre Arme vor der Brust und starrten Sarah hinterher.

„Bei so einem geilen Arsch …, auf keinen Fall!“

Sarah marschierte langsam an ihrem Vater und den Leuten vom Bauamt vorbei. Bei Gustav setzte sie sich auf die übergroßen Stahlteile der Kette seiner Planierraupe. Sie lehnte sich zurück, schloss die Augen und genoss die Sonne und die Ruhe. Gustav beugte sich vor und verfolgte die wilde Diskussion der Männer.

„Det wird dem Alten nicht schmecken. Is wie‘n Albtraum. Da willste bauen, und die Sesselpupser haben nüscht Besseres zu tun, als dir nen Knüppel zwischen de Beene zu schmeißen.“

„Was ist denn los?“

Gustav lehnte sich wieder zurück in sein Führerhaus.

„Das Gehöft war mal ein Gutshaus und ist vorgemerkt für das Verzeichnis denkmalgeschützter Gebäude.“

„Und?“ Sarah blickte interessiert zu Gustav.

„Der Alte hat keine richtige Baugenehmigung. Nur so ein Sonderwisch vom Scherzinger. Damit kann er gerade mal den Ofen anheizen.“ Gustav sprach, ohne auch nur eine Miene zu verziehen.

„Und nun?“, bohrte Sarah weiter.

„Und nun klären die Herren, was gemacht werden darf und was nicht.“

„Aber …“, wollte Sarah weiterfragen.

„Nichts aber. Der Denkmalschutz soll wohl für das ganze Gelände gelten. Nicht nur die Häuser, auch da drüben das Grundstück gehört dazu.“ Gustav zeigte in die Richtung der alten Frau.

„Das ist doch ein ganz anderes Grundstück?“

„Nein, äh ja.“ Gustav schien überfordert. „Denkmalschutz macht keinen Halt vor Grundstücksgrenzen. So was nennen die dann Orchesterschutz oder so ähnlich.“

Sarah blickte Gustav verwundert an. „Orchesterschutz? Du meinst Ensembleschutz.“

„Na sag ick doch.“

„Muss ich jetzt wieder raus aus dem Haus?“

„Quatsch!“ Gustav verdrehte die Augen. „Nur Vorschriften, Vorschriften und allet so’n Scheiß. Die Scheune darf auch nicht abgerissen werden.“

„Die Scheune sollte weg?“

„Ihr solltet mehr miteinander reden. Frag deinen Vater.“

Sarah grübelte. Gustav hatte recht. Bis heute wusste sie nicht so richtig, was ihr Vater eigentlich vorhatte. Sie hatte auch nie gefragt. Wie in Trance durchlebte sie die letzten Wochen und Monate.

„Das werde ich“, nahm sich Sarah vor.

Mit einem Schwung hüpfte sie von der Raupe und bewegte sich langsam auf die lautstark diskutierenden Männer zu.

„Kann ich helfen?“

Das Gespräch verstummte. Erst jetzt sah Sarah, dass ihr Vater schon wieder telefonierte. Der Schlipsknoten war runtergezogen und der oberste Hemdknopf war offen. Sarah deutete das als ein schlechtes Zeichen. Ihr Vater legte Wert darauf, in jeder Situation akkurat auszusehen. Sein jetziger Zustand ließ darauf schließen, dass er schwer damit zu tun hatte, Herr der Lage zu sein. Von seinem Gespräch verstand sie nur Wortfetzen.

„Scherzinger … linker Hund … kannst du doch nicht machen …“ Sarah wusste, für ihren Vater war der Schuldige gefunden. Ihre Mutter hatte recht. Der Augenblick, um ihren Vater zur Rede zu stellen, war denkbar ungünstig. Er war angeschlagen. Die Falten in seinem Gesicht schienen tiefer und die Augenringe dunkler zu sein.

Sarah blickte wortlos in Falkners Gesicht. Der musterte ihren Vater. Sarah hatte das Gefühl, dass Falkner triumphierte.

„Wo ist das Problem?“, wollte sie wissen.

Ohne Sarah auch nur anzusehen, antwortete Falkner:

„Kein Problem. Ihr Vater hält sich nur nicht an die Spielregeln.“

„Das hatten wir doch schon. Probieren wir es mal ohne ihre Machtspielchen.“

Falkner schaute Sarah ärgerlich an.

„Wer hat denn damit angefangen? Es gibt Vorschriften und Festlegungen, an die sich jeder zu halten hat. Auch Ihr Vater. Da nutzt auch keine Sondergenehmigung was, schon gar nicht bei Sachen, die den Denkmalschutz betreffen.“

Sarah beschlich das Gefühl, dass Falkner die jetzige Situation richtig auskostete.

