Читать книгу Totenwache - Tonda Knorr - Страница 5

Kapitel 3

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Der Tisch, auf dem Sarah saß, war aus robustem, altem Holz. In der Hand hielt sie eine Tasse kalten Kaffee. Ihre Füße stützten sich auf die davorstehende Bank. Sie nahm ihn nicht wahr, diesen herrlichen Blick über die Brandenburger Felder. Mit tosendem Lärm planierte eine alte Raupe die Flächen, nicht unweit vor dem alten Gehöft. Sie beobachtete uninteressiert den wild mit den Armen fuchtelnden Mann in seinem piekfeinen Anzug. Er sah aus, wie aus dem Ei gepellt. Der alte, graumelierte Mann versuchte krampfhaft, dem Raupenfahrer klarzumachen, was der selber am besten wusste. Aber so war er, der alte Mann. Alles wollte er lieber selber und natürlich besser machen. Die kreuz und quer verteilten, farbig gekennzeichneten Holzpfähle ließen erahnen, dass hier gebaut werden sollte. Sarah fragte sich noch immer, wie er mal wieder so schnell eine Baugenehmigung und dann noch mitten auf dem Feld bekommen hatte. Aber genauso schnell verwarf sie den Gedanken auch wieder. Ihr reichte das alte Haus, vor dem sie saß. Emotionslos hatte sie das Angebot ihres Vaters angenommen. Sie hatte auch keine große Wahl gehabt. Immer wieder dachte sie sich, wäre ein Platz auf dem Mond zu haben gewesen, sie hätte sofort zugesagt. Bloß weg, weit weg. Keinen sehen, keinen hören. Am liebsten hätte sie nicht mehr gelebt, aber irgendetwas ließ sie morgens immer wieder erwachen, um sich über den Tag zu quälen. Und das nun schon seit fast einem Jahr.

Ihr Vater hatte ihr den Hof besorgt. Da kannst du zur Ruhe kommen, waren seine Worte gewesen. Es war keine Rede davon, dass zu dem alten Gehöft noch zig Hektar Felder und Wiesen gehörten, und dass er da so ganz nebenbei bauen wollte. Sarah hatte eine Woche Zeit gehabt, um sich zu entscheiden. Sie fühlte sich mal wieder bevormundet, hin und her geschoben. Es war ihr egal, sie wollte nur irgendwo auf dieser Welt ihre Ruhe haben. Dass das Haus eine Grunderneuerung brauchte, registrierte sie kaum. Jeden Tag war sie in der Zeit des Ultimatums ihres Vaters da gewesen, aber nur ein einziges Mal war sie durch die zahlreichen Räume gegangen. Lustlos wie ein Geist. Die anderen Tage war sie nur auf der Bank gesessen und hatte in die Ferne geblickt. Ihr Blick hatte sich in den Horizont gebohrt, in der Hoffnung, jedes Mal ein Stück weiter sehen zu können. Sie hatte nicht abwägen müssen, um sich zu entscheiden. Sie hatte gewusst, am letzten Tag der Woche würde sie eine Entscheidung treffen. Genau wie früher in ihrem Job. Sie hatte immer im richtigen Augenblick die richtige Entscheidung getroffen. Bis auf das eine Mal. Und wieder ertappte sie sich dabei, wie ihre Gedanken sie an die eine fatale Nacht erinnerten, die ihr Leben aus den Angeln gehoben hatte. Was sie auch dachte, wohin ihre Gedanken sie auch führten, immer und immer wieder hatte sie die Bilder dieser einen Nacht vor Augen.

„Na, weißt du, was du dir hier antust?“

Mit leisen Schritten hatte sich ihre Mutter an die Bank geschlichen. Eine kleine Kopfbewegung in Richtung ihrer Mutter und ein verschmitztes Lächeln waren die einzigen Anzeichen, dass doch noch etwas Leben in Sarah war.

„Du kannst auch weiter bei uns in Berlin wohnen. Das Haus ist groß genug für uns alle.“

Sanft klang die Stimme ihrer Mutter. Wie eine Lady setzte sie sich neben Sarah auf die Bank. Grazil, attraktiv, und immer besonnen war sie. Was sie sagte, war stets durchdacht. Nie hatte sie Sarah und ihrem Bruder ihren Willen aufgedrängt. Wenn überhaupt, wollte sie nur Ratgeber sein. Eigene Entscheidungen zu fällen, hatte sie keinem abgenommen. Auch in der Firma ihres Mannes hielt sie die Fäden in der Hand. Sarahs Blick verharrte auf dem Gesicht ihrer Mutter. Sie war eine hübsche Frau. Mit sechsundfünfzig Jahren wollte Sarah auch noch so aussehen wie ihre Mutter. Schon immer wollte sie so aussehen wie ihre Mutter. Ohne großen Aufwand strahlte Marianne Fender immer eine natürliche Schönheit aus. Sie hatte sich nie viel aus teuren Klamotten, Beautyfarmen, wertvollem Schmuck oder anderen Statussymbolen gemacht. Obwohl sie sich das locker hätte leisten können. Die Firma von Sarahs Eltern lief gut. Sie lief schon immer gut, auch in rezessiven Phasen. Ende der sechziger Jahre hatte der Maschinenbau geboomt, und es war kein Ende in Sicht.

Ein solides Geschäft, hatte ihr Vater immer gesagt. Meistens war er dabei vor dem Fenster seines Büros in Tempelhof gestanden. Die Daumen in der Weste seines Anzuges vergraben, hatte er davon geträumt, dass die Mauer wieder fallen würde.

„Glaubt mir, der Osten braucht uns. Die haben noch Maschinen aus dem Zweiten Weltkrieg. Eines Tages …“ Den Rest seiner Zukunftspläne hatte er dann meist verschluckt. Als es soweit war, konnte Europa gar nicht groß genug für ihn sein. Und Sarahs Mutter war immer an seiner Seite gewesen. Alle Entscheidungen hatte er mit ihr oder sie mit ihm besprochen.

„Kaffee?“

„Kalt.“

„Macht nichts.“

Marianne Fender griff nach der Tasse, ohne ihren Blick von dem Mann im Anzug abzuwenden.

