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Kapitel 2 - Ein Jahr später
ОглавлениеEin Jahr später
„Was ist los?“
Nur durch Zufall bemerkte Polizeidirektor Bernhard Kuntz die Hektik bei den Leuten der Polizeiwache. Eigentlich hatte Kuntz mit dem ganzen Drumherum der Fußball WM genug um die Ohren, trotzdem wollte er von seinen Gewohnheiten nicht abweichen. Ab und an machte er seine Stippvisiten in den verschiedenen Polizeiwachen von Berlin. So auch heute.
„Ein Fahrzeug mit holländischem Kennzeichen hat eine Polizeikontrolle durchbrochen. Ein verletzter Kollege. Fahrzeug auf der Flucht.“
„Was für eine Kontrolle war das?“
„Eine ganz normale Fahrzeugkontrolle. Näheres wissen wir auch nicht.“
„Wie viel Fahrzeuge sind dran?“
„Drei sind direkt dahinter, eins davon ist ein Zivilfahrzeug. Hubschrauber ist unterwegs. Straßensperren sind teilweise aufgebaut, aber Sie wissen ja selber, bei der Menge Auf- und Abfahrten an der Autobahn ist das ein Katz-und-Maus-Spiel. Außerdem haben wir immer noch Berufsverkehr.“
„Besonnen bleiben, Kollegen, dran bleiben und abwarten, was uns die Hubschrauberbilder bringen. Wichtig ist, dass keine Zivilisten zu Schaden kommen. Solche Verrückten sind unberechenbar.“
Bernhard Kuntz versuchte, Ruhe in das entstehende Chaos zu bringen. Zu lange war er schon im Polizeidienst. Er hatte schon Verbrecher gejagt, als die Hälfte der Leute hier noch gar nicht auf der Welt war.
„Sie sind lustig. Der hat in der letzten Viertelstunde schon fünf zivile Autos beschädigt, darunter einen Reisebus. Glücklicherweise leer. Der bremst nicht. Ein Wunder, dass es noch keine Toten gab.“
„Was?“ Kuntz wandte sich verwundert an den Kollegen am Funkgerät. „Womit fährt der denn? Mit ’nem Panzer?“
Der Wachtmeister wusste nicht, wie er reagieren sollte.
„So ungefähr.“
Kuntz drehte sich um, und während er sich durch die Haare strich, ging er langsam zum Fenster.
„Was heißt, so ungefähr?“
„Kein Panzer, ein Hummer, so ein amerikanisches Ding, womit die immer in den Krieg ziehen. “
Kuntz zuckte innerlich zusammen. Ihm lief ein eiskalter Schauer über den Rücken. Er hatte das Gefühl, als würde ihm das Blut in den Adern gefrieren. Ganz langsam drehte er sich um.
„Was sagen Sie da?“
„Ein Hummer. Von der Navy.“ Der Wachtmeister blickte erstaunt zu Kuntz.
„Ich weiß verflucht noch mal, was ein Hummer ist. Geben Sie her.“ Kuntz riss dem Wachtmeister das Funkgerät aus der Hand.
„Hier Polizeidirektor Kuntz. Den Flüchtenden nicht bedrängen. Nur dranbleiben.“
Kuntz klickte das Gerät kurz aus.
„Wann ist der Hubschrauber da?“
„Zwei Minuten.“
„Wir brauchen Nahaufnahmen.“
Kuntz machte das Gerät wieder an.
„Kollegen, nur dranbleiben. Auf keinen Fall bedrängen. Abstand halten, dann bleibt er erst mal auf der Autobahn, und wir haben eine Unbekannte weniger. Wer ist am nächsten dran?“
„Hier Alpha 6. Wir sind direkt hinter ihm, Herr Direktor. Was für eine Unbekannte?“
„Fußgänger. Auf der Autobahn haben wir keine Fußgänger, die er über’n Haufen fahren kann. Farbe? Welche Farbe und was für ein Kennzeichen?“
Kuntz musste die Antwort nicht abwarten. Der Wachtmeister gab ihm einen Zettel, auf dem das Kennzeichen und die Farbe standen.