„Was muss denn hier geschützt werden?“

„Junge Frau, das entscheiden wir doch nicht. Lassen Sie sich nicht von dem gut erhaltenen Zustand täuschen. Das Gehöft ist über hundert Jahre alt. Das war mal ein Gut, das hat doch Geschichte.“

Sarah wollte beiläufig erwähnen, dass ihre Treppe alles andere als in einem guten Zustand war, fand die Bemerkung aber nicht passend.

„Das hat doch die letzten Jahrzehnte auch keinen interessiert.“

„Eben, dann wird es ja Zeit, Frau Fender! Wollen wir jetzt über die deutsch-deutsche Nachkriegsgeschichte diskutieren?“

Sarahs Vater hatte aufgehört zu telefonieren und verfolgte wohlwollend den Enthusiasmus seiner Tochter.

Gustav schmiss seine Raupe wieder an. Aufgeschreckt beobachtete Sarah, wie die Männer reagierten. Falkner verzog keine Miene.

„Keine Sorge. Solange er hier kein Haus abreißt und nur das Gelände begradigt, kann er hier machen, was er will“, beschwichtigte Falkner.

„Was ist mit dem Neubau?“ Herberts Stimme hörte sich kratzig an.

Genervt wandte sich Falkner an Sarahs Vater.

„Sagen Sie mal, hören Sie mir nicht zu? Kein Abriss, kein Neubau ohne Baugenehmigung. Sie können den Garten umbuddeln, ein paar Blumen pflanzen und von mir aus das Wohnhaus pinseln. Aber nur innen. Mehr nicht. Verstanden?“

„Sie aufgeblasener Fatzke, da investiert man und schafft Arbeitsplätze, und dann kommt so ein dahergelaufener Wichtigtuer und reitet auf seinen Paragraphen rum.“ Herbert Fender drohte die Fassung zu verlieren. „Kein Wunder, dass in Ihrem Land nichts vorwärtsgeht.“

Der fast einen Kopf kleinere Falkner trat bis auf Tuchfühlung an Herbert heran.

„Jetzt hören Sie mir mal zu. Bei allem Respekt, ich weiß nicht, was Sie für eine große Nummer in Berlin sind. Ich weiß auch nicht, warum Scherzinger ihnen eine Sondergenehmigung gegeben hat. Vermutlich hängt das mit Ihrem Fabrikneubau zusammen. Aber seien Sie mal ehrlich, Sie hätten das neue Werk doch sowieso gebaut. Fördermittel, Investitionszulagen, das ganze Programm. Sie kriegen den Hals doch nie voll. Kommen hier mit Ihrem dicken Auto vorgefahren und wollen den Osten für’n Appel und’n Ei kaufen und denken, Sie könnten sich über jede Vorschrift hinwegsetzen.“

Sarah erlebte das erste Mal, wie sich jemand ihrem Vater entgegenstemmte. Die Halsschlagader ihres Vaters pulsierte wie verrückt. Mit der rechten Hand griff sich Herbert Bender an die Brust und schnappte nach Luft. Sarah beobachtete Falkners Kollegen. Sie versuchten Falkner zu beruhigen.

„Lass gut sein.“

Sarah blickte hilfesuchend zu Gustav. Keiner hatte bemerkt, dass die Raupe keinen Krach mehr machte. Gustav stand vor der riesigen Schaufel und starrte fassungslos auf den aufgeschobenen Berg Erde. Langsam drehte er den Kopf in Herberts Richtung. Ohne das kreidebleiche Gesicht zu bewegen, zeigte er mit der Hand auf den Haufen.

„Was ist?“, schrie Herbert Fender immer noch aufgebracht.

„Ein Albtraum.“

Sarah überkam ein ungutes Gefühl. Sie kannte Gustav, seitdem sie denken konnte. Sie kannte auch sein ewiges Rumgenörgel, und manchmal nervte sie auch der immer wieder strapazierte „Albtraum“. Noch nie hatte sie das Gefühl so wie jetzt, dass es Gustav ernst damit war.

„Haste die Kabel zerrissen?“ Herberts Stimme überschlug sich.

„Da liegen keine Kabel“, stammelte Falkner.

Sarah begab sich langsam zu Gustav. Die Männer folgten ihr. Sie beobachtete, wie sich ihr Vater immer noch die Hand an die Brust hielt.

„Geht’s?“

Herbert reagierte nicht.

