Читать книгу Der Bergpfarrer Paket 1 – Heimatroman - Toni Waidacher - Страница 22

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Sandra Hofmayr lenkte ihren Wagen durch die Toreinfahrt des Grundstückes und hielt vor der Garage an. Als sie den Motor ausschaltete, wurde die Haustür geöffnet, und Frau Unterleitner, Sandras Zugehfrau, trat heraus. Sie winkte, als die junge Antiquitätenhändlerin aus dem Wagen stieg.

»Grüß Gott, Frau Hofmayr«, rief sie. »Schön, daß Sie wieder da sind.«

»Ja, Gott sei Dank ist es wieder Wochenende. Seien Sie gegrüßt, Frau Unterleitner. Ist alles in Ordnung?«

Die Frau an der Tür winkte ab.

»Alles bestens«, antwortete sie. »Ich bin gerade fertig geworden. Mein Mann hat eben noch den Rasen gemäht.«

»Ach, das ist schön.«

Sandra nahm die Reisetasche aus dem Wagen und ging ins Haus. Drinnen roch es angenehm frisch und sauber, und aus der Küche kam der Duft von frisch gebrühtem Kaffee. Auf den hatte die junge Frau sich schon die ganze Fahrt über gefreut.

Sandra betrieb in der Kreisstadt ein kleines Antiquitätengeschäft. Da sie nebenbei viel unterwegs war, um alte Sachen aufzustöbern, mit Restauratoren zu verhandeln oder Expertisen abzugeben, schlief sie die Woche über in einem möblierten Zimmer über ihrem Laden. Nur an den Wochenenden kam sie nach St. Johann in ihr kleines Haus, das von Hertha Unterleitner, die in der Nachbarschaft wohnte, behütet wurde.

»Ach, herrlich, frischer Kaffee«, rief sie aus.

»Einen Kirschkuchen hab’ ich auch gebacken«, sagte ihre Zugehfrau. »Auf der Terrasse ist alles gedeckt.«

Die junge Frau betrachtete sich kritisch im Spiegel der Garderobe.

»Na, ich weiß ja net«, meinte sie skeptisch. »Kaffee ja, aber Kuchen…«

Hertha Unterleitner lachte.

»Also, Frau Hofmayr, bei Ihrer Figur – da brauchen S’ sich wirklich keine Gedanken zu machen.«

»Recht haben S’«, stimmte Sandra in das Lachen ein. »Die ganze Woch’ über gibt’s Salat und Knäckebrot, da darf ich mich am Wochenend’ schon mal verwöhnen.«

Die beiden Frauen gingen durch das geschmackvoll eingerichtete Wohnzimmer hinaus auf die Terrasse, auf der bequeme Korbmöbel zum Sitzen einluden. Karl Unterleitner, Herthas Mann, kam eben aus dem kleinen Haus, in dem die Gartengeräte untergebracht waren. Er wischte sich die Hände an der braunen Cordhose ab, bevor er Sandra begrüßte. Seine Frau holte den Kaffee aus der Küche. Als sie an den Tisch trat, fiel ihr Blick auf den Kuchenteller. Sie erstarrte, schaute noch einmal und sah dann mit einem sehr strengen Blick ihren Mann an.

»Sag a’mal, was hast du dir dabei gedacht?«

Karl war erstaunt, er wußte gar nicht, wovon die Rede war.

»Was meinst du denn? Was soll ich mir wobei gedacht haben?«

»Dabei, als du dir einfach den Kuchen genommen hast.«

Ihr Mann hatte keinen blassen Schimmer.

»Kuchen? Von welchem Kuchen redest du?«

Hertha Unterleitner hatte die Kaffeekanne auf dem Tisch abgestellt und stemmte nun ihre Hände in die Hüfte. Karl kannte diesen Anblick. So stand sie nur, wenn ein Donnerweitter in der Luft lag. Aber er wußte immer noch nicht, welchen Verbrechens er sich schuldig gemacht hatte.

»Auf dieser Platte lagen acht Stücke Kirschkuchen«, klärte seine Frau ihn auf. »Und wenn ich richtig zähle, dann sind es nur noch sechs. Also fehlen zwei. Wer, frage ich, hat sie genommen?«

Karl Unterleitner hob die Arme.

»Ja, ich net«, antwortete er. »Was schaust’ mich so an?«

»Ach geh, ich kenn dich doch. Wenn du irgendwo auch nur einen Keks liegen siehst, ist der doch net vor dir sicher.«

»Aber wenn ich’s doch sage«, beharrte ihr Mann. »Ich hab’ den Kuchen net genommen.«

Sandra hatte dem Disput zwischen den Eheleuten schmunzelnd zugesehen. Jetzt wurde es Zeit, einzugreifen.

»Es ist ja net weiter schlimm«, wagte sie zu vermitteln. »Der Kuchen reicht doch immer noch. Mehr als ein Stück eß’ ich sowieso net.«

Mit grimmiger Miene schenkte Hertha Kaffee, ein, und ihr Mann nahm vorsichtshalber nur ein Stück von dem herrlichen, saftigen Kirschstreusel, der wie immer eine Meisterleistung seiner Frau war. Sandra lenkte geschickt das Gespräch in eine andere Bahn, so daß Hertha und ihr Mann wieder versöhnt waren, als sie sich verabschiedeten.

*

Pfarrer Trenker und Alois Kammeier, der Küster von Sankt Johann, nutzten den schönen Sommernachmittag, um die Wege rund um die Kirche zu harken, die Rasenflächen zu mähen und die ersten Sträucher zu beschneiden. Dabei sah der Geistliche in seinem blauen Arbeitsanzug mit der grünen Schürze drüber keineswegs wie ein Pfarrer aus. Wer ihn nicht kannte, würde ihn wahrscheinlich für den Gärtner gehalten haben.

Die beiden Männer hatten gerade ihre Arbeit beendet. Sophie Tappert wartete schon mit Kaffee und Kuchen auf sie, als sich auch Max Trenker, Sebastians Bruder, einfand. Der Polizeibeamte von St. Johann trug bereits Zivil, wenngleich es nicht ausblieb, daß Max unter Umständen Tag und Nacht im Dienst war, wenn es erforderlich wurde. Schließlich war er nicht nur Polizist, sondern auch der Dienststellenleiter dazu.

»Kommst’ gerade recht«, sagte sein Bruder. »Frau Tappert hat den Kaffee schon fertig.«

»Das hab’ ich mir gedacht«, grinste Max Trenker, der ein untrügliches Gefühl dafür hatte, wann im Pfarrhaus gegessen wurde.

Den Kochkünsten der Haushälterin seines Bruders verfallen, ließ der junge Beamte keine Mahlzeit aus – wenn er es verhindern konnte. Dabei entwickelte er einen enormen Appetit und wirkte jedoch keineswegs dick. Sebastian fragte sich so manches Mal, wo Max das alles ließ, was er essen konnte.

»Und gibt’s was Neues?« erkundigte sich der Pfarrer, als sie hinter’m Pfarrhaus im Garten saßen.

Max schüttelte den Kopf.

»Alles bestens«, meinte er gutgelaunt. »Die Kriminalitätsrate in Sankt Johann ist weiter im Sinken begriffen.«

»Na, das ist ja erfreulich.«

Der Geistliche wandte sich an seine Haushälterin.

»Der Zuckerkuchen ist wieder einmal ausgezeichnet«, lobte er.

»Stimmt«, nickte Max und griff erneut zu. »Aber das wissen S’ ja ohnehin.«

Sophie Tappert lächelte nur. Sie redete überhaupt wenig, und wenn sie mal etwas zu sagen hatte, dann hatte es auch Gewicht. Meistens bezog es sich auf den Lebenswandel von Maximilian Trenker, der der Perle des Pfarrhaushalts ein Dorn im Auge war. Sophie hatte den Bruder des Pfarrers wie einen Sohn in ihr Herz geschlossen, und es gefiel ihr überhaupt nicht, daß er mit seinen beinahe dreißig Jahren noch immer nicht unter der Haube war.

Max indes dachte überhaupt nicht daran, in den Stand der Ehe zu treten. Dazu liebte er seine Unabhängigkeit viel zu sehr. Er war jung und lebenslustig und für jeden Spaß zu haben. Wenn irgendwo eine Gaudi war, dann war Max Trenker meist nicht weit.

Und er war ein Herzensbrecher, und nicht wenige der Madeln weinten sich hinterher bei Sophie Tappert aus. Was dann erneuter Anlaß für die Haushälterin war, Max ins Gewissen zu reden. Im Moment allerdings hatte sie keinen Grund zur Klage, denn der Gendarm von St. Johann hielt sich sehr zurück, was die Frauen betraf. Sein Bruder argwöhnte, der gute Maxl könne in die Jahre gekommen und weiser geworden sein, aber eigentlich wußte der Pfarrer genau, daß es net so war. Dazu machten die Madeln es dem gutaussehenden Mann viel zu leicht.

»Ich pack’ Ihnen nachher noch ein paar Stückl ein«, versprach Sophie Tappert und räumte den Kaffeetisch ab.

»Für mich wird’s Zeit, die Predigt für die Sonntagsmesse zu überarbeiten«, sagte Sebastian und stand auf.

Auch der Kammeier verabschiedete sich mit dem Hinweis, die Kirche für die Abendmesse vorbereiten zu müssen, so daß Max schließlich alleine im Garten saß. Er stand von seinem Platz auf und legte sich in den Liegestuhl, den er zuvor in die Sonne rückte. Genüßlich schloß er die Augen und blieb bis zum Abendessen liegen.

Später, als er schon tief und fest schlief, kam Sophie aus dem Haus und breitete eine Decke über ihn aus.

*

Sandra Hofmayr brachte das Ehepaar Unterleitner zur Tür und kehrte dann auf die Terrasse zurück. Dort genoß sie die wärmenden Strahlen der Sonne. Ausgiebig reckte und streckte sie sich – es war einfach herrlich, endlich Wochenende, und damit zwei freie Tage zu haben.

Das Geschäft in der Kreisstadt lief so erfolgreich, daß sie es sich leisten konnte, am Samstag nicht zu öffnen. Viele ihrer Kunden wußten das und kamen an den anderen Tagen. Sandra hatte sogar eine Verkäuferin eingestellt, die sie zu den Zeiten, in denen die Antiquitätenhändlerin unterwegs war, im Geschäft vertrat.

Alles in allem konnte sie zufrieden sein. Der geschäftliche Erfolg hatte ihr zudem ermöglicht, dieses Haus zu kaufen, das sie auf einer ihrer Touren entdeckt hatte. Es war vor einem guten Jahr, als sie in dieser Gegend unterwegs war. Bei einem Bauern kaufte sie damals einen alten Schrank, der ihr, nachdem er restauriert worden war, einen guten Gewinn einbrachte.

Sandra griff nach der Kaffeekanne auf dem Tisch – und erstarrte. Der Kuchenteller war leer! Dabei hätte sie schwören können, daß eben, bevor sie die Eheleute zur Tür gebracht hatte, noch zwei Stücke darauf lagen.

Sie überlegte – sechs Stücke waren es, nachdem zwei auf mysteriöse Weise verschwunden waren. Von diesen sechs hatte sie selber eines gegessen, Karl Unterleitner ebenfalls, machte mit den zweien, die seine Frau aß, vier Stücke. Natürlich, sie hatte sich nicht getäuscht. Zwei Stücke Kirschkuchen hätten noch auf dem Teller liegen müssen, doch der war leer!

Das konnte doch nur bedeuten, daß – Sandra spürte ihr Herz heftig klopfen – daß sie nicht alleine war. Irgend jemand trieb sich in ihrem Garten umher…

Sandras Augen suchten alles ab, die Büsche, Bäume, die mannshohe Hecke, die das Grundstück zum rechten Nachbarn begrenzte.

Da! War da nicht etwas? Ein bunter, blitzender Fleck?

Sie tat zunächst, als wäre nichts gewesen und schenkte sich eine Tasse Kaffee ein, die sie langsam und bedächtig leerte. Der bunte Fleck bewegte sich unterdessen zwischen den Büschen hin und her, wanderte von hier nach da. Schließlich stand die junge Frau auf und ging langsam durch den Garten, wobei sie die Blumen und Sträucher begutachtete, hier den Reifestand der Äpfel prüfte oder dort eine Kirsche pflückte und in den Mund steckte.

Schließlich stand sie vor dem Busch, hinter dem sie die Person in dem bunten Hemd vermutete. Es war ein riesiger Rhododendron, mit dunklem, dichtem Laub. Es war wirklich nicht leicht, jemanden darin auszumachen, doch Sandra war sicher, sich nicht getäuscht zu haben.

»Komm nur heraus«, sagte sie im strengen Ton. »Ich hab’ dich längst gesehen.«

Es geschah nichts.

»Was ist?« fragte die Frau nach einer Weile. »Soll ich erst den Gendarm rufen?«

»Nein«, antwortete ein dünnes Stimmchen. »Ich komm ja schon.«

Sandra war gespannt. Es raschelte vor ihr, und Zweige knackten, und schließlich kroch ein kleines Mädchen unter dem Busch hervor. Es mochte vielleicht acht Jahre alt sein.

Die Antiquitätenhändlerin riß die Augen auf.

Die Kleine war schmutzig von Kopf bis Fuß. Die blonden Haare waren zerzaust, das bunte T-Shirt und die Jeans fleckig. In den Mundwinkeln klebten rote Flecken – die Überreste vom Kirschkuchen.

Als sie so vor ihr stand und dazu noch eine Arme-Sünder-Miene machte, konnte Sandra nicht an sich halten. Sie lachte laut los.

»Ja, sag mal, wer bist du denn?« fragte sie.

Die Kleine schaute sie von unten her an.

»Ich… ich bin die Nikki«, sagte sie schließlich.

»So, Nikki. Und wie weiter?«

Das Mädchen zögerte.

»Nun, ich höre.«

»Behringer. Ich heiße Nikki Behringer.«

»So, Nikki Behringer, und was machst du in fremder Leute Garten, hm?« fragte Sandra weiter. »Kuchen stehlen? Du warst es doch, die den Kirschkuchen vom Teller genommen hat. Man kann’s ja noch an deinem Mund sehen.«

Die Kleine wischte sich schnell mit der Hand über die Lippen.

»Das nützt dir jetzt auch nix mehr«, meinte die junge Frau weiter. »Du bist überführt.«

»Wenn ich doch solchen Hunger hatte«, erklärte Nikki kleinlaut.

»Ja, bekommst du denn zu Hause net genug zu essen?«

Das Madel hielt den Kopf gesenkt.

»Ich hab’ kein Zuhause«, sagte es mit leiser Stimme.

»Kein Zuhause? Aber wo wohnst du denn? Wo sind denn deine Eltern?«

Nikki schniefte.

»Ich… ich wohn’ im Waisenhaus«, gestand sie. »Und meine Eltern sind schon lange tot.«

»Was? Im Waisenhaus?«

Sandra spürte einen tiefen Stich, den ihr dieser Satz versetzte. Sie legte ihren Arm um die Kleine, die einen ängstlichen Eindruck machte.

»Nun komm erst einmal mit«, sagte sie beruhigend. »Du brauchst keine Angst haben. Das mit dem Gendarm war net so gemeint. Hast du denn immer noch Hunger?«

Sie zog das Kind mit auf die Terrasse. Nikki beantwortete die Frage mit einem Kopfnicken.

»Na, dann wollen wir mal sehen, was wir noch für dich zu essen finden. Wie wär’s mit einem Eis? Und vielleicht einen Kakao dazu?«

»O ja.«

Nikki war begeistert. Gehorsam setzte sie sich in einen Sessel, während Sandra Hofmayr in die Küche ging. In der Gefriertruhe fand sie eine Packung Vanilleeiscreme. Sie füllte eine nicht zu kleine Portion in ein Glasschälchen und stellte ein Glas mit kaltem Kakao dazu. Nikki bekam große Augen, als sie das Eis sah.

»Schmeckt’s?« fragte die junge Frau, die mit Vergnügen zusah, wie das Kind das Eis in sich hineinschlang.

»Super«, antwortete Nikki zwischen zwei Löffeln.

»Sag’ mal, mußt du denn net ins Heim zurück?« fragte Sandra. »Wieso bist du überhaupt alleine unterwegs?«

Die Kleine antwortete nicht, sondern schaute nur sonderbar auf die Frau. Die Antiquitätenhändlerin sah das Kind forschend an und eine merkwürdige Ahnung stieg in ihr auf.

»Sag’, bist’ gar ausgerissen?«

Nikki druckste eine Weile herum und nickte.

»Ich geh’ aber net zurück«, sagte sie trotzig. »Die anderen Kinder sind doof, und die Tanten im Waisenhaus sind überhaupt net lieb zu mir. Und wenn ich doch zurück muß, dann lauf’ ich wieder weg!«

Dabei schluchzte sie heftig. Unwillkürlich nahm Sandra sie in den Arm.

»Beruhig’ dich doch«, sagte sie sanft. »Du mußt ja net zurück. Zumindest net sofort. Paß auf,

wir zwei spielen erst einmal was Schönes, Mensch-ärgere-dich-nicht vielleicht, oder Schwarzer Peter, und nachher darfst du baden, und deine Sachen stecken wir in die Waschmaschine. Oben ist ein Gästezimmer, in dem kannst du schlafen, während deine Sachen trocknen. Was hältst du davon?«

»Au ja«, rief Nikki begeistert. »Mensch-ärgere-dich-nicht spiel’ ich am liebsten.«

»Na prima. Dann fangen wir doch gleich an. Noch haben wir herrliches Wetter, so daß wir auf der Terrasse spielen können.«

*

Sie spielten vier Runden, und es stellte sich heraus, daß Nikki eine wahre Meisterin in dem Spiel war. Gnadenlos warf sie Sandras Steine vom Spielbrett und gewann jedesmal.

»Also, jetzt geb’ ich auf«, sagte die junge Frau. »Du bist mir einfach über.«

Nikki lachte herzerfrischend und kuschelte sich in Sandras Arm, so daß ihr ganz warm ums Herz wurde.

»Gleich sieben Uhr«, stellte Sandra fest. »Zeit für’s Abendessen. Worauf hast du denn Appetit?«

»Was gibt’s denn?« fragte das Mädchen zurück.

»Eine Wurstsemmel könnt’ ich dir anbieten, oder eine Hühnersuppe. Aber die müßt ich erst auftauen.«

»Ich nehm’ die Semmel«, meinte Nikki. »Am liebsten mit Leberwurst.«

»Die eß’ ich auch am liebsten«, sagte Sandra und eilte in die Küche. »Noch einen Kakao dazu?«

»Ja«, rief das Madel und legte unterdessen das Spiel zusammen.

Wenig später saßen sie im Schein der langsam untergehenden Sonne und verzehrten ihr Abendbrot. Sandra schaute verträumt auf die Kleine, die ihre Semmel mit sichtlichem Vergnügen aß. Sie hatte sich immer ein Kind gewünscht, ein Madel, so wie Nikki, dem der Schalk aus den Augen blitzte. Aber dazu war es nicht gekommen. Ihre Ausbildung zur Antiquitätenhändlerin hatte ihr keine Zeit gelassen, den richtigen Mann kennenzulernen. Und jetzt war sie so sehr in ihren Beruf eingespannt, daß sie froh war, wenn sie Wochenende hatte, da sie die Feierabende nutzte, um die Buchführung auf den neuesten Stand zu bringen.

Ja, wenn sie es recht bedachte, dann war die Liebe in ihrem Leben bisher zu kurz gekommen, dabei waren Mann und Kind doch das, was sie sich wünschte. Aber mit Anfang dreißig war es ja auch noch nicht zu spät dafür.

