Читать книгу Totenwache - Tonda Knorr - Страница 6
Kapitel 4
Оглавление„Saaraah!“, schallte es über den Hof des Polizeipräsidiums. Alle drehten sich um. Keiner wusste, wo der Ruf her kam, aber Sarah hatte das Gefühl, dass alle wussten, wer gemeint war. Sarah blickte kurz hoch in den zweiten Stock. Ihr Gefühl sagte ihr, dass dort ein Fenster gerade geschlossen wurde. Na klar wusste sie, zu wessen Büro das Fenster und zu wem der Ruf gehörte.
„Baby!“, hörte sie die Stimme nun auf der Treppe. Wie ein kleines Kind rannte Lisa ihr entgegen. Sarah musterte sie von oben bis unten. Sie sah toll aus, wie immer. Lisa trug enge Jeans und einen Blazer. Sie hatte eine durchtrainierte Figur, sodass die Männer ihr reihenweise hinterher schauten. Einen Schritt vor ihr hielt sie an, streckte ihr die Hände entgegen und legte den Kopf ein wenig zur Seite.
„Baby, mein Baby, lass dich drücken.“
Sarah legte sich in Lisas ausgestreckte Arme. Dieses Gefühl hatte sie schon ewig nicht mehr gespürt. Sie hatte keine Angst vor der Berührung. Lisa strahlte so viel Wärme aus, dass es für zwei reichte.
„Lass dich anschauen. Hui, der ist neu.“ Sie blickte Sarah in den Ausschnitt ihrer Bluse. „Schick, kannste mir ja mal leihen?“ Sarah musste schmunzeln. Mit Lisa hatte sie alles geteilt, auch mal den BH oder den Freund, wenn es sich angeboten hat. Lisa hakte sich bei ihr unter. Gemeinsam schlenderten sie langsam zur Treppe. Sie bemerkten nicht, dass sie aus dem siebten Stock beobachtet wurden.
„Erzähl, wie geht’s dir? Quatsch, erzähl nicht, du musst zu Kuntz. Erzähl heute Abend, du pennst bei mir. Wir machen Schlüpperabend. Ich hol uns noch Wein und …“ Lisa plapperte ununterbrochen. Schlüpperabend. So hatten sie immer die Abende genannt, an denen sie es sich nur im Slip und mit einem T-Shirt auf Lisas überdimensionalem Bett bequem gemacht hatten. Den ganzen Abend hatten sie dann Wein getrunken, geraucht, gequasselt, Musik gehört, Filme geschaut und sich ihre Traummänner zurechtgebastelt. Lisa hatte ein Loft. Das Zimmer in der Größe eines Saales sah immer aus wie ein Schlachtfeld. Mittendrin hatte sie sich eine alte, große Badewanne montieren lassen, in der sie dann gleich den Handwerker vernascht hatte. An den Morgen nach solchen Schlüpperabenden sind sie dann immer wie Zwillinge ins Büro gegangen. Überhaupt trugen sie fast immer ähnliche Klamotten, gleiche Sonnenbrillen und hatten immer die gleichen zerzausten Haare. Und den gleichen Brummschädel. Da Sarah einen Dienstrang bekleidete und Lisa nur Zivilbeschäftigte war, musste sie morgens im Gegensatz zu ihr immer zur Morgenbesprechung.
„Wie sehen meine Augen aus?“, fragte sie Lisa dann in der Garderobe stets.
„Wie zwei Pisslöcher im Schnee, lass bloß die Sonnenbrille auf“, war ein aufs andere Mal die Antwort. Beide kicherten dann immer, bis Lisa Sarahs Po mit einem Klaps aus der Garderobe schob.
Nichts wäre Sarah im Moment lieber gewesen, als mit Lisa Zeit zu verbringen.
„Was ist mit Graham?“, fragte sie.
„Wer ist Graham?“, gab Lisa erstaunt zur Antwort.