„Was ist?“ Angekommen an dem Erdhügel suchte Herbert Fender nach einer Erklärung für Gustavs Verhalten. Er postierte sich zwischen die Raupe und den Hügel. Falkner und seine Kollegen stellten sich auf die andere Seite des Berges. Sarah beobachtete beim Laufen die alte Frau und musste feststellen, dass die sich erhoben hatte und entsetzt ihre Hände vors Gesicht hielt. Verwundert über die plötzliche Reaktion verlangsamte sie ihren Schritt und blieb fast stehen.

„Was denn? Die paar Knochen …“ Herbert verschluckte den Rest des Satzes. Er erinnerte sich daran, wie er auf Sarahs Worte reagiert hatte, als sie solch einen ähnlichen Knochen in der Hand gehalten hatte.

„Viecher?“

Gustav, Falkner und seine Kollegen schauten Herbert Fender kreidebleich an. Gustav, der auf der anderen Seite des Berges stand, zeigte erneut auf eine Stelle am Fuße des Haufens. Langsam ging Herbert auf die andere Seite. Auch hier lagen Knochenreste, aber nicht nur.

„Und die Viecher haben Uniformen angehabt, oder was?“

Aus der Erde ragte der Kolben einer alten, verwitterten Maschinenpistole, und es fiel Herbert Fender nicht schwer, die drum herumliegenden Stofffetzen als Reste einer russischen Uniform zu deuten. Man erkannte ganz deutlich den roten Stern auf den verdreckten Resten eines Schulterstückes. Herbert lehnte sich rücklings an die Scheunenmauer und schaute zum Himmel hoch. Es gab keinen, der ihn nicht beobachtete und in seine Richtung schaute.

„Was?“ Herbert Fender war irritiert, merkte aber, dass die Blicke nicht ihm galten, sondern den alten Klinkersteinen um ihn rum. Er trat einen Schritt vor, drehte sich langsam um und sah, was alle sahen. Auf den ersten Blick vielleicht nicht zu erkennen, war die Wand übersät mit kleinen Löchern und Abplatzungen. Sarah sah in die versteinerten Gesichter der Männer. Sie wollte mit der Hand ein Stück der Uniform freilegen. Dabei verrutschte die trockene schwarze Erde und ein menschlicher Totenschädel kullerte den Haufen hinunter. Sarah schreckte zurück und verharrte. Es herrschte Totenstille. Die Zeit, in der sie so um den Haufen standen, kam ihr endlos vor. Erst das klapprige Poltern eines Blechnapfes ließ sie aufhorchen. Sarah sah in die Richtung, aus der sie das Geräusch vernahm. Auf der Straße stand dort, wo sonst die alte Frau saß, Pfarrer Gram. Vor ihm lag ein umgekippter Napf und in den Büschen hinter ihm konnte sie noch die alte Frau weghuschen sehen.

„Dein Handy“, sagte sie stotternd zu ihrem Vater.

„Hä?“

„Dein Handy, gib mir bitte dein Handy.“

„Was hast du vor? Nun überstürz mal nicht gleich alles.“ Pfarrer Gram trat zwischen Sarah und ihren Vater. Sarah bemerkte, dass der Pfarrer keineswegs verwundert war. Er nickte nur.

„Sie sind schon unterwegs“, bemerkte er unbeteiligt.

„Die örtliche Polizei wird da nicht ausreichen.“

Pfarrer Gram musterte Sarah, machte aber nicht den Anschein, überrascht zu sein.

„Ich weiß.“

„Sie sind?“ Herbert Fender durchbrach das kurzsilbige Gespräch.

„Werner Gram. Ich bin hier …“ Sarah unterbrach ihn.

„Der Pfarrer. Pfarrer Gram.“ Herbert schaute abwechselnd zu seiner Tochter und dem Pfarrer. Wohlwollend nickte der Pfarrer.

„Genau, Pfarrer Gram.“

„Dein Handy bitte“, wiederholte Sarah.

Herbert reichte seiner Tochter das Handy. Von der Straße her hörte man das Knattern eines alten Motorrades.

„Sie sind da.“

„Wer?“ Herbert blickte sich um.

„Die Polizei.“ Pfarrer Gram bekreuzigte sich, während er antwortete.

„Na, das geht ja schnell.“

Ein für sein Gewicht etwas zu klein geratener Polizist stapfte durch den aufgeschobenen Sand die Einfahrt hoch.

„Wachtmeister Rieck“, röhrte eine piepsige Stimme. Seine Brille war beschlagen und der alte Motorradhelm hing etwas schief auf seinem Kopf. Herbert Fender sah den Wachtmeister als letzter und konnte sich, obwohl im überhaupt nicht danach zumute war, ein Lächeln nicht verkneifen.