Und jetzt setzte ihr das Schicksal dieses Kind praktisch in den Garten. Sollte es vielleicht ein Wink sein? Nikki lebte in einem Waisenhaus, in dem sie sich offensichtlich nicht wohl fühlte. Was wäre, wenn sie die Kleine zu sich nahm? Natürlich würde sie dann beruflich kürzer treten müssen, schließlich wollte so ein Kind auch betreut werden. Aber das würde sich schon finden.

Je länger sie Nikki anschaute, um so mehr freundete sie sich mit diesem Gedanken an. Gut, wahrscheinlich würde sie für’s erste wieder zurück ins Heim müssen. Doch wenn ihr in Aussicht gestellt würde, in absehbarer Zeit für immer bei Sandra zu bleiben, konnte das ihr die Rückkehr ein wenig leichter machen. Sandra dachte an eine frühere Klassenkameradin, die jetzt als Rechtsanwältin in der Kreisstadt praktizierte. Gleich am Montag wollte sie die Anwältin aufsuchen und sich beraten lassen.

Nikki hatte ihre Semmel verdrückt und den Kakao ausgetrunken. Jetzt gähnte sie müde.

»Ich geh’ schnell nach oben ins Bad und laß’ dir Wasser für ein Bad ein«, sagte Sandra. »Dann kannst’ schnell ins Bett gehen. Es dauert nur ein paar Minuten.«

Oben ließ sie warmes Wasser in die Wanne laufen, gab etwas Badeschaum dazu und legte zwei Handtücher zurecht. Fünf Minuten später ging sie an die Treppe.

»Das Bad ist fertig, Nikki. Kannst kommen«, rief sie hinunter.

Unten rührte sich nichts.

»Nikki!« rief sie noch einmal.

Das Kind gab keine Antwort. Stirnrunzelnd ging Sandra nach unten und durchquerte das Wohnzimmer.

»Nikki…?«

Ratlos stand die junge Frau in der Terrassentür. Der Sessel, in dem das Kind gesessen hatte, war leer. Sandra schaute sich um. Nirgendwo war etwas von der Kleinen zu sehen. Sie ging hinunter in den Garten und rief immer wieder nach dem Mädchen, doch es kam keine Antwort. Schließlich suchte sie Haus und Garten systematisch ab, doch Nikki war unauffindbar.

Ratlos setzte Sandra sich schließlich in einen Sessel. Es gab nur eine Erklärung – Nikki war wieder fortgelaufen. Aber warum?

Ein trauriger Zug stahl sich in das schöne Gesicht der jungen Frau. Sie hatte die Kleine in der kurzen Zeit ihres Kennenlernens so lieb gewonnen, daß sie bereit gewesen war, Nikki aus dem Waisenhaus zu holen und für immer bei sich aufzunehmen. Sie konnte nicht fassen, daß dieser schöne Traum so plötzlich wieder vorbei sein sollte.

Und sie vermißte den kleinen Dreckspatz schrecklich.

*

Conny Beerlach zügelte den Hengst und stieg ab. Sie führte Fender in den Stall und rieb ihn mit Stroh trocken, nachdem sie ihn abgesattelt hatte. Dann füllte sie die Tröge in der Box mit Wasser und Hafer und schaute zu, wie Fender sich daran gütlich tat.

Die angehende Pferdewirtin machte ihre Ausbildung auf dem Reiterhof Vilsharder, einem ehemaligen Bauernhof, der von seinem jetzigen Besitzer, Michael Vilsharder, nach und nach zu einem ›Ferienhotel auf dem Lande‹ umgebaut worden war. Neben anderen Attraktivitäten, die ein Bauernhof für einen Städter zu bieten hatte, waren die Reiterferien ein besonderes Angebot. Vierzig Tiere standen zur Verfügung, wer wollte, konnte sogar sein eigenes Pferd mitbringen und unterstellen. Für diesen Fall gab es eine Reihe von Gastboxen.

Der fünfzigjährige Vilsharder hatte schon vor Jahren den Trend erkannt, Ferien auf dem Bauernhof wurden immer beliebter. Zwar wurde noch einiges an Land- und Viehwirtschaft betrieben, doch das eigentliche Geschäft war der Hotelbetrieb. Dabei standen die Pferde unter der Obhut von Florian Vilsharder, der auf Anraten des Vaters gleich nach der Schule eine Ausbildung zum Pferdewirt absolvierte. Inzwischen durfte er selber ausbilden. Conny Beerlach war zur Zeit als einziger Lehrling auf dem Hof.

Sie hatte den Hengst nur mäßig bewegt. Eine Entzündung am rechten vorderen Sprunggelenk, war noch rechtzeitig erkannt worden. Mit Salbe und einem festen Verband hoffte der Tierarzt, die Entzündung stoppen zu können. Conny kümmerte sich seitdem besonders intensiv um Fender. Zwar war sie schon von Kindheit an eine Pferdenärrin, die alle Tiere auf dem Hof liebte, doch der fuchsrote Hengst hatte es ihr besonders angetan.

Und Fender schien diese Liebe zu erwidern. Wenn Conny morgens in den Stall kam, begrüßte er sie mit einem freudigen Schnauben und scharrte ungeduldig mit den Hufen, weil er wußte, daß es gleich hinausgehen würde. Im wilden Galopp fegten sie durch das Tal, die Almwiesen hinauf, und erst in den höheren Lagen wurde es langsamer. Aber Conny spürte förmlich, wieviel Freude der Hengst daran hatte. Im Moment jedoch mußten sie auf diese ungestümen Ausritte verzichten. Nur im leichten Gang ging es über den Hof auf die angrenzende Weide, auf der die anderen Pferde standen, sofern sie nicht an Reiter vermietet waren.

»Na, wie geht’s unserem Sorgenkind?« erkundigte sich Florian Vilsharder, der eben in den Stall gekommen war.

»Ich glaub’ schon viel besser«, sagte Conny. »Wir sind jeden Tag ein bissel länger draußen.«

»Gut so«, nickte Florian und schaute auf die Uhr. »Dann mach mal Schluß für heute. Du hast in den letzten Tagen sowieso zuviel gerackert. Ich wett’, da ist jemand anderer zu kurz gekommen.«

Er zwinkerte ihr zu, und Conny spürte, wie sie errötete. Mit diesem Jemand war Rob gemeint, Connys neuer Freund Robert Wilke.

Auf der Kirmes in Engelsbach hatten sie sich kennengelernt. Rob hatte das Madel auf seinem Motorrad zurück zum Vilsharderhof gebracht, nachdem sie ausgiebig Karussell gefahren waren und Bratwurst und Zuckerwatte gegessen hatten. Zum Schluß hatte Rob dem Madel ein riesiges Lebkuchenherz gekauft. Darauf stand mit Zuckerguß geschrieben: Für immer dein.

Als er Conny dann an der Einfahrt zum Reiterhof absetzte, war es ganz selbstverständlich, daß sie sich wiedersehen würden, und das Madel erlebte zum ersten Mal in seinem jungen Leben die große Liebe.

Tatsächlich war Rob Wilke Fender gegenüber im Nachteil – zumindest in den letzten Tagen, das hatte Florian Vilsharder ganz

richtig erkannt. Die Sorge um den Hengst ließ Conny alles andere um sich herum vergessen. Wenn man nicht aufgepaßt hätte, würde das Madel wahrscheinlich noch im Stall übernachtet haben, um dem geliebten Tier nahe zu sein. Sie kümmerte sich wirklich Tag und Nacht um Fender. Und so hatte Florian sich überlegt, seiner jungen Auszubildenden den Rest des Tages freizugeben. Trotzdem ging sie erst, nachdem das Pferd zu Ende gefressen hatte und der Verband gewechselt war.

Rob erwartete seine Freundin schon ungeduldig.

»Was machen wir mit dem geschenkten halben Tag?« wollte das Madel nach der Begrüßung wissen.

Rob reichte ihr den zweiten Helm und half, den Kinnriemen zu befestigen.

»Du hast die freie Auswahl«, sagte er. »Zuerst ins Kino und dann zum Italiener, Pizza essen – oder umgekehrt.«

»Schöne Auswahl«, lachte Conny und stieg auf. »Aber du hast dir schon das richtige ausgedacht. Ich habe großen Hunger. Also erst die Pizza und hinterher ins Kino.«

*

Es war schon spät am Abend, als Rob Conny zum Hof zurückbrachte. Zwar stammte das Madel aus St. Johann, und die Eltern wohnten dort, doch für die Zeit ihrer Ausbildung hatte Conny ein Zimmer auf dem Reiterhof, der knapp zehn Kilometer von dem kleinen Bergdorf entfernt war.

Vor der Einfahrt verabschiedeten sie sich.

»Du brauchst net warten«, sagte sie nach dem Abschiedskuß. »Ich seh’ noch mal schnell nach Fender, und hier auf dem Hof wird mir schon nichts passieren.«

Rob winkte ihr noch einmal zu, bevor er seine Maschine startete. Conny stapfte schon über den Hof.

Merkwürdig, dachte sie kurz, als alles dunkel blieb. Eigentlich hätte ein Bewegungsmelder die große Lampe vor den Pferdeställen einschalten müssen. Die flammte immer auf, sobald jemand im Finstern über den Hof ging.

Das Madel schenkte dem Umstand allerdings keine volle Aufmerksamkeit. Sie wollte so schnell wie möglich nach dem Hengst sehen. Unruhig wurde sie dann aber doch, als sie den Lichtschalter gleich neben der Stalltür betätigte, das Licht aber nicht anging. Sie blieb einen Moment stehen, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Die Pferde in ihren Boxen hatten die Witterung des Madels aufgenommen. Sie schnaubten.

Und dann geschah es ganz überraschend. Aus dem Dunkel des Stalls sprang eine Gestalt hervor, stürzte sich auf Conny und riß sie zu Boden. Das Madel, vor Schreck wie gelähmt, war unfähig zu schreien. Die Gestalt drückte sie fest an den Boden.

»Laß die Hände von Rob«, zischte eine Stimme. »Sonst passiert hier wirklich was. Das war jetzt eine Warnung. Das nächste Mal ist der Hengst dran.«

Die Gestalt ließ sie los, sprang auf und verschwand durch die Stalltür.

Langsam richtete sich die angehende Pferdewirtin auf. Sie zitterte am ganzen Körper, als sie sich vorsichtig durch den Stall tastete und den Sicherungskasten suchte. Schließlich fühlten ihre Hände ihn. Auf dem Kasten lag eine Taschenlampe. Conny schaltete sie ein und sah, daß die Sicherungen für den Stall und die Hofbeleuchtung ausgeschaltet waren. Sie legte die beiden Schalter um, und schlagartig wurde es hell.

Das Madel rannte zu Fenders Box. Es atmete erleichtert auf, als es sah, daß der Hengst wohlauf war. Das Madel legte seinen Kopf an den Hals des Tieres und streichelte ihm sanft über den Rücken.

»Gott sei Dank«, flüsterte sie.

So blieb sie eine ganze Weile stehen, bis sie sich endlich losriß und schlafen ging. Um fünf würde schon wieder der Wecker klingeln. Da blieben nur noch ein paar Stunden Schlaf.

Der aber wollte sich gar nicht einstellen. Ruhelos wälzte sich das Madel in seinem Bett. Immer wieder hörte sie die Warnung, die die Unbekannte – es konnte sich nur um eine Frau handeln – ihr ins Ohr gezischt hatte.

»Laß die Hände von Rob!«

*

Es war noch früh am Samstag morgen, als Pfarrer Trenker zu einer Bergwanderung aufbrach. Diese Morgenstunden waren ihm die liebsten. Ganz alleine wanderte er die Pfade hinauf und labte sich an der Schönheit der Gebirgswelt. Wie altvertraute Freunde grüßten die Zwillingsgipfel, der Himmelsspitz und die Wintermaid, und von der Hohen Riest, einer breiten Felsformation, die über dem Höllenbruch lag, hatte er einen herrlichen Rundblick auf das Tal und das Dorf.

Dort oben machte er eine erste Rast, bevor er weiterging. Ein Besuch auf der Korber-Alm war schon lange mal wieder fällig. Zum einen freute sich die Sennerfamilie, wenn der Seelsorger sie besuchte, zum anderen freute Sebastian sich auf die leckere Mittagsmahlzeit, die es auf der Hütte gab.

Heute war es ein Schwammerl-Ragout mit Semmelknödeln. Die Pilze dazu hatten der Senner und seine Frau selbst gesucht. Die Portion war so reichlich bemessen, daß Sebastian seinen restlichen Proviant, der für den Rückweg gedacht war, wahrscheinlich gar nicht mehr essen konnte.

Ausgeruht und gesättigt machte er sich gegen Nachmittag an den Abstieg. Noch eine Rast wollte er einlegen. Bevor er den Höllenbruch, ein unwegsames Waldgebiet, durchquerte, würde er auf eine Hütte stoßen. Dort legte er immer eine Pause ein.

Nicht, daß er sie gebraucht hätte. Sebastian Trenker war sportlich durchtrainiert und kam nicht so schnell aus der Puste. Wer es nicht wußte, hätte in diesem agilen Wandersmann kaum den Geistlichen vermutet. Eher schon einen überdurchschnittlichen Sportler. Allerdings hatte man ihn auch schon für einen Schauspieler gehalten, was Pfarrer Trenker mit einem Lächeln quittierte. Die Menschen waren immer wieder verblüfft, wenn sie feststellten, daß er einen Beruf hatte, dem sie ihm überhaupt nicht zuordneten.

Sebastian schaute zum Himmel, an dem sich ein paar graue Wolken zusammenschoben. Wenn er sich beeilte, erreichte er die Hütte gerade noch, bevor der Regen einsetzte. Gerade als er die Tür aufstieß, platschten die ersten Tropfen herunter.

Pfarrer Trenker schloß die Tür hinter sich und sah erstaunt, daß er nicht der einzige Wanderer war, der in der Hütte Schutz gesucht hatte. An dem groben Holztisch saß ein kleines, ziemlich schmutziges Madel und schaute den Mann mit großen Augen an.

»Ja, grüß dich«, sagte Sebastian freundlich. »Wer bist du denn?«

»Ich heiße Nikki«, antwortete die Kleine. »Und wie heißt du?«

»Ich bin der Sebastian«, antwortete der Geistliche. »Hast auch Schutz vor dem Regen gesucht, was?«

Sie nickte. Sebastian schnallte seinen Rucksack ab und stellte ihn auf den Tisch. Ihm fiel auf, daß die Kleine gar keine Jacke anhatte.

»Sag’ mal, frierst du gar net?« fragte er. »So warm ist es doch gar net hier oben.«

Überhaupt kam die Sache merkwürdig vor. Was machte das Kind eigentlich ganz alleine hier oben? Gut, bis ins Tal war es von hier aus nur noch eine knappe Stunde zu laufen, aber dennoch…

»Bist du etwa allein hier?«

Nikki zuckte mit der Schulter. Na und, sollte es wohl heißen. Draußen regnete es inzwischen heftig. Wahrscheinlich würde es aber nicht lange dauern.

»Also, Nikki, raus können wir im Moment net«, sagte Pfarrer Trenker. »Also machen wir’s uns hier drinnen gemütlich. Weißt, ich hab’ da noch ein paar Brote und etwas Saft in meinem Rucksack. Wenn du magst, geb ich dir gern etwas davon ab.«

Die Kleine nickte und biß herzhaft in das angebotene Brot. Sie aß mit solch einem Appetit, daß Sebastian nur staunen konnte.

»Nun erzähl doch mal«, forderte der Geistliche das Kind auf. »Wo wohnst du denn eigentlich? Suchen deine Eltern dich net? Sie machen sich doch bestimmt Sorgen, wenn du bei solch einem Wetter net nach Hause kommst.«

Nikki schniefte ein wenig und schaute bekümmert drein.

»Ich hab’ keine Eltern mehr«, sagte sie. »Eigentlich wohn ich im Heim, aber da bin ich fortgelaufen.«

Sebastian war fassungslos.

»Fortgelaufen? Aber warum denn?«

Nikki erklärte, daß die anderen Kinder doof und die Tanten nicht nett seien.

»Hm, was mach ich denn jetzt mit dir?«

Nach und nach erfuhr der Seelsorger noch ein paar Einzelheiten. Das Waisenhaus sei in Engelsbach, und Birte Obermooser das doofste Mädchen überhaupt.

»Tja, dann nehm ich dich wohl am besten erstmal mit zu mir nach Hause«, schlug Sebastian vor. »Was meinst du?«

Das Mädchen schielte nach dem letzten Brotpäckchen. Der Pfarrer schob es ihr hin. Nikki wickelte es aus und biß hinein.

»Gibt’s noch mehr Brot bei dir?« fragte sie.

»Bestimmt«, meinte der Geistliche. »Meine Haushälterin backt selbst. Es ist immer genug Brot im Haus.«

»Und gibt es was zum Spielen?«

Sebastian hatte etliche Spiele, darunter auch einige für Kinder in Nikkis Alter, die er auf sieben oder acht Jahre schätzte.

*

»Acht bin ich«, erklärte die Kleine, als sie später ins Tal hinuntergingen.

Der Regen hatte nach einer Weile wieder aufgehört. Es war eine erfrischende Sommerdusche gewesen, jetzt roch das Gras danach.

»So, acht Jahre alt. Da bist eigentlich noch zu jung für ein solches Abenteuer. Meinst net auch? Schließlich ist es net ganz ungefährlich in den Bergen.«

»Ich hab’ einen Schutzengel«, erklärte das Madel mit einem überzeugten Ton, der den Pfarrer unwillkürlich schmunzeln ließ.

Sie erreichten St. Johann, und Nikki staunte nicht schlecht, als die Leute, die ihnen begegneten, den Mann an ihrer Seite mit »Grüß Gott, Herr Pfarrer« begrüßten.

»Bist du wirklich der Pfarrer?« fragte sie neugierig.

Sebastian nickte.

»Ja, gleich wirst’ sehen, daß es stimmt. Da drüben ist die Kirche, und gleich daneben steht das Pfarrhaus, in dem ich wohne. Wenn du magst, kannst vielleicht eine Weile dableiben, bis ich das mit dem Waisenhaus geregelt hab’.«

Sebastian Trenker ging über den Kiesweg voran zum Pfarrhaus, deshalb konnte er den merkwürdigen Blick nicht sehen, mit dem die Kleine ihn bedachte. Als er gerade die Tür öffnen wollte, kam Sophie Tappert heraus. Zuerst sah sie nur den Geistlichen, als sie dann das Kind bemerkte, blieb ihr Mund vor Überraschung offen.

»Du lieber Himmel, wer ist das denn?« fragte sie völlig entgeistert.

»Das ist die Nikki…«

Sebastian drehte sich zu der Kleinen um.

»Wie heißt du eigentlich mit Nachnamen?«

»Behringer.«

»Aha. Das ist also Nikki Behringer«, sagte der Pfarrer zu seiner Haushälterin. »Und das ist Frau Tappert, die gute Seele unseres Pfarrhaushalts.«

»Wo haben S’ die denn her?« wollte Sophie wissen und schüttelte innerlich den Kopf.

Was Hochwürden hier so alles anbrachte!

Und wie das Kind ausschaute – schmutzig von Kopf bis Fuß! Der Geistliche ahnte, was seine Haushälterin dachte. Er legte seine Hand auf Nikkis Kopf und schaute Sophie bittend an.