„Schmeckt ja scheußlich.“

„Mama, der Kaffee ist kalt.“

„Auch warm würde der nicht besser schmecken“, erwiderte Marianne. „Komm, ich mach uns einen neuen.“

„Lass mal gut sein, mir reicht’s für heute.“

„Aber vielleicht will ja dein Vater einen“, versuchte Marianne das Gespräch am Laufen zu halten. Viel zu wenig hatte sie die letzten Wochen und Monate mit ihrer Tochter gesprochen. Sie war einfach nicht an sie rangekommen. Die letzten fünf Minuten waren für Marianne schon ein kleines Erfolgserlebnis. „Wer ist die alte Frau da vorne?“

Sarah blickte zu der alten Frau rüber. Jeden Tag, an dem sie bisher hier gewesen war, hatte sie am gegenüberliegenden Straßenrand gesessen. Vor sich ein kleines Feuer, neben sich ein paar Reisigzweige und eine kleine alte Holzkiste. Das Grundstück lag am Ende der Dorfstraße. Bis heute hatte Sarah von ihr keine Notiz genommen. Sie wusste nicht mal, wo sie wohnte und warum sie jeden Tag an der Straße saß und wie gelähmt in das vor sich hin dümpelnde Feuer starrte. Sie passte einfach hierher. Glostelitz hieß das kleine Kaff. Sarah erwischte sich dabei, wie sie das erste Mal die Umgebung richtig wahrnahm. Im Gegensatz zu Berlin gab es hier nur eine Handvoll Häuser. Bis zum nächsten größeren Ort waren es ein paar Kilometer. Nach Brandenburg war es nicht allzu weit. Die Zeit schien hier stillzustehen. Keine der versprochenen blühenden Landschaften. Der alte Mann im feinen Nadelzwirn hätte nie gedacht, dass Sarah sein Angebot annehmen und sich hierher zurückziehen würde.

„Keine Ahnung. Die sitzt da immer“, hauchte Sarah leise.

„Und du bist dir sicher, dass du hier wohnen willst?“

„Mama, sonst wäre ich doch nicht hergezogen“, antwortete Sarah genervt.

Das Gespräch drohte zu kippen.

„Ich hab fließend Wasser, und Strom hab ich auch. Der Rest liegt auf der Straße.“

„Auf der Straße liegt hier gar nichts.“

Sarah blickte ihrer Mutter ins Gesicht. Schon immer hatte sie ihr gesagt, dass sie sich gewählt und korrekt ausdrücken soll. „Na gut, das Grundstück ist bautechnisch voll erschlossen. So recht?“

Verwirrt schaute Marianne ihre Tochter an.

„Die Ruhe, Mama, die Ruhe. Keine Busse, kein Straßenlärm, kein wildes Nachtleben. Nichts von alledem.“

Die beiden Frauen schauten sich an, und in ihren Gesichtern machte sich ein Grinsen breit.

„Ruhe nennst du das?“

„Na ja, wenn die Scheißplanierraupe nicht wäre, schon“, versuchte Sarah ihr Argument zu untermauern.

„Sarah“, tadelte Marianne ihre Tochter erneut.

„Und Scheiße sagen kann ich hier auch, wann ich will“, fügte Sarah trotzig hinzu.

Ihre Mutter wischte sich verstohlen übers Gesicht.

„Tschuldigung“, schickte Sarah dann doch reumütig hinterher.

„Bestimmt die dämlichste Entscheidung, die ich je getroffen habe“, wetterte der Mann im Anzug, als er auf Sarah und Marianne zuging. „Gibt’s hier wenigstens einen Kaffee?“

Marianne sah ihre Tochter an. „Siehste.“

„Nur kalten.“

„Wäre ja auch zu schön gewesen“ stammelte Sarahs Vater vor sich hin, bevor ihr Gespräch unterbrochen wurde. Zwei Autos bretterten durch die Toreinfahrt auf das Grundstück.

„Na, krieg ich nun einen Kaffee?“

„Nö“, klang es gleichzeitig aus Mariannes und Sarahs Mund. „Du hast gleich ganz andere Sorgen“, entgegnete Marianne ihrem Mann mit einer Kopfbewegung in Richtung der vier Männer, die aus den Wagen stiegen und abwechselnd zur Planierraupe und zu Sarah und ihrer Mutter rüberschauten.

„Was ist denn hier los? Aufhören!“

„Das Einzige, was hier aufhört, ist ihr Rumkrakele“, erwiderte Herbert Fender ruhig und gefasst auf die Anweisung der Eindringlinge.

„Mach mal Pause“, war seine gezielte Anweisung an Gustav, den Raupenfahrer.

Wieder konnte sich Sarah einen leisen Seufzer nicht verkneifen. „Na was denn nun?“

Aus den Augenwinkeln nahm Herbert Fender Notiz von der Bemerkung seiner Tochter.

„Wer sind Sie?“, tönte indessen einer der Männer.

„Wer sind Sie?“, erwiderte Herbert Fender wieder ruhig und gefasst.

Sarah beobachtete ihren Vater. Das konnte er. Emotionslos sofort wieder umschalten. Privat ist privat, und Geschäft ist Geschäft, waren immer seine Worte. Hier schien es ums Geschäft zu gehen.

„Wir sind vom Landesbauamt. Falkner, mein Name, und das sind meine Kollegen.“

„Fender, von Fender Maschinenbau“, erwiderte Herbert und tat der Höflichkeit damit Genüge.

„Wie kommen Sie dazu, hier zu bauen?“

Herbert ließ seinen Blick über die Wiesen schweifen und stellte sich demonstrativ neben Falkner.

„Wie kommen Sie denn darauf, dass hier gebaut wird?“

Sarah sprang auf. Das ist es, was sie an ihrem Vater so sehr hasste. Machtspielchen. Falkner drehte sich langsam zu Herbert Fender um. Er war fast einen ganzen Kopf kleiner. Sein Anzug saß etwas schief, und sein Schlips ließ Rückschlüsse auf sein letztes Mittagsmahl zu. Er öffnete seinen obersten Hemdknopf. Man wusste nicht, ob er sich jetzt für eine handfeste Auseinandersetzung bereit machte oder schon klein beigeben wollte.