„Sie bedienen auch wirklich jedes Klischee.“

„Welches Klischee?“, piepste Rieck zurück.

„Na, wie halt so ein typischer Dorfpolizist auszusehen hat. Altes Motorrad, olle Dohle als Helm, Bierbauch, Brille, piepsige Stimme. Vermutlich ist Ihre Dienstwaffe aus Holz.“ Sarah musterte ihren Vater. Seine Direktheit war bezeichnend. Wie es schien, suchte er mal wieder jemanden, bei dem er seinem Ärger Luft machen konnte, und wie meistens traf es mal wieder den Falschen. Nichtsdestotrotz hatte er bei seiner Beschreibung nicht ganz Unrecht.

Wachtmeister Rieck drehte seinen Kopf und damit seinen halben Körper in die Richtung, in der Herbert Fenders Auto stand.

„Und Sie sind?“, wandte er sich wieder an Sarahs Vater.

„Fender, Herbert Fender.“

Rieck musterte die Runde. Bei Sarah blieb sein Blick hängen. „Und Sie?“

Sarah versuchte auf dem Handy ihres Vaters eine Nummer einzutippen. Sie unterbrach und schaute den Wachtmeister an.

„Fender, Sarah Fender.“ Wachtmeister Rieck sah abwechselnd von Sarah zu Herbert und untermauerte sein Hin- und Hergeschaue mit der gleichzeitigen Bewegung seines Armes. Wäre die Situation nicht so ernst gewesen, hätte man die Armbewegungen als Abzählreim interpretieren können. An Herbert blieb sein fragender Blick haften.

„Meine Tochter.“

Riecks Blick wanderte wieder zu Sarah.

„Mein Vater.“

Auf Herberts Lippen zeichnete sich kurz ein Lächeln ab. Wenigstens bekannte sie sich gegenüber Dritten zu ihm.

„Wo sind denn die Fundstücke?“, wollte sich der Wachtmeister nun in seine Arbeit stürzen. Gustav deutete mit der Hand auf den Haufen.

„Sie sind?“ Während er auf eine Antwort wartete, machte Rieck sich daran, die Knochen näher zu betrachten.

„Piplizowski“, antwortete Gustav gehorsam.

„Was?“

„Piplizowski, Gustav Piplizowski. Ganz einfach“, wiederholte Gustav.

Sarah fiel auf, dass sie über all die Jahre nicht mal Gustavs Nachnamen kannte. Eigentlich wusste sie alles von ihm, aber nie hatte sie nach seinem Nachnamen gefragt. Warum auch? Gustav war eben Gustav. Sie schaute zu ihrem Vater und hatte das Gefühl, dass es ihm im Augenblick ähnlich ging.

Rieck sah mit ernster Miene auf den Totenschädel.

„Ich glaube, da müssen andere ran.“ Er begann, in seiner Polizeijacke vermutlich nach seinem Handy zu suchen.

„Lisa? Hier ist Sarah“, sprach Sarah indessen in das Handy ihres Vaters. Sie schaute auf und ging einen Schritt zurück. „Sarah! Hallo Süße. Wo bist du, was …“ Lisa drohte am anderen Ende der Leitung in einen Redeschwall zu verfallen. „Lisa, Lisa, jetzt nicht. Wir könnten hier ein Problem haben.“

„Was für ein Problem?“, fragten Lisa und der alte Fender gleichzeitig.

„Knochenreste, eine Maschinenpistole aus dem Krieg und eine alte Russenuniform. So ein Problem.“

„Ach, so ein Problem.“

Rieck versuchte mitzubekommen, wovon die Frauen eigentlich sprachen. Vermutlich hatte er überhaupt noch keinen Ansatzpunkt für sein Tätigwerden erkannt.

„Es gibt doch in Berlin eine SOKO für solche Dinge.“

Aufmerksam verfolgten die Männer Sarahs Telefonat. Vor allem Pfarrer Gram musterte Sarah genau.

„Nichts ist so, wie es scheint“, murmelte er vor sich hin.

„Nun mach doch nicht gleich so einen Aufstand wegen den paar Knochen. Wir wissen doch noch gar nicht, wem die gehören.“

Sarah nahm kurz das Handy vom Ohr und entgegnete ihrem Vater mit fester Stimme:

„Eben.“

Jetzt mischte sich der Pfarrer in das Gespräch ein.