„Scheiße, die Farbe stimmt nicht.“
„Was ist denn los?“
„Hubschrauber ist da. Wir kriegen gleich die Bilder!“, schallte es durch den Flur.
Kuntz klappte eilig sein Handy auf und redete, während er die Nummer eingab, weiter mit dem Wachtmeister.
„Fragen Sie, ob auf dem Hummer Spinnen drauf sind.“
„Was?“
„Mensch, ob auf den Türen Spinnen aufgemalt sind. Fragen Sie schon!“ Parallel zu seinem Dialog hielt er sich das Handy ans Ohr.
„Hallo Theresa. Auf meinem Schreibtisch muss noch irgendwo die Akte von Sarah Fender liegen. Die Sache mit der Diskothek, letztes Jahr. Ich brauch die Farbe und das Kennzeichen von Haagedorns Auto. Schnell bitte.“
Kuntz wartete und schaute den immer noch erstaunt blickenden Wachtmeister fragend an.
„Nein, keine Spinnen.“
Auf den Monitoren waren endlich die Bilder zu sehen. Die Anwesenden standen wie erstarrt vor den flackernden Szenen. „Er soll versuchen, den Fahrer ins Bild zu kriegen. Wir müssen wissen, ob er unterm Auge eine Tätowierung hat.“
„Auch eine Spinne?“, flüsterte der Wachtmeister, ohne sich Gedanken über die Ernsthaftigkeit seiner Frage zu machen. Umso erstaunter war er, als Kuntz ihm unbeteiligt zunickte.
„Ja Theresa.“ Kuntz verglich die Kennzeichen. „Alles klar. Sofort zwei Einheiten vom SEK alarmieren. Am liebsten wäre mir, wenn wir Wagner und Minsky hinzuziehen könnten. Sind die in der Nähe? Moment …“ Kuntz sah, dass der Wachtmeister ihm was sagen wollte.
„Ein Kommissar Wagner ist vor Ort, der sitzt in dem zivilen Wagen.“
„Alles klar.“ Er wandte sich wieder an Theresa
„Theresa, Wagner ist schon dran. Wichtig fürs SEK, kein Zugriff. Ich versuche, vor Ort zu sein. Bis dahin übernimmt Wagner das Kommando.“
„Herr Direktor, denken Sie an Ihren Termin. Die Kollegen machen das schon. Was ist denn los?“ Theresa, Bernhard Kuntz’ Sekretärin, klang besorgt.
„Später. Ich weiß noch nicht genau. Ich glaube, er ist wieder da. Sagen Sie den Termin ab.“
„Wer ist wieder da?“
Kuntz klappte sein Handy zu, ohne zu antworten. Aus dem Funkgerät krächzte eine Stimme:
„Negativ. Fahrer trägt Sonnenbrille. Keine Tätowierung sichtbar.“
Kuntz zeigte auf den Monitor.
„Da.“ Er ging ein Stück näher. „Er soll das ranzoomen! Ranzoomen! Die Fahrertür ranzoomen!“
Das Bild auf dem Monitor wurde immer größer.
„Sehen Sie die Beschädigungen an der Tür und am Kotflügel? Er soll versuchen, die Farbe zu erkennen, die da drunter ist.“
„Grün. Dunkelgrün, vielleicht dunkelblau, aber mehr dunkelgrün!“, schrie jemand aus dem Funkgerät. „Hallo, Herr Direktor. Haben Sie nüscht zu tun, oder hat man Sie versetzt?“
„Mensch Wagner, halt die Klappe. Bist du sicher?“
„Na, sagen Sie’s mir. Welche Farbe hat die Sonne?“ Kuntz ließ sich auf das Spiel ein. „Gelb.“
„Und welche Farbe hat das Auto jetzt?“
„Beige. Typisch für die Dinger. Sandbeige. Dunkelbeige. Was soll der Quatsch?“
„Richtig. Sind wir uns ja schon mal in zwei Farben einig. Also wenn das beige ist, dann ist die Farbe darunter dunkelgrün.“ Kuntz verstand Wagners Logik zwar nicht, aber das war nicht wichtig.
