Читать книгу Totenwache - Tonda Knorr - Страница 8
Kapitel 6
ОглавлениеDie Sonne knallte erbarmungslos vom Himmel. Was für ein Sommer! Berlin war im Fußballfieber. Entweder waren die Straßen wie leergefegt oder sie quollen über vor lauter Menschen. Jacob Minsky stieg aus seinem BMW.
„Alter, warum haste keene Fahnen am Auto?“
Minsky dreht sich um. Er musterte die drei Jungs, die mit ihren Fahrrädern auf dem Gehweg rumlungerten.
„Weil dt ein Polizeiwagen is und ick Bulle bin.“
„Dürft ihr wohl nich.“
Minsky blickte den offensichtlichen Redensführer der Truppe belustigt an, stützte seine Hände auf die Oberschenkel und beugte sich zu ihm vor.
„Ick will nich.“
Einer der Jungs stand auf.
„Als Bulle musste dich aber postio … postituieren …“
Sichtlich überrascht richtete Minsky sich wieder langsam auf. „Det heißt positionieren.“
„Mir doch egal wie det heißt.“
Minsky wischte sich, genervt von der Sonne und dem Gequatsche des Jungen übers Gesicht.
„Sagt mal, warum sitzt ihr nicht vor der Glotze und guckt Fußball?“
„Is grad ’n Gurkenspiel, außerdem is dit da interessanter.“ Die Jungs zeigten gleichzeitig hoch zu einem Balkon. Minsky drehte sich in die Richtung des Fingerzeigs. Die Sonne blendete, und er musste ein Auge zukneifen. Auf einem der Balkone sah man über die Brüstung die Beine eines Mannes verkehrt herum an der Decke hängen. Minsky musterte die Häuserfront.
„Is och’n Bulle“, drehte er sich zu den Jungs um.
„Dit da is Frank.“
„Frank is n Bulle.“
„Aber nich so wie du, der is cool.“ Die Jungs brachen in Gelächter aus.
„Wie is denn ein cooler Bulle?“, wollte Minsky nun wissen. „Na wie Frank. Der hört uns auch mal zu. Der nimmt uns für voll, und der pisst uns nicht gleich an, wenn uns mal ne Kippe runterfällt. Nich so ein Schnösel wie du.“
„Verpfeift euch bloß …“ Minsky zog genervt von dannen und ging auf das Haus zu. Er blickte mit einem Stirnrunzeln hoch zum Balkon. Durch die Sprechanlage hörte man eine junge Mädchenstimme.
„Hallo? Wer ist da?“
„Jacob.“
„Welcher Jacob?“
„Minsky, Jacob Minsky.“
„Kenn ich nicht.“
„Franzi, hör auf zu spinnen!“, hörte Minsky eine ältere Dame im Hintergrund rufen. Er erschrak von dem klirrenden Geräusch des Türsummers.
Die Wohnungstür stand einen Spaltbreit offen. Als Minsky an die Türklinke fassen wollte, wurde die Tür von innen aufgerissen.
„Hallo!“
„Hallo Franzi.“ Minsky trat in die Wohnung. Als Begrüßung tätschelte er grinsend dem jungen Mädchen den Kopf. Er wusste, dass sie das nicht mochte, aber irgendwie musste er sich ja für die Fragen an der Sprechanlage revanchieren.
„Ich heiße Franziska und nicht Franzi.“
„Ja ja.“ Minsky schlenderte durch die Wohnung. Er kannte sich hier aus. Er blickte noch mal zu Franziska.
„Papa?“
„Hängt mal wieder uf’m Balkon.“
Minsky war schon dahin unterwegs. Auf Höhe der Küche sah er Franks Mutter, Franziskas Oma, hantieren.
„Hallo Frau Wagner.“
„Hallo Jacob.“
„Frank?“, fragte Minsky mehr aus Höflichkeit noch einmal. Franks Mutter zeigte nur auf den Balkon. Minsky schaute in die Richtung der Balkontür. Sein Blick schweifte durchs Wohnzimmer. Alles sah aus wie immer. Der Fernseher lief. Auf dem Tisch lagen Zeitungen. An der Wand hingen Fotos. Alle sorgsam gerahmt. Sie zeigten Frank mit irgendwelchen durchtrainierten Typen bei verschiedenen Wettbewerben. Hier ein Pokal, da ein Pokal, leicht bekleidete Frauen rechts, Schlipsträger links. Auch ein Bild mit ihm und Polizeidirektor Kuntz hing an der Wand. Dann fiel Minskys Blick auf das Bild von Franziska und ihrer Mutter. Frank hatte es damals aufgenommen. Fast vier Jahre war es nun her. Franziska und ihre Mutter saßen sich nackt am Strand gegenüber. Ihre Haut war mit Sand überzogen. Die Augen hatten sie geschlossen und die Nasenspitzen berührten sich. Franziska war damals sechs Jahre alt. Sie hatte wie ihre Mutter nur ein hauchdünnes Tuch um den Kopf gewickelt. Sie wollte immer aussehen wie ihre Mutter. Als ihre Mutter keine Haare mehr hatte, wollte sie das auch. Franks Mutter stand mittlerweile neben ihm.
„Damit würde er jeden Wettbewerb gewinnen.“
Minsky lächelte. „Wie geht’s ihm?“
„Du kennst ihn doch. Wie soll es denn einem gehen, der suspendiert ist?“
„Ist er nicht mehr.“
„Was?“
„Ist er nicht mehr.“
„Na endlich. Willst du ein Bier, schön kalt?“
„Bin im Dienst.“ Minsky bewegte sich langsam in Richtung Balkon. „Und erstmal abwarten. Das ist kein normaler Dienst.“ Franks Mutter rollte die Augen und ging mit zwei kalten Bier hinterher auf den Balkon. Sie kannte ihre Jungs.
Minsky lehnte an der Balkonbrüstung. Unten auf dem Gehweg lungerten immer noch die Jungs. Mit den Fingern deutete er eine Pistole an und zielte auf die Jungs. Die Jungs winkten nur ab. Minsky drehte sich zur Seite, lehnte jetzt mit dem Rücken zur Brüstung und nahm von Franks Mutter, ohne zu zögern, das eiskalte Bier entgegen. Frank hing immer noch mit den Füßen an der Balkondecke. Mit speziell angefertigten Halterungen hatte er sich an einem Gestänge an der Decke eingehängt und machte im Hängen seine Situps. Sein Oberkörper war frei. An ihm war kein Gramm Fett. Durch die Schweißperlen wurde das Muskulöse nur noch unterstützt.
„Ist ja ekelhaft, so ein Körper ohne Fehl und Tadel“, scherzte Minsky.
Frank griff nach dem Bier und trank es, noch während er an der Decke hing.
„Prost Alter!“
Minsky deutete ein Zuprosten an, ohne ein Wort zu verlieren. Beim Trinken drehte er sich so, dass ihn die Jungs auf der Straße sehen konnten. Aus dem Augenwinkel beobachtete er, wie denen die Zungen aus dem Hals hingen. Die Sonne ballerte immer noch gnadenlos.
„Lass den Quatsch.“ Frank hängte sich aus und stand nun mit hochrotem Kopf aufrecht neben ihm. Er schüttelte den Kopf und rieb sich mit Daumen und Zeigefinger den Schweiß aus den Augenhöhlen. Jetzt begrüßten sie sich mit einem Handschlag.
„Das ist hier keine Schicki-Micki-Gegend. Die haben keine Kohle für’n Bier. Die kommen auf die Idee und überfallen den alten Krauter an der Ecke, und dann müssen wir wieder ran. Besser gesagt du im Moment.“ Frank winkte den Jungs zu. Die sprangen auf und winkten zurück während er sich mit beiden Armen auf die Brüstung lehnte. „Dienstlich?“
Minsky blickte Frank ins Gesicht. „Du bist wieder im Dienst.“
„Cool, ich hatte mich zwar gerade dran gewöhnt, aber was soll’s.“
„Warte, warte, nicht, was du denkst.“
Frank blickte fragend zu Minsky. Die beiden setzten sich hin. Minsky legte Franks Dienstwaffe und seine Polizeimarke auf den Balkontisch.
„Hey, hey, Franziska muss so was nicht haben.“
„Na sollte ich die in Briefkasten schmeißen?“
„Komm, erzähl.“
Minsky kramte in seiner Jackentasche und zerrte ein paar Blätter vor. Frank begann zu lesen. Nach einer Weile schaute er zu Minsky auf.