„Ich kriege gerade so einen Hals“, erwiderte er leise.

„Na dann müssen Sie den obersten Knopf aufmachen“, setzte Sarahs Vater noch einen drauf.

„Ihr Berliner Typen kommt hier mit euren dicken S-Tonnen aufs Land, kauft billig unsere Felder auf und verwüstet sie dann. Das ist landwirtschaftliche Nutzfläche“, wurde sein Ton zum Ende des Satzes lauter.

Marianne blickte fragend zu Sarah, schwieg aber.

„Mercedes, S-Klasse, schweres Auto, so werden die genannt“, flüsterte Sarah ihrer Mutter zu. Marianne machte ein Gesicht, als ob sie das schon immer einmal ihren Mann hatte fragen wollen. Aber hatte sie das überhaupt gemeint?

„Also wenn Sie nicht wissen, wie ich dazu komme, wer dann? Außerdem ist das Bauerwartungsland“, redete Herbert Fender auf den Beamten ein. „Ich habe eine Baugenehmigung, die mir erlaubt, auf dem Grundstück zu bauen. Unterzeichnet vom Landrat.“

Beiläufig, als ob er es eigentlich nicht müsste, zog Herbert Fender aus seiner Jacketttasche ein akribisch zusammengefaltetes Blatt, das er Falkner so dicht vors Gesicht hielt, dass der es mit der Nase hätte lesen können. Falkner blickte Herbert Fender abschätzend an und reichte es, ohne auch nur einen Blick darauf zu werfen, weiter an seine Kollegen.

Sarah beobachtete die Szene. Männer und ihre Machospielchen. Immer und immer wieder wurde sie mit solchem Blödsinn konfrontiert.

„Lasst mich raten. Sondergenehmigung vom Scherzinger.“

Ohne eine Antwort seiner Kollegen abzuwarten und ohne den Blick von Herbert zu lassen, redete Falkner weiter.

„Aus landwirtschaftlicher Nutzfläche wird Bauerwartungsland, und aus Bauerwartungsland wird Bauland. Und das innerhalb von sechs Wochen und immer in Form von Sondergenehmigungen.“

Falkner hatte den Disput verloren und war sich dessen nur allzu bewusst.

„Na dann wussten Sie doch schon Bescheid“, setzte Herbert nach.

Sarah schüttelte nur den Kopf. Wie bei den Gladiatoren. Abwarten, um dann den Todesstoß zu setzen. Ihr Vater war ihr als Geschäftsmann zuwider.

Falkner hatte nichts mehr zu sagen, wollte sich aber nicht einfach so von dannen machen.

„Wer sind Sie, und was wollen Sie hier in der Einöde?“

„Herbert Fender, sagte ich doch schon. Ich will hier bauen“, waren in einem strengen Ton die Worte, die den Abschluss eines ungleichen Kampfes bildeten. Die vier Herren gaben Sarahs Vater die Baugenehmigung zurück, drehten sich wortlos um und wollten gehen. Falkner hielt nach ein paar Metern inne und wandte sich an die beiden Frauen.

„Es tut mir leid, aber wir waren nicht das letzte Mal hier. Einen schönen Tag noch, die Damen.“

Herbert schaute zu seiner Frau, verzog das Gesicht und blickte dann zu Sarah. Keine der beiden verzog eine Miene, Sarah schon gar nicht.

„Lass uns fahren“, drängte Marianne ihren Mann. „Für heute soll es genug sein.“

Herbert Fender breitete kapitulierend die Arme aus.

„Mach Feierabend.“ Mit einem störrischen Nicken und einer Handbewegung erwiderte Gustav die Aufforderung seines Chefs.

Herbert wollte seiner Frau hinterher gehen, wandte sich aber vorher noch mal an seine Tochter. Erwartungsvoll blickte sie ihn an. Er schaute ihr ins Gesicht, dann auf die Hände und wieder ins Gesicht.

„Weißt du eigentlich, womit du da die ganze Zeit rumspielst?“ Sarah blickte in ihre Hand. Unbewusst hatte sie die ganze Zeit einen verwitterten Knochen in den Händen gewendet. Sie musste immer irgendetwas in der Hand haben. Die Kaffeetasse hatte sie schließlich ihrer Mutter gegeben.

„Na irgendein Knochen von einem Vieh“, entgegnete Sarah irritiert.

„Hach“, tönte es aus Herberts Mund. „Das Vieh zeig mir mal, das auf so dünnen Knochen stehen kann.“ Dann ging er davon.

„Mach’s gut, Sarah“, hörte sie ihre Mutter im Weggehen noch rufen. Sie drehte sich noch kurz um und winkte.

Sarah stand vor dem Haus, sah auf den Knochen in ihrer Hand und spürte wieder das Gefühl der Leere.

„Wer ist eigentlich diese Frau?“, vernahm sie noch von ihrem Vater, ohne dass dieser sich ihr zuwandte.

Sarah wusste, dass ihr Vater keine Antwort erwartete und sagte leise „Ja, ja.“

Marianne Fender wartete gedankenverloren im Auto. Herbert ahnte, dass irgendetwas nicht stimmte. Marianne war immer still, wenn sie auf eine ungestellte Frage eine Antwort haben wollte.

„Was?“, fauchte er sodann.

Marianne drehte sich zur Seite und blickte ihn an.

„Rede schon, was ist?“, wiederholte er in einem leiseren Ton.

„Wir sind jetzt seit über dreißig Jahren verheiratet. Eigentlich weiß ich immer, was los ist. Heute nicht. Hast du dafür eine Erklärung?“, fragte sie mit ruhiger Stimme. „Hab ich …?“

„Sesselfurzer“, unterbrach Herbert seine Frau. „Fühlen sich von Scherzinger übergangen, obwohl er ihr Boss ist“, raunte er mit der Hand vor dem Gesicht.

„Ich dachte, Scherzinger sei nur für die neue Fabrik zuständig?“, bohrte Marianne weiter.