Auf der Wache war es ruhig geworden, und auch aus dem Funkgerät war nichts zu hören. Alle verfolgten die Bilder der Hubschrauberkamera. Die Verfolgungsfahrt vollzog sich noch immer in einem Höllentempo. Kuntz konnte Wagner in dem zivilen Auto hinter dem Hummer erkennen. Er hatte sich nicht mal die Mühe gemacht, das Licht auf dem Dach zu befestigen. Wagner schaute hoch zum Hubschrauber, als würde er ahnen, dass Kuntz ihn beobachtete. Er griff zu seinem Funkgerät.
„Sehen Sie mich? Alter Bekannter?“, fragte er.
Kuntz kniff die Augen ein bisschen zusammen und zögerte. „Mach dein Licht aufs Dach. Wie blöd muss man denn sein?“, flüsterte er vor sich hin. Wagner antwortete nicht, schaute nur verwundert in die Kamera.
„Nicht du, entschuldige. Wenn wir Glück haben, ist das Haagedorn.“
„Sagt mir nichts.“
„Maasji Haagedorn. Da war mal was. Sei vorsichtig. Der ist eine ganz große Nummer. Letztes Jahr hatten wir ihn fast, und dann ist er von der Bildfläche verschwunden. Hat einer Kollegin böse mitgespielt …“ Kuntz stockte der Atem. „Der kommt hier sogar mit demselben Kennzeichen an. Das SEK ist unterwegs.“ Ihm war bei dem Gedanken an Haagedorn überhaupt nicht wohl. Die Geschichte im Iron Fist war circa ein Jahr her, aber Kuntz kam es vor, als wäre es gestern gewesen. Er schaltete das Funkgerät wieder aus und führte leise Selbstgespräche.
„Warum ist der bloß wiedergekommen?“
Wieder kehrte Ruhe ein. Alle beobachteten die Monitore.
„Okay, bleiben Sie in Verbindung. Ich mach mich auf den Weg. Ich will immer wissen, wo die sind.“
„Im Moment sieht es so aus, als ob er zu den alten Hallen am Güterbahnhof will.“
Kuntz musterte die Bilder.
„Das sehe ich auch so. Gut so, da sind wenig Leute, wenn überhaupt.“
„Aber die alte Fußgängerüberführung ist lang und schwer zugänglich für uns, auch wenn da kaum Leute lang laufen.“
„Die sollte doch schon lange abgerissen sein?“
„Ist sie ja teilweise auch, aber sie wird immer noch benutzt, weil die neue Fußgängerbrücke noch nicht fertig ist.“
„Wir werden sehen.“ Kuntz eilte aus der Wache.
*
Am Güterbahnhof angekommen, musterte er das Gelände. Schon von weitem sah er die Einsatzwagen des SEK.
„Da will man nur mal kurz ’ne Wache inspizieren und dann das“, schimpfte er vor sich hin, während er ausstieg. Das Gelände, ein brachliegendes Industriegebiet, war unübersichtlich. Keine hundert Meter vor ihm, etwas abseits, stand der Hummer mit niederländischem Kennzeichen. Die Fahrertür stand offen, als ob jemand fluchtartig das Auto verlassen hätte. Die Beamten des SEK hatten Stellung bezogen. Zwei Mann begutachteten mit der Waffe im Anschlag den Hummer. Kommissar Wagner stand ohne Deckung neben einem in Stellung gegangenen Beamten. Langsam ging Kuntz auf ihn zu.
„Wo ist er?“
Ohne sich umzudrehen, antwortete Wagner:
„Sie werden ihn gleich sehen.“
„Was ist los?“
„Wir hatten ihn fast, aber dann konnte er aus seinem Auto flüchten und nun das.“
Kuntz stand jetzt neben Frank Wagner. Der SEK-Beamte, geschützt durch eine fast eingerissene Mauer, hockte neben dem Kommissar. Kuntz postierte sich genau hinter ihm.
„Wo ist er?“
Wagner drehte sich kurz zu Kuntz um.
„Na da.“
Sein Blick ging in die Richtung, die Wagner mit dem Kopf andeutete.