„Meinen Sie nicht, dass Sie etwas übertreiben?“

Sarah blickte entgeistert den Pfarrer an. Am anderen Ende meldete sich Lisa wieder.

„Meinst du etwa, die Sonderkommission zur Aufklärung von Kriegs- und Nachkriegsverbrechen auf deutschem Territorium?“

„Ja, genau die.“

„Die gibt es hier. Die ist Kuntz direkt unterstellt. Die haben noch eine Abteilung in Dresden.“

„Das ist doch Quatsch“, mischte sich Herbert ein. Mit der Hand strich er sich durch die Haare. „So eine Scheiße aber auch.“

„Meinst du, die sind zuständig?“, hörte sie Lisa fragen.

„Ich hab keine Ahnung. Aber ich weiß, dass hier Knochen, ne alte Knarre und alte Uniformen liegen. Meine Scheunenwand ist mit Einschusslöchern übersät, und wenn dir das noch nicht reicht, hätte ich noch einen Totenschädel von jemandem im Angebot, der entweder drei Augen hatte oder aber ein Einschussloch. Meinst du wirklich, das könnte ein Fall für den Dorfpolizisten von Glostelitz sein?“

„Also bitte“, meldete sich Rieck zu Wort. Sarah nahm den Hörer wieder vom Ohr und entschuldigte sich bei Rieck mit einem kurzen „War nicht so gemeint.“.

Die Männer schauten erstaunt auf den Schädel. Herbert Fender musterte seine Tochter. Ohne ein Wort zu verlieren, erwiderte sie den Blick ihres Vaters.

Der Wachtmeister stand da und nickte beruhigt. In der Hand hielt er sein Telefon.

„Ich werde dann mal meine Dienststelle informieren.“ Plötzlich riss er sich das Telefon wieder vom Ohr und wandte sich an Sarah.

„Sagen Sie mal, woher wissen Sie das alles? Warum kennen Sie diese SOKO in Berlin, und woher kennen Sie die Leute und wissen, wo Sie anrufen müssen? Wir sind hier nicht in Berlin, sondern in Brandenburg. Wer sind Sie verdammt noch mal?“

Überrascht von Riecks Fragen wurde Sarah ein wenig verlegen. Herbert Fender beobachtete seine Tochter ganz genau. Ihm war es auch nicht recht, dass Sarah sich so sehr einmischte, obwohl er sich eingestehen musste, dass Sarah das sehr professionell machte. Vielleicht waren es die fragenden Blicke der Männer, die Sarah ein wenig zappelig werden ließen. Sie merkte, wie sie ins Schwitzen kam. Plötzlich schossen wieder die Erinnerungen dieser einen verheerenden Nacht durch ihren Kopf. Wie kleine Nadelstiche hämmerten sich die Bilder in ihr Gehirn.

„Sarah?“, meldete sich die Stimme ihres Vaters und damit die Realität zurück.

Sarah antwortete dem Wachtmeister: „Alte Bekannte, nur alte Bekannte.“ Sie machte eine Pause und schaute kurz zu ihrem Vater rüber.

Pfarrer Gram zischte leise: „Alte Bekannte …“

Sarah bemerkte den Unterton in der Stimme des Pfarrers. Sie strafte ihn aber nur kurz mit einem energischen Blick.

„Die SOKO für solche Angelegenheiten sitzt nur in Berlin und Dresden.“

Rieck nahm seine Brille ab, um sie dann gleich wieder aufzusetzen.

„Es gibt nur zwei Möglichkeiten, solche alten Bekannten zu haben.“ Rieck machte eine künstliche Pause. „Und Sie machen mir nicht den Eindruck, als ob Sie schon mal mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind.“

Herbert merkte, dass Sarah der Verlauf des Gespräches nicht behagte. Er versuchte zu beschwichtigen.

„Also sollten wir uns jetzt nicht alle erstmal beruhigen?“

„Wir machen uns jetzt vom Acker“, meldete sich Falkner zu Wort.

„Na fein“, entgegnete ihm Herbert Fender. „Und wie geht’s weiter?“

„Wir sind hier in Brandenburg, so was erschüttert uns nicht. Rund um Berlin können Sie so was beim Harken im Vorgarten finden.“

Emotionslos musterte Falkner Sarahs Vater. Er sah nicht mehr den selbstbewussten, stattlichen Mann vor sich, der ihm noch vor drei Tagen gegenübergestanden hatte.