„Sonderkommission zur Aufklärung von Kriegs- und Nachkriegsverbrechen auf deutschem Territorium?“ Minsky reagierte nicht, beobachtete Frank nur.
„Glostelitz?“ Frank verzog sein Gesicht. „Was soll der Scheiß? Polen?“
„Quatsch. Glostelitz liegt in Brandenburg. Irgendein Kuhkaff.“
„Im Osten? Na, schönes Ding.“
„Nee, westlich von Berlin.“
Frank sprang auf und lief hin und her. „Ich meine den Osten und nicht die Himmelsrichtung. Mann, ich bin Polizist, ich gehöre auf die Straße, hier auf die Straße und nicht in so ein Zonenkaff.“ Frank machte eine kurze Pause. „Und was für eine Sonderkommission? Was für Kriegsverbrechen? Spinnen die? Wessen Idee war das?“
„Kuntz.“
„Der alte Sack. Der will mir bloß eins auswischen. Haben die keine eigenen Leute? Was soll ich denn da?“
„Steht doch alles da drin.“ Minsky stand jetzt auch auf.
„Da steht drin, dass ein paar Knochen und ’ne Knarre gefunden wurden, aber nichts darüber, warum da ein Berliner Polizist hin muss.“
„Mann, von der Sonderkommission hat doch keiner eine Ahnung von einer polizeilichen Untersuchung. Die haben zwei Stellen, in Berlin und Dresden. Die finden vielleicht alle paar Jahre mal einen Knochen oder ein altes Kriegsgrab.“
„Da braucht’s doch keine polizeiliche Ermittlung.“
Minsky verstand Frank nur allzu gut, hatte aber keine Lust, ihm den ganzen Mist zu erklären.
„Scheiße, ich weiß doch auch nicht, was der Quatsch soll.“
Frank setzte sich wieder und trank noch einen Schluck aus seiner Flasche.
„Scheiße! Wann geht’s los?“
„Morgen.“
„Wann holst du mich ab?“
„Gar nicht.“ Als Jacob antwortete, schaute er Frank ins Gesicht. Er musste nicht lange warten, bis sich ihre Blicke trafen.
„Was?“
„Nur du.“ Minsky verzog den Mund. Frank schloss die Augen. „Na bravo…“, murmelte er vor sich hin. „Und wie komm ich da hin?“
Minsky wühlte in seiner Hosentasche.
„Hier.“ Auf dem Balkontisch landete der Autoschlüssel.
„Sonst noch was?“
„Einmal die Woche will Kuntz informiert werden. Ansonsten hast du wohl alle Zeit der Welt“, schickte Minsky beiläufig hinterher.
„Schon klar. Damit ich hier schön lange aus dem Verkehr bin.“ Die beiden erhoben sich.
„Und grüß mir die Hühner.“
Frank rüffelte Minsky für die Bemerkung mit einer Kopfnuss, während er ihn durchs Wohnzimmer geleitete. Franks Tochter saß vertieft vor dem Fernseher.
„Mach’s gut, Franzi.“ Minsky tätschelte dem Mädchen wieder den Kopf. Als ob sie sich abgesprochen hätten, erwiderten Frank, seine Mutter und Franzi:
„Franziska.“
*
Als Sarah erwachte, musste sie mal wieder feststellen, dass ihr das Schlafen auf der Couch einfach nicht bekam. Sie fühlte sich gerädert. Ihr sehnsüchtiger Blick ging zu der alten Holztreppe, die immer noch nicht repariert war und ihr somit die Nutzung der oberen Etage verwehrte. Erschwerend kamen noch die Ereignisse um die alte Frau und die Geheimniskrämerei von Pfarrer Gram hinzu. Die ganze Nacht hatte sie sich hin- und hergewälzt. Die Vorkommnisse ließen ihr keine Ruhe. Ihr Instinkt sagte ihr, dass es Zeit war, Licht ins Dunkel zu bringen. Sie taumelte schlaftrunken zum Küchentisch, um sich zu notieren, dass sie unbedingt mit ihrem Vater über die Reparatur der Treppe reden musste. Vor allem nervten sie die umherstehenden Möbel. Oben war eine ganze Etage leer, und unten im Wohnzimmer konnte sie kaum treten. Mit Wohnlichkeit, auf die sie eigentlich immer Wert legte, hatte das nichts zu tun. Sarah legte den Zettel beiseite, rieb sich verschlafen die Augen und wollte sich einen Kaffee brühen. Sie registrierte, dass Gustavs Raupe heute mal nicht zu nachtschlafender Zeit rumröhrte, vernahm aber ein ihr nicht bekanntes Stimmwirrwarr und ein reges Treiben auf ihrem Hof. Die Augen, von der Sonne geblendet, noch zugekniffen, versuchte sie, durch das Küchenfenster etwas zu erkennen. Als erstes fielen ihr die zahlreichen rot-weißen Bänder auf, mit denen der halbe Hof um die Scheune abgesperrt war. Sogar Gustavs Raupe war abgesperrt. Sarah konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Gustav war weit und breit nicht zu sehen. Vermutlich saß er in seinem alten Bauwagen an der Straße und schaute wie immer, wenn er nichts zu tun hatte, fern. Früher stand der alte Bauwagen in seinem Garten, aber seit seine Frau vor Jahren gestorben war, hatte er den Garten seinen Kindern überlassen. Er hatte sich mit seinem alten Fernseher in den Bauwagen zurückgezogen und zog so seither von Baustelle zu Baustelle. Sarahs Vater hatte Gustav irgendwann mal aufgegriffen als er, wie er sagte, damit begonnen hatte, neue Wege zu gehen und nicht nur mit Maschinenbau, sondern auch mit dem Bau von Werkstätten und Gewerbehallen sein Geld zu verdienen. Herbert Fender sagte immer: „Wenn die Leute unsere Maschinen kaufen, wollen sie die schließlich auch irgendwo reinstellen.“ Seitdem gehörte Gustav dazu, und Sarah hatte, wenn sie mal aus dem Großstadttrubel raus musste, manchen Abend nach ihrem Polizeidienst bei ihm im Bauwagen gesessen und mit ihm stillschweigend ferngesehen. Gustav hatte sie dann von seinem Bier trinken lassen, und Sarah hatte ihm dafür oft genug einen Hamburger mitgebracht. Sie kannte keinen aus der Kriegsgeneration, der mit so einer Wonne wie Gustav amerikanisches Fast Food verschlang. Er strahlte dabei immer, blickte mampfend zu Sarah und sagte: „Wenn det meine Gerda sehen könnte, die würde mir den Löffel langziehen.“
Sie beobachtete das Treiben der Leute. Vermutlich gehörten sie zu der Sonderkommission aus Berlin. In weißen Overals buddelten sie mit kleinen Schaufeln wie die Laubenpieper in den von Gustav zusammengeschobenen Erdhügeln. Am Rand lagen schon einzelne Plastiktüten, in denen die Knochenreste untergebracht waren. Sarah wandte ihren Blick wieder der Kaffeemaschine zu und bemerkte dabei, dass nicht unweit vor ihrem Fenster ein Mann mit dem Rücken zu ihr stand und über die weiten Felder starrte. Groß, athletisch, wie ein einzelner Baum in der Landschaft, stand er da. Die Arme verschwanden in den Seitentaschen seiner Jacke. Sarah schüttelte den Kopf. Nur ein Kripobeamter zog bei so einem Wetter eine Jacke an. Macht sich ja auch nicht gut, mit T-Shirt und Pistolenhalfter durch die Welt zu marschieren. Gerade im Sommer hätte auch sie viel lieber mal ein Kleid angezogen, aber für eine Polizistin war das kaum möglich. Sie verzog den Mund und stellte resümierend fest, dass sie das Problem ja nun nicht mehr hatte. Ihr Blick klebte förmlich am Rücken des Mannes. Sein Kopf drehte sich in Richtung der Männer, die wie besessen in der Erde wühlten. Sarah nahm sich ihre Tasse und ging zur Tür. Die Türklinke schon in der Hand, zuckte sie zurück und beschloss, sich mal doch lieber eine Hose anzuziehen.