„Dein Freund!“
„Mein Freund?“
„Dein Freund!“
„Mein Freund ist René.“
„René?“
„Rene!“
So hätte das noch ewig weitergehen können, wenn Lisa nicht aufgeschreckt wäre, um ihr Handy aus der Innentasche ihres Blazers zu holen.
„Hi René, heute Abend hast du Hausverbot“, vernahm Sarah noch die Worte der über den Hof tänzelnden Lisa. Wo auch immer sie aus dem eng geschnittenen Blazer das Handy rausgekramt hat, Sarah wusste es nicht. Aber Lisa ohne Handy? Das war undenkbar. Sarah begann sich zu erinnern, wie sie sich kennengelernt hatten. Sie hatte im Büro gesessen und ihre Aktenberge durchstöbert. In dem Chaos war ihr auch noch die volle Kaffeetasse umgefallen. Wie aus dem Nichts wurde ihr eine zarte, wunderschöne Hand entgegengestreckt. „Hi, ich bin Lisa, und ich denke, dass wir gute Freundinnen werden.“
Sarah hatte die junge, hübsche Frau mit weit aufgerissenen Augen angesehen. Lisa hatte, die schönsten blauen Augen die sie je gesehen hatte.
„Was? Wie kommen Sie darauf?“ Sarah war so verdutzt gewesen, dass sie überhört hatte, wie Lisa sie gleich geduzt und somit ihren Dienstgrad missachtet hatte. Nicht, dass sie auf solche Förmlichkeiten großen Wert gelegt hätte, sie gehörten aber einfach dazu.
„Na sieh dich doch mal um. Du bist hier die einzige Schwanzlose, dein Schreibtisch sieht aus wie eine Müllhalde, wir sind beide hübsch und wie es aussieht, habe ich im Gegensatz zu dir Ahnung von Computern.“
Sarah hatte sich zurückgelehnt, um die Worte erst mal wirken zu lassen. Lisa hatte sie derweil angestarrt und leise geflüstert: „Ich sitze da hinten, hinter der Glaswand.“
„Falsch“, erwiderte Sarah bestimmend, ihr Gesicht immer auf Lisa gerichtet. „Das hinter der Glaswand ist mein Zimmer. Dein Schreibtisch ist hier. Der Computer steht da unten.“
„Was? Die Müllhalde?“
„Na denkst du, ich würde meinen Schreibtisch so einsauen?“ Sarah war mit einem überdimensionalen Lächeln aufgestanden. Im Fortgehen hatte sie sich kurz umgedreht und Lisa ein leises „Freundinnen“ zu gehaucht.
„Du hast wohl ne Meise!“, wurde sie lautstark aus ihren Erinnerungen gerissen. Sie hatte Recht behalten, sie waren mittlerweile beste Freundinnen geworden.
„Dreier, du spinnst wohl? Du geiler Bock!“, schrie Lisa in ihr Telefon, bevor sie es zuklappte.
„Graham?“
„Ne, René“, erwiderte Lisa eindringlich.
„Ach ja, stimmt ja.“
„Männer spinnen.“ Lisa klopfte sich mit dem Handy sanft auf den Mund.
„Du, ich kann auch woanders …“
„Spinnst du jetzt auch?“ Lisa schaute ihre Freundin entsetzt an.
„Er ist dein Freund.“ Noch vor einem Jahr hätte sie darauf nie Rücksicht genommen. Die Männer kamen immer erst an zweiter Stelle. Umgekehrt war es bei Lisa genauso.
„Und du bist meine Freundin. Was ist denn nun wichtiger? Rumvögeln kann ich auch ein anderes Mal.“
Sarah strahlte Lisa beruhigt und zufrieden an. Wenigstens daran hatte sich nichts geändert.
„Und? Ist René der Richtige?“
„Jeder, der gerade aktuell ist, ist doch der Richtige.“
Sarah sah ihre Freundin mit großen Augen an. Lisa hielt inne, legte ihren Mittelfinger auf ihre Unterlippe und machte den Eindruck, als wäre sie schwer am Grübeln.