„Verflucht. Wo hat er die denn her? Wie kommen hier denn Zivilisten her?“
Wagner taxierte die Umgebung.
„Eine Abkürzung. Die Leute benutzen das Gelände, um zur S-Bahn zu kommen.“
Kuntz suchte weiter die Gegend ab.
„Sonst noch welche?“
Wagner lachte kurz auf.
„Eine reicht ihm doch. Ist aber ne Frage der Zeit, bis hier irgendwo ein paar Schaulustige aufkreuzen. Vor allem die Kids lungern hier oft rum.“
„Na, die sind ja wohl in der Schule.“
„Die Kids, die hier abhängen, gehen nicht zur Schule.“
Kuntz wandte sich an den Einsatzleiter des SEK.
„Absperren, weiträumig absperren. Ich will hier keine Zivilisten sehen, und schon gar keine Touristen mit Fotoapparat.“
„Schon passiert.“
Kuntz kam aus seiner Deckung hervor und stellte sich hinter den Kommissar.
„Wo ist eigentlich Minsky?“
„Hat frei.“
„Frei?“
„Frei.“
„Kannst du was sehen?“
„Ne verängstigte Frau“, entgegnete Wagner trocken.
„Warum ist der bloß wiedergekommen?“ Kuntz schien verzweifelt.
„Na, um Ihnen den Tag zu versauen.“ Wagner schaute in das angespannte Gesicht des Polizeidirektors. „Was machen Sie überhaupt hier?“
Kuntz erwiderte Wagners Blick.
„Zufall. Zum falschen Zeitpunkt die falsche Polizeiwache besucht.“
Wagner schmunzelte.
„Sollten Sie nicht machen. Ich dachte, Sie haben mit der Fußball-WM genug zu tun?“
„Ja, das dachte ich auch.“
„Der liebe Gott mag Sie nicht. Woher kennen Sie den?“
Wieder deutete Wagner in die Richtung von Haagedorn.
„Kennen ist übertrieben. Haagedorn ist einer von der ganz üblen Sorte. An dem haben wir uns schon mächtig die Zähne ausgebissen. Letztes Jahr hatten wir ihn fast, aber dann hat er uns so richtig …“ Kuntz verschluckte wohlweislich den Rest des Satzes und beantwortete Wagners Blick mit einem Kopfschütteln.
„Warum ist der mir noch nicht untergekommen?“
„Weil Berlin kein Dorf ist und du nicht überall sein kannst.“
„Wollen wir jetzt hier noch lange rumstehen, oder ziehen Sie Ihre Leute ab?“, rief Haagedorn.
Wagner und Kuntz blickten zu Haagedorn.
„Gibt es hier ein Megaphon?“
Kuntz schaute sich fragend um.
„Brauchen Sie nicht, der versteht uns schon.“
Kuntz kam einen Schritt aus der Deckung.
„Was verlangen Sie?“, rief er zurück.
„Wer sind Sie?“, wollte Haagedorn wissen.
„Nicht“, beschwichtigte Wagner seinen Vorgesetzten. Kuntz musterte ihn kurz.
„Vielleicht bringt es ja was.“
Kuntz postierte sich neben dem Kommissar.
„Polizeidirektor Bernhard Kuntz.“
Noch bevor Kuntz seinen Satz beendet hatte, peitschte eine Kugel gegen die Tür des Hummers.
„Deckung!“, schallte es vom Einsatzleiter des SEK, und die Beamten, die das Auto noch immer musterten, folgten dem Befehl. Auch Kuntz sprang wieder hinter den Mauervorsprung. Wagner verzog keine Miene und stand noch an derselben Stelle.
„Bist du lebensmüde?“
„Der will uns nicht treffen.“
„Wieso bist du dir da so sicher?“
„Aus der Entfernung hätte er getroffen. Der kann es sich nicht leisten, einen Polizisten umzulegen. Der hat irgendwas anderes vor.“
Hauptkommissar Wagner kniff die Augen ein wenig zusammen, und sein Blick traf den von Haagedorn.