Barfuß schritt sie durch die Tür. Der Mann stand noch genau in derselben versteinerten Pose da wie kurz zuvor. Nicht die kleinste Reaktion konnte sie auf das erhebliche Knarren ihrer Haustür hin registrieren. Sarah blieb zwei Schritte hinter ihm stehen.
„Sie sind?“
„Kriminalkommissar Wagner, Frank Wagner.“
Der Mann drehte seinen Kopf, ohne seinen Körper zu bewegen, langsam um. Gerade wollte er gleichgültig den Kopf wieder zurücknehmen, als er beim genaueren Hinschauen die Hände aus den Taschen nahm und seinen ganzen Körper Sarah zuwandte. Er musterte sie von oben bis unten. Obwohl Frank sich für relativ abgebrüht hielt, konnte er ein erstauntes Lächeln nicht verbergen.
„Wenigstens ein Lichtblick“, murmelte er vor sich hin. Sein Blick schweifte von Sarahs offenem, langem Haar über ihr vielleicht einen Knopf zu weit geöffnetes Hemd und die enge Jeans nach unten zu ihren unbekleideten Füßen. Sarah bemerkte die Musterung, und obwohl sie davon überzeugt war, dass ihr Gegenüber nicht zu viel Einblick hatte, hielt sie sich mit der Hand das Hemd zu. Fragend, mit großen Augen blickte sie zu Frank. Sie nickte kurz und wollte damit ihrer Verwunderung Ausdruck verleihen.
„Die schicken also einen Kriminalkommissar, um ein paar Knochen zu sortieren.“
„Die“, betonte Frank, „haben vermutlich Angst, dass einer der Knochen bewaffnet ist.“
Frank grinste, bis er bemerkte, dass Sarah seinen Spruch wohl nicht so witzig fand.
„Wer sind Sie denn?“
„Sarah Fender.“ Sarah erwischte sich dabei, wie sie sich beinahe mit ihrem Dienstgrad vorgestellt hätte.
„Sie gehören hierher?“
Frank musterte das alte Gehöft.
„Ich wohne hier, aber der Hof gehört meinem Vater.“
„In der Akte steht was anderes“, erwiderte Frank kurzsilbig und blickte dabei auf die auf dem alten Tisch liegende Akte.
„Was?“ Sarah konnte ihre Verwunderung nicht verbergen und wollte sich die Akte greifen.
„Na, na, na.“ Frank kam ihr zuvor und schob die Akte beiseite. „Das ist eine polizeiliche Ermittlungsakte.“
„Na und?“
Schon wieder. Sarah verhielt sich erneut nicht wie ein normaler Zivilist. Frank blickte ihr verwundert ins Gesicht.
„Tschuldigung.“
„Da hat Papi dem Töchterchen ein Haus gekauft und …“ Frank hielt inne und verschluckte den Rest des Satzes, als er Sarahs aufgerissene Augen sah. „Na ja. Sollte vielleicht eine Überraschung sein.“
Sarah hörte gar nicht richtig zu. Ihr Vater hatte mit keinem Wort erwähnt, dass ihr der Hof gehörte.
„Spielt eigentlich auch keine Rolle. Was machen Sie beruflich, Frau Fender?“, fragte Frank weiter.
„Nichts“, stotterte Sarah. „Nichts mehr“, ergänzte sie schnell. Erschrocken musste sie feststellen, wie schwer es ihr fiel, auf diese Frage zu antworten.
„Ah, von Beruf Tochter.“
„Was spielt das denn für eine Rolle? Ich bin keine Tochter von Beruf“, giftete Sarah zurück.
„Keine“, entgegnete Frank knapp und drehte sich ab.
„Was keine?“
„Na keine Rolle meine ich.“
„Warum ist das eine polizeiliche Ermittlung? Ich dachte, das ist ein Fall für die Sonderkommission zur Aufklärung …“
Sarah entging nicht, wie überrascht sie der Kommissar ansah.
„Ja?“
„Na halt irgend so eine Sonderkommission für Kriegsverbrechen.“
„Die sind ja da.“ Mit dem Kopf deutete Frank zu den Männern hinter den Absperrbändern.
„Sie kennen sich aus?“, bohrte Frank weiter.
„Hat der Wachtmeister äh …“
„Rieck, Wachtmeister Rieck“, half Frank weiter.
„Genau, hat Wachtmeister Rieck die so schnell rangeholt?“, setzte Sarah ihren Satz fort.
„Also in der Akte steht, dass die Sonderkommission direkt vom Polizeipräsidium beauftragt wurde, und in einer Randnotiz ist vermerkt Telefonat Lisa …“. Frank überlegte.
Sarah wurde verlegen und dachte bei sich, Wenger heißt sie. „Wie auch immer, auf alle Fälle ist es doch nicht alltäglich, dass bei so etwas die Kripo eingeschaltet wird.“
Frank blickte wieder über die Felder.
„Keine Ahnung. Ich kenn mich damit nicht aus. Der Polizeidirektor hielt es für notwendig. Also bin ich hier.“
„Traumjob, was?“
Frank drehte sich zu Sarah um.
„Da wir gerade bei Träumen sind, was macht denn so eine junge, hübsche Frau hier inmitten dem ganzen Viehzeug auf dem Lande?“
„Wo sehen Sie denn hier Viehzeug?“, fragte Sarah. Frank blickte sich um.
„Ich heiße übrigens Frank“, überging er die Frage.
„Das sagten Sie schon, Kommissar Frank Wagner. Und ich heiße Fender, Sarah Fender.“
„Ich wollte nur ein bisschen das Eis brechen.“
„Ich steh auf Eis“, erwiderte Sarah forsch.
Frank blickte Sarah beeindruckt an. Sarah dagegen ging Frank einen Schritt entgegen und positionierte sich vor ihm.
„Wir können uns ja zum Anfang darauf einigen, dass Sie Ihre Arbeit machen.“ Sarah blickte den Kommissar neugierig an und musterte genau sein Gesicht. Es passte mit seiner Herbheit genau zu seiner männlichen Gesamtausstrahlung. Seine Mundwinkel verbargen ein verschmitztes, fast schüchternes, aber süßes Lächeln, die Augen funkelten, der Dreitagebart und der dezente Geruch eines Eau de Toilette ließen ihn wie einen Typen aus der Fernsehwerbung aussehen. Vermutlich wusste er das auch, aber nichtsdestotrotz musste Sarah sich eingestehen, dass er durchaus in Lisas und ihr Beuteschema gepasst hätte. Im Moment stand ihr der Sinn aber nach allem anderen, bloß nicht nach einem Mann.
„Danke.“
„Danke wofür?“
„Für die junge, hübsche Frau.“
Franks verschmitztes Lächeln wurde breiter. Sein Blick ging von Sarahs Gesicht runter zu der Kaffeetasse in ihrer Hand. „Bekomm ich auch einen?“, fragte er.
Ohne ihren Blick von Franks Gesicht zu lassen, drückte sie ihm ihre Tasse in die Hand, wandte sich ab und ging langsam ins Haus.
„Wo wollen Sie hin?“
„Ins Haus, oder bin ich verhaftet?“ Ohne sich umzudrehen, ging Sarah weiter.
„Ich müsste aber noch ein paar Fragen mit Ihnen klären.“
„Fragen Sie meinen Vater. Der kann Ihnen vermutlich mehr erzählen.“
Frank zuckte mit den Schultern.
„Und wo find ich den?“
Sarah zeigte mit dem Arm zur Straße.
„Kommt gerade, und hören Sie auf, mir auf den Arsch zu glotzen.“ Sarah verschwand im Haus.
Frank blickte abwechselnd zur Straße und zu der offen stehenden Haustür. Er kniff die Augen etwas zusammen und grübelte. Er hatte Sarahs Vater noch nicht bemerkt. Der war gerade angekommen und stieg aus dem Auto.
„Na Bravo, ein fetter Mercedes“, sprach Frank leise zu sich selbst. Er hatte doch Sarah Fender die ganze Zeit im Blick. Wie konnte sie bei dem ganzen Trubel, den die Sonderkommission verursachte, ohne auch nur einmal in die Richtung der Straße zu schauen, mitbekommen, dass ihr Vater kam? Frank verzog die Mundwinkel und starrte auf das Dunkle in der offen stehenden Tür.