„Ist er ja auch. Er hat aber mitbekommen, dass ich ein ruhiges Fleckchen auf dem Land suche und mir das Grundstück zu einem guten Preis angeboten.“

„In diesem Kaff?“

„Mädchen …“

„Lass das“, fuhr sie dazwischen. Herbert wusste, dass sie es nicht leiden konnte, wenn er mit ihr wie mit einem kleinen Schulmädchen sprach.

„Marianne, wir reden hier von vier Hektar Land, einem alten Bauernhof und einer Baugenehmigung für vier kleine Einfamilienhäuser.“

„Aber nicht legal?“, unterbrach sie ihn. Herbert nahm die Hand vom Gesicht.

„Definiere mir legal?“ Er machte eine kurze Pause. „Scherzinger wollte die Fabrik in seiner Region haben. Wir schaffen Arbeitsplätze. Er bot mir das Grundstück an, wie gesagt, zu einem günstigen Preis. Das steht angeblich seit der Wende leer. Schau dir das an, die Substanz ist doch intakt. Was soll daran nicht legal sein?“

„Die Baugenehmigung“, beantwortete Marianne ihm umgehend seine Frage, die eigentlich keiner Antwort bedurfte.

„Die Fabrik wird mitten auf einem Feld stehen. Jedes beschissene Gewerbegebiet wird irgendwo in der Walachei gebaut. Da fragt doch auch keiner, ob das mal landwirtschaftliche Nutzfläche war oder nicht. Hauptsache, die Leute haben Arbeit, und die Sesselfurzer können sich was auf die Fahne schreiben.“ Langsam begann Herbert, sich in Rage zu reden.

„Für das Gebiet um die Fabrik gibt es einen Bebauungsplan.“ So viel wusste Marianne, war sie doch seit Jahren in die Firma involviert. Alles, was bearbeitet werden musste an Genehmigungen, Anträgen und Schreibkram, ging über ihren Tisch.

„Na was denkst du denn, wie der so schnell zustande gekommen ist? Hier ein Anruf, da ein Anruf. Der Osten lechzt nach Investitionen. Endlich geht was voran im Land. Da wollen alle dabei sein. Politiker wollen gewählt werden. Ob das ganz oben ist oder der Scherzinger hier auf‘n Dorf. Für die zählt jeder Arbeitsplatz. Und der Maschinenbau verkauft sich besser als Landwirtschaft.“ Herbert wischte sich mit einem Taschentuch die Lippen ab. „Oder siehst du hier weit und breit einen Traktor das Feld bewirtschaften?“

Marianne nahm ihm das Taschentuch aus der Hand. Sie blickte ihn warnend an.

„Ich will mich bloß nicht irgendwann für etwas schämen müssen.“

Wieder lag ein gekünsteltes Lächeln auf Herberts Lippen.

„Schau dir das Gehöft doch an. Die müssten sich für jeden Euro schämen, den sie dafür genommen haben.“

„Ich denke, die Substanz ist in Ordnung, und immerhin wohnt unsere einzige Tochter darin.“

„Sie wollte es so haben.“

„Sie wollte auch zur Polizei, und was hat sie jetzt davon?“

Außer einem leisen, fast verschlucktem „Hm“ wollte Herbert nichts mehr erwidern. Sie saßen noch eine Weile im Auto, ohne ein Wort zu sprechen. Jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, beobachteten sie, wie die Abenddämmerung hereinbrach. Nicht weit entfernt von ihrem Auto flackerte ein kleines Feuer auf der Straße.

„Glaubst du, wir kriegen das hin?“, fragte Marianne leise, den Blick nicht von den kleinen Flammen am Straßenrand lassend. „Um das Haus kümmere ich mich schon, und den Rest muss sie alleine …“ Herbert hielt inne. „Du meinst gar nicht das Haus?“

Marianne schüttelte sanft den Kopf.

„Nein, Herbert, ich meine nicht das Haus.“

„Hm.“

Er ließ die Frage unbeantwortet.

„Lass uns fahren.“

Herbert startete das Auto. Marianne schnallte sich an und grinste vor sich hin.

„Was?“, fauchte ihr Mann. „Was ist denn nun schon wieder?“

„Ich weiß jetzt, was eine S-Tonne ist“, sagte Marianne schelmisch. Herbert strahlte sie an. Das liebte er so an ihr. Unstimmigkeiten wollte sie immer gleich geklärt haben. Sie fand keine Ruhe, bis die Sachen geklärt waren. Erst dann konnte sie wieder zum normalen Tagesablauf übergehen.

„Du bist ja auch mein Mädchen. Gehen wir noch was essen?“ Sie beugte sich sanft zu ihm rüber und küsste ihn auf die Wange. Beim Losfahren sah Marianne im Scheinwerferlicht wieder das kleine, lodernde Feuer am Straßenrand.

„Wer ist eigentlich diese alte Frau?“, fragte sie beiläufig.

„Keine Ahnung“, antwortete Herbert in Gedanken versunken.

*

Sarah hatte die letzten Minuten damit verbracht, ein paar Kerzen aufzustellen. Ab und zu blickte sie aus dem Fenster, um zu schauen, ob ihre Eltern noch immer im Auto saßen, um die letzten Stunden ausdiskutieren. An dem Gesichtsausdruck ihrer Mutter konnte sie erkennen, dass sie mit dem Verlauf der Auseinandersetzung ihres Mannes mit Falkner nicht umgehen konnte. Wie immer in ihrem gemeinsamen Leben erwartete sie von ihrem Mann Antworten. Wie immer war sie mit den Antworten zufrieden, und wie immer gab es dann ein Küsschen auf die Wange. Durchschaubar. Als der Mercedes endlich wegfuhr, sah auch sie nur noch das kleine, flackernde Feuer am Straßenrand. Ihr Blick schweifte von der alten Frau hoch zum Mond, dessen silberner Schimmer sanft auf den Knochen vor ihrem Küchenfenster fiel. Sarah wollte nicht denken, nicht nachdenken. Sie drehte sich um und lehnte sich gegen den Küchenschrank. Sie fröstelte, obwohl es ein lauer Sommerabend war. Überall standen Umzugskartons. Es sah aus, als wäre Sarah in einen unaufgeräumten Dachboden gezogen. Die Schränke standen kreuz und quer. Das Bett war noch nicht zusammengebaut. Sarah suchte die Couch. Belegt mit Kisten, Schubfächern und Klamotten war sie kaum sichtbar. Mit zwei, drei Handbewegungen schmiss sie alles runter. Sie wollte eigentlich nur noch die Schuhe ausziehen, aber selbst dazu hatte sie keine Lust. Nichts trieb sie an. Sie vertröstete sich auf morgen.