„Herr Fender, auch wenn Sie mir das jetzt vielleicht nicht glauben, ich kann Sie verstehen. Aber Sie müssen auch mich verstehen. Die Rechtsvorschriften gelten für alle, hüben wie drüben. Ich muss sehen, inwiefern ich die Angelegenheit beschleunigen kann. Der Neubau dürfte nicht unbedingt das Problem sein. Jedenfalls nicht von unserer Seite. Ich weiß allerdings nicht, was diese Sonderkommission sagt. Der Denkmalschutz wird sich fragen, wie das hier alles zusammenpasst. Sie hören von mir.“ Er sah kurz zu Herbert Fender und wartete auf eine Reaktion. „Also, die Scheune wird bautechnisch nicht angerührt. Abriss schon gar nicht! Tut mir leid, aber ich denke, auch die Polizei wird hier erstmal zu tun haben“, mahnte er noch auf dem Weg zu seinem Auto.

„Ri ... ri ... richtig“, stotterte Rieck. Er war scheinbar froh, dass jemand klare Worte fand, obwohl er eigentlich nicht wusste, wovon Falkner und Sarahs Vater überhaupt sprachen.

„Baustopp? Was für ein Baustopp?“

Nun mischte sich auch Pfarrer Gram ein.

„Hier soll gebaut werden, abgerissen werden? Wovon reden Sie?“

Herbert machte keine Anstalten, die Fragen zu beantworten. Mit einer Hand fasste er sich erneut an die Brust.

„Also Baustopp hin oder her, hier wird ab sofort kein Stein mehr angerührt.“ Rieck positionierte sich wie ein Feldherr. „Ich werde jetzt Meldung machen, und dann sehen wir weiter.“

„Tun Sie das.“ Sarah ging. Auf der Bank vor dem Haus saßen die beiden Handwerker mit verschränkten Armen.

„Na? Kostenloses Kino?“, entgegnete Sarah ihnen, noch bevor die etwas sagen konnten.

„Sarah!“, meldete sich ihr Vater von hinten und versuchte, sie einzuholen. Als er die Handwerker sah, sagte er schroff:

„Nichts zu tun?“

„Nur die Ruhe Meister, wir sind fertig. Kann ja sein, dass die junge Frau ein Probebad mit uns nehmen will.“ Verschmitzt grinste der schlaksige Kerl in Richtung Sarah.

„Wohl nicht“, entgegnete sie kurz und ging ins Haus.

„Sarah!“ Ihr Vater folgte ihr. Drinnen musterten beide das riesige Zimmer. Sarah sackte innerlich zusammen. „Nein.“

„Handwerker. Die machen halt ein bisschen Dreck.“

Sarah scharrte mit dem Fuß in der Staubschicht auf dem Boden.

„Sarah, ich weiß, dass du Antworten haben willst.“

„Ist schon gut“, wollte Sarah ihren Vater unterbrechen.

„Ich muss jetzt nach Berlin. Lass uns das verschieben“, sprach Herbert Fender weiter.

Sarah schaute ihren Vater eindringlich an.

„Ist schon gut. Ich denke, für heute wurde genug geredet.“

Draußen standen immer noch der Wachtmeister, Gustav und der Pfarrer und beäugten sich gegenseitig. Gustav ließ seinen Blick nicht vom Pfarrer. Irgendetwas Geheimnisvolles umgab ihn. Aber was? Gram wischte sich mit einem sorgfältig zusammengefalteten Taschentuch über die Stirn.

„Was passiert jetzt?“

„Keine Ahnung“, piepste der Wachtmeister. „Ich hoffe, die junge Frau irrt sich. Aber um die Gerichtsmedizin werden wir nicht herum kommen.“

Wortlos, ohne sich zu verabschieden, ging der Pfarrer vom Hof. Auf der Straße drehte er sich noch mal zögerlich um. Gustav hatte recht, irgendetwas Geheimnisvolles umgab ihn. Sarah trat vor die Tür. Sie beobachtete, wie ihr Vater zum Auto ging. Ihr Blick fiel auf die Stelle, an der sonst die alte Frau saß. Sie war leer. Im Gebüsch dahinter konnte sie noch die Umrisse des Pfarrers sehen. Sie stemmte ihre Arme in die Hüften. Was war hier bloß los? Langsam schritt sie in Richtung Straße.

„Frau Fender“, meldete sich Wachtmeister Rieck. „Sie hatten Recht.“

Sarah blieb stehen und blickte fragend zu Rieck.

„Die Angelegenheit geht nach Berlin.“

Mit dem Handy in der Hand wedelte Rieck durch die Luft. Er wollte Sarah damit scheinbar zu verstehen geben, dass er endlich mit seinem Vorgesetzten telefoniert hatte.