Er drehte sich zur Straße und beobachtete, wie Sarahs Vater mit einem älteren Mann sprach. Ihre Blicke trafen sich. Herbert Fender zeigte auf Frank. Vermutlich hatte er den alten Mann, gefragt, wer er sei. Die Männer kamen auf ihn zu. Herbert musterte die Männer von der Sonderkommission. Sein Blick ging fragend zum Kommissar. Langsam ging er ihm entgegen. Frank blickte mit zugekniffenen Augen in die Sonne und stöhnte. Langsam zog er seine Jacke aus. Herbert Fender war fast auf Franks Höhe.
„Gut, meine erste Frage hat sich gerade erledigt. Sie sind vermutlich irgendein Kripobeamter?“
Frank schaute kurz runter auf sein Pistolenhalfter.
„Tut mir leid, aber die Hitze… Kommissar Wagner, Kripo Berlin. Sie sind vermutlich Herr Fender?“
„Wie kommen Sie darauf?“
„Sie haben denselben kurzsilbigen Humor wie Ihre Tochter.“
„Ah, auch noch ein feinsinniger Polizist“, erwiderte Herbert Fender.
Frank drehte sich wieder zur Haustür und setzte ein gespieltes Lächeln auf. „Hab ich’s nicht gesagt?“
„Sagen Sie mal, was soll der ganze Zirkus? Hier soll gebaut werden, hier soll Geld reingesteckt werden. Ich habe keine Zeit für solchen Kinderkram.“
Frank, der Herbert Fender mittlerweile den Rücken zudrehte, legte behutsam seine Jacke auf die Akte. Er verharrte kurz und redete mehr mit sich selbst als mit Herbert Fender.
„Kinderkram?“ Langsam drehte er sich um.
Herbert verfolgte aufmerksam, wie der Kommissar die Ärmel seines Shirts hochzog.
„Was? Wollen Sie mir jetzt eine reinhauen?“
„Sollte ich?“
„Herr Kommissar, das ist mein Vater, Herbert Fender. Herbert, das ist Kommissar Frank Wagner aus Berlin. Richtig?“ Die Frage untermauerte Sarah, die mittlerweile wieder in der Haustür stand, mit einem Blick zu Frank. Wagner nickte. Sein Schmunzeln verriet, dass er Sarahs Spitzzüngigkeit verstanden hatte. „Er wurde direkt vom Polizeipräsidium beauftragt. Richtig?“
„Was? Von Kuntz?“
Frank schaute überrascht zu Herbert Fender: „Sie kennen den Polizeidirektor?“
„Woher kennt Sie meine Tochter?“
Frank schaute zu Sarah.
„Wir kennen uns nicht, aber wir hatten gerade das Vergnügen, uns zu begrüßen.“
Sarah nahm mit den zwei Kaffeetassen in ihrer Hand auf dem Tisch Platz.
„Bitte, die Herren.“
Sie zeigte auf die Tassen, und während sie sich ihre Tasse griff, versuchte sie unauffällig, die Akte unter Franks Jacke hervorzuziehen.
Frank entging das nicht. Er nahm mit einer Hand seine Tasse und schob mit der anderen die Akte unter seine Jacke. Verschmitzt lächelte er dabei Sarah zu. „Danke.“
Wieder roch Sarah diesen dezenten Geruch. Scheiße, warum roch der so gut? Sarah stand auf gepflegte Männer. Sie musterte seine Oberarme, die in dem T-Shirt richtig zur Geltung kamen. Als sich ihre Blicke trafen, fühlte sie sich ertappt.
„Kinderkram“, nahm Frank den Gesprächsfaden wieder auf. „Sie nennen das Kinderkram?“ Frank wandte sich an Sarahs Vater. „Wissen Sie, ich verstehe durchaus, dass Ihnen das ungelegen kommt. Eines können Sie mir glauben. Mir passt das hier genau so wenig wie Ihnen, aber ich bin nun mal hier, und wir müssen das hier über die Bühne kriegen. Was auch immer hier passiert ist, Kuntz will es wissen, und glauben Sie mir, die SOKO wäre nicht hier, wenn es sich um Kinderkram handeln würde.“
„Das sind doch nur ein paar Knochen.“ Herbert Fender gestikulierte wild mit den Armen.
„Und ne Knarre und Uniformreste“, ergänzte der Kommissar.
„Wir sind hier kurz vor Berlin. Hier gibt es überall alte Uniformen, Knarren, Blindgänger und Knochenreste.“
„Tja, die sollten aber wenn, in einem Museum sein. Und eben deshalb gibt es ja diese Sonderkommission, um all diese Fälle aufzuklären.“
„Hhrrr.“ Herbert löste seine Krawatte und wusste nicht genau, was er erwidern sollte.
„Wie gesagt, ich habe genau so wenig Bock auf diesen Scheiß hier wie Sie.“ Frank zögerte kurz. „Sie kommen doch aus der Generation. Würden Sie nicht auch irgendwann Gewissheit haben wollen, wo Ihre Verwandten, die vielleicht seit dem Krieg vermisst sind, geblieben sind?“
Sarah hätte Wagner solchen Enthusiasmus gar nicht zugetraut und schon gar nicht, dass er das auch noch so besonnen vorträgt. Auch ihr Vater schien irritiert zu sein.
„Wollen Sie mich jetzt über eine Zeit belehren, in der an Sie noch gar nicht zu denken war?“
„Nein, ich will nur, dass Sie mal einen Schritt zurückgehen und die Sache im Ganzen betrachten. Auch wenn das Problem hier auf Ihrem Grundstück ist, die Welt dreht sich nicht um Sie allein.“
Treffer. Herbert Fender stand mit offenem Mund da, und Sarah legte noch einen nach: „Da hat er definitiv recht.“
Die beiden Männer drehten sich ihr zu. Sie erwiderte abwechselnd die Blicke, während sich ihr Vater wieder an die Brust fasste.
„Alles in Ordnung?“ Sarah war, obwohl sie dem Kommissar recht geben musste, besorgt.
„Nichts ist in Ordnung.“
„Ich habe die Information, dass hier gerade ein Baustopp verhängt wurde, der aber eigentlich nichts mit dem Fund zu tun hat. Seien Sie doch froh, dass wir jetzt hier sind und nicht dann, wenn Sie eigentlich loslegen könnten. Versuchen Sie doch der Sache was Positives abzugewinnen.“
Fassungslos schaute Herbert Fender den Kommissar an.
„Das hat nichts mit dem Fund zu tun? Sie haben Ihre Hausaufgaben aber ordentlich gemacht.“
Frank lachte kurz auf: „Dazu hatte ich auch alle Zeit. Ich mach hier nur meinen Job. Und nein, es hat nichts mit dem Fund zu tun.“
Sarahs Vater zögerte kurz. „Herbert Fender.“
Er reichte Frank die Hand.
„Kommissar Wagner.“ Frank erwiderte den Händedruck.
„Lassen Sie mich wissen, wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann.“ Herbert machte sich niedergeschlagen auf den Weg zu seinem Auto.
„Sie können mir als erstes sagen, wer der ältere Herr dort ist.“ Frank zeigte auf Gustav.
„Gustav, ein Angestellter von mir. Ein alter Griesgram. Den Rest kann Ihnen meine Tochter erzählen.“
Ohne sich noch mal umzuschauen, ging er weiter.
„Herbert?“ Sarah stand auf und sah ihren Vater mitleidvoll hinterher. Der winkte nur ab und ging.
„Herbert?“, wiederholte Sarah in einem sorgenvollen Flüsterton.
„Ist schon gut, lassen Sie ihn“, redete Frank mitfühlend auf sie ein. „Was ich wissen muss, hat Zeit.“
„So habe ich ihn noch nie gesehen.“ Sarah fühlte einen Kloß im Hals.
„Ist er krank?“
„Na ja, er ist nicht mehr der Jüngste, und welcher Mann gibt das schon gerne zu?“
„Tut mir leid. Ich wollte ihn nicht verärgern.“
Sarah, die immer noch ihrem Vater hinterher schaute, drehte sich zu Frank um: „Das hat nichts mit Ihnen zu tun.“
„Eine Frage habe ich noch“, tönte plötzlich Herberts Stimme aus der Ferne.
Überrascht drehten sich die beiden zu ihm um. Er brüllte über den halben Hof.
„Ja?“
„Wie lange?“
Frank blickte fragend rüber zu den Männern der SOKO.
„Lubowski?“ Ein kleiner Mann in einem weißen Kittel schaute verdutzt hoch.