Eingekuschelt in eine Decke, machte sie es sich einigermaßen bequem. Vor ihr auf dem Fußboden lag ein gerahmtes Bild von ihr und Tim.

„Wo bist du, wenn man dich braucht?“, seufzte sie. Ihre Augen schweiften zum Fenster. Irgendwann schlief sie ein.

*

Donnerndes Klopfen ließ sie aufschrecken. Sie sah nichts. Alles um sie herum war dunkel. In ihrem Kopf liefen die Bilder dieser einen Nacht im Iron Fist ab.

„Nein!“ schrie sie. Der Geruch von alter Wolle machte sich breit. Sie strampelte wie verrückt, bis die Decke in weitem Bogen durch den Raum flog. Geblendet durch das plötzliche Sonnenlicht, registrierte sie, wo sie war. Sie sah die Decke, die eigentlich eine Möbeldecke war und die die Umzugsleute vergessen hatten. Sie verzog das Gesicht. Das Hemd hing ihr halb aus der Hose. Sie musterte sich und war mit dem, was sie sah, nicht zufrieden. Der Anblick ihrer Umgebung trug zu ihrer schlechten Laune seinen Teil bei. Die Kerzen waren fast alle heruntergebrannt. Wenigstens hatte das Klopfen aufgehört. Auf dem Weg zu dem Raum, der mal das Badezimmer werden sollte, knöpfte sie sich das Hemd auf, sah sich dabei im Spiegel an und verharrte. Langsam streifte sie den schwarzen Träger ihres BHs zur Seite. Mit der Hand fühlte sie sanft die Narben, die auf ihrer linken Schulter zu sehen waren und immer noch nicht ganz verheilt waren. Als ob jemand eine Harke über ihre Schulter gezogen hätte.

Jemand ist gut, durchzuckte es sie. Plötzlich wieder das Klopfen.

„Sarah!“, hörte sie ihren Vater rufen.

„Ist offen!“

Die Tür polterte auf, und ihr Vater stand im Zimmer.

„Oh“, hörte sie ihn in Anbetracht des Durcheinanders sagen. „Weit gekommen gestern.“

Es suchte Sarah und sah sie vor dem Spiegel stehen. Er wollte sich dezent umdrehen, sah aber, wie Sarah ihre Hand auf ihre Narbe gelegt hatte.

„Alles in Ordnung? Hast du wieder Schmerzen?“, fragte er besorgt.

„Es hat nie aufgehört“, flüsterte Sarah und zog sich das Hemd wieder über die Schulter. Sie drehte sich zu ihrem Vater um. „Ich habe Schrippen mitgebracht. Kriege ich dafür einen Kaffee?“ Er blickte Sarah fragend an. Sie wusste, dass ihr Vater mit solchen Gesten immer von seinem starren Geschäftsgebaren ablenken wollte. Es sollte seine menschliche Seite zeigen. Sie ließ ihn machen und verkniff sich am frühen Morgen den Hinweis darauf, dass es bei ihr nicht funktionierte. „Zehn Minuten. Ich will erst duschen“, sagte sie bereits halb im Bad verschwunden.

Herbert Fender suchte einen Platz für die Schrippen. Auch der Küchentisch war zugestellt.

„Wie denn? Du hast doch noch gar kein warmes Wasser.“

„Mir wird schon was einfallen. Wasser ist Wasser“, tönte es aus dem Badezimmer.

Herbert musterte mit einem Rundumblick das Zimmer. Seine Augen blickten nach oben in die offene Galerie des Raumes. „Oh Gott“, flüsterte er vor sich hin und verschwand wieder.

*

Sarah blickte durch das Küchenfenster und beobachtete ihren Vater. Mal wild gestikulierend, mal vertieft in seine Bauzeichnung. Der laue Frühsommerwind brachte immer wieder seine Blätter durcheinander. Manchmal hatte sie das Gefühl, er sei überfordert, was natürlich Unsinn war. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann ihr Vater jemals seine Arbeit nicht im Griff gehabt hätte. Er tat ihr fast schon ein bisschen leid, wie er da knöcheltief im Sand stehend versuchte, Ordnung in seine Blätter zu bekommen. Ihre nassen Haare tropften auf den Küchentisch. Abwesend spielte sie mit ihren Fingern in den kleinen Wasserpfützen. Der Geruch von Kaffee durchzog den Raum. Obwohl es draußen schon angenehm warm war, fröstelte sie noch von der kalten Dusche. Sie ließ ihren Blick durch das Zimmer wandern. Heute nahm sie sich vor, ein wenig Ordnung in das heillose Durcheinander zu bringen. Die halbe Nacht war sie wach gelegen und hatte sich immer wieder dazu ermahnt, ihr Leben endlich wieder in die richtige Spur zu lenken. Mit fünfunddreißig lag noch zu viel vor ihr, um sich schon gehen zu lassen. Wieder blickte sie durch das Fenster. Ihr Vater stand kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Die Bauzeichnung war zum Teil in alle Winde verstreut und wurde von ihm und Gustav wieder eingesammelt. Sarah konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Ihr Vater, der makellose Herr, rannte den Blättern hinterher wie ein kleiner Junge, der die Hühner einfangen wollte. Sarah klopfte an die Scheibe. Im selben Augenblick fiel ihr aber ein, dass er das Klopfen auf die Entfernung gar nicht hören könnte. Sie steckte sich den kleinen Finger in den Mund, und ein geller Pfiff durchdrang das Haus. Vielleicht sollte sie einfach das Fenster aufmachen, dachte sie in dem Moment. Sie verdrehte die Augen bei dem Versuch, das klemmende Fenster zu öffnen.