„Bis er nicht mehr aktuell ist“, ergänzte sie. Beide lachten schallend los. Lisa sah Sarah an und bemerkte unweigerlich, dass ihre beste Freundin lieber geheult hätte.
„Komm her.“ Sie nahm Sarah in den Arm und spürte, wie die warmen Tropfen an ihrer Wange hängen blieben. „Ist schon gut, das wird wieder. Du bist stark genug, so was durchzustehen.“ Lisa blickte hoch zum siebten Stock. Noch immer wurden sie beobachtet.
„Na, bist du bereit?“
„Ja, ich glaube schon.“
„Kuntz auch.“ Lisa deutete, während sie das sagte, mit ihrem Kopf zur Fensterfront.
Sarah drehte sich um, um in den siebten Stock hoch zu schauen. Die Fenster waren leer.
„Wir sehen uns heute Abend. Schlüssel hast du ja noch.“
„Kommst du nicht mit?“ Fragend blickte Sarah zu Lisa.
„In den siebten Stock? Ich glaube nicht, dass Kuntz das so lustig findet.“
Sarah musste ihr recht geben. Sie konnte wohl kaum mit ihrer besten Freundin bei einem der höchsten Berliner Polizeibeamten aufzukreuzen, auch wenn sie Kuntz persönlich kannte.
„Bis dann.“
Die beiden Frauen küssten sich auf die Wangen. Sarah drehte sich um und ging schnurstracks unter Lisas Beobachtung ins Haus.
„Wo wollen Sie hin?“, erwartete Sarah im Foyer eine herbe, zackige Frauenstimme.
„Polizeidirektor Kuntz, siebter Stock.“
„Wir wissen, wo der Herr Polizeidirektor Kuntz sitzt. Sind Sie angemeldet?“
„Vorgeladen“, triumphierte Sarah.
„Sie sind?“
„Fender, Sarah Fender.“
„Dienstrang?“
„Zivilist.“
„Hier steht Hauptkommissarin im Ruhestand.“
„Zivilist“, wiederholte Sarah im gereizten Ton der uniformierten Empfangsdame. „Und wenn es da steht, wissen Sie doch, wer ich bin und wer von uns den höheren Dienstrang hat. Also!“
Die Dame am Empfang blickte Sarah an.
„Sie sind also Sarah Fender.“
Sarah lehnte sich gerade mit beiden Armen gegen den Empfangstresen, als eine nette Stimme hinter ihr erklang.
„Sarah Fender?“
„Ja?“
„Der Herr Polizeidirektor erwartet Sie.“ Mit einem smarten Lächeln deutete eine ältere Dame auf den Fahrstuhl. „Ist schon gut“, sagte sie zu der Frau hinterm Tresen.
„Sie müssen trotzdem durch die Sicherheitsschleuse“, wehrte sich die Empfangsdame.
„Ist schon gut“, wiederholte die ältere Frau eindringlich.
„Ich mach hier nur meine Arbeit“, verteidigte sich die Empfangsdame.
„Und das ist auch gut so“, beendete die andere das Gespräch, während sie Sarah vorsichtig am Arm nahm.
Sarah stand mit der Frau im Fahrstuhl und gemeinsam musterten sie die elektronische Anzeige der Etagen.
„Bin ich zu spät?“, fragte Sarah leise. Wenn sie mit Lisa zusammen war, vergaß sie öfters mal die Zeit.
„Nein, nein, alles in Ordnung. Keine Sorge“, bekam sie mütterlich zur Antwort, ohne dass die Frau ihre Augen von den Ziffern über der Fahrstuhltür ließ.
„Ich habe da eben ziemlichen Mist von mir gegeben.“
Fragend blickte Sarah in das Spiegelbild der Frau in der glänzenden Fahrstuhltür. Die Frau wandte sich Sarah zu.