„Mensch Wagner. Wieder im Einsatz?“
„Wieder im Einsatz?“, wiederholte Sarah neugierig Lubowskis Frage. Frank ignorierte sie.
„Wie lange braucht ihr?“
Der Mann streifte seine Handschuhe ab und bewegte sich auf Frank zu. Auf Höhe von Sarahs Vater deutete er einen kurzen Gruß an und nickte. Herbert Fender erwiderte das Nicken.
„Wie lange? Ein, zwei Wochen?“
Lubowski lächelte, reichte Sarah höflich die Hand und wandte sich an den Kommissar: „Wer hat dich denn wieder losgelassen?“
„Mensch, wie lange, will ich wissen.“
„Also wie ich das jetzt sehe, drei bis vier Wochen, Minimum.“ Wagner sah wortlos zu, wie Herbert Fender enttäuscht mit der Hand abwinkte, sich umdrehte und vom Hof ging. Auch Gustav verdrehte die Augen.
„Ein einziger Albtraum“, flüsterte er.
Frank schaute zu Lubowski runter. Mindestens zwei Köpfe kleiner stand der immer noch neben ihm.
„Weißt du eigentlich, warum aus dir nie ein richtiger Polizist geworden ist?“
Verärgert blickte Lubowski zu Frank hoch. „Na?“
„Weil du einfach zu langsam und zu klein für diese Welt bist.“
Lubowski hob mahnend den Zeigefinger. „Wenigstens renn ich nicht schießwütig durch Berlin.“
Frank beobachtete aus den Augenwinkeln Sarahs Reaktion. Ihre Blicke trafen sich.
„Wieso so lange?“
Lubowski drehte sich wieder in die Richtung, wo seine Kollegen ihre Arbeit unterbrochen hatten und aufmerksam zu den beiden rüberschauten.
„Siehst du die Haufen mit den Tüten?“ Fragend blickte Lubowski den Kommissar an. Der nickte nur.
„Wie viele?“
„Acht, ne neun.“
„Siehste. Wir haben auf alle Fälle schon mal von neun Toten jeweils mindestens ein Knochenteil gefunden.“ Lubowski machte eine Pause, schaute in die Runde und genoss kurz seine Wichtigkeit.
„Neun Tote? Woher weißt du das?“
„Weil das mein Job ist, und wenn du neun gleiche Knochen findest, heißt das nun mal …“
Lubowski überließ es großzügig Frank, den Satz zu vollenden. „Na was heißt das?“ Frank schien verärgert.
„Das heißt, dass wir auf alle Fälle den Rest zu den bisher neun Toten suchen müssen.“ Wieder schaute er triumphierend zu Frank. „Nebenbei bringen wir das Zeug nach Berlin ins Labor und untersuchen es, damit du so schnell wie möglich weißt, von wie vielen Toten du hier genau ausgehen kannst und überhaupt ...“
„Gibt es schon einen Anhaltspunkt, mit dem ich arbeiten kann?“
„Komm mit.“
Frank und Sarah folgten Lubowski langsam in Richtung der Tüten.
„Interessiert?“
Sarah ignorierte Franks Frage mehr oder weniger. Lubowski wedelte beim Laufen mit den Armen in Richtung seiner Kollegen. Zwei machten sich daran, die Tüten zu öffnen. Sarah beobachtete nicht nur, dass ihr Vater im Auto saß und ihnen zuschaute. Kurz bevor sie hinter der Scheunenecke verschwanden, sah sie auch die alte Frau, die mit weit aufgerissenen Augen zu ihr rüberschaute.
„Siehst du das hier?“
Lubowski, der die Handschuhe wieder übergestreift hatte, hielt Frank einen Knochen vors Gesicht.
„Na du pickst ihn mir ja fast ins Gesicht.“
„Tschuldigung.“
„Ne Kugel?“
„Mensch, du kannst ja glatt bei uns anfangen.“
Strahlend blickte Lubowski zu Frank hoch. „In fast jedem Knochen steckt so ein Ding, und nun schau dir mal die Wand da an.“
„Oh. Das sind ja nicht wenige.“ Frank musterte die Einschusslöcher in der Wand.
„Also entweder die haben hier alles verballert, was ihnen an Munition in die Hände gekommen ist, oder wir finden hier noch ein paar Tote mehr. Oder beides. Auf alle Fälle wurden die hier erschossen, außer…“ Lubowski zögerte und schaute zu Frank. „Außer der hier.“ Ein Kollege reichte Lubowski einen Knochen, der anders aussah als der Knochen, den er gerade sorgsam wieder in einer Tüte verstaute. Frank wollte zugreifen.
„Nein!“ Lubowski schrie auf. „Nicht ohne Handschuhe anfassen. Das wird schon schwer genug.“ Frank zuckte zurück und verdrehte die Augen.
Lubowski hielt Frank den Knochen entgegen und zeigte mit dem kleinen Finger auf eine Stelle.
„Siehst du das hier?“
„Ein Stück Metall? Auch ne Kugel?“
Lubowski nahm seinen Kopf zurück und musterte Frank.
„Ne, det is keene Kugel“.
„Sieht aus wie ein Metalldorn“, wurden sie von Sarah unterbrochen.
„Nicht schlecht, junge Frau, nicht schlecht.“ Er wandte sich wieder an Wagner. „Da wir uns hier auf dem Land befinden, kannst du davon ausgehen, dass der Zinken vielleicht von einer Forke oder so stammt.“ Lubowski drehte den Knochen skeptisch hin und her. „Und das ist, wenn ich mich nicht ganz irre, ein Knochen aus dem oberen Bereich der Wirbelsäule. Steckt nicht tief drin, aber so ne Forke hat ja mindestens drei Zinken.“
„Du erkennst so einfach, was das für ein Knochen ist?“, fragte Frank bewundernd.
„Hm.“
Lubowski ließ den Knochen auf die vor ihm liegende Tüte fallen und verschränkte seine Arme vor der Brust.
„Kannst davon ausgehen, dass der hier mit ’ner Forke erledigt wurde, aber Genaueres …“
Frank viel Lubowski ins Wort.
„Ich weiß schon. Wenn du die Dinger genauer untersucht hast.“ Frank registrierte amüsiert, aber auch verwundert, dass Sarah, ähnlich wie er, ihren Kopf rhythmisch zu dem Gerede von Lubowski hin und her bewegte. So als ob sie den Satz schon tausend Mal gehört hätte.
„Aber so ne Forke bricht doch nicht einfach so ab, wenn sie in einem Knochen steckt?“
„Eigentlich nicht, aber anscheinend doch. Der Zinken war vielleicht nicht so dick, und so ein Knochen kann ganz schön gegen halten. Keine Ahnung, wie das passiert ist. Fakt ist aber, dass das keine Kugel ist.“
„Ich kotz gleich.“
Die Männer und Sarah drehten sich ruckartig um.
„Tim! Mein Gott, wo kommst du denn her?“
Sarah fiel dem jungen Mann, der plötzlich hinter ihnen stand, um den Hals. Mit Argusaugen beobachtete Frank die Liebkosungen der beiden.
„Ihr Freund vermute ich?“
Sarah drehte sich zu Wagner und ließ dabei ihren Arm auf Tims Schulter liegen.
„Nicht nur ein Freund.“
Frank bemerkte das Strahlen in Sarahs Augen.
„Mensch Tim, alter Junge, wo kommst du denn her?“ Auch Gustav war vor Freude außer sich und drückte den jungen Mann.
„Darf ich vorstellen, Tim Fender, Kommissar Frank Wagner.“
Die Männer gaben sich die Hand.
„Ah, der Mann sogar.“
Sarah lachte.
„Genau, ein Mann, ein richtiger Mann.“
Frank merkte, dass er vermutlich einen ziemlich überraschten Eindruck machen musste. Wieso hatte er sich bis jetzt noch nicht gefragt, ob Sarah Fender liiert oder, wie es schien, sogar verheiratet war? Trotzdem schien ihm dieser Tim zu jung zu sein für Sarah. Er beobachtete, wie sie ihn verschmitzt anlächelte und vermutlich genau wusste, was ihm gerade durch den Kopf ging. Frank versuchte, sich wieder auf den Fall zu konzentrieren und wandte sich erneut an Lubowski.
„Ich hab noch was für dich.“
Neugierig blickte Lubowski zu Wagner.