„So wird das nichts“, redete sie mit sich selbst. Sie ging zur Tür und zuckte zusammen, als ihr Vater vor ihr stand.

„Ich habe deinen Pfiff gehört.“

„Kaffee ist fertig“, sagte sie überrascht. Herbert Fender wollte ihr die Tasse aus der Hand nehmen. Mit einer grazilen Drehung wand sich Sarah an ihrem Vater vorbei.

„Der ist nicht für dich“, entgegnete sie kurz. „Der ist für Gustav.“

„Nee nee, lass mal, der soll erstmal ein bisschen Gas geben“, bestimmte Herbert. „Außerdem trinkt der Tee.“

Sarah blieb stehen, reichte ihrem Vater den Kaffee und blickte zum Straßenrand. Da saß sie wieder, die alte Frau. Auch Herbert richtete seinen Blick auf die alte Frau.

„Sitzt die immer da?“, fragte Herbert.

„Glaub schon.“

„Wollen wir uns raussetzen?“

„Ich mach dir noch ne Schrippe.“

Sarah blickte ihren Vater nicht an. Ihr Blick hing wie gefesselt an der alten Frau.

„Nee, lass mal. Kaffee reicht mir. Weißt doch, die Schrippen bring ich nur als Alibi mit. Vielleicht später. Komm, setz dich.“

„Was?“ Sarah tat, als hätte sie ihrem Vater nicht richtig zugehört.

„Hol dir deinen Kaffee und setz dich zu mir“, wiederholte Herbert und sprach dabei betont langsam. „Du weißt doch, die Schrippen hole ich immer nur, um so zu tun, als ob.“

Für einen Augenblick schaute Sarah ihn an. Er verdrehte die Augen. Sie holte sich ihre Tasse und setzte sich zu ihrem Vater, der tief Luft holend über das weite Land schaute.

„Vielleicht sollte ich dir lieber nicht diese Sicht verbauen“, sagte er leise, in der Hoffnung, Sarah könnte seine Zweifel an seinen Bauplänen nicht hören.

Gedankenverloren saßen sie nebeneinander.

„Sarah?“

Herbert versuchte zaghaft, ein Gespräch zu beginnen.

„Versteh mich nicht falsch …“ Er kam nicht dazu, den Satz zu beenden.

„Ist schon gut, Herbert, es gibt im Moment nichts zu reden, und ich will auch nicht reden.“ Herbert Fender drehte sich seiner Tochter zu.

„Irgendwann müssen wir aber reden.“

„Es gibt nichts zu reden. Du wolltest nicht, dass ich zur Polizei gehe, also lass mich.“

„Aber irgendwann müssen wir reden“, beharrte er.

Sarah schwieg. Herbert hob mahnend die Hand.

„Außerdem habe ich dich schon tausend Mal gebeten, du sollst mich nicht immer Herbert nennen. Ich bin dein Vater.“

„Väter unterstützen ihre Kinder, Herbert.“

Diese Worte klangen wie eine schallende Ohrfeige.

„Wir werden heute mit der Einfahrt neben der alten Scheune anfangen“, wechselte er das Thema.

„Warmes Wasser und die Treppe wären mir lieber, aber du wirst schon wissen, was du machst“, antwortete Sarah mehr aus Höflichkeit.

„Heute oder morgen kommen auch die Handwerker, die drinnen was machen sollen.“ Herberts Kopf deutete auf das Haus. „Kommst du drinnen klar?“

Sarah verzog keine Miene.

„Hm.“

Hilflos bohrte er weiter.

„Was ist los mit dir?“ Eigentlich eine dämliche Frage, dachte er im selben Augenblick. Zu genau wusste er, was Sarah beschäftigte. Aber er kam nicht an sie ran.

„Ich fang heute an“, ignorierte Sarah seine letzte Frage. „Nein, ich fang jetzt an“, verbesserte sie sich.

Herbert nickte nur kurz und sah Sarah hinterher, wie sie ins Haus ging. Auf halbem Wege drehte sie sich um. Sie wollte ihrem Vater noch etwas sagen, hielt aber inne. Neben der alten Frau auf der Straße stand ein Mann. Sarah blinzelte mit den Augen, um ihn erkennen zu können. Die Raupe, die sich langsam in der Nähe der alten Scheune vorarbeitete, hüllte den Hof in Staub. Sarah war sich sicher, dass der Mann ein Geistlicher war, ein Pfarrer. Die alte Frau erhob sich. Zum ersten Mal sah Sarah die Frau in voller Größe. Die Kleider, die sie trug, waren zwar alt, aber nicht zerrissen oder dreckig. Ihr war das noch nie aufgefallen. Das Kopftuch hatte sie weit ins Gesicht, fast über die Augen gezogen. Herbert Fender blickte unschlüssig zu seiner Tochter und dann zu der alten Frau am Straßenrand. Sarah ging langsam in Richtung Straße. Sie hob zögerlich die Hand, um zu winken. Die alte Frau hob plötzlich die Hände vors Gesicht. Der Pfarrer deutete einen Gruß an. Sarah wollte die Gelegenheit nutzen und ging auf die beiden zu. Die alte Frau drehte sich ab und lief auf das Grundstück hinter sich. Der Pfarrer änderte seine Handbewegung und deutete Sarah an, nicht näherzukommen. Sarah hielt inne. Sie drehte sich fragend zu ihrem Vater um. Der saß noch immer auf der Bank und zuckte nur mit den Schultern. Sarah musterte das Grundstück der alten Frau. Zwischen den wild wachsenden Sträuchern konnte man einen alten Holzzaun erkennen. Da, wo die alte Frau verschwunden war, war ein ausgetrampelter Pfad, und das Gestrüpp war rechts und links zur Seite gedrückt. Kaum wahrzunehmen, als ob der Pfad nur ganz selten benutzt werde. Sarah suchte nach einem Haus.