»Gell, Frau Tappert, Sie haben doch bestimmt noch etwas von dem Eintopf übrig, den S’ heut mittag für sich und

den Max gekocht haben?« fragte er. »Die Nikki hat einen ziemlich großen Hunger, und ich könnt’ auch einen Teller vertragen.«

»Ja, natürlich ist noch was

da.«

Sophie sah Nikki stirnrunzelnd an.

»Aber zuerst gehst’ dir die Hände waschen und das Gesicht«, ordnete sie an. »Komm, ich zeigt dir, wo’s Bad ist.«

In der Zwischenzeit wärmte sie den Eintopf vom Mittag wieder auf.

»Woher kommt denn das Madel?« fragte sie Sebastian, der auf der Eckbank Platz genommen hatte.

Der Geistliche erzählte, unter welchen Umständen er Nikki kennengelernt hatte. Sophie Tappert hörte ihm ungläubig zu.

»Fortgelaufen? Aus dem Waisenhaus? Das ist ja unglaublich. Was machen wir denn jetzt mit dem Kind? Wir können’s doch net behalten.«

»Natürlich net. Aber zurück ins Waisenhaus kann’s auch net. Wenn die Kleine fortgelaufen ist, dann wird es dafür schon einen Grund geben.«

»Wahrscheinlich hat sie was angestellt und hat jetzt Angst vor der Strafe«, argwöhnte die Haushälterin.

»Ich werd’ jedenfalls gleich nach der Abendmesse das Waisenhaus in Waldeck anrufen und mich erkundigen, ob dort ein Kind vermißt wird. Sollte es der Fall sein, werd’ ich zunächst alleine dorthin fahren und mit der Heimleiterin sprechen.«

Auf dem Flur war ein Geräusch zu hören.

»Aber jetzt kein Wort mehr von dem Waisenhaus«, ordnete der Pfarrer an.

Nikki kam herein. Sebastian rückte auf der Bank weiter und forderte sie auf, sich zu setzen. Sophie Tappert hatte tiefe Teller auf den Tisch gestellt und füllte von der Suppe auf. Ganz viele verschiedene Gemüse waren darin, die alle aus dem Pfarrgarten stammten, außerdem Hackfleischklößchen und Kräuterspätzle.

»Schmeckt’s dir?« erkundigte sich Sebastian bei der Kleinen.

»Super!« erklärte Nikki und strahlte Sophie Tappert so freudig an, daß die Frau ganz versöhnlich wurde und über die schmutzigen Sachen, die das Kind trug, hinwegsah.

»Ich muß mich jetzt leider von dir verabschieden, Nikki«, sagte Pfarrer Trenker. »Weißt’, ich muß mich für die Abendmesse vorbereiten. Frau Tappert wird ein wenig mit dir spielen, und wenn du nachher magst, dann kommst’ zur Messe in die Kirche hinüber.«

Er wandte sich an seine Haushälterin.

»Sie kümmern sich ein bissel um sie, net wahr?«

Sophie nickte. Irgendwie hatte sie die Kleine in der kurzen Zeit schon sehr in ihr Herz geschlossen, und das Schicksal des Kindes ging ihr nahe.

»Aber natürlich«, antwortete sie. »Was magst denn am liebsten spielen?«

»Mensch-ärgere-dich-nicht, oder vielleicht Spitz-paß-auf«, erklärte Nikki, während sie noch ihren Teller leerputzte.

»Na, ich werd’ mal schauen, welche Spiele wir haben. Ich glaub’, in dem Regal neben dem Pfarrbüro sind einige.«

*

Ilona Gruber ging unruhig in dem großen Wohnzimmer auf und ab. Es gehörte zu einer riesigen Villa am Rande von Waldeck. Die Villa stand auf einem zweitausend Quadratmeter großem Grundstück, versteckt hinter hohen Tannen und von einer Hecke zur Straße hin abgeschirmt. Auf der Rückseite, gleich an der Terrasse, gab es einen Swimmingpool, dahinter lag der parkähnliche Garten. Über der Doppelgarage war eine Wohnung gebaut, die der Hausmeister mit seiner Frau bewohnte. Beide waren im Moment ebenso wenig zu Hause, wie der Besitzer des Anwesens oder dessen Tochter. Einzig Ilona, die sechsundzwanzigjährige Kinderfrau, hielt sich in der Villa auf. Ihre unwillige Miene deutete darauf hin, daß etwas geschehen war, das ihren Mißmut hervorgerufen hatte.

Die junge Frau hob die Hände empor.

»Himmel, wo bleibst sie denn nur?« rief sie aus, obgleich sie wußte, daß niemand sie hören konnte.

Lange mache ich es nicht mehr mit! Wie oft hatte sie sich diesen Satz schon gesagt. Und wäre da nicht ihr Chef gewesen – sie hätte ihr Vorhaben längst in die Tat umgesetzt. Denn was dieses kleine Biest sich leistete, war schier unglaublich. Nichts, was Ilona anordnete, wurde befolgt, weder das Zimmer aufgeräumt noch die Hausaufgaben vorgelegt. Nikki machte einfach, was sie wollte. Und wenn Ilona Gruber aus der Haut fuhr und sie anschrie, dann drehte das Mädchen sich einfach um und ging hinaus.

»Sag’s doch meinem Papi«, hatte es einmal gesagt und frech dabei gegrinst. »Dann erzähl ich, daß du immer telefonierst, wenn niemand im Haus ist.«

Ilona hatte vor Wut nach Luft geschnappt, aber nichts weiter unternommen, denn sie liebte Oliver Behringer, den reichen Im- und Exportkaufmann, der eine große Firma mit zahlreichen Filialen leitete. Und auch wenn es bisher nicht den Anschein hatte, als würde Nikkis Vater auf Ilonas kleine Liebesbezeugungen reagieren, ja, sie überhaupt wahrnehmen, gab die junge Frau nicht die Hoffnung auf, eines Tages Frau Behringer zu sein.

Dennoch – so konnte es mit Nikki nicht weitergehen. Die Kleine nutzte es schamlos aus, daß ihr Vater viel zu wenig Zeit hatte, sich um sie zu kümmern. Wenn sie wußte, daß Oliver Behringer für ein paar Tage nicht zu Hause sein würde, gab es für Nikki kein Halten mehr. Schon von der Schule kam sie nicht mehr heim. Sie versteckte irgendwo ihren Ranzen und stromerte bis zum Anbruch der Dunkelheit umher. Wenn sie dann endlich nach Hause kam, von oben bis unten schmutzig, gab sie auf Ilonas Fragen keine Antwort. Meistens ging sie unter die Dusche und verschwand dann wortlos in ihrem Zimmer.

Das war der Moment, den Ilona Gruber am meisten herbeisehnte.

Die Kinderfrau bewohnte zwei großzügige Zimmer im ersten Stock der Villa, zu denen auch ein eigenes Bad gehörte. Wenn Nikki endlich schlief, hatte Ilona Zeit für sich. War sie alleine mit dem schlafenden Kind, ging sie durch alle Räume. Dabei malte sie sich ihre Zukunft an der Seite von Oliver Behringer in den schönsten Farben aus. In ihrer Phantasie sah sie sich als Gastgeberin glanzvoller Empfänge und Gesellschaften. Die gab es jetzt zwar hin und wieder auch – in seiner Stellung war Oliver ganz einfach dazu verpflichtet –, doch da war Ilona nur die Erzieherin der Tochter des Hauses, nicht die Hausherrin selbst.

Aber das sollte sich nach ihren Vorstellungen schon noch ändern. Sie mußte nur Geduld haben. Und vor allem Nikki auf ihre Seite bringen. Darum ließ sie der Kleinen auch alle erdenklichen Freiheiten – jetzt noch. Würde sie erst einmal Frau Behringer und damit Nikkis Stiefmutter sein, dann würde sie andere Saiten aufziehen. Am besten steckte sie die Göre in ein Internat. Möglichst weit fort.

Aber bis dahin war es noch ein langer Weg. Zunächst galt es, Oliver Behringer zu umgarnen. Ilona gab sich redliche Mühe dabei. Sie tat alles, was eine liebende Ehefrau tat, wenn ihr Mann abends von der Arbeit nach Hause kam. Ein tolles Essen wartete auf ihn, sein Lieblingswein war geöffnet, und Abendzeitung und Zigarre warteten schon auf dem kleinen Tisch im Erker des Hauses, wo Oliver gerne saß und aus dem Fenster schaute.

Doch bisher war er für ihre Bemühungen noch nicht so recht empfänglich gewesen. Ob er die glühenden Blicke wahrnahm, die sie ihm zuwarf, ließ er sich jedenfalls nicht anmerken.

Ein Geräusch an der Haustür deutete an, daß Nikki endlich nach Hause gekommen war. Ilona lief über den Flur in die Eingangshalle und nahm das Kind in Empfang.

»Wo kommst du denn jetzt her?« fragte sie in einem ängstlichen Ton, der allerdings nur gespielt war. »Ich habe mir große Sorgen gemacht.«

»Ich hab’ gespielt«, gab die Kleine zur Antwort.

»Ach, Nikki«, sagte die Kinderfrau und versuchte, sie in ihre Arme zu ziehen. »Warum bist du denn immer so schnippisch zu mir? Magst’ mich denn überhaupt nicht?«

Mit einer entwaffnenden Ehrlichkeit schüttelte das Kind den Kopf. Eine Geste, die Ilona Gruber beinahe schon wieder aus der Haut fahren ließ. Doch sie beherrschte sich und machte gute Miene zum bösen Spiel. Dabei war sie schon in Wut geraten, als sie das Kind nur gesehen hatte, schmutzig, wie ein Straßenjunge, die Hose und das T-Shirt sahen aus, als wären sie aus dem Müll.

»Komm, geh schnell duschen«, sagte sie. »Ich back dir unterdessen eine Pizza auf. Die magst du doch.«

»Ich hab’ schon gegessen«, gab Nikki zur Antwort und verschwand die Treppe hinauf.

Ihr Zimmer lag neben denen, die Ilona bewohnte. Nikki huschte unter die Dusche, zog dann ihren Schlafanzug an und hockte sich anschließend unten im Salon vor den Fernseher. Am liebsten hätte Ilona ihr die Fernbedienung weggenommen, doch sie fürchtete, Nikki würde dann ihre Drohung wahrmachen, dem Vater etwas zu erzählen. Selbst wenn es nicht stimmte, Oliver Behringer liebte seine Tochter abgöttisch und würde ihr alles glauben. Also setzte sich Ilona Gruber in einen Sessel und blätterte gelangweilt in einer Zeitschrift. Dabei hoffte sie, daß Nikki endlich müde wurde und schlafen ging.

*

Sebastian verließ gerade die Kirche, als seine Haushälterin auf ihn zustürzte.

»Die Nikki ist fort«, rief sie, noch bevor sie den Pfarrer erreicht hatte.

»Wie fort?« fragte der Geistliche.

Sophie Tappert rang verzweifelt die Hände.

»Ich weiß net warum, aber sie ist fortgelaufen. Drei Runden Mensch-ärgere-dich-nicht haben wir gespielt, dann hab’ ich ein Bad für sie eingelassen. Als ich die Nikki rufen wollte, war sie weg. Im ganzen Haus net eine Spur von ihr.«

»Das ist ja merkwürdig«, sagte Pfarrer Trenker stirnrunzelnd. »Ich werd’ gleich mal mit dem Augustinerinnenheim in Waldeck telefonieren.«

Im Pfarrbüro fand sich eine Liste mit den wichtigsten Telefonnummern, darunter auch die des Waisenhauses. Sebastian wählte und wartete ab. Das Heim, das früher ein Augustinerinnenkloster gewesen war, stand heute unter staatlicher Leitung. Nach mehrfachem Klingeln meldete sich am anderen Ende eine weibliche Stimme.

»Grüß Gott, Frau Rhönthal, hier ist Pfarrer Trenker aus Sankt Johann«, sagte Sebastian.

Er kannte die Heimleiterin von gelegentlichen Besuchen.

»Guten Abend, Hochwürden, was kann ich für Sie tun?«

»Ich weiß net, ob nicht viel eher ich etwas für Sie tun kann«, antwortete er.

Erstauntes Schweigen am anderen Ende der Leitung.

»Es geht um eines Ihrer Kinder«, erklärte der Geistliche. »Das kleine Madel, das Ihnen fortgelaufen ist.«

»Also, das muß ein Irrtum

sein, Hochwürden«, erwiderte die Heimleiterin. »Wir haben

gerade unser Abendessen beendet. Alle Kinder sind vollzählig und auf dem Weg in die Betten.«

»Ach, dann ist die Nikki doch noch rechtzeitig wieder zurückgekommen?« fragte Sebastian erleichtert.

Erika Rhönthal gab ein merkwürdiges Geräusch von sich.

»Nikki?« fragte sie. »Wer soll das sein? Ich kenn kein Kind, das so heißt.«

Der Seelsorger war ratlos.

»Soll das heißen, Sie haben den Tag über gar kein Kind vermißt? Und in Ihrer Obhut ist auch keines, das Nikki Behringer heißt? Ein kleiner Blondschopf, acht Jahre alt?«

»Aber nein, Hochwürden, ich höre diesen Namen zum ersten Mal. Und ein Kind wird bei uns auch net vermißt.«

Pfarrer Trenker wußte nicht, was er von der Sache halten sollte. Es gab eigentlich nur eine Erklärung – die Kleine hatte ihn angeschwindelt. Die Geschichte mit dem Waisenhaus mußte sie sich ausgedacht haben. Vermutlich hießt sie auch nicht einmal Nikki Behringer.

»Dann ist das ganze wohl ein Irrtum«, sagte er zu der Heimleiterin. »Bitte entschuldigen Sie die Störung.«

»Warum, Hochwürden? Da gibt es nichts zu entschuldigen«, antwortete die Frau. »Aber wollen Sie mir nicht erklären, was hinter dieser Sache steckt?«

Sebastian Trenker lachte.

»Bei meinem nächsten Besuch, Frau Rhönthal, erzähl ich Ihnen alles«, erwiderte er. »Ich glaub’, ich bin heut’ ganz schön reingelegt worden.«

Damit legte er auf. Nachdenklich ging er zu seiner Haushälterin und berichtete, was das Telefonat ergeben hatte.

»Das ist ja merkwürdig«, war Sophies Kommentar. »Dabei hat die Kleine doch einen so netten Eindruck gemacht. Was werden S’ denn jetzt unternehmen?«

Der Geistliche hob die Arme.

»Ich weiß net, was ich von der Geschichte halten soll. Aber so einfach im Sande verlaufen lassen kann ich sie auch net«, meinte er. »Wissen S’, wo der Max steckt? Am besten wird’s sein, wenn er sich darum kümmert.«

Die Haushälterin sah auf die Uhr.

»Wenn S’ Glück haben, erwischen S’ ihn noch bei sich zu Hause. Am Samstag abend geht er doch meistens zum Tanz in den Löwen.«

»Dann werd’ ich es gleich versuchen.«

Sebastian eilte in das Pfarrbüro zurück und wählte Max’ Telefonnummer. Der Gendarm nahm gleich nach dem zweiten Klingeln ab.

»Gut, daß ich dich noch erreiche«, sagte sein Bruder. »Mir ist da heut’ eine merkwürdige Sache passiert. Ich würd’ gern wissen, was du davon hältst.«

Er berichtete, wie und wo er auf das Kind getroffen war, das sich Nikki Behringer nannte, und unter welchen Umständen die Kleine wieder verschwand.

»Das ist wirklich sonderbar«, meinte Max. »Das einzige, was ich da machen könnt’, wäre bei den Kollegen in der Kreisstadt nachzufragen. Bei denen gehen alle Anzeigen und Meldungen ein, wenn in der Gegend jemand vermißt wird. Bei mir hat sich jedenfalls niemand gemeldet, der ein Kind vermißt.«

»Gut, mach das. Ich wart’ so lange.«

Der Rückruf des Polizeibeamten kam schon nach wenigen Minuten.

»Nix«, sagte er. »Absolute Fehlanzeige. Die letzte Vermißtenmeldung liegt acht Wochen zurück, und das war ein Mann, von dem man vermutet, daß

er seiner Frau fortgelaufen

ist.«

»Na, da kann man nix machen. Trotzdem danke, daß du noch mal nachgefragt hast.«

»Na, da net für«, meinte Max. »Aber merkwürdig ist die Sache schon.«

»In der Tat«, gab sein Bruder zurück. »Und ich bin sicher, daß sie mich noch eine ganze Weile beschäftigen wird.«

*

»Conny, was ist denn los mit dir? Du hast doch was.«

Rob Wilke sah seine Freundin eindringlich an. Daß sie seit ein paar Tagen nur noch wenig Zeit für ihn hatte, nahm er ja noch hin. Er konnte durchaus Verständnis dafür aufbringen, daß die Pferdenärrin sich um den Hengst sorgte und so oft wie möglich bei ihm sein wollte. Daß sie jetzt aber, kaum daß sie sich eine Stunde gesehen hatten, darauf drängte, zum Ferienhotel Reiterhof zurückgebracht zu werden, gefiel dem jungen Mann überhaupt nicht.

»Bitte, Rob, es ist wirklich nichts«, wich das Madel aus. »Du weißt doch… und morgen nachmittag sehen wir uns auch.«

»Ja, ja, Fender! Ich frag’ mich nur, was der Kerl hat, das ich net habe.«

Er sagte es mit einem Augenzwinkern.

»Dummkopf«, antwortete Conny und gab ihm einen Kuß. »Du wirst doch net auf ein Pferd eifersüchtig sein?«

»Also, wenn du mit ihm mehr Zeit verbringst als mit mir – dann schon!«

Er seufzte ergeben.

»Also schön, dann fahr ich dich jetzt wieder zurück.«

Sie verabschiedete sich vor der Einfahrt zum Reiterhof.

»Sei net traurig«, tröstete Conny den Freund. »Am Mittwoch hab’ ich frei. Da können wir uns den ganzen Tag sehen.«

»Mittwoch, ja – aber heut’ ist erst Samstag. Kannst du mir sagen, wie ich es bis dahin aushalten soll? Außerdem gehen verliebte Paare am Samstag abend immer aus und net in den Pferdestall.«

Conny lachte.

»Wenn du immer an mich denkst und mir treu bist, dann sollst mal sehen, wie schnell die Zeit vergeht.«

Sie winkte ihm nach, bis er nicht mehr zu sehen war, dann ging sie zu den Pferdeställen.

Sie sah nicht die Gestalt, die ihr aus einem Gebüsch finster hinterherblickte.

Fender schnaubte, als sie den Stall betrat. Sie ging in seine Box und strich liebevoll über seine Mähne.

»Na, mein Guter, wie geht’s dir heut?« fragte sie.

Der Hengst rieb seine Nüster an ihrer Schulter, als wolle er sich für die Nachfrage bedanken. Conny Beerlach wechselte noch einmal den Verband, nachdem sie neue Salbe aufgestrichen hatte. Schließlich verabschiedete sie sich von dem Tier und suchte ihr Zimmer auf.

Sie hatte gerade die Tür des Gebäudes, in dem die Angestellten des Reiterhofes wohnten, hinter sich geschlossen, als sich die vermummte Gestalt aus dem Schatten des Busches löste, hinter dem sie sich versteckt gehalten hatte, und eiligst über den leeren Hof lief. Ohne von jemandem gesehen worden zu sein, verschwand sie hinter der Tür des Pferdestalls.

*

Conny wußte später nicht mehr zu sagen, was es gewesen war, das sie aus dem Schlaf riß. Verwirrt schaute sie auf den Wecker. Kurz vor elf Uhr abends. Das Madel schien irgendeiner Eingebung zu folgen, als es aus dem Bett sprang und in ihre Sachen schlüpfte. Sie lief über den Flur zur Tür hinaus und über den Hof. Schon vor dem Stall hörte sie laute Geräusche.