„Bestimmt wieder einen blöden Spruch.“
„Da oben“, Frank zeigte zu dem Brett vor Sarahs Küchenfenster, „da liegt auch noch einer.“
„Iiih, den habe ich aber schon angefasst.“ Sarah verzog das Gesicht und dachte an Gustavs Worte und an die ihres Vaters. Lubowski machte sich auf den Weg.
„Nicht so schlimm.“
„Ich denke doch.“ Frank schaute Lubowski hinterher.
„Wagner! Die junge Frau hat doch nicht solche Patschlöffel wie du. Die hat doch viel zartere Hände.“
Frank Wagner musterte seine Hände. Alle beobachteten, wie Lubowski den Knochen in seinen Händen hin und her drehte. Ohne sich umzudrehen, wandte er sich an seine Kollegen.
„Kinderknochen sind da noch nicht bei?“ Die Blicke der Umherstehenden richteten sich auf die Tüten.
„Kein Kind bei“, antwortete ein langer, schlaksiger Kerl, der aussah, als ob er bald eine Zwangsernährung bräuchte. Langsam kam Lubowski mit versteinertem Blick zurück. Kurz vor Frank blieb er stehen. Sein Blick schien sich noch mehr verfinstert zu haben.
„Jetzt sind es schon zehn. Neun Erwachsene und ein Kind.“
Auch Franks Miene verfinsterte sich. „So viel zum Thema Kinderkram“, spielte er auf die Bemerkung von Herbert Fender an.
„Ich glaub, ich kotz wirklich gleich“, meldete sich Tim wieder zu Wort.
Gustav nahm beiläufig seine Mütze ab. Man wusste nicht, ob das nun eine Kondolenz an die Toten sein sollte oder aber ob er sich nur kratzen wollte. Auf alle Fälle wischte er sich mit einem Taschentuch die auf seiner Stirn glänzenden Schweißperlen weg. Die Sonne brannte erbarmungslos.
„Los, weiter Männer“, unterbrach Lubowski das Schweigen. Er sah Frank an, als ob er in seinem Vorschlag bestätigt werden wollte. Wagner nickte ihm nur halbherzig zu und beobachtete, wie Gustav wieder in die Richtung seines Bauwagens stapfte. „Tim, ich sehe dich hoffentlich, bevor du wieder abhaust.“
Der junge Mann hob als Bestätigung die Hand und lächelte Gustav nur hinterher.
„Komm.“ Sarah hakte sich bei Tim ein und wollte mit ihm zum Haus gehen. Nach ein paar Schritten drehte sie sich um.
„Ach, Sie hatten ja noch Fragen“, sagte sie zu Frank. „Ich weiß nicht, wie ich Ihnen helfen könnte. Ich wohn doch noch nicht lange hier.“ Mit einem Schulterzucken untermauerte Sarah das Gesagte.
„Hat Zeit bis morgen. Ich werde mich ein wenig im Dorf umhören. Sie haben sich mit Ihrem Mann vermutlich viel zu erzählen.“
Sarah und Tim schauten sich an. Sie wackelten skeptisch mit den Köpfen und verzogen das Gesicht, als ob sie schon wussten, dass die Zeit mal wieder nicht reichen würde.
Langsam folgte Kommissar Wagner den beiden. Er musterte das Paar, das so innig vor ihm her ging. Tim sah aus, als ob er von einer Abenteuertour zurückkam. Die Jeans war abgewetzt und ging ihm bis kurz unter die Knie. Auf dem Kopf hatte er einen Schlappen, der durch Sarahs Begeisterungsausbruch ein wenig in Mitleidenschaft gezogen wurde, und seine Füße steckten barfuß in Schuhen, die zum Wandern und Klettern geeignet waren. Obwohl seine Waden einen durchtrainierten Eindruck machten, fand Frank, dass Tim wie ein älterer Schuljunge aussah und eigentlich überhaupt nicht zu Sarah passte. Er verzog resigniert das Gesicht. Im Moment musste er sowieso an andere Sachen denken. Die Knochen gaben ihm mehr Rätsel auf, als er erwartet hatte, und er wurde das Gefühl nicht los, dass das noch nicht alles war, was hier auf ihn zukommen sollte. Unbeteiligt registrierte er, wie Tim sich umdrehte, ihn ansah und dann fragend zu Sarah blickte. Sarah folgte seinem Blick. Überrascht blieb sie, fast schon an dem alten Holztisch angekommen, stehen.
„Ich denke, das hat Zeit bis morgen?“
Wagner schmunzelte und fragte sich, ob Sarah unter Verfolgungswahn litt.
„Meine Jacke, nur meine Jacke.“
„Klar.“
Tim musterte den Kommissar. Sein Blick verharrte an seiner Waffe.
„Kripo?“
Frank nickte und sah Tim dabei in die Augen. In dem sonnengebrannten Gesicht funkelten zwei kastanienbraune Augen unter dem Schlapphut. Obwohl er immer noch der festen Überzeugung war, dass Tim viel zu jung war für sie, musste er zugeben, dass Sarah und Tim ein schönes Paar abgaben.
„Wegen der Knochen oder …“ Tim unterbrach sich und schaute zu Sarah. Erschrocken, ängstlich und ein bisschen verlegen schüttelte sie den Kopf.
„Oder was?“ Während Frank Tim das fragte, hing sein rätselhafter Blick an Sarahs Gesicht. Sie wich dem Blick aus.
„Wegen der Knochen oder aus welchem Grund sonst?“ Tim, der merkte, dass Sarah die Situation unangenehm war, sprach betont deutlich.
„Wegen der Knochen, erstmal nur wegen der Knochen.“
Frank griff nach seiner Jacke. Die Akte kam zum Vorschein.
„Merkwürdig“, begann Sarah nachdenklich, „hier werden ein paar Knochen gefunden, kurze Zeit später ist ein Kommissar abgestellt für eine Aufgabe, die auch dieser Lubowski hätte übernehmen können, es gibt eine Akte …“ Sarah blickte fragend zu Frank.
„Merkwürdig ist fast untertrieben. Ich weiß aber, dass der Direktor die Arbeit der SOKO sehr ernst nimmt. Fragen Sie Ihren Vater, vielleicht verrät Kuntz ihm ja mehr.“
„Kuntz? Bernhard Kuntz? Der Polizeipräsident?“
„Direktor“, wurde Tim von Frank verbessert. „Sie kennen den auch?“
„Ja klar.“ Tim tat, als ob es das Normalste der Welt sei. „Mal hier gesehen, mal da gesehen, bin ja nicht so oft im Lande.“
„Ist halt ein Freund von Herbert, da kennt man sich eben“, mischte sich Sarah ein.
„Sie kennen den auch?“
Sarah nickte nur kurz.
„Sagen Sie mal …“
„Ich denke morgen?“, wollte Sarah das Gespräch schnell beenden.
„Nur noch eine Frage. Warum reden Sie Ihren Vater eigentlich immer mit seinem Namen an? Ist doch ungewöhnlich, oder?“
„Mach ich doch auch“, meldete sich Tim zu Wort, und bevor der Kommissar über Tims Antwort nachdenken konnte, übernahm Sarah wieder das Sprechen: „Spielt das eine Rolle?“
Frank zögerte kurz. Er war innerlich verärgert. Wie es aussah, war das hier ein Scheißjob an einem scheißheißen Tag in einer Scheißgegend mit einer allerdings bildhübschen Frau, die ihm mehr Rätsel aufgab, als ihm lieb war und dann noch mit so einem jungen Pisser vor ihm rumturtelte.
„Nein, nein, war nur so eine Frage.“
Frank nahm die Akte in die Hand, deutete mit ihr einen Gruß an und ging langsam rückwärts.
„Vielen Dank für den Kaffee. Wir sehen uns morgen, wenn es Ihnen passt. Die Fragen, Sie wissen schon.“
Sarah nickte nur kurz und wandte sich dann Tim zu.
„Komm, setz dich, erzähl. Wie geht’s dir?“
Die beiden setzten sich auf den Tisch.
„Wie geht es dir?“, erwiderte Tim, statt ihr eine Antwort zu geben.