„Hast du ne Ahnung. Der macht keinen Halt vor Polizisten.“
„Hat wohl nicht viel genutzt, dass Sie sich als Polizeidirektor vorgestellt haben.“
Wagner schaute den SEK-Beamten, der einen halben Meter neben ihm kniete, prüfend an.
„Deine Knarre!“
„Was?“
„Gib mir deine Knarre!“
Fragend drehte sich der Beamte erst zu seinem Einsatzleiter und dann zu Kuntz um.
„Na nun machen Sie schon.“
Wagner nahm die Waffe in Anschlag.
„Was hast du vor?“ Kuntz Stimme wurde aufgeregter.
„Mit dem Zielfernrohr näher ranholen, oder haben sie ein Fernglas parat?“
„Es wird nicht geschossen, Wagner.“ Die Stimme des Polizeidirektors wurde ernster.
„Eine hässliche Spinne …“
Kuntz war sich nunmehr ganz sicher. Maasji Haagedorn war tatsächlich zurückgekommen. Er beugte sich vor.
„Warum sind Sie zurückgekommen?“
Haagedorn lachte.
„Ich habe ihn genau im Visier“, unterbrach Wagner leise das Gespräch.
„Nein, das geht nicht. Was ist, wenn du die Geisel triffst?“, flüsterte Kuntz.
„Ich hab hier letztes Jahr was vergessen. Musste leider weg“, erwiderte Haagedorn indessen mit einem aufgesetzten Lächeln. „Sie hätten sich ein anderes Kennzeichen ans Auto machen sollen.“
„Das hätte ich machen sollen. Ich dachte, ihr habt mit eurer WM genug zu tun, und bis hierher bin ich ja auch ganz gut durchgekommen.“
„Eben, bis hierher. Lassen Sie die junge Frau gehen.“
Haagedorn lachte schallend.
„Sie wissen doch, ich stehe auf junge Frauen.“
„Ich kann schießen“, meldete sich Wagner wieder leise zu Wort.
„Nein. Das ist ein Befehl. Es wird nicht geschossen.“
Die Stimme des Polizeidirektors wurde harsch.
„Sie kommen hier nicht weg, Haagedorn.“
Haagedorns Gesicht wurde ernst.
„Das sehe ich anders. Sehen Sie mal, was ich in meiner anderen Hand halte.“
Haagedorn drehte sich mitsamt der Geisel zur Seite. Kuntz konnte nichts erkennen.
„Was hat er da?“
„Sieht aus wie ein Schalter, ein Zünder. Ein Sprengzünder!“
„Was? Der wird sich doch nicht mit der Geisel in die Luft jagen?“
Wagner ließ Haagedorn nicht aus den Augen.
„Nein, aber sein Auto.“
Kuntz drehte sich urplötzlich um und sah die Beamten in der Nähe des Autos.
„Deckung! Weg vom Auto!“, rief Kuntz den Beamten zu. „Weißt du, was passiert, wenn er das Ding in die Luft jagt?“
„Vertrauen Sie mir. Der wollte mit dem Ding noch zurückfahren, und wenn er was vergessen hat, könnte das in dem Auto sein. Der jagt doch nicht das in die Luft, weshalb er zurückgekommen ist. Außerdem ist das Ding für Kriegseinsätze gebaut. Das ist ein Original Hummer. Das rumst zwar mächtig, aber ansonsten passiert nicht viel.“ Kuntz schaute abwechselnd zu Wagner und zu dem Auto.
„Du kennst den nicht. Der hat keine Skrupel.“
„Aber ich sehe sein Gesicht, und das kann ich ihm wegblasen.“
„Nein.“
Wagner konnte durch das Zielfernrohr jede Bewegung von Haagedorn sehen. Er sah auch das Gesicht der Geisel. Sie war jung, und die Angst stand ihr ins Gesicht geschrieben.
„Keine Angst, junge Lady, es ist gleich vorbei“, murmelte Wagner vor sich hin.
„Nein!“, schrie Kuntz Wagner an.
„Was ist denn nun?“, meldete sich Haagedorn wieder zu Wort.
„Keine Chance. Ich kann Sie hier nicht einfach so weglassen. Lassen Sie uns reden“, erwiderte Kuntz.