Sie riß die Tür auf. Ihre Hand tastete automatisch nach dem Lichtschalter. Gleißende Helligkeit blendete sie für einen Moment. Aus der Box, in der Fender untergebracht war, ertönte ein Durcheinander aus Schnauben und Wiehern. Dabei schlug das Pferd mit den Hufen gegen die Holzwand. Conny stürzte zu ihm.

»Fender, was ist mit dir?« rief sie angstvoll.

Der Hengst lag am Boden, krampfhafte Zuckungen gingen durch seinen Körper. Vor dem Maul stand weißer Schaum.

Das Madel zögerte. Es war nicht ungefährlich, in die Box zu gehen. Die wild um sich schlagenden Hufe konnten sie treffen und schwer verletzen.

Der Tierarzt! schoß es ihr durch den Kopf. Sie mußte sofort Dr. Hardlinger benachrichtigen. Und natürlich Florian Vilsharder.

Das Telefon befand sich in einem kleinen Raum, der innerhalb des Stalles abgetrennt worden war. Hier saßen die Reiter, Pferdeknechte und alle die, die etwas mit dem Stall zu tun hatten. Conny Beerlach wollte gerade dorthin eilen, als es schlagartig dunkel wurde. Die angehende Pferdewirtin blieb wie gelähmt stehen. Jemand hatte das Licht ausgemacht.

Wieder die Unbekannte, die sie schon einmal überfallen hatte?

Das Madel kam nicht mehr dazu, weiter darüber nachzudenken. Es wurde zu Boden gerissen.

»Ich hatte dich gewarnt«, zischte dieselbe Stimme, die sie schon einmal vernommen hatte. »Was jetzt kommt, hast du dir selber zuzuschreiben.«

Verzweifelt rang Conny mit der Unbekannten, die sie an den Boden preßte und dabei den Mund zuhielt. Sie tastete nach der Hand auf ihrem Gesicht und bekam den Unterarm zu fassen. Es gab ein Geräusch, als sie den Arm wegstieß und dabei ein Kettchen zerriß, das die andere am Handgelenk getragen hatte. Conny gelang es, sich herumzuwälzen und die schwere Last abzuwerfen.

Plötzlich war der Spuk vorbei.

Das Madel hörte Schritte, die sich rasch entfernten. Wie betäubt blieb es liegen, erst Fenders Wiehern rief Conny in die Wirklichkeit zurück. Das Armband hatte sie immer noch in der Hand. Automatisch steckte sie es in die Hosentasche und beeilte sich, Licht zu machen. Dann lief sie zum Telefon. Hastig wählte sie die Nummer des Tierarztes. Trotz der späten Stunde war Dr. Hardlinger bereit, sofort zu kommen. Dann benachrichtigte Conny über die hauseigene Leitung Michael und Florian Vilsharder. Die beiden Männer kamen umgehend in den Stall. Sie beruhigten das Madel, das unter einem Schock stand. Conny zitterte am ganzen Körper. Hatte sie bisher auch einen kühlen Kopf bewahrt und die richtigen Schritte unternommen, so löste sich jetzt doch allmählich die ganze innere Anspannung und ließ sie im Nachhinein über das Geschehene schaudern. Erst als der Tierarzt auf den Hof fuhr, beruhigte sie sich etwas.

Dr. Hardlinger handelte sofort. In einem günstigen Moment sprangen Vater und Sohn Vilsharder in die Box. Fender hatte sich etwas beruhigt, so daß die beiden Männer die Beine des Hengstes halten konnten. Der Tierarzt gab ihm eine Spritze, die die Krämpfe lockern sollte. Conny kletterte ebenfalls in die Box und hockte sich neben Fenders Kopf. Unter ihren beruhigenden Worten schien es ihm nach kurzer Zeit besserzugehen.

»Was kann es denn gewesen sein, das diese fürchterlichen Krämpfe ausgelöst hat?« fragte Michael Vilsharder den Tierarzt.

»Da kann alles Mögliche in Frage kommen«, entgegnete Dr. Hardlinger. »Angefangen beim falschen Futter bis hin zu einem Gift, das Fender gefressen haben könnte.«

Gift!

Dieses Wort brannte sich in Conny ein. Jemand hatte versucht, Fender zu vergiften. Durfte sie da noch länger schweigen? Bisher war sie versucht gewesen, die Sache alleine durchzustehen. Sie war sogar bereit, mit Rob Schluß zu machen, um den Hengst zu schützen. Doch jetzt sah es aus, als würde die Unbekannte, die sie mit ihrem Haß verfolgte, jederzeit und noch härter zuschlagen. Dieser Haß mußte so groß sein, daß sie auch nicht davor zurückschreckte, sich an einem wehrlosen Tier zu vergreifen. Conny Beerlach ahnte, daß sie es nicht alleine schaffen konnte. Sie mußte sich offenbaren. Zumindest teilweise. Von Rob würde sie vorerst noch nichts erzählen.

*

»Das ist ja ein dolles Ding! Mensch, Madel, warum hast’ net gleich gesagt, daß dich eine Unbekannte bedroht?«

Michael Vilsharder schüttelte den Kopf. Sie saßen in dem Raum hinter dem Stall, und der Chef des Reiterhofes hatte auf den Schrecken hin erst einmal eine Runde Enzian ausgegeben.

»Du weißt, daß du durch dein Schweigen net nur dich, sondern auch Fender in Gefahr gebracht hast«, sagte Florian.

»Ich weiß«, nickte Conny. »Und es tut mir auch leid.«

»Schon gut«, wiegelte Florians Vater ab. »Der Hengst wird’s überstehen. Aber mit der Unbekannten, die dich überfallen hat, da müssen wir uns was einfallen lassen.«

»Am besten wird’s sein, wenn wir abwechselnd Wache halten. Wenn sie wieder zuschlägt, schnappen wir sie uns«, sagte der junge Pferdewirt.

»Schauen S’ mal, was ich gefunden hab’«, unterbrach der Tierarzt ihn.

Dr. Hardlinger hatte noch einmal nach Fender gesehen und kam jetzt zurück. In der Hand hielt er eine Pralinenschachtel.

»Likörpralinen. Die Attentäterin hat den Hengst die ganze Schachtel leerfressen lassen. Kein Wunder, daß es ihm so schlecht ging. Die Schachtel lag unter dem Stroh in Fenders Box.«

»Na, ich werd’ gleich am Morgen Max Trenker anrufen«, sagte Michael Vilsharder. »Vielleicht sind ja Fingerabdrücke auf der Schachtel.«

Er gähnte und schaute auf die Uhr.

»Schon drei. Es wird Zeit, daß wir noch eine Mütze Schlaf bekommen«, meinte er.

»Ich bleib bei Fender«, sagte Conny in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.

»Na schön«, willigte ihr Chef ein. »Ich glaub net, daß die Unbekannte heut’ nacht noch einmal zurückkommt. Und der Hengst wird auch ruhiger sein, wenn du bei ihm bist.«

Das Pferd stand ruhig in seiner Box, als Conny mit einer Decke unter dem Arm hineinging. Sie schüttete etwas von dem Stroh auf dem Boden zurecht und baute damit ein Bett. Sie legte sich hin und zog die Decke über sich. Das große Licht im Stall hatte sie ausgeschaltet, aber neben ihrem Strohbett stand ein Handscheinwerfer.

In Gedanken ließ sie noch einmal alles Revue passieren, und plötzlich fiel ihr etwas ein, das sie in der ganzen Aufregung vergessen hatte. In ihrer Hosentasche steckte immer noch das Armband, das die Attentäterin während des Zweikampfes verloren hatte.

Conny holte es hervor und schaltete den Handscheinwerfer ein. In seinem Licht betrachtete sie das Kettchen genauer. Es war aus Gold und hatte in der Mitte eine schmale Platte mit einer Gravur darauf.

Das Madel bekam einen trockenen Hals, und ihr Herz klopfte rasend schnell, als sie die Widmung las.

In Liebe, Rob! stand darauf.

*

Als Nikki die Augen aufschlug, schien die Sonne in ihr Zimmer. Das Madel sprang aus dem Bett. Endlich Sonntag, dachte sie, der einzige Tag, an dem sie mit dem Papi frühstücken konnte. Sie freute sich die ganze Woche darauf. Natürlich kam es manchmal auch vor, daß ihr Vater auch an Sonntagen gar nicht daheim war. Aber das kam meist nur vor, wenn er auf Geschäftsreise war und nicht am Abend vorher zurückkommen konnte.

Doch gestern abend war er zurückgekommen. Nikki hatte bis spät in die Nacht darauf gewartet und war erst eingeschlafen,

als sie Papas Stimme gehört hatte. Als Oliver Behringer so wie immer in das Kinderzimmer kam und ihr einen Kuß auf die Wange hauchte, schlief Nikki schon längst.

Das Madel beeilte sich mit dem Waschen, Zähneputzen und Anziehen. Als sie die Treppe herunterkam, hörte sie Erna, die Frau des Hausmeisters, in der Küche rumoren. Erna Karber war die Köchin in der Villa Behringer.

»Guten Morgen, Erna«, grüßte Nikki artig. Sie mochte die rundliche, stets freundliche Frau.

»Grüß dich, Nikki. Bist schon auf den Beinen?«

»Ist der Papi noch net auf?« stellte die Kleine eine Gegenfrage. »Dann geh’ ich ihn gleich mal wecken.«

»Bloß net«, sagte Erna Karber. »Du weißt doch, daß dein Vater immer so spät von der Arbeit heimkommt. Laß ihn doch wenigstens am Sonntag ausschlafen. In der Woche kann er’s ja net.«

»Na gut«, stimmte Nikki zu. »Aber dann helf ich dir beim Tischdecken.«

»Das kannst’ gerne machen. Wo die Servietten sind, weißt’ ja. Eierbecher fehlen auch noch.«

Nikki holte zwei Stoffservietten aus dem Fach im Küchenschrank, dazu zwei Eierbecher, und stellte sie auf den Tisch im Eßzimmer. Weil es draußen schon angenehm warm war, hatte Erna die Gardine zurückgezogen und die Terrassentür weit geöffnet. Auf den Tisch hatte sie eine Vase mit bunten Blumen gestellt, die sie aus dem Garten geholt hatte. Nikki rückte hier und da noch etwas zurecht und betrachtete dann zufrieden ihr Werk. Ein leises Räuspern veranlaßte sie, sich umzudrehen. Erna Karber stand hinter ihr und schüttelte mißbilligend den Kopf.

»Was soll denn das, Kind?« fragte sie und deutete auf den Tisch.

Nikki hatte den dritten Platzteller und das Besteck wieder abgeräumt.

»Du weißt doch, daß die Ilona am Sonntag mit euch zusammen frühstückt. Es ist jedesmal das gleiche.«

Die Köchin stellte alles wieder auf den Tisch zurück und holte eine zusätzliche Serviette und einen Eierbecher. Den Protest der Kleinen beachtete sie nicht. Erna kannte dieses Spielchen. Sie wußte, daß Nikki die Kinderfrau nicht leiden mochte.

Eigentlich mochte sie gar keine. Vier waren es bisher gewesen, die die Köchin hatte kommen und gehen sehen. Keine von ihnen hatte Gnade vor Nikkis Augen gefunden, und auch Ilona Gruber erging es nicht anders. Allerdings schien die Frau nicht so leicht die Flinte ins Korn zu schmeißen. Bis jetzt hatte sie es am längsten ausgehalten. Dabei hätte Erna am Anfang gewettet, daß sie keine vier Wochen bleiben würde – allerdings hätte sie diese Wette verloren.

Dennoch, auch sie mußte sich eingestehen, daß sie Nikkis Erzieherin nicht besonders schätzte. Ilona Gruber schien zu meinen, ihre Aufgabe als Erzieherin würde auch die Aufsicht über alle anderen Angestellten bedeuten. Es gab noch zwei Hausmädchen, die sie herumkommandierte, als wäre sie die Herrin in der Villa. Auch bei Erna hatte sie es versucht, aber auf Granit gebissen. Nach einem heftigen Streit, bei dem die Köchin vehement ihre Position verteidigt hatte, mußte Ilona klein beigeben. Erna Karber war niemandem anderen als Oliver Behringer verpflichtet, und von keinem anderen ließ sie sich etwas sagen.

Nachdem die Fronten geklärt waren, kamen die beiden Frauen leidlich miteinander aus. Erna kümmerte sich recht wenig um Nikkis Kinderfrau, die sie, im Gegenzug, ebenfalls zufrieden ließ.

Dennoch – Oliver Behringer bestand darauf, daß Ilona am Sonntag mit ihm und Nikki frühstückte. Danach hatte sie sowieso ihren freien Tag, denn in der Regel kümmerte sich der Vater selbst um seine Tochter. Oliver hatte um das gemeinsame Frühstück gebeten, damit Nikki zumindest an diesen Tagen ein wenig das Gefühl vermittelt wurde, eine ganze Familie zu haben. Aus diesem Grund nannten er und Ilona sich auch bei den Vornamen und sagten du zueinander. Manchmal wurde Erna das Gefühl nicht los, Ilona Gruber könne es auf ihren Arbeitgeber abgesehen haben. Sie hoffte inständig, daß es nie zu solch einer Verbindung käme. Für das Kind wäre es eine große Katastrophe.

*

Nikki hatte sich geschlagen gegeben, als Erna den Platz für ihre Erzieherin eindeckte. Sie schaute auf die Uhr, die auf dem Kaminsims stand. Halb zehn, da durfte sie den Papi wecken. Sie rannte zum Schlafzimmer ihres Vaters, das im Erdgeschoß war, und lauschte an der Tür. Ein leises Schnarchen verriet, daß Oliver Behringer noch schlief. Die Kleine öffnete die Tür und schlich auf Zehenspitzen an das Bett. Ihr Vater lag auf dem Rücken und hielt die Augen geschlossen, doch in den Mundwinkeln zuckte es verräterisch. Ein sicheres Zeichen, daß er nur so tat, als schliefe er noch.

Mit einem Indianergeheul stürzte sich Nikki auf ihn. Oliver Behringer schreckte hoch, als würde er eben erst erwachen. Dabei rief er laut um Hilfe und machte solche Faxen, daß Nikki laut losprustete.

»Guten Morgen, Papi«, sagte sie und gab ihm einen dicken Kuß. Dann kuschelte sie sich bei ihm ein.

»Morgen, Spatz«, erwiderte Oliver und drückte sie ganz fest an sich.

Es war ein festes Ritual, das zum Sonntagmorgen gehörte wie das Frühstücksei. Mindestens eine halbe Stunde lagen Vater und Tochter noch im Bett und erzählten sich, was sie die Woche über erlebt hatten. Meistens hatte Nikki mehr zu erzählen, denn Papis Geschichten über die Firma waren langweilig.

Oliver hörte geduldig zu, während seine Augen liebevoll auf ihr ruhten. Nikki, die eigentlich Nicole hieß, sah ihrer toten Mutter immer ähnlicher. Er bewahrte eine Schachtel mit Bildern in seinem Arbeitszimmer auf, in der auch Fotografien lagen, die Andrea Behringer als kleines Madel zeigten. Die Ähnlichkeit mit der Tochter war unverkennbar.

Nikki plapperte von der Schule und den anderen Kindern.

»Hast du denn inzwischen eine Freundin gefunden?« erkundigte sich ihr Vater.

Die Kleine schüttelte den Kopf.

»Die sind doch alle doof«, antwortete sie.

»Na, na, alle doch bestimmt net«, meinte Oliver. »Was ist denn mit der Birte Obermooser? Die war doch ganz nett, als sie mal hier zu Besuch war.«

»Ach die«, winkte Nikki ab. »Die gibt immer mit ihren Puppen an. Wie teuer die waren und so.«

»Hätt’st du denn auch gerne solch eine Puppe?«

»Ach nö. Ich spiel lieber mit anderen Sachen, so toll sind die nicht, für das, was sie kosten.«

Vor einem Jahr hatte es einmal einen Disput zwischen Vater und Tochter gegeben, weil Nikki unbedingt ein sehr teures Spielzeug haben wollte. Oliver hatte abgelehnt es zu kaufen, weil er keinen Bezug zwischen Wert und Nutzen sah. Zwar hatte Nikki einen mittleren Aufstand gemacht, dennoch ließ ihr Vater sich nicht erweichen. Er liebte seine Tochter über alles und erfüllte ihr jeden Wunsch, wenn er denn vernünftig war. Nikki hatte es schließlich eingesehen und wußte seither genau zu unterscheiden, ob eine Sache ihr Geld wert war.

»So, nun wird’s aber Zeit«, sagte Oliver Behringer. »Ich hab’ Hunger, und Ilona wartet bestimmt auch schon.«

Er hob tadelnd den Finger, als er das Gesicht sah, das seine Tochter zog.

»Du sollst nett zu Ilona sein«, ermahnte er. »Sie gibt sich wirklich Mühe, mit dir auszukommen. Das mußt du zugeben. So, ich geh schnell duschen und zieh mich an.«

Nikki schwieg und wartete, bis ihr Vater aus dem Badezimmer zurückkam. Bis auf die Krawatte war er bereits angezogen. Auch am Sonntag verzichtete er nicht darauf. Nikki reichte ihm den Schlips, der über einem Stuhl hing. Oliver hatte ihn sich am Abend zuvor noch rausgelegt.

Als sie das Eßzimmer betraten, erhob sich Ilona Gruber aus einem Sessel, in dem sie gesessen hatte.

»Guten Morgen, Ilona«, grüßte Oliver und lächelte ihr zu.

Nikkis Kinderfrau spürte wieder diesen heißen Blutstrom, der sie immer durchfuhr, wenn sie den Mann sah. Oliver Behringer war groß gewachsen und schlank. Auch wenn er nicht oft Zeit hatte, so versuchte er doch, sich fit zu halten. Man sah es ihm an. Das markante Gesicht unterstrich sein männlich attraktives Aussehen. Ilona Gruber war sicher, daß sie ihn auch ohne das viele Geld heiraten würde, das er besaß.

Aber natürlich war es nicht unwillkommen…

»Guten Morgen, Oliver«, antwortete sie. »Guten Morgen, Nikki.«

»Morgen«, nickte die Kleine und setzte sich.

Sie war froh, wenn das Frühstück vorüber war und sie endlich mit dem Papi allein war. Doch heute sollte sie enttäuscht werden.

Oliver Behringer räusperte sich und sah seine Tochter schuldbewußt an.

»Hör mal, Spatz, da gibt’s noch etwas, das wir besprechen müssen«, sagte er, während er sein Frühstücksei köpfte. »Aus unserem Ausflug zum Achsteinsee wird nichts. Ich hab’ heut’ Mittag einen Termin mit einem wichtigen Kunden. Er kommt extra aus Japan, um mit mir zu verhandeln und hat nur heute Zeit dazu. Noch am Abend fliegt er weiter nach England.«

Nikki machte ein enttäuschtes Gesicht.

»Ich hoff’, du verstehst das«, fuhr ihr Vater fort. »Es ist wirklich ein wichtiger Kunde, sonst würd’ ich auch den Herrn Haller, meinen Prokuristen, schicken. Ich kann verstehen, daß du enttäuscht bist. Aber ich versprech’ dir, daß wir den Ausflug am übernächsten Sonntag nachholen. Heut’ bleibt die Ilona bei dir. Ihr könnt doch was Schönes unternehmen.«

Nikki legte ihr Messer beiseite. Das Frühstücksei, der Kakao und das Toastbrot interessierten sie nicht mehr.