Wagner war mittlerweile an seinem Auto angelangt und schaute hoch zu Tim und Sarah. Vertieft in ihr Gespräch, schienen sie nichts mehr um sich herum wahrzunehmen. Plötzlich, als hätten sie ewig darauf warten müssen, umarmten sich die beiden und verharrten so für einen Augenblick. Die Haare hingen Sarah ein wenig vors Gesicht und so konnte sie unauffällig aus den Augenwinkeln über den Hof schauen und in Ruhe den Kommissar beobachten, wie er in sein Auto stieg.
„Was willst du denn hören?“, fragte Sarah leise.
„Was willst du denn erzählen?“
Sarah löste die Umarmung.
„Du warst so lange nicht da. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.“
„Weiß dieser Kommissar, dass du bei der Polizei warst?“
Sarah schien erstaunt. „War? Du weißt schon …?“
„Mama hat mir alles erzählt.“
„Alles?“
„Na ja, was Mütter halt so von ihren Töchtern erzählen.“
„Seit wann bist du denn da?“
„Seit gestern“, gab Tim zu.
„Herbert hat gar nichts erwähnt.“
„Er kam auch erst spät. Wir haben uns noch gar nicht gesehen. Marianne meinte, ich treffe ihn hier bei dir.“
„Er ist kurz vor dir weg. Es läuft hier nicht so, wie er sich das vorstellt.“
Tim musterte das Gehöft. „Und was willst du hier? Du hast dich doch immer so wohl gefühlt in Berlin.“
In Sarahs Augen bildeten sich Tränen.
„Weiß nicht, zur Ruhe kommen.“ Sarah schaute nachdenklich.
„Na, Ruhe hast du hier genug“, stellte Tim mit einem Lächeln fest.
„Wir sind dann erstmal weg“, meldete sich Lubowski lautstark ab.
Sarah nickte ihm unbeteiligt mit einem Blick über ihre Schulter zu.
„Wie geht’s Herbert denn?“, nahm Tim das Gespräch wieder auf.
„Herbert, ach der …“ Sarah seufzte und machte eine Pause. „Du kennst ihn ja.“
„Kennen ist gut. Ich war über ein Jahr nicht da.“
„Er hat mir das hier besorgt. Wir haben die letzten Monate kaum geredet. Ich wollte für mich sein. Von Bernhard habe ich erfahren, dass er die ganze Sache auch noch forciert hat.“
„Was meinst du?“
„Meine Versetzung in den Ruhestand.“
„Begeistert war er ja noch nie von deinem Job. Kannst du damit nicht leben?“
Sarah sprang entrüstet auf. Ihr Ton wurde lauter.
„Tim, ich bin fünfunddreißig Jahre alt. Was soll ich denn im Ruhestand? Ich bin Polizistin.“
„Aber so was kann einen schon aus der Bahn werfen. Was kann einer Frau denn Schlimmeres passieren?“
Sarah musterte Tim.
„Was in der Nacht passiert ist, ist die eine Sache. Herbert war es nie recht, dass ich zur Polizei gegangen bin. Die haben mich hängen lassen. Erst waren es meine Kollegen, danach war es Kuntz und zu guter letzt auch noch Herbert. Das kann einem Schlimmeres passieren.“ Sarah redete sich in Rage. „Da gab es keine Untersuchungen, nichts. Ich war die Angeschissene. Kuntz meint, die Umstände waren ungünstig. So einen Scheiß musste ich mir anhören. Die haben mich hängen lassen und richtig schön auflaufen lassen. Keine Sau hat mir geholfen. Ich sei unvorsichtig gewesen und trage eine Mitverantwortung. Wir hatten Haagedorn fast am Wickel, und jetzt ist der schon lange wieder in Holland oder sonstwo, und ich bin draußen. Die sind alle noch da, und dann haben sie auch noch Lisa versetzt.“
„Haagedorn?“ Tim schaute fragend.
„Ein Holländer. Ganz üble Gestalt. Drogenhandel, Geldwäsche, Prostitution, das ganze Programm. Musst du nicht kennen. Hinter dem waren wir schon ewig her, und dann habe ich den Tipp mit dem Iron Fist gekriegt.“
„Iron Fist? Was machst du denn in so einem Schuppen?“
Sarah flippte fast aus. Zum ersten Mal liefen ihr Tränen über die Wangen, aber es schien ihr wichtig zu sein, endlich mal mit jemandem, der unbeteiligt war, darüber zu sprechen.
„Na Haagedorn kriegen!“, schrie sie fast schon.
„Hey, ist ja gut, komm her.“
Tim breitete die Arme aus. Sarah setzte sich wieder neben ihn und ließ sich in seine Arme fallen.
„Ist ja gut. Hast du mit Herbert schon darüber geredet?“
Sarah löste sich aus der Umarmung und wischte sich mit ihrem Ärmel die Tränen weg.
„Wann denn? Du siehst doch, was hier los ist. Außerdem baut er schon wieder ein neues Werk.“
„Hört das denn nie auf? Der kommt wohl nie zur Ruhe.“
„Ohne das Werk hätte er den Hof hier nicht bekommen. Oder umgekehrt. Oder … ach, was weiß ich. Kennst doch seine Geschäftsgebaren.“
„Wahrscheinlich wieder so ein typischer Herbert-Fender-Deal.“ Tim machte eine kurze Pause. „Du musst aber mit ihm reden. Wie lange willst du das noch mit dir rumschleppen?“
„Reden, du bist gut. Du hättest ihn die letzten Tage sehen sollen. Lange hält er das nicht durch.“
„Das Herz?“
„Kennst ihn doch. Der hört doch nicht mal auf Mama. Ist doch nur eine Frage der Zeit, bis er aus den Latschen kippt.“
„Ich weiß schon, warum ich lieber durch die Welt ziehe.“
Sarah blickte Tim vorwurfsvoll an.
„Wegrennen ist auch keine Lösung. Ich hätte dich gebraucht. Wo warst du eigentlich? Früher hast du wenigstens mal ne Karte geschickt.“
„Australien“, antwortete Tim kleinlaut.
„Und die haben wohl keine Briefkästen?“
Wieder wischte sich Sarah mit dem Ärmel übers Gesicht.
„Du kennst mich doch. Wenn ich weg bin, will ich auch weg sein.“
„Wie lange bleibst du?“
„Keine Ahnung. Ein paar Tage, ein paar Wochen. Mal sehen.“ Sarah schwieg und blickte in die Ferne. Irgendwie glaubte sie Tim nicht. Meistens war er nach zwei, drei Tagen schon wieder weg. Es war schon Nachmittag, und sie verspürte einen unbändigen Hunger.
„Ich muss noch mal los, was zu essen holen.“ Sarah sprang auf.
„Kann ich heute hier bleiben? Ich hab keinen Bock, wieder nach Berlin zu fahren.“
„Du kannst immer hier bleiben. Hier ist genug …“ Sarah verstummte, da ihr einfiel, dass im Moment überhaupt noch nicht genug Platz war.
„Wie bist du eigentlich hergekommen?“
„Mit’m Chopper.“
„Der war noch da?“
„Klar, stand im Schuppen. Ging auch noch.“
Sarah verdrehte die Augen. Sie wusste, wie sehr Tim an dem Motorrad hing. Jedes Mal, wenn er wieder in die Welt hinauszog, überlegte er, ob er das Ding mitnehmen sollte. Meistens, oder eigentlich immer, ließ er es dann aber im Schuppen stehen, umarmte die Sitzbank und grinste Sarah mit den Worten an: „Damit ich mindestens zwei Gründe habe, zurückzukommen.“
„Wird aber nicht bequem. Ich bin mit dem Einräumen noch nicht fertig.“
Sarah war erstaunt über sich. Vor ein paar Tagen war ihr noch alles egal gewesen, und heute entschuldigte sie sich dafür, noch nicht fertig eingezogen zu sein. Zwangsläufig fiel ihr auch wieder die Treppe ein, deren Reparatur ihr seit Tagen wichtig war. Sie beobachtete Tim, wie er mit den Händen in den Gesäßtaschen vor der Scheune stand und diese musterte.
„Hier wird doch auf alle Fälle Platz sein.“
„Spinnst du?“
Tim zog einen Schmollmund. „Wieso?“
„Ich weiß ja nicht, wie das in Australien ist, aber hier bei uns bedeutet so ein rotes Absperrband immer noch, dass der kleine Tim dahinter nichts zu suchen hat. Außerdem, wer weiß, was in der Scheune noch alles vergraben ist“, gab Sarah zu bedenken.