„Sie hätten an Ihrem Schreibtisch bleiben sollen.“
„Oh ja, das hätte ich“, sagte Kuntz mehr zu sich selbst.
„Genug geredet.“ Obwohl der Tonfall von Haagedorn bedeutend leiser geworden war, konnte Wagner ihn genau verstehen. Er sah das hämische Grinsen in seinen Augen.
„Deckung!“, brüllte Wagner, und im selben Augenblick sah er, wie Haagedorn den Knopf in seiner Hand betätigte. Ein fürchterlicher Knall erschütterte das bis eben totenstille Gelände. Frank drückte genau in dem Augenblick ab, als Haagedorn sich mit der Geisel, die Explosion ausnutzend, wegdrehen wollte. Ruckartig sackte die Geisel vorne über, aber Wagner sah genau das Loch in Haagedorns Stirn und schoss erneut. Wie von einem Schlag getroffen, knallte Haagedorn gegen die Mauer hinter sich. Die Arme weit von sich gestreckt, ließ er seine Pistole fallen. Die junge Frau kroch fluchtartig auf allen Vieren vor ihm her. Sie schrie und weinte. Wagner rannte zu ihr hin, die Waffe weiter auf Haagedorn gerichtet. Der sackte langsam an der Wand runter. Die Schuhe gruben sich in den Sand und hinterließen eine Furche. Wagner stand jetzt einen Meter vor ihm, nahm die Waffe runter und hob mit dem rechten Arm die junge Frau auf.
„Ich blute“, jammerte sie. „Ich blute.“
„Das ist nicht ihr Blut“, versuchte Wagner, sie zu beschwichtigen. „Es ist vorbei. Beruhigen Sie sich. Es ist vorbei.“
Die junge Frau weinte und schrie noch immer. Sie hämmerte mit den Fäusten auf Frank ein, der sie an sich presste.
„Beruhigen Sie sich. Es ist vorbei“, wiederholte er.
Die Frau sah Frank in die Augen. Er wollte sie mit einem Schmunzeln zur Ruhe bringen.
„Beruhigen? Sind Sie noch bei Trost? Ich soll mich beruhigen?“
Sie wollte wieder auf Wagner einhämmern, aber langsam verließ sie die Kraft. Weinend legte sie sich in Franks Arme. „Es ist vorbei.“
Frank strich ihr durch die Haare. Sein Blick richtete auf Kuntz. Alle waren aus ihrer Deckung gekommen. Der Polizeidirektor stand wie versteinert da. Seine Schultern hingen kraftlos runter. Der Einsatzleiter deutete mit einem gehobenen Daumen seine Wertschätzung an, wohl wissend, was hier eben passiert war. Aus dem Hummer stieg eine riesige Qualmwolke auf. Kleine Flammen loderten aus dem Innenraum des Wagens. Durch die Luft wirbelten unzählige Geldscheine. Wagner bewegte sich langsam mit der Frau im Arm in Richtung des Polizeidirektors. Kuntz drehte sich zum Einsatzleiter um.
„Absperren. Keiner, und ich sage keiner, kommt durch die Absperrung. Ordern Sie einen Krankenwagen, eine Feuerwehr und, wie es aussieht, einen Leichenwagen. Sie sind dafür verantwortlich, dass keiner ohne ausdrücklichen Befehl das Gelände betritt. Informationssperre, haben Sie verstanden? Machen Sie das Ihren Leuten klar. Und einer soll das beschissene Geld einsammeln.“
Kuntz musterte weiträumig das Gelände. Sein Blick verharrte bei der jungen Frau.
„Geht’s?“
Die Frau nickte nur kurz. Frank löste die Umarmung und schaute sie lächelnd an. Sie erwiderte, sichtlich unter Schock stehend, seinen Blick.
„Ich glaube, ich bin Ihnen was schuldig.“
Frank verneinte.
„Sie schulden mir nichts, dafür bezahlen Sie schließlich Steuern“, versuchte er zu scherzen. Einer der Beamten nahm sich ihrer an. Nach ein paar Schritten drehte sich die Frau noch mal um.