»Ich hab’ keinen Hunger«, sagte sie und rutschte von ihrem Stuhl.

Ohne ein weiteres Wort ging sie durch die Terrassentür hinaus in den Garten. Oliver sah Ilona betreten an.

»Es tut mir wirklich leid«, sagte er. »Ich weiß, wie sehr Nikki sich darauf gefreut hat. Aber der Herr Fujikara ist wirklich sehr wichtig. Du kümmerst dich heut’ besonders um Nikki, net wahr?«

»Aber natürlich«, antwortete Ilona Gruber. »Ich mag sie doch sehr.«

Wie mein eigenes Kind – hätte sie beinahe gesagt, doch dieser Satz schien ihr unpassend. Zumindest jetzt noch.

*

Conny Beerlach stand ungeduldig in der Einfahrt zum Reiterhof und wartete auf Rob. In ihrer Hosentasche steckte das Kettchen mit der Widmung. Das Madel war sich unschlüssig, ob es die Sprache darauf bringen sollte und – ob sie wirklich mit dem Freund Schluß machen würde.

Sie hatte ihn nicht nur gerne, nein, sie liebte ihn wirklich, und immer, wenn sie nicht zusammensein konnten, träumte sie von einer gemeinsamen Zukunft. Wenn sie ihre Ausbildung zur Pferdewirtin abgeschlossen hatte, standen ihr viele Möglichkeiten offen. Rob, der in St. Johann als Automechaniker arbeitete, würde

überall eine Arbeitsstelle finden.

Doch die Frage einer gemeinsamen Zukunft stellte sich, im Moment zumindest, nicht.

Endlich kam er. Conny hörte schon von weitem sein Motorrad. Wenig später fuhr er die Straße zum Reiterhof hinauf.

»Hallo, mein Schatz«, sagte er und wollte ihr einen Kuß geben, nachdem er seine Maschine abgestellt und aufgebockt hatte.

Das Madel zog seinen Kopf zur Seite, so daß Robs Mund nur die Wange streifte.

»Was ist los?« fragte er ahnungslos.

Conny nahm den zweiten Helm, der hinten auf dem Motorrad geklemmt war und setzte ihn auf.

»Laß uns irgendwohin fahren, wo wir ungestört sind«, sagte sie. »Ich muß mit dir reden.«

»Dein Wunsch ist mir Befehl«, antwortete er.

Es sollte heiter klingen, doch irgendwie gelang es ihm nicht so recht. Was mag sie nur haben, dachte er, als er die Maschine wieder anwarf. War etwas mit Fender?

Sie fuhren bis unterhalb des Höllenbruchs. Von dort aus ging es nur noch zu Fuß weiter.

»Laß uns bis zur Hütte gehen«, schlug Robert Wilke vor. »Unterwegs können wir über alles reden.«

Sie hatten sich seit dem gestrigen Abend noch nicht gesehen, und Rob hatte sich darauf gefreut, Conny zu treffen. Doch ihr sonderbares Verhalten trübte diese Freude.

Das Madel nickte und hakte sich bei ihm ein. Dann wanderten sie den Weg entlang.

Es war früher Nachmittag, und es war kaum etwas los. Die Urlaubssaison neigte sich ihrem Ende entgegen, und die meisten Touristen waren wohl schon wieder zu Hause. Nur ab und an begegneten ihnen ein paar Wanderer, als sie den schmalen Pfad zur Hohen Riest hinaufstiegen.

Nach einer Stunde hatten sie es geschafft. Unter ihnen reichte der Blick vom Zwillingsgipfel auf der anderen Seite bis hinüber zum Ainringer Forst. Rob setzte sich auf einen kleinen Felsbrocken und schaute Conny neugierig

an.

»Also, was ist los?« fragte er.

Das Madel zog wortlos das Kettchen aus der Hosentasche und ließ es vor seinem Gesicht baumeln. Rob sah zuerst das Schmuckstück verständnislos an, dann, als er es erkannte, rötete sich sein Gesicht.

»Wo… woher hast du das?« fragte er mit belegter Stimme, die deutlich machte, wie unangenehm es war, mit dem Kettchen konfrontiert zu werden.

Conny erzählte es ihn. Auch, daß es der zweite Überfall war, und von dem Anschlag auf Fender.

Robert Wilke war bestürzt.

»Dieses Biest«, zischte er.

»Wer ist sie?« wollte Conny Beerlach wissen.

Rob zog hörbar die Luft durch die Nase ein, bevor er antwortete.

»Marlis Angerer.«

Rob legte seine Hände auf ihre Schulter und sah sie eindringlich an.

»Bitte, Conny, du mußt mir glauben, es ist schon lang’ vorbei«, sagte er beschwörend. »Mein Gott, warum hast’ net gleich was gesagt, als das erste Mal was passiert ist?«

»Das ist doch jetzt auch egal«, antwortete sie. »Und ich will dir auch gern glauben, daß es vorbei ist. Für dich. Für diese Marlis scheint’s noch lang’ net vorbei zu sein.«

*

Rob nahm sie in die Arme.

»Bitte, du mußt mir glauben, da ist nix mehr zwischen ihr und mir«, beteuerte er. »Ich hab’ die Marlis schon seit Wochen net mehr gesehen. Weißt’, anfangs hab’ ich geglaubt, sie wäre die ideale Frau für mich. Wir hatten wirklich eine schöne Zeit. Aber dann kam ich dahinter, wie berechnend und oberflächlich sie ist. Dieses Armband hab’ ich ihr zu ihrem neunzehnten Geburtstag geschenkt. Damals, da war noch alles in Ordnung zwischen ihr und mir. Ich hab’ dann für ein paar Wochen zu einem Lehrgang fahren müssen. Als ich zurückkam, erfuhr ich, daß sie sich über meine Abwesenheit hinweggetröstet hatte. Mit Tobias Terzing, dem Sohn vom Bäckermeister.

Ich hab’ Marlis zur Rede gestellt, und sie hat alles abgestritten. Als ich ihr dann aber die Namen sagte von den Leuten, die sie und Tobias gesehen hatten, mußte sie es doch zugeben. Naja, sie beschwor mich unter Tränen, bei ihr zu bleiben, das mit dem anderen sei nichts Ernstes gewesen. Doch ich wußte, was ich vielleicht schon immer geahnt hatte, aber nie wahrhaben wollt’. Mit ihr wär’ ich nie und nimmer glücklich geworden.« Er schaute sie bittend an. »Glaubst du mir?«

Conny spürte, wie ihr eine Zentnerlast vom Herzen fiel. Sie nickte glücklich und ließ es geschehen, daß Rob sie noch enger an sich zog und leidenschaftlich küßte.

»Sie scheint dich aber immer noch zu lieben«, sagte sie. »Wie sonst ist ihr Handeln zu erklären?«

»Wahrscheinlich hast du recht. Wenn ich mich noch an die Szene an jenem Abend erinnere, an dem ich mit ihr Schluß gemacht habe – eigentlich war es nur noch quälend und peinlich. Für mich genauso wie für sie. Ich hatte gehofft, sie würd’ sich damit abgefunden haben. Leider scheint es net so zu sein. Was wollen wir jetzt machen? Willst’ sie zur Rede stellen? Sie darf ja net ungeschoren davonkommen.«

Conny Beerlach stand auf.

»Komm, laß uns nach Engelsbach rüberfahren«, schlug sie vor. »Ich hätt’ Lust auf ein Eis bei Gino.«

Damit meinte sie den Italiener, der in Engelsbach eine Eisdiele betrieb. Seine original italienischen Spezialitäten waren weit über das Dorf hinaus bekannt, und sein Lokal zum beliebten Treffpunkt junger Leute geworden.

»Da könnten wir aber auch auf Marlis treffen«, gab Rob Wilke zu bedenken.

»Eben d’rum«, antwortete das Madel und zog ihn zu sich heran.

Unterwegs erzählte sie ihm, was sie sich ausgedacht hatte.

*

In dem parkähnlichen Garten der Villa hatte Nikki in der hintersten Ecke ein Versteck, in das sie sich immer dann zurückzog, wenn etwas ihr kleines Herz bedrückte. Hubert Karber, Ernas Mann und Gärtner, hatte ihr aus Brettern eine Hütte gebaut, sehr klein, daß gerade mal Platz war für das Madel und ein paar Spielsachen.

Nikki hatte sich dort hineingeflüchtet, nachdem ihr der Papa beim Frühstück gestanden

hatte, daß aus dem gemeinsamen Ausflug nichts werden würde. Mit Tränen in den Augen hatte sie sich hingesetzt und geschmollt.

Immer dasselbe, hatte sie dabei gedacht, da freut man sich auf etwas, und dann kommt wieder was dazwischen.

Neben der Kleinen stand ein kleines Zigarrenkistchen, in dem Nikki ihre ganz besonderen Schätze aufbewahrte: eine große, bunte Murmel, einen kleinen silbernen Elefanten, den der Papi ihr aus Indien mitgebracht hatte, und als Allerwertvollstes: eine Fotografie ihrer Mama.

Es war schon ein paar Jahre her, daß Oliver Behringer seiner Tochter erzählt hatte, daß die Mutter bei Nikkis Geburt gestorben war. Die Bilder waren die einzige Erinnerung. Nikki nahm das Foto, welches der Vater ihr geschenkt hatte, in die Hand und schaute es an. Ihre Mutter lachte auf dem postkartengroßen Foto den Betrachter an.

»Gell, Mami, du würd’st mich doch net immer allein lassen, net wahr?« sagte Nikki leise.

Sie wußte, daß die Mama im Himmel sie sah und auf sie aufpaßte, auch wenn Nikki sie nicht sehen konnte. Ihr Vater hatte es ja gesagt.

»Ich weiß ja, daß der Papi so schrecklich viel arbeiten muß, aber trotzdem ist es schad’. Ach, ich wünsch’ mir so sehr eine neue Mutti, die immer für mich da ist.«

Sie gab der Fotografie einen Kuß.

»Natürlich würd’ ich dich dann auch noch liebhaben, wenn der Papi eine neue Frau heiratet«, beteuerte sie. »Aber bloß net die Ilona. Weißt du, Mami, so eine wie die Sandra – du weißt schon, bei der ich den Kirschkuchen stibitzt hab’, also, die tät mir schon gefallen. Aber der Papi kennt sie ja net, und wie soll er sie auch kennenlernen, wenn er immer unterwegs ist?«

Sorgfältig legte sie das Foto in die Zigarrenkiste zurück und versteckte sie unter allerlei Krimskrams. Sie hoffte, daß der Sonntag bald vorüber war. In der Woche war sie in der Schule, und nachmittags stromerte sie umher. Aber am Sonntag war’s nur langweilig – besonders wenn sie den Tag mit Ilona verbringen mußte.

Zum Mittagessen gab es Rindsrouladen mit Bohnen. Eigentlich mochte Nikki Rouladen sehr gern, aber heut’ wollten sie ihr gar nicht schmecken. Den Vorschlag der Kinderfrau, ein wenig zu spielen oder mit dem Auto hinauszufahren, lehnte Nikki rundweg ab. Weder mit Kuchen noch mit Eis war sie zu locken.

»Ja, was willst du denn?« fragte Ilona Gruber, sichtlich verärgert. »Man kann dir aber auch gar nichts recht machen.«

»Ich will nur mei’ Ruh’«, antwortete das Kind und verkroch sich in sein Zimmer.

Kopfschüttelnd nahm Ilona im Wohnzimmer Platz. Diese verzogene Göre kostete sie noch den letzten Nerv. Kein Wunder, daß sie sich so aufführte, ließ ihr Vater ihr doch alles durchgehen. Aber das würde sich schon noch ändern!

*

»Na, das schaut doch prächtig aus.«

Dr. Hardlinger nickte zufrieden und strich dem Hengst über den Hals.

»Die Magenverstimmung hat er überstanden, und die Entzündung ist deutlich zurückgegangen«, sagte er. »Das hat er dir zu verdanken, Conny. Du hast ihn wirklich sehr gut gepflegt.«

Das Madel lächelte stolz.

»Die unbekannte Attentäterin hat sich aber net wieder sehen lassen?« erkundigte der Tierarzt sich.

»Nein«, entgegnete Conny. »Wir halten aber trotzdem weiter jede Nacht Wache. Der Herr Trenker hat die Schachtel untersuchen lassen, aber die Täterin hat wohl Handschuhe getragen.«

»Ich weiß net, auf was für Ideen die Leut’ manchmal kommen«, schüttelte der Arzt den Kopf. »Wer mag wohl dahinterstecken?«

Conny Beerlach wußte es inzwischen, aber sie schwieg. Seit sie mit Rob darüber gesprochen hatte, fieberte sie dem Moment entgegen, in dem Marlis Angerer ihr gegenüberstand – nachts allein im Stall und vermummt…

Der Tierarzt verabschiedete sich, und das Madel führte den Hengst hinaus auf die Koppel. Dort durfte er für ein Weilchen herumlaufen, und vielleicht würde sie später noch ausreiten.

Das Madel erinnerte sich noch gut, wie sie und Rob auf Marlis getroffen waren. In der Eisdiele hatte wie immer Hochbetrieb geherrscht. Marlis Angerer saß zusammen mit anderen Freunden an einem der Tische. Der Blick, mit dem sie Conny bedachte, sprach Bände. Die angehende Pferdewirtin tat, als bemerke sie ihn überhaupt nicht, aber sie war erschrocken über den Haß, der in diesem Blick lag. Am liebsten wäre sie sofort hinübergegangen und hätte Marlis zur Rede gestellt. Doch sie riß sich zusammen. Eine Anschuldigung in dem Lokal hätte wahrscheinlich nichts gebracht, und für das zerrissene Kettchen hätte Marlis Angerer bestimmt eine Ausrede gefunden.

Nein, das mußte anders angefangen werden. Conny hatte sich einen Plan zurechtgelegt, und dazu gehörte, daß Marlis sie und Rob recht oft zusammen sah. Sie sollte ruhig wissen, daß Conny sich durch die beiden Überfälle und den heimtückischen Anschlag auf Fender nicht einschüchtern ließ. Und sie sollte dazu verleitet werden, erneut heimlich auf den Reiterhof zu kommen.

Conny würde bereit sein. Sie hoffte, daß Marlis nicht zu lange warten würde, um ihre Drohung wahrzumachen. Denn dann würde sie Conny kennenlernen.

*

Das sonntägliche Mittagessen stand im Pfarrhaus auf dem Tisch. Dort wurde immer etwas später gegessen, weil Sophie Tappert natürlich erst die Messe besuchte. Zwar hatte sie schon am Morgen alles soweit vorbereitet, trotzdem war es meistens schon nach ein Uhr, wenn Sebastian und sein Bruder sich zu Tisch setzten.

Pfarrer Trenker hatte ein untrügliches Gespür dafür, wenn den Max etwas beschäftigte. Meistens rückte der Gendarm von selber mit der Sprache heraus, doch manchmal mußte man ihm jedes einzelne Wort förmlich abringen. So auch heute. Maximilian Trenker saß nachdenklich am Tisch und spielte dabei mit dem Suppenlöffel. Sophie hatte als Vorsuppe eine herrliche Hühnerbouillion gekocht, in der neben Eierstich und kleinen Geflügelklößchen auch Spargelspitzen und frisch ausgepahlte Erbsen schwammen. Die Suppe stand in einer weißen Porzellanterrine auf dem Tisch, und jeder nahm sich davon, soviel er wollte.

»Nun, Max, was ist los? Dich beschäftigt doch irgendwas«, stellte der Geistliche fest.

Der Polizeibeamte nickte.

»Ich hab’ gerade darüber nachgedacht, was ich dir neulich erzählt hab’, daß die Kriminalitätsrate rückläufig ist«, antwortete er. »Ich war ziemlich stolz darauf, und nun so etwas!«

»Du meinst den geheimnisvollen Anschlag auf das Pferd vom Vilsharder?«

»Ja. Wer tut nur so etwas? Ich mein’, ein Tier kann doch nix dafür, wenn es Streit zwischen den Menschen gibt. Warum muß es denn darunter leiden?«

»Eine gute Frage. Hat denn die Untersuchung der Pralinenschachtel etwas ergeben?«

»Leider net. Die unbekannte Frau – wir gehen davon aus, daß es sich um eine Frau handelt – wird wohl Handschuh’ getragen haben.«

»Bitt’schön, nehmen S’ doch von der Suppe«, warf die Haushälterin ein. »Sie wird ja ganz kalt.«

Sebastian füllte den Teller seines Bruders und bediente sich dann selbst.

»Und die Conny hat keine Vermutung, um wen es sich bei der Frau handeln könnte?« fragte er Max.

Der schüttelte den Kopf.

»Jedenfalls behauptet sie,

weder die Stimme erkannt zu haben noch einen Grund zu wissen, warum man sie überfallen hat.«

»Ja, aber irgend etwas muß sie doch erzählt haben«, wandte Pfarrer Trenker ein. »Nur, daß sie überfallen wurde von einer Person, die der Stimme nach eine Frau sein muß – also, ich find’ das ein bissel dürftig.«

»Und genau das ist mein Problem, über das ich nachdenke, seit ich von der Geschichte weiß. Sie muß mehr wissen.«

»Na, da haben wir beide ja ein Problem«, gab Sebastian zu. »Du das mit der unbekannten Attentäterin, und mir geht das Kind net aus dem Sinn.«

Die Haushälterin hatte inzwischen die Suppenteller und Terrine abgeräumt. Als Hauptgang gab es eine gefüllte Kalbsbrust mit Gemüse und einer samtigen Rahmsauce. Max’ trübe Gedanken wurden für eine Weile verscheucht, als er die appetitlich angerichtete Fleischplatte sah.

»Ja, die kleine Nikki – ich muß auch immerzu an sie denken«, sagte Sophie Tappert.

Dieser Satz zeigte, wieviel ihr das Madel bedeutete. Von Natur aus war die Haushälterin eher schweigsam, doch wenn sie einmal etwas sagte, dann steckte auch etwas dahinter. So wie jetzt die Sympathie für das Kind.

»Der Fall ist genauso merkwürdig und geheimnisvoll«, bemerkte der Polizeibeamte. »Ich hab’ noch einmal bei den Kollegen nachgefragt. Eine solche Vermißtenanzeige ist auch heut’ net bei ihnen eingegangen.«

»Es ist wirklich sonderbar«, bestätigte der Geistliche. »Aber wer weiß, vielleicht läuft sie uns doch noch einmal über den Weg.«

Das Essen war wie immer vorzüglich, und der Nachtisch – eine süße Weinschaumcreme – krönte das Menue. Sophie Tappert hatte sich wieder einmal übertroffen. Die beiden Männer gingen hinaus in den Garten, während die Perle des Pfarrhaushaltes sich daran machte, alles wieder in Ordnung zu bringen.

Sebastian und sein Bruder setzten sich in den Schatten einer uralten Linde und sprachen darüber, was sie in den beiden Angelegenheiten unternehmen konnten. Allerdings gab es da so viele Möglichkeiten nicht.

»Können wir nur hoffen, daß uns der Zufall weiterhilft«, meinte der Gendarm.

Der Pfarrer hob die Hand.

»Du weißt, ich glaube net an Zufälle«, widersprach er. »Es hat alles seinen Grund. Nichts geschieht zufällig, auch wenn es manchmal so aussieht.«

*

Conny Beerlach und Florian Vilsharder hatten es sich im Stall bequem gemacht. Seit beinahe einer Woche hielten sie hier Wache, und der Sohn des Hofbesitzers glaubte schon nicht mehr daran, daß die unheimliche Attentäterin sich noch einmal sehen lassen würde.