„Morgen sperren wir hier alles ab. Bitte sorgen Sie dafür, dass hier nichts verändert wird.“

„Ja ja.“ Sarah winkte nur ab und begab sich wieder langsam in Richtung Straße. Dort angekommen, sah sie runter ins Dorf. Wie immer schien das Dorf menschenleer, in Ruhe und Stille versunken. Weit und breit keine Spur vom Pfarrer. Sarah schlich sich langsam durchs Gebüsch. Ihr Atem ging gleichmäßig. Jedes Geräusch hätte sie verraten können. Aber auch hier war alles ruhig. Nicht einmal das Zwitschern eines Vogels durchbrach die Stille. Die untergehende Sonne hüllte alles in eine gedämmte Atmosphäre. Sie schlich langsam weiter, vermied aber eine gebückte Haltung. Langsam erkannte sie die Umrisse eines Hauses. Klein im Verhältnis zu ihrem, aber genau derselbe Stil. Sie erinnerte sich, wie Gustav ihr erzählt hatte, dass das Grundstück hier früher wohl mal zu dem alten Gut gehört hat. Sarah verharrte. Sie hatte das Gefühl, Stimmen zu hören. Aufgeregte Stimmen, fast wie im Streit. Sie tastete sich langsam weiter. Die Stimmen wurden lauter, waren aber immer noch unverständlich. Die Tür ging auf. Sarah zuckte zusammen und suchte im Dickicht Deckung. Nichts tat sich. Jetzt konnte sie aber ganz deutlich die Stimme des Pfarrers und eine aufgeregte Frauenstimme hören. Sie verstand immer noch nichts. Sie war noch zu weit entfernt vom Haus. Suchend blickte sie umher. Sarah wollte näher ans Haus ran, fand aber nichts, was ihr ausreichend Deckung gegeben hätte. Die Stimme des Pfarrers wurde wieder leiser. Vermutlich wollte er gehen, war aber wieder umgekehrt. Sarah richtete sich wieder auf. Plötzlich verstummten die Stimmen. Die Tür knarrte, als sie sich langsam weiter öffnete. Aus dem Haus drang nur ein schwacher Lichtstrahl der den Schatten von Pfarrer Gram auf den Boden vor der Haustür warf. Sarah sah nur die Umrisse des Pfarrers. Langsam schritt er durch die Tür. Lauschend schweifte sein Blick umher. Sarah hielt den Atem an. Der Blick des Pfarrers richtete sich auf das Gebüsch, in dem sie verharrte. Zu peinlich wäre es gewesen, wenn er sie so im Gebüsch versteckt gesehen hätte. Sarah suchte bereits eine Ausrede, kam sich dabei aber ziemlich kindisch vor. Der Pfarrer drehte sich noch einmal um und rief: „Was passiert ist, ist eine Ewigkeit her!“ Er hielt inne und schaute wieder zum Gebüsch, wo Sarah mittlerweile wieder in die Hocke gegangen war. „Wir müssen endlich zur Ruhe kommen.“ Den Rest des Satzes sprach er ruhig und leise aus. Fast schon resignierend. Sein Blick richtete sich zum Himmel.

„Da oben ist keiner, der dir hilft“, flüsterte Sarah vor sich hin. Plötzlich kam der Pfarrer in ihre Richtung. Sarah saß wie versteinert im Gebüsch. Der Luftzug, den das Gewand des Pfarrers verursachte, ließ Sarahs Haare wehen. Ohne ein Wort schritt der Pfarrer an ihr vorbei. Hatte er sie entdeckt? Für einen Augenblick blieb Sarah in ihrem Versteck. Über die Schulter beobachtete sie, wie der Pfarrer runter ins Dorf schritt. Langsam erhob sie sich und atmete erstmal kräftig aus. Sie schaute zur Tür, trat aus dem Gebüsch und ging auf das Haus zu. Als die Tür von innen geschlossen wurde, hielt sie erneut inne. Sie war sich nicht sicher, ob sie die Frau nicht einfach mal ansprechen sollte. Zu viele Fragen waren offen. Sie konnte mit den Wortfetzen des Pfarrers nichts anfangen. Was war passiert? Irgendein Geheimnis umgab die alte Frau. Warum saß sie tagsüber immer am Straßenrand? Wieso erschrak sie, als auf Sarahs Hof die Knochen gefunden wurden? Wovon sprach der Pfarrer? Was meinte er mit zur Ruhe kommen? Fragen über Fragen. Sarah versuchte, durch das Fenster etwas zu erkennen. Die alte Frau saß am Tisch. Sarah schätzte sie weit über sechzig, vielleicht siebzig Jahre. Alt genug, um ein Geheimnis aus den Zeiten des Krieges zu verbergen. Sie war sehr gepflegt, trotz ihres Alters. Die Falten in ihrem Gesicht zeugten von einem langen, von einem gelebten Leben. Sie machten im schummrigen Licht den Eindruck, als wären sie gezeichnet. Vor ihr stand, wie Sarah vermutet hatte, eine dicke Kerze, wie man sie aus Kirchen kannte. Die Wohnungseinrichtung machte auf Sarah den Eindruck, als sei sie aus dem vorigen Jahrhundert. Ihr fiel auf, dass alles sehr ordentlich war. Alt, aber ordentlich. Weit und breit sah Sarah nichts, was auf die Neuzeit schließen ließ. Keine Mikrowelle, kein Kühlschrank, nichts. Die alte Frau wühlte in einer alten Holzkiste. Dieselbe kleine Kiste, die sie auch immer am Feuer dabei hatte. Vielleicht Briefe und alte Fotos, vermutete Sarah. Plötzlich klapperte neben ihr eine Blechschüssel. Sarah war gegen einen Napf getreten.