„Na ja, was soll ich Ihnen sagen“, lächelte sie Sarah an. Sie musste ungefähr das Alter ihrer Mutter haben. „Theoretisch haben Sie einen höheren Dienstrang, das ist schon richtig. Aber Sie können doch nicht erwarten, dass wir den Innenminister an die Pförtnerloge setzen, damit die Diskussionen mit den Diensträngen aufhören.“ Sie sah Sarah belustigt in die Augen. Ihr Gesicht strahlte Wärme aus. „Aber Sie haben schon Recht, dass wir irgendwann über unsere eigenen Vorschriften und Anordnungen stolpern werden. So ist nun mal die Zeit.“
Während sie redete, musterte die Frau Sarah.
„Ja, so hat man Sie beschrieben. Sie sind Sarah Fender.“ Ein wohlwollendes Nicken begleitete ihre Worte.
„Beschrieben?“
„Seitdem Sie bei der Polizei sind, schwärmt der Direktor von Ihnen.“
„Oh, dann müssen Sie Theresa sein.“
„Sie kennen mich?“, fragte Theresa überrascht.
„Ich kenne Bernhard ganz gut. Er hat von Ihnen erzählt.“
Mahnend blickte Theresa zu Sarah.
„Polizeidirektor Kuntz! Bitte vergessen Sie nicht, wo wir hier sind, Frau Fender.“
„Einverstanden, aber nennen Sie mich Sarah.“
Der Klang des Gongs und das Rauschen der Tür beendete das Gespräch. Die Flure in der siebten Etage waren mit Auslegware versehen. Die Wände waren mit einer hässlichen Holzvertäfelung verkleidet. Daran hingen teils noch hässlichere Bilder. Je höher die Position, umso geschmackloser die Einrichtung, musste Sarah mal wieder feststellen. Da war ihr das selbst gemachte Chaos auf ihrem Schreibtisch schon lieber.
„Warten Sie hier“, flüsterte Theresa ihr wissend noch schnell ins Ohr und verschwand durch eine Tür. Sarah fiel auf, dass sie noch nie hier oben gewesen war. Sie betrat den Flur wie ein kleines Mädchen, das in eine geheime Welt vordrang. Wie musste es dann erst beim Polizeipräsidenten oder beim Innenminister aussehen? Sie setzte sich. Schräg gegenüber stand ein durchtrainierter Wachmann in einem schwarzen Anzug, der ihr höflich zulächelte.
Sarah lächelte zurück.
„Hallo.“ Der Wachmann nickte sanft. Die Ruhe war für Sarah unausstehlich.
„Immer hier?“, fragte sie und verdrehte im selben Augenblick ihre Augen wegen ihrer dummen Frage.
„Nur heute.“ Der Wachmann überraschte Sarah tatsächlich mit einer Antwort. Sarah blickte ihn fragend an.
„Der Innenminister ist im Haus“, versuchte er Sarahs ungestellte Frage zu beantworten.
„Was? Wegen mir?“ Sarahs Stimme klang piepsig.
„Nein“, schmunzelte der Wachmann und blickte aus dem Fenster. Sarah sah den hellgrauen, verkabelten Kopfhörer, der ihm im Ohr steckte. Unweigerlich musste sie an den Abend denken, wo auch sie so ein Ding im Ohr hätte gebrauchen können. Sie kam aber nicht dazu, die Erinnerungen zu vertiefen. Eine große Holztür ging auf, und Theresa bat sie höflich, ihr zu folgen.
„Mach’s gut, Bodyguard“, raunte Sarah mit einem Augenzwinkern dem Wachmann zu und folgte Theresa. Plötzlich wurde ihr wieder bewusst, warum sie eigentlich hier war. Theresa klopfte an einer schweren, doppelflügeligen Tür und trat sofort ein.