Nicht so Conny. Das Madel war überzeugt davon, daß Marlis Angerer nicht aufgab. Sie hätte Florian und den anderen sagen können, wer hinter dem Anschlag auf Fender steckte, und auch, daß sie den Grund dafür wußte. Bisher hatte sie nur erwähnt, daß sie die Unbekannte zweimal zufällig im Stall überrascht hatte. Aber sie wollte Marlis in flagranti erwischen, denn ohne einen wirklichen Beweis würde das Madel alles abstreiten.

Florian gähnte verhalten. Es war erst kurz vor zwölf. Da die Überfälle vor dieser Zeit stattgefunden hatten, nahm er an, daß die Frau jetzt nicht mehr käme. Dennoch wollte er wenigstens noch eine Stunde warten. Seit einigen Monaten gab es immer wieder Meldungen in den Zeitungen, nach denen irgendwelche bösen Menschen sich einen Spaß daraus machten, nächstens Pferde in ihren Ställen oder auf Weiden regelrecht zu überfallen und zu quälen. Ganz ausschließen wollte Florian Vilsharder diese Möglichkeit nicht, obwohl er einfach nicht glauben konnte, daß hier ein potentieller Pferdemörder sein Unwesen trieb.

Also, eine Stunde noch, dann wollten sie schlafengehen.

Um sich nicht zu verraten, unterhielten die beiden sich nur im Flüsterton. Doch allmählich schlief die Unterhaltung ein, und sie hatten Mühe, sich wachzuhalten. Lediglich der Gedanke, Marlis könne jeden Moment hier auftauchen, hinderte Conny daran, die Augen zu schließen. Und sie war davon überzeugt, daß dies über kurz oder lang geschehen würde.

Conny hatte es immer öfter darauf angelegt, der anderen zu zeigen, daß sie sich nicht von deren Drohungen einschüchtern ließ. Sie war so oft wie möglich mit Rob im Dorf gewesen und hatte sich zusammen mit ihm sehen lassen.

Jetzt mußte sie nur noch Geduld haben.

Die wurde zwar auf eine harte Probe gestellt, aber auch belohnt. Conny schreckte hoch, als sie das Knarren der Stalltür vernahm. Sie warf einen Blick auf Florian, der das Geräusch ebenfalls gehört haben mußte, denn er legte seinen Zeigefinger auf die Lippen und bedeutete ihr so, leise zu sein. Mit einer schnellen Bewegung schaltete er den Handscheinwerfer aus, der zwischen ihnen auf dem Boden stand.

Irgendwo vor ihnen war ein schmaler Lichtstreifen, der sich geisterhaft durch den Pferdestall bewegte. In Richtung auf Fenders Box.

Conny hielt gespannt den Atem an. Ihr Herz klopfte wie wild. Florian legte seine Hand auf ihren Arm, um zu verhindern, daß sie schon losstürmte. Erst auf sein Zeichen hin sprangen sie aus ihrem Versteck. Gleichzeitig blendete der Pferdewirt den Scheinwerfer auf.

*

Der Lichtkegel traf auf eine Gestalt in einem dunklen Anorak. Die Kapuze verdeckte den Kopf darunter. Die Gestalt stand vor Fenders Box, mit dem Rücken zu Conny und Florian. Als sie ein Geräusch hinter sich vernahm, fuhr sie herum. Sie erkannte die Gefahr und wandte sich zur Flucht.

Zu spät.

Vier Hände griffen nach ihr und hielten sie fest, auch wenn sie sich mit Händen und Füßen wehrte. Schließlich gab sie auf und blieb reglos am Boden liegen.

»Na, dann wollen wir mal sehen, wer das ist«, sagte Florian Vilsharder und griff nach der Kapuze.

Marlis Angerers Gesicht lief vor Scham rot an.

»Sie ist es«, rief Conny. »Genau, wie ich es mir gedacht hab’.«

Florian sah sie erstaunt an.

»Du wußtest, wer dahintersteckt?« fragte er.

»Ja. Aber das erklär’ ich Ihnen später«, antwortete das Madel und zog eine Schachtel Likörpralinen hervor, die aus Marlis’ Manteltasche schaute. »Jetzt sollten wir erst mal die Polizei rufen.«

Marlis Angerer zitterte am ganzen Körper. Tränen stiegen ihr in die Augen.

»Net die Polizei«, flüsterte sie. »Bitte net.«

Conny Beerlach blickte sie geringschätzig an.

»Was glaubst denn sonst?« fuhr sie die junge Angerer an. »Für dieses Verbrechen kommst hinter Gitter. Das versprech ich dir!«

Marlis heulte ungehemmt los. Sie warf einen hilflosen Blick auf Florian.

Der Pferdewirt wußte zwar nicht, was zwischen den beiden Madeln war, aber er machte sich so seine Gedanken.

»Na, na«, wiegelte er ab, »jetzt woll’n wir net gleich das Schlimmste annehmen. Ich denk’, das beste wird sein, wenn wir meinen Vater wecken. Der kann dann entscheiden, was weiter geschieht.«

Conny warf der anderen einen bösen Blick zu, fügte sich aber.

»Passen S’ nur auf, daß sie net doch noch entwischt«, sagte sie, bevor sie zum Telefon hinüberging. »Der trau’ ich alles zu.«

Marlis duckte sich unter diesen Worten, und der Tränenstrom wollte überhaupt nicht versiegen.

*

Sandra Hofmayr war nicht mehr dieselbe. Seit dem Tag, an dem sie die Bekanntschaft der kleinen Nikki gemacht hatte, ging ihr das Kind nicht mehr aus dem Sinn. Überall, wo sie auf ihren Touren vorbeikam, hielt sie mehr nach der Kleinen Ausschau als nach Antiquitäten.

Gleich am Montag hatte sie die alte Schulfreundin aufgesucht und von Nikki erzählt. Sie bat die Anwältin in den Waisenhäusern, auch der ferneren Umgebung, nachzuforschen, ob man dort ein Kind kannte, auf das die Beschreibung paßte, und das vielleicht sogar wirklich Nikki Behringer hieß. Wobei Sandra nicht sicher war, ob das Madel da nicht geschwindelt hatte. Auch der Vorname mußte nicht der richtige sein, eher die Koseform eines anderen. Nikki war jedenfalls kein amtlicher Name.

Die Nachforschungen von Sandras Bekannten förderten jedoch nichts zutage. Nikki war und blieb verschwunden, als wäre sie nur ein Traum gewesen. So schwer es ihr auch fiel, Sandra Hofmayr würde die Kleine wohl vergessen müssen.

Aber das wollte ihr gar nicht gelingen. Immer wieder ertappte sie sich dabei, daß sie an das Madel dachte, sich sorgte, wie es Nikki wohl erging, wo sie schlief und ob sie genug zu essen hatte.

Ununterbrochen ging es so, auch jetzt, wo sie in der Kirche saß. Von den Worten des Geistlichen bekam sie kaum etwas mit. Plötzlich hatte sie eine Idee. Vielleicht konnte ein Gespräch mit Pfarrer Trenker ihr weiterhelfen. Bestimmt kannte er die Heime und Waisenhäuser. Als Seelsorger war er ja nicht nur für seine Gemeinde in St. Johann zuständig, sein Aufgabengebiet war viel größer.

Je mehr sie darüber nachdachte, um so fester wurde ihr Entschluß, gleich nach der Abendmesse Pfarrer Trenker um ein Gespräch zu bitten.

»Aber sehr gerne«, nickte Sebastian, als die Antiquitätenhändlerin ihn ansprach.

Die anderen Gläubigen hatten die Kirche bereits verlassen, und Alois Kammeier, der Mesner von St. Johann, war damit beschäftigt, die Gesangbücher wieder einzusammeln und die abgebrannten Kerzen zu ersetzen.

»Kommen S’, Frau Hofmayr, setzen wir uns doch gleich hierher«, deutete der Geistliche auf die erste Bankreihe.

»Ich weiß gar net, wo ich beginnen soll«, sagte Sandra. »Also, mir ist da in der vorigen Woche etwas sehr merkwürdiges passiert.«

Sie schilderte, unter welchen Umständen sie die Bekanntschaft des kleinen Madels gemacht hatte, das dann so plötzlich wieder verschwunden war. Schon bei der Beschreibung des Kindes wurde Pfarrer Trenker hellhörig. Als er schließlich den Namen hörte, mußte er laut lachen. Sandra sah ihn verständnislos an.

»Entschuldigen S’, Frau Hofmayr, das Lachen galt natürlich net Ihnen«, erklärte Sebastian. »Es ist nur so, daß ich eine ganz ähnliche Geschichte erlebt hab’.«

»Was? Wie meinen Sie das, Hochwürden, eine ähnliche Geschichte?«

»Liebe Frau Hofmayr, Sie werden’s net glauben, aber ich kenn’ die Nikki wirklich.«

Jetzt war Sebastian an der Reihe zu erzählen. Sandra sah ihn sprachlos an und schüttelte immer wieder den Kopf.

»Was soll man denn davon halten?« fragte sie schließlich.

Pfarrer Trenker hob die Arme.

»Bitte fragen S’ mich net. Ich weiß wirklich net, was dahintersteckt. Jedenfalls hat mein Bruder zweimal bei den Kollegen nachgefragt. Ein Kind, das Nikki heißt und auf das die Beschreibung paßt, wird jedenfalls nirgendwo vermißt.«

»Schade«, sagte Sandra. »Wirklich schade.«

Der Geistliche sah den traurigen Zug in ihrem Gesicht.

»Sie haben die Kleine wohl liebgewonnen, net wahr?«

»Sehr«, nickte die Frau. »Ich hatte sogar schon mit dem Gedanken gespielt, sie zu mir zu nehmen, weil ich ja zunächst geglaubt habe, daß sie in einem Waisenhaus lebt.«

Sie erhob sich und reichte dem Pfarrer die Hand.

»Aber da kann man wohl nichts machen. Vielen Dank, Hochwürden, daß Sie sich die Zeit genommen habe.«

»Aber ich bitt’ Sie, Frau Hofmayr, dazu bin ich doch da. Ich hätt’ Ihnen wirklich gern weitergeholfen. Meiner Haushälterin und mir ist das Schicksal der Kleinen auch nahegegangen, und bei Ihnen wär’ sie bestimmt in guten Händen gewesen.«

Sebastian begleitete die Frau vor die Tür.

»Aber wer weiß«, meinte er zum Abschied, »vielleicht begegnet Nikki Behringer uns noch einmal und es klärt sich alles auf.«

*

Es war fürchterlich heiß im Stall und es roch unangenehm. Marlis schwitzte, und ständig surrten Fliegen um sie herum. Trotzdem schwang sie tapfer die Forke, warf das alte Stroh auf eine Karre, die sie nach draußen fuhr und auf dem Mistberg entlud. Anschließend brachte sie frisches Stroh in den Stall und verteilte es in den Boxen.

»Ich beeil’ mich ja«, murmelte sie und warf einen scheuen Blick auf Conny.

Die angehende Pferdewirtin wandte sich um und verließ den Stall. Marlis Angerer setzte die Forke ab und stützte sich darauf. Sie schluchzte und konnte nicht verhindern, daß dicke Tränen über ihr Gesicht huschten. Erst als sie ein Geräusch hinter sich hörte, riß sie sich zusammen und arbeitete weiter.

Florian Vilsharder kam aus der hinteren Kammer. Er nickte Marlis zu.

»Na, geht’s voran?« fragte er.

Das Madel nickte tapfer.

»Das hast schon ganz toll gemacht«, zeigte er anerkennend auf ihre Arbeit. »Aber zwischendurch mußt’ auch mal a’ Pause machen.«

Pause? Marlis wußte nicht, wann sie zuletzt eine gemacht hatte.

»Das geht net. Ich muß ja noch die Pferde striegeln«, sagte sie.

»Schon, aber das hat doch noch Zeit. Wenn du hier fertig bist,

gehst ins Angestelltenhaus rüber und ruhst dich ein bissel aus.«

Er sah das Madel fragend an, als er das ratlose Gesicht bemerkte, das Marlis zeigte.

»Ist was?«

Sie druckste herum.

»Nun komm, Marlis, heraus mit der Sprache«, forderte Florian sie auf.

»Es… es ist so – die Conny hat gesagt, ich müsse mich beeilen. Aber wenn ich jetzt Pause mach’…«

»Du meinst, Conny hätt’ was dagegen?«

Florian Vilsharder schüttelte den Kopf.

»Also, zunächst einmal, die Pause hab’ ich angeordnet, und zum zweiten werd’ ich wohl mal mit der Conny reden müssen. Ich hab’ schon lang’ gemerkt, daß sie dich hier herumkommandiert, und ein bissel kann ich’s ja auch verstehen. Aber was immer das gewesen ist, es berechtigt sie noch lange net, dich wie eine Sklavin zu behandeln. Also tu, was ich dir gesagt hab’.«

Marlis nickte dankbar und verteilte das letzte Stroh in der Box.

Florian hatte den Stall verlassen und ging hinüber zu der Koppel, in der Conny Beerlach mit Fender arbeitete. Er beobachtete sie eine ganze Weile, und was er sah, begeisterte ihn. Das Madel hatte ein natürliches Geschick im Umgang mit Pferden und es machte Freude, dabei zuzusehen. Aber Florian wußte auch, daß er ein ernsthaftes Wort mit Conny reden mußte. So, wie sie Marlis behandelte, ging es wirklich nicht. Er konnte seinen Lehrling verstehen. Was Marlis sich geleistet hatte, grenzte an den Rand eines Verbrechens, aber sie hatte ihr Handeln bitter bereut und sich bereit gezeigt, dafür zu büßen. Das mußte ihr zugute gehalten werden.

In der Nacht, als Florian und Conny sie im Stall gestellt hatten, erfuhren Michael Vilsharder und sein Sohn die ganze Wahrheit. Sie wußten, daß Rob der Grund für Marlis’ Anschläge war. Sie hatte Conny eine ganze Weile beobachtet und an dem liebevollen Umgang, den das Madel dem Hengst gegenüber zeigte, gemerkt, wieviel das Tier Conny bedeutete. Marlis hatte sich überlegt, die Rivalin am meisten einschüchtern zu können, wenn sie dafür sorgte, daß es Fender schlecht ging.

»Ich war ja so dumm«, sagte sie unter Tränen. »Und es tut mir unendlich leid, daß ich dem armen Tier die Pralinen gegeben hab’. Wenn ich’s nur wieder gutmachen könnt’.«

»Das kannst du«, hatte Michael Vilsharder geantwortet.

Sie hatten sich in der Sattelkammer versammelt und führten ein langes Gespräch. Der Schaden, den Marlis angerichtet hatte, war relativ gering, dennoch sollte sie ihn ersetzen. Das Madel machte eine Ausbildung zur Zahnarzthelferin in der Kreisstadt. Marlis erklärte sich bereit, ihren Urlaub sofort zu nehmen und unentgeltlich, nur gegen Kost und Logis, auf dem Reiterhof zu arbeiten. Immerhin waren es drei Wochen, in denen eine zusätzliche Hilfskraft vorhanden war.

Im Gegenzug versprach der Besitzer des Reiterhofes, daß außer ihm, seinem Sohn und Conny Beerlach kein Mensch etwas von dem erfahren würde, was vorgefallen war. Für alle anderen, die auf dem Hof wohnten und arbeiteten, war Marlis Angerer ein junges Madel, das seinen Urlaub damit verbrachte, sich ein wenig Geld zu verdienen.

*

Nach einer knappen Woche hatte sich das Verhältnis zwischen Conny und Marlis nicht wesentlich gebessert. Wann immer es möglich war, versuchten sie sich aus dem Weg zu gehen. Leider war das nicht immer möglich. Conny suchte gewiß nicht den direkten Kontakt, aber sie mußte die Anweisungen, die sie von Florian bekam, weitergeben. Ansonsten behandelte sie Marlis wie Luft.

Das Madel hatte gerade die Futtertröge gereinigt, als Conny in den Pferdestall kam. Marlis faßte sich ein Herz.

»Kann ich dich mal sprechen?« fragte sie.

Conny sah sie finster an.

»Was gibt’s?« fragte sie kurz angebunden.

»Conny… ich, also… ich wollt’ dir sagen, daß es mir leid tut, was ich getan hab’. Ich wollt’ mich dafür bei dir persönlich entschuldigen.«

»Und du glaubst, damit wär’ die Sach’ erledigt?« brauste Conny auf. »Nein, so einfach geht’s net. Du hast dich net nur an mir rächen wollen, du hast dich an Fender vergriffen. Wenn’s nach mir gegangen wär’, dann hätt’ man dich vor Gericht gestellt. Und jetzt laß mir mei’ Ruh’. Ich hab’ Besseres zu tun, als meine Zeit mit dir zu vertrödeln.«

Sie ging aus dem Stall.

Marlis schaute ihr hinterher. Draußen schlug eine Glocke an, es war achtzehn Uhr. Zeit zum Abendessen. Im Angestelltentrakt versammelten sich jetzt alle um die große Tafel.

Alle, außer Marlis. Sie hatte überhaupt keinen Hunger. Wenn sie daran dachte, daß sie während des Essens auch noch neben Conny sitzen sollte, verging ihr der Appetit.

Sie war verzweifelt. Es war ihr erster Versuch, sich mit Conny auszusprechen. Doch ihr guter Wille war schon im Ansatz abgeschmettert worden.

Dabei hatte sie verblüfft festgestellt, wie schön es hier auf dem Reiterhof war. Die Arbeit war gewiß nicht leicht, doch wenn sie in den blitzblanken Stall kam, freute sie sich über das, was sie geschafft hatte. Und außer Conny waren alle Leute wirklich nett zu ihr. Florian hatte ihr sogar erlaubt, auf einem der Pferde zu reiten, wenn sie Lust dazu hatte.

Und die hatte sie jetzt.

Sie sattelte eine Stute, von der sie wußte, daß sie lammfromm war. Marlis hatte keine großen Erfahrungen im Reiten, doch mit Riesa traute sie sich schon ein wenig ins Gelände. Weit würde sie ohnehin nicht ausreiten.

Drüben waren sie jetzt alle beim Essen. Daß sie nicht dabei war, würde kaum auffallen. Sie hatte schon mehr als einmal darauf verzichtet.

Langsam ritt sie vom Hof. Während Riesa beinahe alleine ihren Weg fand, dachte Marlis darüber nach, wie sie sich mit Conny wieder aussöhnen konnte. Ja, sie war eifersüchtig gewesen – Rob Wilke war einmal ihre große Liebe gewesen, und der Haß auf die Rivalin hatte sie blind gemacht. Aber sie wollte ihren Fehler ja wieder gutmachen. Wenn Conny doch nur net so stur

wär’.

Marlis zügelte die Stute und stieg ab. Ohne es zu bemerken, hatte sie fast die Straße nach St. Johann erreicht. Viel Verkehr gab es zwar nicht, sie wollte aber dennoch kein Risiko eingehen. Außerdem lockte rechts eine Wiese zum Verweilen. Sie band Riesa an und hockte sich ins Gras. Im Schein der untergehenden Sonne überlegte das Madel, wie es weitergehen sollte. Die Spannung zwischen ihr und Conny war einfach unerträglich.

*

Sebastian war auf dem Heimweg von einem Krankenbesuch, als er auf Marlis Angerer traf. Wann immer es möglich war, ließ der Geistliche sein Auto stehen und ging zu Fuß. Doch der Berghof vom Wirkner-Bauern lag zu weit von St. Johann entfernt. Ohne den Wagen würde Sebastian nicht mehr rechtzeitig zur Abendmesse zurückgekommen sein.