„Danke.“
Frank schaute ihr hinterher. Er stand jetzt fast neben Kuntz. Der Polizeidirektor schaute in die Richtung, wo Haagedorns Leiche sitzend an der Wand lehnte. Er ging ihr zwei, drei Schritte entgegen.
Frank Wagner gab dem Beamten seine Waffe wieder, zog seine Jacke aus und setzte sich auf die Reste der alten Mauer.
„Wie machst du das?“
Frank krempelte sich die Ärmel hoch.
„Was?“
Der junge SEK-Beamte schaute ihn voller Bewunderung an. Mit seinen Handflächen rieb er sich verlegen auf den Oberschenkeln. Frank sah, wie seine Hose den Schweiß aufsog.
„Keine Angst zu haben. Du hättest die Geisel treffen können.“ Frank blickte zur Seite und sah in die aufgerissenen Augen des jungen Mannes. Er vermutete, dass er noch nicht allzu lange beim SEK war und noch nicht viele Einsätze dieser Art erlebt hatte.
„Wer sagt dir, dass ich keine Angst hatte?“
„Du hast so besonnen und eiskalt gewirkt.“
Frank legte die Hand auf seine Schulter.
„Seit wann bist du dabei?“
„Ein halbes Jahr.“
„Dein erster Einsatz dieser Art?“
Der Beamte nickte.
„Dann lass dir sagen, die Angst kommt immer erst hinterher.“ Frank nahm seine Hand von der Schulter und ließ sich den lauen Sommerwind ins Gesicht wehen. Er streckte seinen rechten Arm gerade nach vorne, und die beiden Polizisten beobachteten das Zittern seiner Hand.
„Siehste, hinterher darf das sein, dabei nicht.“
„Du kannst echt stolz sein. Du hast gerade eine Geisel befreit.“ Frank schaute ihm wieder ins Gesicht.
„Stolz? Mit Stolz hat das nichts zu tun. Vergiss nicht, ich habe gerade einen Menschen erschossen.“
„Aber der war doch ein Verbrecher.“
„Aber eben auch ein Mensch. Zwar ein schlechter Mensch, aber ein Mensch.“
„Aber …“
„Lassen Sie uns alleine“, wurde der Beamte von Kuntz unterbrochen. Langsam bewegte er sich auf Wagner zu. Der junge Beamte schaute ungläubig.
„Nun verschwinden Sie schon.“
Der Beamte stand auf, klopfte Frank auf die Schulter, gab ihm die Hand und verschwand.
„Siehste, jetzt kommt die Kehrseite.“
„Kehrseite?“, fragte er im Weggehen.
Der Einsatzleiter erwartete schon den jungen Mann.
„Was meint er mit Kehrseite?“
Zögernd blickte der Einsatzleiter in die fragenden Augen des Beamten.
„Ärger. Die Kehrseite heißt Ärger. Das, was du da gerade erlebt hast, ist eine Grauzone in den Dienstvorschriften. Wir nennen es Notwendigkeit, andere nennen es den finalen Schuss. Und das hier, das war ein Paradebeispiel für einen finalen Schuss. Der Direktor hat ihm den nicht ohne Grund untersagt.“
Beide beobachteten, wie Kuntz sich vor Kommissar Wagner postierte.
„Sichern Sie das Gelände. Die Feuerwehr kommt gleich.“
Der junge Beamte stand da wie angewurzelt.
„Nun machen Sie schon.“
Bernhards Gesicht sah alles andere als erleichtert aus.
„Hast du was mit den Ohren?“
„Na ja, nach der Explosion kann das schon sein.“
„Lass deine blöden Sprüche, Frank. Ich habe dir ganz klar einen Befehl erteilt.“
Frank begutachtete das Gelände.
„Was sollte ich denn machen? Sehen Sie sich doch mal um. Der hätte hier ohne weiteres abhauen können, und dann wäre er wieder weg gewesen.“
„Nicht schießen, habe ich gesagt. N-I-C-H-T“, buchstabierte Kuntz mit aufgebrachter Stimme.
Frank hob beschwichtigend die Arme.
„Ist doch alles gut gegangen.“
Fassungslos musterte der Polizeidirektor den Kommissar.