„Herr Polizeidirektor, Frau Sarah Fender. Bitte denken Sie an Ihren Termin mit dem Innenminister.“
„Danke Theresa. Bitte erinnern Sie mich noch mal eine Viertelstunde vorher daran.“
Sarah trat in ein riesengroßes Büro. Lisa würde erstmal den Konferenztisch entsorgen und ihre Badewanne mitten ins Zimmer stellen. Am anderen Ende stand der Schreibtisch von Bernhard Kuntz, dem Polizeidirektor im Polizeipräsidium Berlin, der gerade aufstand. Die Wände waren hier nur halbhoch getäfelt, sahen geschmackvoller aus, und die Wand darüber hatte einen warmen Gelbton. An der Rückseite des Zimmers stand ein Sideboard mit ein paar Bildern. Auf das Bild in der Mitte war Bernhard Kuntz wohl am meisten stolz. Er, der Innenminister und die Kanzlerin bei irgendeinem Empfang in trauter Dreisamkeit. Bernhard Kuntz drehte sich kurz um, blickte auf das Bild und kam Sarah entgegen.
„Tja, das war was.“
„Herr Polizeidirektor.“
„Frau Hauptkommissarin“, entgegnete Bernhard Kuntz verwundert. „Hat Theresa wieder ganze Arbeit geleistet.“
„Fender, Sarah, Zivilistin.“
„Hä, was?“ Bernhard Kuntz wunderte sich noch mehr.
„Nicht Hauptkommissarin, Zivilistin“, versuchte Sarah ihre Bemerkung zu rechtfertigen.
Kuntz blickte Sarah ernst an.
„Also erstmal bleibe ich weiterhin Bernhard für dich und du hoffentlich Sarah für mich.“ Er machte eine kurze Pause und nahm sie dabei väterlich rechts und links am Arm. „Zweitens bist du Hauptkommissarin im Ruhestand. Du behältst deinen Dienstgrad. Das müsstest du doch wissen, weil du schlau bist, und außerdem steht das in deinen Unterlagen, die du schon eine ganze Weile abholen solltest.“ Bernhard Kuntz hielt seine kleine Predigt für beendet. Ein Lächeln kam ihm übers Gesicht. „Komm, setz dich. Wie geht es dir?“ Er deutete mit dem Arm auf den Stuhl, der seinem Schreibtisch am nächsten stand. Sarah setze sich demonstrativ auf einen anderen Stuhl.
„Wie soll es mir schon gehen?“, versuchte sie ein wenig provokativ zu erwidern.
„Wie geht es Herbert?“, schob der Direktor gleich die nächste Frage hinterher.
„Seit gestern Abend?“ Sarah sah mit verkniffenen Augen zu Bernhard rüber und beugte sich, ihre Arme verschränkend, auf den Tisch.
„Hm, messerscharf“, raunte Bernhard Kuntz.
„Das hat nichts mit messerscharf zu tun. Du kennst meinen Vater bald länger, als ich alt bin. Man muss nicht bei der Polizei sein, um zu kombinieren, dass du mit ihm vorher sprichst, wenn du mich vorlädst.“
„Hm, hab ich eigentlich nicht. Wir haben gestern Abend nur kurz telefoniert. Du kennst doch deinen Vater, der hat immer was zu tun.“ Kuntz machte eine kurze Gedankenpause. „Was willst du jetzt machen?“
„Warum fragst du? Ich wollte nicht aufhören.“
„Weißt du, was das hier ist?“ Bernhard Kuntz nahm seine Hände und hielt sie weit gespreizt rechts und links neben die vor ihm liegende Akte.
„Meine Akte“, antwortete Sarah kurz und knapp.
„Richtig. Und siehst du auch, wie dick die ist?“
Sarah nickte.
„Die Hälfte davon sind medizinisch-psychologisch korrekte Gutachten, die dir eine Dienstunfähigkeit bescheinigen…“
Sarah fiel ihm ins Wort.
„Und die andere Hälfte sind hoffentlich meine Verdienste, Verhaftungen und Auszeichnungen aus mehr als fünfzehn Dienstjahren. Wer hat die Gutachten gemacht? Ärzte, die sich auf der Straße auskennen?“
Bernhard Kuntz lehnte sich zurück und musterte Sarah. Er wollte ihr nicht zeigen, dass er auf die Antwort nicht vorbereitet war.