Das Madel war gerade wieder aufgestanden. Sie hatte die Stute an der Leine und wollte sie über die Straße führen, als Pfarrer Trenker vorüberfuhr. Sebastian sah das Pferd und bremste vorsichtshalber. Als er dann Marlis erkannte, hielt er an und stieg aus.

»Grüß dich, Marlis«, sagte er. »Ich hab’ dich ja lang’ net mehr gesehen. Wie geht’s denn mit der Lehre? Hast du frei heut’?«

»Grüß Gott, Hochwürden«, antwortete das Madel. »Nein, ich hab’ Urlaub.«

»Ach so. Und da nutzt du die Zeit, um ein bissel auszureiten. Ich hab’ gar net gewußt, daß du so eine gute Reiterin bist.«

»Bin ich auch net. Ich fang ja erst an.«

Sie tätschelte den Hals der Stute.

»Aber Riesa ist ganz lieb.«

Trotz intensiven Nachdenkens war ihr keine Lösung des Problems eingefallen. Jetzt, wo der Geistliche vor ihr stand, hatte Marlis eine Idee. Pfarrer Trenker hatte sie getauft und ihr die heilige Kommunion erteilt, sie kannte ihn also von Kindesbeinen an und wußte, daß sie sich ihm anvertrauen konnte, wenn sie etwas bedrückte.

»Wo ich Sie jetzt hier treffe, Hochwürden…«, sagte sie.

Sebastian sah sie interessiert an.

»Ja?«

»Also, da gibt’s was, das tät’ ich gern mit Ihnen bereden.«

Die Art, wie sie es sagte, ließ den Seelsorger erahnen, daß es sich um eine größere Sache handelte.

»Laß uns doch drüben auf der Wiese darüber sprechen«, schlug er vor.

Sie setzten sich dorthin, wo zuvor Marlis alleine gesessen hatte. Das Madel deutete auf die Stute.

»Die Riesa ist vom Ferienhotel Reiterhof«, begann sie. »Aber es ist net so, daß ich da Urlaub mach’. Ganz im Gegenteil…«

Sebastian hörte aufmerksam zu, als Marlis Angerer beichtete, was sie in ihrer blinden Eifersucht angestellt hatte. Es gelang ihr nicht, die Tränen zurückzuhalten.

»Du warst also die Unbekannte«, nickte er. »Es ist richtig, daß du etwas dafür tust, den Schaden wiedergutzumachen.«

Der Geistliche war weit davon entfernt, dem Madel Vorwürfe zu machen.

»Und es freut mich, daß du dich auch mir anvertraut hast.«

Sebastian lehnte sich ein wenig zurück.

»Tja, weißt du, die Conny ist natürlich mächtig wütend auf dich. Sie hängt sehr an dem Hengst. Aber trotzdem ist es net recht, wie sie dich behandelt.«

»Können S’ net bei ihr ein gutes Wort für mich einlegen, Hochwürden?«

Der Pfarrer sah, daß die Tränen, die das Madel weinte, keine falschen Tränen waren. Marlis Angerer bereute aufrichtig. Sebastian blickte auf die Uhr und erhob sich.

»Ich werd’ mit der Conny reden«, sagte er. »Gleich jetzt. Sie ist doch auf dem Hof?«

»Ja, Hochwürden. Und Sie würden’s wirklich tun?«

»Aber natürlich«, nickte er zuversichtlich. »Ich bin sicher, daß ihr noch gute Freundinnen werdet.«

»Es würd’ mir ja schon reichen, wenn sie net immer so grob zu mir wär’«, meinte sie.

Sie eine Freundin von Conny? Das konnte sich Marlis überhaupt nicht vorstellen. Obwohl – an ihr sollte es nicht liegen, sie wäre sofort zur Versöhnung bereit.

Mit klopfendem Herzen schaute sie dem Wagen des Pfarrers hinterher. Dann schwang sie sich wieder in den Sattel. Als sie die Straße verließ und über eine Wiese abkürzte, wurde Marlis mutiger. Sie ließ die Stute schneller traben und verfiel dann in einen leichten Galopp.

Immer schneller ging es über die Bergwiese. Riesa schien es zu gefallen, fast war es, als würde sie übermütig. Marlis bekam doch etwas Angst und riß an den Zügeln.

»Net so schnell, Riesa«, rief sie dem Tier zu.

Die Stute wieherte auf, als die Trense schmerzhaft in die Winkel ihres Mauls schnitt.

»Halt!« schrie das Madel noch einmal.

Sie riß und zerrte, und die Stute bäumte sich auf. Marlis verlor den Halt und rutschte aus dem Sattel. Sie schlug auf dem Boden auf und verlor die Besinnung.

*

Florian Vilsharder schaute erstaunt, als er erkannte, wer da aus dem Auto stieg, das gerade auf den Reiterhof gefahren war. Er stand mit einigen Pferdeburschen draußen.

»Hochwürden, das ist aber ein seltener Besuch.«

»Pfüat dich, Florian, net seltener als deiner bei mir«, erwiderte Sebastian, wobei er auf die Tatsache anspielte, daß der junge Vilsharder nicht eben ein eifriger Kirchgänger war.

Der Bursche grinste.

»Recht haben S’, Herr Pfarrer. Sie sehen einen reuigen Sünder vor sich stehen.«

Der Geistliche hob drohend den Zeigefinger.

»Na, na, mein Lieber, ich erkenne den wirklichen Reuigen auf den ersten Blick. Bei dir reichen net einmal zwei.«

Er nahm den Pferdewirt beiseite.

»Im Ernst, Florian, ich hatte gerade ein Gespräch mit einem reuigen Sünder, oder ich sollt’ besser sagen, Sünderin. Marlis Angerer hat sich mir eben anvertraut.«

Der Sohn des Hofbesitzers war erstaunt.

»Wirklich?«

»Ja, sie hat mir von der Regelung erzählt, die dein Vater mit ihr getroffen hat. Ich find’s schön, daß ihr euch so geeinigt habt.«

Florian hob die Schultern.

»Naja, was hätt’s denn auch gebracht, wenn wir die Sache weiter von der Polizei hätten verfolgen lassen. Es war zwar mehr als ein dummer Streich, aber eine Anzeige, vielleicht sogar ein Prozeß, hätt’ dem Madel doch die ganze Zukunft verbaut.«

»Der Meinung bin ich auch. Respekt also für euch. Allerdings hat Marlis mir auch etwas weniger Schönes berichtet.«

Der Pferdewirt nickte.

»Ich kann’s mir denken«, sagte er. »Bestimmt von dem Verhältnis zwischen ihr und der Conny Beerlach.«

»Genau. Und deswegen bin ich eigentlich hier. Ich würd’ gern mit dem Madel reden.«

»Himmel, da fällt mir ein Stein vom Herzen, Hochwürden. Ich hab’ schon alles versucht, zwischen den beiden zu vermitteln, wobei es an der Marlis gewiß net liegt. Natürlich, ein bissel kann ich die Conny versteh’n. Fender ist ihr ein und alles. Trotzdem kann es so net weitergehen. Ich bin froh, daß Sie sich der Sache annehmen.«

»Ist Conny denn hier?«

»Ja, ich glaub’, auf ihrem Zimmer. Warten S’ einen Moment, ich laß sie gleich holen.«

Florian beauftragte einen der Pferdeburschen, Conny herzubitten und deutete auf eine Bank, die unter einer Buche stand.

»Nehmen S’ doch einstweilen Platz, Hochwürden, ich sorg’ dafür, daß Sie und das Madel net gestört werden.«

Sebastian bedankte sich und ging zu der Bank hinüber. Schon wenig später kam Conny Beerlach aus dem Haus gesprungen. Florian sprach mit ihr und deutete auf den Geistlichen. Das Gesicht des Madels drückte aus, wie erstaunt es darüber war, daß Pfarrer Trenker mit ihm sprechen wollte.

»Grüß dich, Conny«, sagte Sebastian und reichte ihr die Hand.

»Guten Abend, Hochwürden«, antwortete Conny. »Sie wollten mich sprechen?«

Der Pfarrer nickte und bedeutete ihr, sich zu setzen. Er kam ohne Umschweife zum Thema.

»Ich will net lang’ herumreden«, begann er. »Marlis Angerer hat sich mir anvertraut. Sie bereut bitter, was sie dir und dem Hengst angetan hat, und ich find’s toll, daß sie bereit ist, dafür Buße

zu tun. Aber sag’ mal ehrlich, Conny, übertreibst du net ein wenig? Du behandelst sie ja schlimmer als einen wirklichen Verbrecher.«

Das Madel stampfte mit dem Fuß auf. Ihr Gesicht war vor Ärger rot angelaufen.

»Die hat’s nötig, sich zu beschweren«, fauchte sie. »Sie hat doch angefangen, net ich.«

»Ich weiß. Dennoch solltest du versuchen, ihr zu vergeben. Marlis bereut aufrichtig, was sie getan hat, das darfst du mir glauben. Ich hab’ schon ein bissel Menschenkenntnis, und ich merk’ sehr schnell, wenn es jemand ehrlich meint.«

»Aber… aber wie kann jemand so gemein sein und sich an einem wehrlosen Tier vergreifen?« begehrte Conny auf.

»Ich kann deine Empörung gut verstehen«, sagte Sebastian. »Vielleicht hätte ich net anders gehandelt, als ich so alt war wie du jetzt bist. Aber ich hab’ gelernt, daß es sehr schön und befriedigend ist, wenn man es geschafft hat, über seinen eigenen Schatten zu springen.

Versuch’s doch einmal. Du wirst sehen, es geht dir viel besser, wenn du net mehr haßt, wenn du keine Wut mehr auf jemanden verspürst. Jeder Tag beginnt gleich viel schöner.«

Conny war sichtlich nachdenklich geworden. Eine ganze Weile schwieg sie, bis sie endlich antwortete.

»Na ja, vielleicht haben S’ recht, Hochwürden. Ich hab’ selbst schon gemerkt, daß sich meine schlechte Laune abends net einfach ablegen läßt. Außerdem – ich muß zugeben, arbeiten kann die Marlis, alle Achtung. So sauber war der Pferdestall noch nie.«

»Na, siehst du. Aber sag’s net mir, sag’s der Marlis. Was glaubst wohl, wie sie sich über so ein Lob aus deinem Munde freuen wird.«

Conny schaute verlegen.

»Meinen S’ wirklich?«

»Aber ganz bestimmt. So, und nun wird’s Zeit, daß ich nach Hause komme. In einer Stunde beginnt die Abendmesse.«

Sie erhoben sich, und Conny ging bis zum Wagen des Pfarrers mit. Sie wollte sich gerade verabschieden, als sie durch einen lauten Ruf auf Florian Vilsharder aufmerksam wurde. Ihr Ausbilder lief, die Arme ausgebreitet, auf ein gesatteltes Pferd zu, das reiterlos durch die Einfahrt galoppierte.

*

»Das ist doch die Riesa«, entfuhr es ihr. »Die reitet die Marlis immer.«

»Stimmt«, bestätigte Sebastian Trenker. »Ich erkenn’ es wieder.«

»Da ist was passiert!«

Conny und Sebastian liefen zu Florian, der die Stute am Zügel hielt und beruhigte.

»Marlis ist mit Riesa ausgeritten«, rief das Madel. »Die Stute muß sie abgeworfen haben. Hoffentlich ist nichts Schlimmes passiert.«

Florian Vilsharder übergab das Pferd einem der Burschen und wandte sich an Pfarrer Trenker.

»Wir müssen sie suchen«, sagte er zu dem Geistlichen. »Wo ist denn die Stelle, an der Sie mit ihr gesprochen haben? Ich denk, daß sie dort irgendwo sein muß.«

»An der Landstraße, kurz vor der Kreuzung. Kommt, wir nehmen meinen Wagen.«

Michael Vilsharder kam gerade hinzu. Florian informierte seinen Vater.

»Dann sollten wir keine Zeit verlieren«, rief der Seniorchef und wollte mit in den Wagen steigen.

Conny sah, daß für sie dann kein Platz mehr sein würde.

»Lassen S’ mich mitfahren«, bat sie und fügte dann leise hinzu: »Ich glaub’, ich hab’ da was gutzumachen.«

Michael Vilsharder sah sie erstaunt an. Er verstand aber, als sein Sohn ihm zunickte und auf Sebastian deutete.

»Gut, ich bleib’ hier«, sagte er. »Ruft aber sofort an, wenn ihr sie gefunden habt.«

»Natürlich.«

»Eine Bitte hab’ ich«, wandte sich Sebastian Trenker an den alten Vilsharder. »Rufen S’ bitte im Pfarrhaus an und sagen S’, was passiert ist. Vikar Mooser soll die Abendmesse alleine lesen.«

So schnell es möglich war, fuhr Pfarrer Trenker zu der Stelle, an der er das Madel zuletzt gesehen hatte. Ein wenig ratlos stiegen die drei aus.

»Wo kann sie nur sein?« sagte Florian und suchte mit den Augen die Umgebung ab.

»Vielleicht hat sie versucht, über die Wiese dort abzukürzen«, mutmaßte Conny. »Da geht’s schneller zum Hof zurück, als die Straße entlang.«

»Versuchen wir’s einfach«, bestimmte Sebastian und holte den Erste-Hilfe-Kasten aus dem Auto.

Sie marschierten in einer Reihe los. Dabei ließen sie einen Abstand von ungefähr fünfzig Metern zwischen sich. Zwar stand das Gras nicht sehr hoch, aber die Wiese war leicht hügelig, und hier und da standen ein paar Sträucher, oder kleinere Felssteine lagen herum, so daß leicht jemand übersehen werden konnte, wenn er am Boden lag.

Conny fühlte sich überhaupt nicht wohl in ihrer Haut. Bestimmt war Marlis ausgeritten, um ein wenig Ruhe vor ihr zu haben. Die angehende Pferdewirtin hatte sehr wohl bemerkt, daß Marlis die eine oder andere Mahlzeit ausfallen ließ, besonders dann, wenn sie mal wieder sehr unfreundlich zu ihr gewesen war.

So wie heut’ am frühen Abend. Natürlich hatte sie Marlis wieder einmal angefahren und sie spüren lassen, wie sehr sie das Madel verachtete. Daraufhin war die andere ausgeritten.

Conny grübelte, während sie voranschritt und hinter jeden Stein und unter jeden Strauch schaute. War sie da nicht mitschuldig, wenn ihr etwas zugestoßen war?

In Gedanken bat sie Marlis Angerer um Vergebung.

»Hier ist sie!« rief Florian Vilsharder und winkte den beiden anderen zu.

Conny und Sebastian eilten zu ihm. Er beugte sich über Marlis, die am Boden lag. Sie blutete aus einer Wunde am Kopf und hatte die Augen geschlossen.

Sebastian Trenker hockte sich neben sie. Mit leichten Schlägen auf die Wange versuchte er, das Madel in die Wirklichkeit zurückzuholen.

»Ruf den Notarzt!« sagte er zu Florian, der schon sein Handy gezückt hatte.

Endlich hatten seine Bemühungen Erfolg. Marlis blinzelte mit den Augen. Als sie wieder bei Besinnung war, wollte sie sich aufrichten. Der Geistliche drückte sie sanft zurück.

»Bleib liegen«, befahl er. »Du hast bestimmt eine Gehirnerschütterung bei dem Sturz erlitten. Tut dir etwas weh?«

»Nur der Kopf«, antwortete Marlis.

Sebastian sah zu Conny hoch, die dabeistand und fassungslos auf Marlis schaute.

»Lauf zum Wagen«, sagte er zu ihr. »Hinten drin liegt eine Decke.«

Marlis sah Conny erstaunt an. Diesen Gesichtsausdruck kannte sie gar nicht bei ihr. Verständnislos schaute sie hinterher, als das Madel die Beine in die Hand nahm und zum Wagen des Geistlichen lief.

»Der Notarzt ist unterwegs«, rief Florian. »Ich ruf jetzt meinen Vater an. Wie geht’s ihr?«

»Bis auf den Kopf ganz gut.«

Michael Vilsharder war froh zu hören, daß sie Marlis einigermaßen heil gefunden hatten.

»Du mußt ihren Vater verständigen«, sagte Florian. »Du weißt schon…«

Der Seniorchef vom Reiterhof hatte verstanden. Marlis’ Vater war sehr erstaunt gewesen, als seine Tochter ihm mitteilte, daß sie in ihrem Urlaub in dem Ferienhotel arbeiten wolle. Nun sollte natürlich nicht herauskommen, was wirklich dahintersteckte.

Conny hatte die Decke gebracht. Sie kniete sich neben die Verletzte und deckte sie zu. Marlis beobachtete jeden ihrer Handgriffe. Sie wußte nicht, was sie von der Sache halten sollte. Noch erstaunter war sie, als sie bemerkte, daß dicke Tränen über Connys Wangen rannen. Hilflos sah sie von Sebastian zu Florian und wieder zurück. Der Pfarrer versorgte die Wunde und zwinkerte ihr aufmunternd zu.

In der Ferne war die Sirene des Notarztwagens zu hören. Conny nahm ihre Hand.

»Ich fahr’ mit ins Krankenhaus«, bestimmte sie entschieden.

Sie schaute Marlis an.

»Ich hab’ mich dir gegenüber scheußlich benommen«, sagte sie. »Was immer war – ich möcht’ mich bei dir entschuldigen.«

»Du? Du willst dich bei mir entschuldigen?« fragte Marlis ungläubig.

Conny drückte ihre Hand.

»Ja, und wenn du’s willst, dann bring’ ich dir das Reiten bei.«

Marlis strahlte sie an. Sie strahlte immer noch, als sie auf der Trage im Notarztwagen lag und Conny neben ihr saß.

*

»Schön, daß die Geschichte noch so ein gutes Ende genommen hat«, sagte Pfarrer Trenker, als er mit seinem Bruder darüber sprach.

»Jetzt kann ich auch verstehen, warum der alte Vilsharder die Anzeige zurückgezogen hat«, meinte Max.

»Wirst denn noch was unternehmen in der Angelegenheit?«

Der Gendarm schüttelte den Kopf.

»Dazu gibt’s keine Veranlassung«, erklärte er. »Außerdem ist das Madel gestraft genug.«

»Aber die Marlis hat auch Glück gehabt. Außer der kleinen Platzwunde und einer Gehirnerschütterung hat sie den Reitunfall überstanden. Es hätt’ schlimmer kommen können.«

Sophie Tappert steckte ihren Kopf durch die Tür.

»Ich geh’ dann jetzt, Hochwürden. Bis heut’ abend.«

»Viel Spaß, und grüßen S’ die Frau Breitlanger.«

Sophies Freundin, Hertha Breitlanger, wartete schon an der Bushaltestelle. Die beiden Damen hatten sich diesen Sonntag nachmittag ausgesucht, um an den Achsteinsee zu fahren. Zum einen, weil man dort schön spazierengehen konnte, zum anderen war für heute ein Kurkonzert im Seepark vorgesehen. Außerdem gab es eine ganze Auswahl von Cafés und Eisdielen, in denen man köstliche Torten und leckere Eisbecher bekam.

Die Haushälterin aus dem Pfarrhaus schaute ein wenig spöttisch, als sie den Regenschirm bemerkte, den ihre Freundin mit einem Lederriemen am Handgelenk trug.

»Bei dem Wetter?« fragte sie. »Bist du so pessimistisch?«

»Nur vorsichtig«, gab Hertha zurück. »Schließlich war ich erst gestern zur Dauerwelle. Die will ich mir net gleich durch einen Regenguß ruinieren lassen.«

Mit dem Bus fuhren sie fast bis an den See heran. Die Haltestelle war in der Nähe eines großen Parkplatzes, auf den kaum noch ein Auto paßte, so groß war der Andrang.