„Und verrammelt ist das Tor auch, so als ob da schon hundert Jahre keiner mehr drin gewesen wäre“, stellte Tim fest.
Während Sarah Tims Worten lauschte, ging ihr Blick langsam zu dem Scheunentor. Tim hatte recht. An dem alten Holz gab es weder eine Klinke noch irgendetwas anderes zum Öffnen des Tores. Ganz im Gegenteil, an der Stelle, wo die Flügel aufeinander trafen, konnte man bei genauerem Hinsehen ohne viel handwerklichen Verstand erkennen, dass das Tor mit Metallstiften verbarrikadiert worden war. Sarah fiel sofort wieder der Metallstift in dem gefundenen Knochen ein.
„Du bist doch die Polizei. Lass uns nachschauen und das Tor aufmachen“, riss Tim Sarah aus ihren Gedanken. Sarah blickte in seine funkelnden Augen und sagte deutlich: „Ich bin nicht mehr bei der Polizei, schon vergessen?“
„Na dann eben hier.“ Tim zeigte auf das Gebäude gegenüber, vermutlich ein ehemaliger Stall. Neugierig machte Sarah große Augen und ging ein paar Schritte zur Seite.
„Keine Ahnung. Ich habe mich hier überhaupt noch nicht umgesehen. Wenn ich ehrlich bin, weiß ich noch nicht mal, wie die obere Etage von dem Haus aussieht. Die Scheißtreppe ist im Arsch. Es kotzt mich an. Irgendwie komm ich überhaupt nicht in die Puschen.“
„Na dann komm.“
Tim ging langsam auf eine der Holztüren zu. Die Türen und Fenster des Stalles waren zwar alt und verwittert, schienen aber alle noch intakt zu sein. Die ganze Wand war mit wildem Wein behangen, den Tim, um an die Türklinke zu kommen, bei Seite schob. Die Tür ließ sich schwer öffnen. Tim und Sarah wurden vom Duft des Heus empfangen.
„Also Viecher waren hier schon lange nicht mehr drin“, stellte Tim fest.
„Woher willst‘n das wissen?“, fragte Sarah.
„Ein Vieh ist ein Vieh. Die stinken alle gleich, egal ob in Europa oder in Australien. Und wie ein Stall mit Viechern riecht, weiß ich auch. Glaub mir, hier war schon ewig kein Vieh mehr drin.“
Durch die helle Nachmittagssonne drang trotz der verschlierten Scheiben genug Licht ins Innere. Man konnte noch genau die Mauern der alten Pferde- oder Rinderboxen sehen. Hier und da stand noch ein altes Gerät. Sarahs Blick fiel auf eine Heuforke. Forschend hielt sie die Forke hoch. Tim ging einen Schritt auf Sarah zu. Er beobachtete, wie sie die Forke musterte.
„Na, alle Zinken dran?“
Sarah nickte und schmiss die Forke wieder in die Ecke. Auffallend war, dass alles, was hier herumstand, gut erhalten war, kaum benutzt aussah und selbst die Wände, trotz des Staubes und der Spinnweben, einen relativ guten Eindruck machten.
„Weißt du, ob hier einer gewohnt oder gelebt hat?“, fragte Tim.
„Der Kerl vom Bauamt hat nur gesagt, dass das Gehöft fast hundert Jahre alt ist.“
„Interessiert dich das nicht?“
„Was?“
„Die Geschichte von dem Anwesen.“
„Tim, bis vor kurzem hat mich nicht mal interessiert, ob die Sonne morgens aufgeht.“ Entschlossen stemmte Sarah die Arme in ihre Hüften.
„Und? Ist das jetzt anders?“, fragte Tim vorsichtig weiter.
Sarahs Aufmerksamkeit galt aber dem durch das verstaubte Fenster fallenden Lichtkegel. Sie verfolgte das Flimmern der klitzekleinen Heuteilchen und überlegte.
„Hm, ich weiß noch nicht“, gab sie dann zur Antwort.
„Das ist doch immerhin schon mal ein Anfang. Besser als nein.“ Während Tim redete, ging er weiter durch den Stall. Sein T-Shirt zeigte erste Schweißflecke. Man kam sich vor wie in einem Gewächshaus. Die Sonne staute sich tagsüber in dem alten Gemäuer.
„Ich lass einfach die Fenster auf, und dann geht das schon“, beschloss Tim.
„Hast du ne Meise?“ Sarah klatschte Tim mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Du schläfst gefälligst bei mir auf der Couch. Früher haben wir …“ Tim fiel ihr ins Wort:
„Danke, danke, danke!“ Er stürmte auf sie zu und umarmte sie.
„Du hast mich verarscht?“
„Ich kann kein Heu und keinen Stall mehr sehen“, gab er zu. „In Australien habe ich fast nur darin gepennt.“
Sarah löste sich aus der Umarmung und schaute Tim erstaunt an. „Nicht, dass du jetzt‘n Stino wirst?“
Tim dachte kurz nach.
„Doch, ich glaube schon. Ich habe ja ein abgeschlossenes Studium, damit kann ich dann bei Herbert in der Firma anfangen.“
„Was?“ Sarah erschrak, bemerkte dann aber das verschmitzte Grinsen in Tims Augen.
„Pass mal auf, Freundchen, vergiss nicht, dass ich bei der Polizei war.“ Sie schnappte sich Tim und ließ ihn mit zwei drei Handgriffen gekonnt ins Heu fliegen.
„Komm, lass uns gehen.“
Sarah ging noch mal kurz ins Haus, um ihre Jacke und ihre Tasche zu holen. Tim schlenderte derweil über die Wiese oder was davon noch übrig war, nachdem das Land von Gustav mit seiner Raupe bearbeitet worden war.
„Wolltest du nicht noch zu Gustav?“, fragte Sarah.
„Später.“ Tims Blick schweifte über die Felder. Die Sonne neigte sich langsam, sodass der Horizont einen zarten orange-roten Schimmer bekam. Sarah kam an seine Seite, und Tim legte seinen Arm um ihre Schultern. Sarah strahlte und genoss Tims ganz eigenen Geruch, den sie so lange vermisst hatte. Unweigerlich überkam sie wieder der Gedanke an den Geruch von Frank Wagner, als er sich heute Vormittag gewandt an ihr vorbei bewegt hatte, ohne sie zu bedrängen.
„Ich liebe dich“, sagte Sarah glücklich.
„Und ich dich erst“, erwiderte Tim.
Beide schlenderten eng umschlungen langsam zum Auto. Tim wunderte sich von Schritt zu Schritt mehr, dass Sarah ihn bis zur Beifahrertür begleitete.
„Mann, was ist bloß aus dem Land geworden?“
„Wieso?“
Tim löste sich aus Sarahs Umarmung.
„Gestern in Berlin habe ich gesehen, dass Fußballfans Titten haben und kurze Röcke tragen, und heute geleitest du mich zur Beifahrertür. Seitdem ihr ne Kanzlerin habt, passieren die seltsamsten Dinge in dem Land“, scherzte er.
Sarah lehnte sich mit dem Arm auf ihr Autodach.
„Du erzählst vielleicht eine Scheiße. Mach die Tür auf, die Fahrertür ist im Arsch. Ich muss hier einsteigen.“ Sarah kletterte ins Auto.
Als sie an Gustavs Bauwagen vorbeifuhren, rief Tim ihm noch ein kurzes „Bis später“ zu. Gustav, der auf der Treppe die Abendsonne genoss, winkte den beiden nur hinterher, wackelte freundlich mit dem Kopf und redete leise vor sich hin. „Die Kleene und der Jung.“
„Sag mal, wer ist eigentlich die alte Frau da an der Straße?“
„Ach Tim, ich habe keine Ahnung. Ich weiß auch nicht, wer die Toten sind, ich weiß nicht, warum der Pfarrer kein Pfarrer ist, und vor allem weiß ich nicht, warum die hier alle so komisch sind. Aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass das alles zusammenhängt.“
„Wieso sind die alle komisch?“
„Schau dich doch mal um. Siehst du hier irgendjemanden?“
Tim musterte die Umgebung, machte es sich auf dem Sitz bequem, zog den Schlapphut ins Gesicht, ließ den Arm aus dem Fenster hängen und genoss es, von Sarah chauffiert zu werden. Sarah beobachtete ihn und freute sich, Tim endlich wieder in ihrer Nähe zu haben.