„Mann, mach doch mal das Ding aus, Gustav!“ Die Raupe wirbelte immer mehr Staub auf. Als Sarah wieder klare Sicht hatte, war der Pfarrer verschwunden. Sarah zuckte zusammen und suchte mit den Augen Rat bei ihrem Vater. Herbert verzog keine Miene. Sarah rannte auf die Straße und stolperte fast in den knöchelhohen Sandspuren der Raupe.

„Scheiße“, fluchte sie und hüpfte ein paar Meter auf einem Bein, als sie feststellte, dass ihr Schuh voller Sand war. Von der Straße aus blickte sie runter ins Dorf.

„Suchen Sie mich?“, hörte sie eine Stimme hinter sich. Erschrocken drehte sie sich um, während ihre Hand dahin griff wo früher ihr Pistolenhalfter saß. Der Pfarrer ging einen Schritt zurück

„Hui, Sie haben mich erschreckt.“ Sarah beruhigte sich wieder und strich sich mit den Händen durch die langen Haare. Ihr Haarband, mit dem die Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden waren, hatte sich gelöst. Verlegen wischte sie sich die rechte Hand an ihrer Hose ab und reichte sie dem Pfarrer.

„Fender“, stellte sie sich vor. „Sarah Fender.“

„Werner Gram“, antwortete der Pfarrer.

Sarah hatte im Nu wieder ihre Fassung erlangt und fragte:

„Pfarrer Gram, vermute ich?“

„Wenn Sie so wollen“, erwiderte der Pfarrer wortkarg. Er bemerkte den suchenden Blick von Sarah.

„Wo ist sie hin?“

Der Pfarrer verstand sofort.

„Sie wohnt hier.“

Sarah machte ein paar Schritte in Richtung des Trampelpfades. „Lieber nicht“, sagte der Pfarrer leise.

„Mir ist gar nicht aufgefallen, dass hier im Dorf eine Kirche steht“, wandte sich Sarah wieder an den Pfarrer.

„Abgebrannt in den Wirren des Krieges“, wurde der Pfarrer immer leiser. „Nie wieder aufgebaut. Ich wohne dort unten im Gemeindehaus. War auch abgebrannt, das wurde aber wieder aufgebaut.“

Sarah suchte wieder nach der alten Frau und nach irgendetwas, das zwischen dem ganzen Gestrüpp auf ein Haus schließen ließ.

„Lassen Sie. Bitte“, wiederholte der Pfarrer. Er blickte Sarah eindringlich an und drehte dann ab.

Sarahs Lippen bewegten sich, aber es kam nichts heraus.

„Einen schönen Tag noch.“ Der Pfarrer ging, ohne sich umzudrehen.

„Ja, ja Ihnen auch“, stammelte Sarah vor sich hin. Einen kurzen Blick noch wagte sie in Richtung des alten, verwilderten Grundstückes, ohne einen Schritt näher ranzugehen.

Ihr Vater stand mittlerweile an der Ecke der Scheune und hatte den dürftigen Dialog aufmerksam verfolgt. Sarah hielt kurz an seiner Seite inne und beide blickten dem Pfarrer hinterher. Dann ging sie ins Haus. Herbert Fender blickte die alte Scheunenwand hoch. Oben klopfte ein altes Giebelfenster gegen den Rahmen.

„Bald bist du dran“, sprach er zu der Scheunenwand. Bevor er Sarah nachging, drehte er sich noch mal zur Straße um. Da saß sie wieder, die alte Frau, und ließ ihn keine Sekunde aus den Augen. Herbert Fender deutete mit einem Kopfnicken einen Gruß an und verschwand.

Sarah lehnte mit dem Rücken an der Eingangstür. Noch immer dachte sie über den Pfarrer und die alte Frau nach. Dann machte sie sich daran, ihre Kisten auszuräumen. Sie musterte die alte Treppe, die hoch zur Galerie führte. Sie sah nicht sehr stabil aus, aber das musste warten. An den Fußspuren im gleichmäßig verteilten Staub des Fußbodens konnte man genau erkennen, wo die Möbelträger lang gelaufen waren. Die wenigsten Abdrücke stammten von ihr. Ihr Weg hatte sie bisher nur in die Küche, das Bad und zur Couch geführt, das war zu sehen. Amüsiert über ihr kriminologisches Gespür und ein wenig entsetzt über den Dreck im Haus, machte sich Sarah an die Arbeit.

*

„Ich muss jetzt los. Morgen komm ich später“, verabschiedete sich ihr Vater am späten Nachmittag. Seit dem Vorfall am Morgen hatten sie kein Wort mehr miteinander geredet. Sarah hatte sich voll und ganz auf die Arbeit gestürzt. Jetzt stand sie vor ihm, und ihr Vater wollte nach ihrer Hand fassen. Seine Augen richteten sich auf das Bild, das sie in der Hand hielt. Ohne Gegenwehr ließ Sarah sich das Bild aus der Hand nehmen. Verstohlen wischte Herbert Fender mit der Hand den Staub vom Glas und betrachtete das Bild wortlos.

„Du und Tim. Ihr seid so ungleich und doch so unzertrennlich gewesen“, seufzte Herbert. „Unzertrennlich ist gut“, nahm Sarah ihrem Vater das Bild aus der Hand. „Siehst du Tim hier irgendwo?“

Herbert wollte seiner Tochter sanft durchs Haar streichen, hielt sich aber zurück, als er das leichte Zittern an ihrem Körper bemerkte.

„Bis dann“, sagte er nur.

„Ich bin morgen zwei Tage in Berlin“, nuschelte Sarah beiläufig. „Papiere abholen.“

Herbert Fender hielt inne.

„Dann komm mit. Schlaf bei uns. Mama wird sich freuen.“

„Ich schlaf bei Lisa. Mama weiß Bescheid.“

„Berlin? Papiere? Jetzt erst?“

Sarah blickte stumm aus dem Fenster. Wenn sie früher ein schlechtes Gewissen gehabt hatte, war sie genauso dagestanden. Sie blickte wieder auf das Bild.

„Ich kann mich erinnern, dass das Schreiben von deiner Dienststelle schon seit zwei Monaten auf dem Schrank liegt.“

„Ich bin nicht dazu gekommen“, sagte Sarah kleinlaut. Ihr Vater wusste, dass das nur eine Ausrede war.