„Aus deiner Akte geht hervor, dass dir eine Dienstunfähigkeitsrente zusteht. Außerdem bist du privat abgesichert. Wo ist dein Problem? Willst du die Gutachten anzweifeln?“
„Ich bin nicht dienstunfähig. Ich will wie jeder andere gerecht behandelt werden.“
„Du warst eigensinnig, hast vorschnell gehandelt und dich über Befehle hinweggesetzt.“
„Ich …“ Sarah machte eine kurze Pause. „Ich habe mich der Situation angepasst und instinktiv gehandelt. Wenn ich was falsch gemacht haben sollte, habe ich ausreichend dafür bezahlt.“ Sarah überlegte kurz, bevor sie weitersprach. „Wann warst du das letzte Mal auf der Straße? Du weißt nicht, was draußen los ist, genau wie diese Ärzte.“
Bernhard Kuntz sprang auf. Er zögerte kurz, erinnerte sich, wie er unfreiwillig mit Frank Wagner vor nicht allzu langer Zeit in vorderster Front agierte. Zu gerne hätte er Sarah davon berichtet, dass Haagedorn tot ist, aber die Sache sollte nicht publik gemacht werden. Sarah gehörte nicht mehr zu den Leuten, die eingeweiht sein sollten.
„Vergiss bitte nicht, mit wem du hier redest.“
Eine lähmende Stille machte sich breit.
„Ich muss gleich zum Innenminister. Ich muss dich hoffentlich nicht darauf hinweisen, dass du als Hauptkommissarin im Ruhestand trotzdem weiter unter Eid stehst.“
Die Stimme von Bernhard Kuntz klang nun kalt und unbeteiligt.
„Das stehen die anderen auch.“ Sarah blickte aus dem Fenster. „Was willst du damit sagen?“
„In den Dienstvorschriften steht nichts davon, seine Kollegen im Stich zu lassen.“
„Was wirfst du ihnen vor? Dass sie sich im Gegensatz zu dir an die Befehle gehalten haben?“
Sarah drehte sich wieder Bernhard zu.
„Wäre ich da nicht reingegangen, wäre Haagedorn weg gewesen.“
„Sarah“, mahnte Kuntz eindringlich. „Haagedorn ist weg.“ Wieder zögerte er. „Der Stoff ist weg, das Geld ist weg, und ich habe eine hervorragende Polizistin verloren.“
„Aber nur, weil die anderen mich im Stich gelassen haben.“ Sarahs Stimme wurde lauter.
„Ob allein, zu zweit oder zu sechst, in einem unübersichtlichen Terrain gegen Haagedorn und seine ganze Truppe, du musst doch verrückt gewesen sein. Du hast doch lange genug den Fall bearbeitet. Du musstest doch wissen, was das für Verbrecher sind. Meinst du, die machen halt vor einer Polizistin?“
„Verrückt. Ich muss verrückt gewesen sein, mich auf die anderen zu verlassen.“
„Sei froh, dass du heil davon gekommen bist.“ Im selben Augenblick bereute Bernhard Kuntz seine Wortwahl. Er schaute aus den Augenwinkeln zu Sarah.
„Heil?“ Sarah verschluckte den Satz. Sie blickte wieder aus dem Fenster und merkte, wie ihr die Tränen langsam über die Wange liefen. Scheiße, dachte sie sich, genau das wollte sie verhindern.
„Was macht deine Hand?“
Sarah blickte kurz auf die Innenfläche ihrer linken Hand. Die vielen kleinen Narben würden sie ein Leben lang an den zerborstenen Spiegel erinnern, in den sie in dieser Nacht, um ihr Gesicht zu schützen, gefasst hatte. Aber mehr noch machte ihr ihre Schulter zu schaffen.
„Wird besser.“
„Herbert befürwortet die Entscheidung, dich in den Ruhestand zu entlassen, schließlich auch.“
Wie ein Blitz schlug Bernhards letzter Satz ein. Sarah ballte ihre linke Hand zur Faust und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Sie bekam Hitzewallungen, die ersten Schweißperlen traten ihr auf die Stirn. Ihr lief es heiß und kalt den Rücken runter. Was um alles in der Welt hatte ihr Vater damit zu tun? Zog ihr Vater im Hintergrund schon wieder die Fäden? Haben die beiden alten Männer schon wieder die Köpfe unter eine Decke gesteckt? Ihr wurde speiübel.