„Sag mal, willst du mich nicht verstehen, oder kannst du mich nicht verstehen? Steht in der Dienstvorschrift irgendetwas von dem, was hier gerade passiert ist?“
Frank erhob sich.
„Da steht nicht drin, dass es untersagt ist.“ Kleinlaut ergänzte Frank noch: „Glaube ich jedenfalls.“
Es war ihm immer ein Graus, den dicken Wälzer regelmäßig zu studieren. Wagner war stets der Meinung, wenn er instinktiv und schnell handeln muss, könne er es sich nicht leisten, erst mal die Dienstvorschrift durchzublättern, um rauszufinden, ob sein Handeln den Vorschriften entspricht. Oft genug hatte er sich mit dieser Auffassung, trotz seiner zahlreichen Verdienste, Ärger eingehandelt.
„Da steht aber auch nicht drin, dass es erlaubt ist.“ Kuntz setzte sich verärgert hin.
„Was wollen Sie denn eigentlich? Sie haben Haagedorn. Keiner hat was gesehen. Die Frau ist froh, dass sie noch lebt und …“
Kuntz sprang auf und unterbrach den Hauptkommissar.
„Mensch, halt bloß deine Klappe. Wenn ich zwanzig Jahre jünger wäre, würde ich dir eine scheuern. Du bist Polizist! Es gibt Spielregeln, an die hat sich auch ein Kommissar Wagner zu halten.“
„Die Spielregeln sind aber Scheiße. Entscheidend ist doch das Ergebnis.“
Der Polizeidirektor musterte Frank. Er war sich nicht sicher, ob Wagner wusste, was er da von sich gab.
„Du hast ganz klar einen Befehl missachtet, und wenn das publik wird, können wir uns warm anziehen.“
„Publik wird? Habe ich hier was übersehen? Hier ist doch weit und breit keiner.“
„Ach? So einfach ist das für dich. Dann sag mir doch mal, was mit denen da ist, und was mit der Geisel ist?“ Kuntz fuchtelte wie wild mit den Armen und deutete auf die Beamten vom SEK, die aufmerksam den Disput der beiden verfolgten.
„Die gehören doch zu uns, und die Geisel ist doch …“ Wieder wurde er von Kuntz unterbrochen.
„Du willst mir jetzt allen Ernstes weismachen, dass die jetzt die Klappe halten? Die werden irgendwann in der Kneipe, wenn sie ordentlich einen gebechert haben, sich mit genau solch einer Geschichte zum Helden machen. Und die junge Frau hält doch nur so lange die Klappe, bis ihr einer erzählt, was hier gerade abgegangen ist.“
Frank nahm seine Jacke.
„Kann ich jetzt gehen?“ Bockig wartete er erst gar nicht eine Antwort ab.
„Morgen habe ich deinen Bericht auf meinem Schreibtisch liegen, nirgendwo anders.“
Wagner reagierte nicht und war schon ein paar Schritte weg.
„Deine Waffe und deine Marke.“
Plötzlich drehte er sich um.
„Was?“
„Deine Waffe und deine Marke. Du bist erstmal raus. Was hast du denn gedacht?“
Frank ging auf Kuntz zu.
„Das können Sie doch nicht machen.“
Kuntz stand auf.
„Das kann ich nicht nur, das muss ich sogar.“
„Was soll denn der Quatsch?“
„Das ist kein Quatsch. Du hast einen Befehl missachtet. Du bist suspendiert. Erstmal. Morgen reden wir weiter.“
Wagner verharrte für einen Augenblick. Dann wühlte er in seiner Jacke und legte seine Marke und seine Waffe auf den Mauerrest.
„Scheiße.“
„Das kann man so sagen. Und Frank, ich weiß, dass du noch eine zweite Waffe hast. Keine Extratouren. Du bist draußen, hast du das verstanden? Draußen!“
Frank musterte den Polizeidirektor, drehte sich um und ging. Kuntz schaute ihm noch für einen Augenblick hinterher, setzte sich wieder auf den Mauerrest und vergrub sein Gesicht in den Händen.
„Scheiße, verfluchte Scheiße.“