„Soll ich mich darum kümmern?“

„Nein, ich muss zu Kuntz.“

„Zu Kuntz? Ins Polizeipräsidium?“, fragte Herbert überrascht.

„Hm, jetzt ja.“

„Bernhard Kuntz, Polizeidirektor im Polizeipräsidium Berlin. Na, dann mach mal.“

Nach einer kurzen Pause nahm er seinen ganzen Mut zusammen und küsste Sarah flüchtig auf die Stirn. Wieder bemerkte er ihr Zittern. Beim Gang zum Auto entwich ihm ein hoffnungsvolles Schmunzeln. Er nahm sein Handy und telefonierte noch, bevor er sich ins Auto setzte.

„Marianne…“

Herbert war in sich gekehrt. Fast lief ihm eine Träne über das Gesicht. Seit Sarah diese Sache passiert war, hatte er immer das Gefühl gehabt, dass sie jeglichen Berührungen aus dem Weg ging. Weder von ihm, noch von Marianne.

„Komm nach Hause“, hörte er Mariannes Stimme sagen.

„Gleich, gleich. Ich muss nur noch mal mit Kuntz telefonieren.“

*

Sarah fühlte sich wie gekreuzigt. Die Nächte auf der Couch, so groß sie auch war, taten ihr nicht gut. Wie jeden Morgen nahm sie sich vor, endlich das Bett zusammenzubauen. Ihr Blick ging mal wieder zur Treppe, und sie war sich nicht sicher, ob diese einer Benutzung auf die Dauer standhalten würde. Draußen hörte sie wieder die dröhnenden Geräusche der Raupe. Sie verdrehte die Augen.

„Morgen, Gustav!“ Diesmal hatte sie gleich das Fenster geöffnet. Gustav winkte nur kurz zurück. Mit einer Tasse deutete sie an, Gustav einen Kaffee vorbeizubringen.

„Lass gut sein!“ Seine Worte gingen im Lärm der Raupe unter. Sarah fiel ein, dass Gustav eigentlich nur Tee trank. Sie zuckte mit den Schultern und machte ein ratloses Gesicht. Gustav verstand.

„Wird schon noch!“, hörte sie ihn brüllen.

Im Bad musterte Sarah sich ausgiebig im Spiegel. Immer wieder veränderte sie mit den Händen ihre Frisur. Wie sollte sie dem Polizeidirektor gegenübertreten? Sie stöhnte.

„Selber schuld“, sprach sie dann zu ihrem Spiegelbild.

Bevor sie ging, drehte sie sich noch mal um und betrachtete das Wohnzimmer. Sie war gestern sehr fleißig gewesen. Man konnte sogar ein paar Schritte gehen, ohne sich an etwas zu stoßen, oder eine sichtbare Spur im Staub auf dem Fußboden zu hinterlassen. Da sie keinen Lärm mehr von draußen hörte, rief sie durch die halb geöffnete Tür:

„Gustav, die Treppe muss gemacht werden!“

„Ein Albtraum!“, kam nur wortkarg zurück. „Gute Tischler zu bekommen! Ein Albtraum!“ Schmunzelnd trat Sarah vors Haus.

„Was ist denn bei dir kein Albtraum?“

Gustav saß auf dem Tisch vor dem Haus. Neben ihm stand die alte Thermosflasche, die Gustav schon so lange hatte, wie Sarah ihn kannte. Seine Stiefel standen auf der Bank vor ihm. In seinem Mundwinkel steckte wie immer der alte Zigarrenstummel. Sarah fiel auf, dass sie schon ewig keine Zigarette mehr geraucht hatte. Beim Versuch, sich ihre Schuhe anzuziehen, kam sie ins Straucheln. Wie ein junger Bursche sprang Gustav auf, um sie zu stützen. Sarah konnte sich gerade noch am Fensterbrett festhalten. Das Fensterbrett war aber so morsch, dass ein alter Blumentopf und der Knochen auf die Erde fielen.

„Immer noch ganz der Gentleman“, raunte Sarah angestrengt. Gustav hob den Knochen auf, schlug sich damit ein paar Mal in die offene Hand und musterte Sarah dabei.

„Von irgendeinem Vieh“, antwortete Sarah ungefragt.

„In der Stadt groß geworden“, flüsterte Gustav leise und legte den Knochen behutsam wieder auf den Fenstersims.

„Ach, Herbert soll sich bitte um die Treppe kümmern. Ich will mein Bett endlich aufbauen.“

„Meinst du deinen Vater?“

„Ja.“

„Dann nenn ihn gefälligst auch so“, mahnte Gustav streng.

„Was?“, fragte Sarah, obwohl sie ihn genau verstanden hatte.

„Ein einziger Albtraum“, murmelte Gustav unverständlich.

„Das kann ich dir sagen. Mir tun alle Knochen weh von der Couch“, erwiderte Sarah im Fortgehen. Bei Gustav war alles ein Albtraum. Sie kannte ihn nicht anders. Viele seiner Reden beendete er mit dem Wort Albtraum. Am Auto angekommen, drehte sie sich verwundert zu Gustav um. Er stand noch immer wie angewurzelt vor dem Fenster und begutachtete den Knochen.

„Gustav?“

Gustav wandte sich ihr zu.

„Alles in Ordnung?“.

„Falsche Seite.“

„Was?“

„Du musst auf der anderen Seite einsteigen.“

Sarah blickte auf die Beifahrertür.

„Geht nicht. Schloss kaputt.“

Schon ewig wollte sie die Tür reparieren lassen. Sarah winkte noch kurz aus dem offenen Fenster.

„Bin in Berlin, falls jemand fragt. Wer auch immer.“ Langsam fuhr sie davon. Auf der Straße hielt sie aber noch mal kurz an und kurbelte das Fenster runter.

„Guten Morgen, ich bin Sarah Fender.“

Die alte Frau verzog keine Miene, nickte nur. Sarah fuhr weiter. Sie schaute noch lange in den Rückspiegel und musterte die alte Frau, bis sie aus ihrem Blickfeld verschwand.

Totenwache

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