„Ich bin fünfunddreißig Jahre alt!“
Bernhard antwortete nicht. Es vergingen ein paar Minuten, in denen kein Wort fiel. Kuntz schaute auf die Uhr. Er nahm vorsichtig Sarahs Entlassungsurkunde aus der Akte, stand auf und bewegte sich mit schweren Schritten auf sie zu. Sarah blickte weiter aus dem Fenster. Die Tränen liefen ihr übers Gesicht. Mit dem Unterarm wischte sie sich wie ein kleines Kind über ihre Wangen. Bernhard legte die Urkunde neben Sarah auf den Tisch, holte aus seiner Jacketttasche ein Taschentuch und reichte es ihr. Sarah musterte das Taschentuch. Es war aus Stoff. Alte Schule, dachte sie. Bernhard Kuntz legte seine Hand auf ihre Schulter, seufzte und ging langsam zur Tür. Unglücklich wanderte Sarahs Blick durch den Raum, bis er an der Tür hängen blieb. Bernhard stand an der Tür, legte eine Hand auf die Klinke und nickte nur kurz. Als Sarah auf seiner Höhe war, öffnete er ihr die Tür. Sie ging ohne ein Wort und einen Blick für Bernhard durch die Tür.
„Sarah.“
Sie hielt inne.
„Ich halte dich immer noch für eine sehr gute Polizistin.“
Sarah drehte sich weg und lief den Gang lang. Ihr Schritt wurde immer schneller. Die Tränen rannen ihr nur so über das Gesicht. Wie wild drückte sie auf den Fahrstuhlknopf, immer wieder. Der Wachmann wollte ihr helfen.
„Alles in Ordnung? Kann ich Ihnen helfen?“
„Die Treppe! Wo verdammt ist die Treppe?“
Sarah ging auf den Fingerzeig des Wachmanns hin durch eine Tür. Sie rannte die Treppe runter und stürzte vorbei an der überraschten Empfangsdame im Foyer hinaus durch das Eingangstor. Endlich draußen hielt sie kurz inne und holte erstmal tief Luft. Die Stufen der Vortreppe nahm sie mit einem Sprung. Sie rannte und rannte und blieb erst vor dem Polizeipräsidium stehen.
Bernhard Kuntz schaute Sarah auf dem Flur noch hinterher. Die fragenden, auseinander gehaltenen Arme des Wachmanns beantwortete er nur kurz mit einem Kopfschütteln. Er schloss die Tür und sah am anderen Ende des Raumes Theresa mit verschränkten Armen und einem Taschentuch in der Hand aus dem Fenster schauen. Er machte einen Schritt zu dem ihm nahe liegendem Fenster und schaute ebenfalls auf den Hof. Die Hände vergrub er in seinen Hosentaschen. Man konnte das Ticken des Sekundenzeigers der kleinen Tischuhr hören.
„Der Innenminister …“, begann Theresa leise ihren Satz.
Bernhard Kuntz und Theresa blickten gebannt auf den Hof, den Sarah gerade überquerte.
„Ich kann es ihr nachfühlen“, flüsterte er.
„Sie wissen gar nicht, wovon Sie reden“, entgegnete Theresa in ungewohnt harschem Ton.
„Ich weiß, wie es ist, wenn man von seinen Kollegen im Stich gelassen wird.“
Theresa schaute zur Seite. Ihr scharfer Blick traf den Polizeidirektor. Er spürte das genau, reagierte aber nicht.
„Sarah fühlt sich nicht nur von ihren Kollegen im Stich gelassen, Herr Direktor.“
Ganz langsam aber deutlich sprach Theresa den Satz in seine Richtung.
„Von wem denn sonst noch?“, fragte er. Theresa schwieg.
Er kannte die Antwort und war froh, dass Theresa ihn nicht damit konfrontierte.