„Mädchen, Mädchen, früher warst du aber vorsichtiger“, sagte sie leise zu sich selbst

Sie schaute durchs Fenster. Die alte Frau blickte in ihre Richtung und erhob sich langsam. Sarah wollte sich zurückzuziehen. Beim Rückwärtsgehen ließ sie keine Sekunde die Tür aus den Augen. Innerlich suchte sie erneut vorsorglich nach einer Ausrede für den Fall, dass sie auf die alte Frau treffen würde. Sarah erreichte das Gebüsch und ging in Deckung. Mittlerweile war es schon dunkel, sodass es ihr nicht schwerfiel, sich zu verstecken. Die alte Frau trat durch die Tür. „Benno, bist du das?“ Ihr Blick suchte das Gebüsch ab. Sarah duckte sich. Nein, heute wollte sie die alte Frau mit ihren Fragen nicht überrumpeln. Aber wer war Benno? Die alte Frau blickte hoch zum Himmel.

„Ja, es muss endlich ein Ende haben“, hörte Sarah die alte Frau sagen. „Es wird Zeit.“

Sarah schlich zurück. Am Straßenrand suchte sie nach einem Briefkasten. Ihr Fuß stieß gegen einen Holzpfahl, der auf dem Weg lag. Am Ende des Pfahls war ein Holzkasten angebracht, der mal ein Briefkasten gewesen sein könnte. Sarah wischte das Gestrüpp beiseite. Auf einem alten Messingschild stand in altdeutscher Schrift Sina Rosenbaum.

„Na wenigstens weiß ich schon mal, wie du heißt“, flüsterte Sarah. „Und den Rest kriege ich auch noch raus.“ Sarah überlegte kurz, ob sie den Pfahl wieder aufrichten sollte, ließ aber davon ab. Sie überquerte die Straße und hatte das Gefühl, beobachtet zu werden. Sie drehte sich um und suchte das Gebüsch ab. Hatte die alte Frau sie verfolgt? Ihr Blick richtete sich die Straße hinunter ins Dorf. Da stand er. Mitten auf der Straße. Sie konnte kaum die Umrisse erkennen, geschweige denn das Gesicht sehen, aber sie war sich sicher. Pfarrer Gram hatte sie beobachtet. Sarah drehte sich so, dass sie dem Pfarrer Visasvis, wenn auch weit entfernt, gegenüberstand. Sie wollte, dass er wusste, dass sie ihn gesehen hat. Wie in einem Western, bloß ohne Revolver, standen sie sich gegenüber. Mindestens fünfhundert Meter Luftlinie lag zwischen ihnen. Sie verharrten in der Pose. Wer würde als erster gehen? Der Pfarrer deutete einen Schritt in Sarahs Richtung an, drehte dann aber ab und verschwand in der Dunkelheit.

„Na gut, mein Freund. Die Karten liegen auf dem Tisch.“ Auch Sarah konnte sich nicht verkneifen, in den Himmel zu schauen. Aus irgendeinem Grund musste sie an ihren Bruder denken, konnte sich aber nicht erklären, warum. Gustav hockte im Bauwagen, und auch der Wachtmeister war nicht mehr zu sehen. Sie ging zurück in ihr Haus, jedoch nicht, ohne noch mal einen Blick auf den Sandhaufen mit dem geheimnisvollen Fund zu werfen. „Was für ein beschissener Tag.

Totenwache

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