Sophie Tappert warf einen Blick auf die Uhr.

»Noch eine Viertelstunde bis zum Konzertbeginn«, sagte sie. »Wir haben noch reichlich Zeit.«

Pünktlich erreichten sie den Park. Ein breiter Weg führte zu der Freilichtbühne mit der Konzertmuschel. Die Musiker hatten schon die Plätze eingenommen und machten ihre Tonproben. Auch Sophie Tappert und ihre Freundin fanden zwei leere Stühle, nicht ganz vorn, aber das war den Damen auch ganz recht. Von ihren Plätzen aus hatten sie einen guten Blick auf die Bühne und das Geschehen dort.

Bei strahlendem Sonnenschein legte das Orchester mit einer furiosen Polka von Johann Strauß los. Das Publikum ging begeistert mit, und es gab frenetischen Applaus. Ein bunter Reigen bekannter und beliebter Melodien wurde gespielt, die die Zuhörer mitsummten oder durch Klatschen begleiteten.

Sophie Tappert schaute auf Herthas Regenschirm, während über ihnen ein strahlend blauer Himmel stand.

»Hast ihn doch umsonst mitgeschleppt«, neckte sie die Freundin.

»Wart’s ab«, gab Hertha Breitlanger zurück. »Du wirst froh sein, falls es doch ein Wetter gibt.«

Sebastians Haushälterin schaute noch einmal zum Himmel hinauf und schüttelte den Kopf. Völlig unmöglich, dachte sie und genoß weiterhin die musikalische Darbietung.

Allerdings sollte sich Herthas dunkle Ahnung noch vor dem Ende des Konzerts als wahr herausstellen. Das Orchester hatte gerade den Radetzky-Marsch intoniert, als es zwischen den Tönen verdächtig grummelte. Die Zuschauer bemerkten, daß es zunehmend dunkler und kühler wurde. Vor die Sonne hatte sich ein breites Band dunkler Wolken geschoben. Sophies Freundin spannte ihren Schirm auf.

»Laß uns schnell in ein Café gehen«, rief sie. »Das Konzert ist eh gleich aus.«

Sophie nickte und sprang ebenfalls auf. Im selben Moment klatschten die ersten Tropfen auf den Boden. Die Zuhörer hatten es plötzlich sehr eilig. Sie liefen durcheinander und suchten die umliegenden Cafés und Lokale auf, um sich vor dem Regen in Sicherheit zu bringen.

*

Nikki war seelig. Seit langer Zeit war es wieder einmal ein Sonntag, an dem sie ihren Papi ganz für sich alleine hatte. Sogar das Frühstück hatten sie ohne Ilona eingenommen, weil die gestern abend schon zu einer Freundin gefahren war, die in der Kreisstadt wohnte. Sie war erkrankt und hatte Nikkis Kinderfrau gebeten, sie zu besuchen.

Der Kleinen konnte es nur recht sein, und als ihr Vater fragte, ob sie immer noch zum See hinauswolle, hatte Nikki begeistert zugestimmt.

Zum Mittagessen waren sie in ein Lokal eingekehrt und hatten es sich dort schmecken lassen. Danach wollte Olivers Tochter unbedingt Tretboot fahren. Über eine Stunde fuhren sie auf dem Achsteinsee herum, zwischen anderen Booten, an Surfern vorbei und bis an den Rand, wo der See zum Schwimmen freigegeben war. Vom Seepark her vernahm man Bruchstücke des Konzerts, wenn der Wind gerade richtig stand. Es herrschte ein reger Betrieb an diesem herrlichen Sonnentag.

Allerdings verdunkelte sich der Himmel am frühen Nachmittag. Oliver und Nikki hatten es gerade eben noch geschafft, wieder am Bootsverleih anzulegen, als die ersten Tropfen fielen.

»Dort drüben ist ein Café«, rief Oliver Behringer. »Schnell, laß uns dorthin laufen.«

Mit ihnen drängte sich eine ganze Anzahl anderer Leute in das Café, das zu einem Bäckergeschäft gehörte.

»Oje«, sagte Nikkis Vater, der seine Tochter an der Hand hielt, damit sie im Gewühl nicht verloren ging. »Wenn wir Pech haben, gibt’s für uns keinen Platz mehr.«

Die Menschen drängten und schoben sich. Tische und Stühle wurden gerückt und Plätze freigemacht oder getauscht.

»Da hinten in der Ecke.«

Oliver deutete auf einen Tisch, an dem zwei ältere Damen saßen. Dort waren noch zwei Stühle unbesetzt. Er ging auf den Tisch zu, gefolgt von Nikki.

»Sind die Plätze noch frei?« fragte er.

Die beiden Damen nickten.

»Aber ja«, sagte eine von ihnen. »Setzen Sie sich ruhig.«

Oliver Behringer deutete eine Verbeugung an.

»Vielen Dank. Komm, Nikki!«

Sophie Tappert horchte auf. Nikki? Sie hatte das Kind nicht sehen können, weil es hinter dem Mann stand, jetzt weiteten sich ihre Augen, als sie die Kleine erkannte. Das Madel war auf einen der Stühle geklettert. Es hatte noch gar nicht bemerkt, wer da noch am Tisch saß. Erst als Sophie sie ansprach, riß sie die Augen auf.

»Grüß Gott, Nikki. Schön, daß ich dich endlich einmal wiedersehe.«

Oliver hatte sich ebenfalls gesetzt. Er sah die unbekannte Frau befremdet an.

»Sie kennen meine Tochter?«

Jetzt war es Sebastians Haushälterin, die staunte.

»Nikki ist Ihre Tochter?«

Der Ton in der Stimme der Frau ließ ihn aufhorchen.

»Ja. Was erstaunt Sie so daran?«

»Entschuldigen S’, aber ich dachte… Sie wären tot…«

Oliver Behringer sah von der Frau zu seiner Tochter und wieder zurück.

»Nun, wie Sie sehen, bin ich höchst lebendig. Wollen S’ mir net sagen, was es zu bedeuten hat, daß Sie vermuten, ich sei tot?«

Sophie Tapperts Gesicht hatte sich leicht gerötet. Hertha Breitlanger schaute verständnislos, und Nikki war auf ihrem Stuhl immer weiter nach unten gerutscht. Die Haushälterin erzählte, wie sie Nikki kennengelernt hatte. Oliver glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Er schaute seine Tochter an und schüttelte den Kopf.

»Also, an der Geschichte stimmt nur, daß sie wirklich Behringer mit Nachnamen heißt«, sagte er schließlich. »Ich bin Oliver Behringer.«

Er winkte nach der Kellnerin und bestellte einen Enzian.

»Eigentlich hättest du kein Eis mehr verdient«, wandte er sich an seine Tochter. »Aber nun such’ dir schnell einen Becher aus.«

Der Kaufmann konnte immer noch nicht glauben, was er da gehört hatte.

»Was hast du dir nur dabei gedacht?« fragte er, nachdem die Bestellung aufgenommen war.

Nikki machte ein betretenes Gesicht.

»Wenn ich doch immer so allein war«, beschwerte sie sich.

Oliver ahnte es. Er wußte ja von den Schwierigkeiten, die das Madel mit Ilona Gruber hatte.

»Sie müssen das verstehen«, sagte er zu Sophie. »Meine Frau starb bei Nikkis Geburt. Da ich beruflich sehr eingespannt bin, war ich immer gezwungen, meine Tochter von Kinderfrauen betreuen zu lassen. Natürlich konnten sie eine Mutter nie ersetzen. Nikki muß sich wirklich sehr einsam fühlen. Ich kann mir die Sache nur so erklären, daß sie in ihrer Einsamkeit die Nähe von Menschen suchte, die ihr etwas Geborgenheit geben konnten. Etwas Glück, das sie sich borgte. Ich mache mir Vorwürfe, daß ich es selber nicht bemerkt habe.«

Sie sprachen eine ganze Weile darüber, aber eine wirkliche Lösung wollte ihnen nicht einfallen. Vielleicht wäre es ganz gut, einmal mit dem Pfarrer zu reden, meinte dessen Haushälterin.

»Ich würde mich über ein Gespräch sehr freuen«, sagte Oliver zum Abschied. »Richten Sie Pfarrer Trenker doch bitte Grüße aus.«

Sophie versprach es und strich Nikki über den Kopf. Die Kleine hatte die ganze Zeit stumm auf ihrem Platz gesessen und den Erwachsenen gelauscht. Nun, beim Abschied, bedeutete sie der Haushälterin, sich zu ihr hinabzubeugen. Sie legte ihre Ärmchen um Sophies Hals.

»Die Ilona mag ich net«, flüsterte sie ihr ins Ohr. »Aber die Sandra, die tät mir schon gefallen.«

*

»Die Sandra also«, sinnierte Sebastian Trenker, nachdem Sophie Tappert ihm die Geschichte beim Abendessen erzählte. »Und die Frau ist in die Kleine ganz vernarrt…«

Er sah Max und Sophie schmunzelnd an.

»Da ist man doch geradezu gezwungen, dem Schicksal ein bissel auf die Sprünge zu helfen«, meinte er.

Die beiden schauten ihn verständnislos an.

»Ich denk’, ich werd’ gleich morgen nach Waldeck fahren und Herrn Behringer und Tochter einen Besuch abstatten.«

Gleich am nächsten Morgen rief er Oliver Behringer in dessen Firma an und verabredete einen Termin für den Nachmittag. Einem anderen wäre es schwergefallen, so etwas innerhalb weniger Stunden zu erreichen, doch da es um seine Tochter ging, verlegte der Kaufmann eine bereits geplante Verabredung mit einem Kunden auf einen anderen Tag. Er empfing den Geistlichen in der Villa. Ilona Gruber schaute neugierig, als sie Oliver mit dem Priester alleine ließ. Nikkis Vater hatte darum gebeten, nicht gestört zu werden.

Beinahe zwei Stunden saßen die beiden Männer zusammen und erörterten das Problem.

»Ich hab’ eingesehen, daß es so net weitergehen kann«, erklärte Oliver. »Die Begegnung mit Ihrer Haushälterin hat mir die Augen geöffnet. Ich muß und werde mir einfach mehr Zeit für Nikki nehmen. Aus diesem Grund hab’ ich beschlossen, einem meiner Mitarbeiter, er ist ein tüchtiger Mann, Prokura zu übertragen. Dann hab’ ich ein bissel mehr Luft.«

Pfarrer Trenker freute sich, das zu hören.

»Schön, Herr Behringer, daß Sie sich so schnell dazu entschließen konnten.«

Der Mann lächelte.

»Es ist ja für meine Tochter«, sagte er mit Stolz in der Stimme. »Mag sie auch noch soviel dummes Zeug angestellt haben, ich kann ihr einfach net bös’ sein, dazu lieb’ ich sie viel zu sehr.«

»Wissen S’ was, Herr Behringer«, sagte Sebastian im Aufstehen, »machen S’ sich und der Nikki eine Freude und kommen S’ am Sonntag zur Kirchweih nach Sankt Johann. Meine Frau Tappert würd’ sich ebenso darüber freuen wie ich.«

»Das will ich gerne tun«, nickte Oliver. »Aber der Nikki werd’ ich noch nix verraten. Das soll eine Überraschung für sie sein.«

*

Ilona Gruber wußte nicht, was sie mit der neuen Situation anfangen sollte. Seit dem merkwürdigen Besuch des Geistlichen am letzten Montag war Nikkis Vater nicht mehr wiederzuerkennen. Beinahe jeden Tag kam er früher aus der Firma zurück, und Termine, von denen Ilona wußte, wie wichtig sie waren, weil ihr Chef zuvor noch mit ihr darüber gesprochen hatte, nahm jetzt offenbar jemand anderer wahr.

Überhaupt hatte sie den Eindruck, daß Oliver sich auch ihr gegenüber distanzierter benahm, und dieser Eindruck täuschte nicht. Nikki hatte ihrem Vater gestanden, immer wieder die Nachmittage woanders, aber nie hier im Haus verbracht zu haben. Oliver war sehr ärgerlich gewesen, als er dies hörte. Weniger über seine Tochter als über Ilona Gruber, weil er feststellen mußte, wie sehr sie ihre Pflichten vernachlässigte. Für ihn stand fest, daß er sich früher oder später nach einer anderen Betreuung für Nikki umsehen mußte.

Doch heute war kein Platz für solche Gedanken, heute war Kirchweih und Nikki freute sich narrisch, seitdem ihr Papi am Morgen von der Überraschung erzählt hatte.

Zusammen mit Pfarrer Trenker und dessen Haushälterin ging’s zum Festplatz hinüber, auf dem schon eine Menge Leute versammelt waren. Außer einigen Karussells und Schießbuden gab es ein Festzelt, in dem der Bieranstich erfolgen sollte. Dies war wie in jedem Jahr die Aufgabe des Bürgermeisters von St. Johann, Markus Bruckner. Gleich neben der Tanzfläche hatte die Musi’ ihren Platz. Zahlreiche Leute drängten sich bereits in dem Zelt, aber in der vorderen Reihe waren Plätze für den Geistlichen und seine Gäste. Allerdings saß auch dort schon jemand auf der Bank.

Sandra Hofmayr schaute ungläubig auf das Kind, als Nikki so unerwartet vor ihr stand.

»Nikki, wo kommst du denn her?« rief sie.

Sie sah den fremden Mann, der das Madel an der Hand hielt, dann Pfarrer Trenker, und eine leise Ahnung stieg in ihr auf, warum Hochwürden so darauf gedrängt hatte, daß sie heute herkommen müsse.

»Es schaut so aus, als seien Sie auch von meiner Tochter hinters Licht geführt worden«, sagte Oliver Behringer, nachdem der Pfarrer ihn mit der Frau bekannt gemacht hatte. »Ich bitte Sie natürlich dafür um Entschuldigung.«

»Aber das müssen S’ net«, antwortete Sandra lächelnd. »Die Nikki ist so ein lieber Fratz, der kann man gar net bös’ sein.«

»Net wahr?« strahlte Oliver.

Die Frau, die so lieb von seiner Tochter sprach, war ihm sofort sympathisch. Natürlich hatte er nichts dagegen, als Sandra Nikki zum Karussellfahren einlud. Die beiden blieben eine ganze Stunde verschwunden, und als sie wieder im Festzelt erschienen, waren sie außer Atem und freudig erregt. Oliver bot Sandra von seiner Maß an, und die junge Frau fand nichts dabei.

»Ah, das tut gut«, sagte sie und wischte sich den Schaum von den Lippen.

Oliver, der das sah, spürte auf einmal ein wehes Gefühl in seiner Brust. Nie wieder hatte er eine andere Frau so angesehen wie Nikkis Mutter. Nach all den Jahren liebte er sie immer noch. Doch Sandra Hofmayr schien

sein Herz im Sturm zu erobern, und hatte er sich anfangs auch

dagegen gewehrt, so bröckelte diese Abwehr unter Sandras strahlendem Lächeln zusammen wie eine Mauer unter stetigem Beschuß. Und Nikkis Herz hatte diese Frau ja schon längst erobert.

»Ihr müßt mal tanzen«, forderte die Kleine.

Sandra und Oliver sahen sich schmunzelnd an und sprangen auf. Sebastian, der die Szene beobachtet hatte, zwinkerte Nikki verschwörerisch zu, und als ob das Madel wüßte, worum es ging, zwinkerte es zurück.

Beschwingt glitten sie über den Tanzboden, jeder Schritt saß perfekt, als hätten sie jahrelange Übung, dabei kannten sie sich doch erst ein paar Stunden. Dem ersten Tanz folgte ein zweiter und ein dritter. Dabei vergaßen sie sogar die Zeit.

»Himmel, ist es schon spät geworden«, sagte Oliver. »Wir müssen ja längst nach Hause.«

»Och, schade. Ich möcht’ noch bleiben«, erwiderte Nikki und sah ihren Vater bittend an.

Der schüttelte energisch den Kopf.

»Dann möcht’ ich aber noch die Sandra nach Hause bringen«, schlug sie vor.

»Du weißt ja net, ob sie überhaupt schon nach Hause will.«

Die junge Frau nahm das Madel in den Arm.

»Doch, ich will und ich würd’ mich sehr darüber freuen, wenn du mich bis zum Haus bringst.«

Wie eine kleine Familie gingen sie vom Festplatz fort. Sebastian, der sie einen Moment beobachtete, schickte einen stummen, dankbaren Blick zum Himmel.

*

»Und wann kommst du uns besuchen?« wollte Nikki wissen, als sie sich vor dem Haus verabschiedeten, das der Antiquitätenhändlerin gehörte. »Morgen?«

Sandra schüttelte bedauernd den Kopf.

»Das wird net gehen«, antwortete sie. »Ich arbeite die ganze Woch’ über in der Stadt und bin nur am Samstag und am Sonntag hier.«

Nikki schaute ihren Vater an.

»Kann sie dann net am Samstag kommen?«

Oliver Behringer sah in Sandras Augen.

»Wir würden uns sehr freuen«, sagte er.

Die junge Frau spürte ihr Herz bei diesen Worten schneller pochen. Genauso war es gewesen, als sie in seinen Armen über die Tanzfläche schwebte. Sie reichte ihm die Hand.

»Dann komm’ ich sehr gern.«

Nikki sprang in ihre Arme und drückte sich fest an. Sandra hätte sie am liebsten gar nicht mehr losgelassen.

»Du bist aber die ganze Woche über brav und erzählst keine Geschichten mehr, die net stimmen«, ermahnte sie die Kleine.

»Bestimmt net«, versprach Nikki. »Jetzt kann ich mich doch die ganze Woche auf dich freuen.«

Diese Worte hallten noch nach, als Sandra längst schlafen gegangen war. Allerdings erfolglos. Das unerwartete Wiedersehen mit dem Kind, die Bekanntschaft mit dem Vater – Sandra konnte einfach keinen Schlaf finden, und immer wieder sah sie in der Dunkelheit Oliver Behringers Gesicht. Er war ihr sofort sympathisch gewesen, und der liebevolle Umgang, den er mit seiner Tochter pflegte, hatte ihr Herz sofort für ihn eingenommen. Sie war voller Erwartung auf das Wiedersehen am nächsten Wochenende.

*

Ilona Gruber ahnte instinktiv, daß etwas vorging, von dem sie ausgeschlossen war. Nicht nur, daß Oliver ihr merklich kühler begegnete, auch Nikki hatte sich verändert. Allein die Tatsache, daß die Kleine brav jeden Nachmittag zu Hause verbrachte und ihre anderen Eskapaden unterließ, versetzte die Kinderfrau in Erstaunen. Aber so sehr sie auch versuchte, Nikki auszufragen, die Mühe war umsonst. Ihr gegenüber gab sie sich schweigsam wie sonst auch.

Ilonas Erstaunen wuchs sich aus, als Oliver ihr am Freitag abend mitteilte, daß sie bereits am nächsten Tag freinehmen könne. Es war gerade so, als wolle er sie aus dem Haus haben. Mit dem untrüglichen Instinkt einer Frau, deren Liebe nicht erwidert wird, argwöhnte Ilona, daß nur eine andere Frau dahinterstecken könne.

Zwar tat sie am Samstag morgen, als wäre alles so wie immer, aber nach dem Frühstück ging sie auf ihr Zimmer und ließ sich nicht mehr sehen. Vater und Tochter vergaßen ganz, daß sie überhaupt noch im Haus war, als Sandra Hofmayr zu Besuch kam. Auf ihrer Suche nach immer neuen Schätzen hatte die Antiquitätenhändlerin schon viele Villen gesehen, doch im Hause der Behringers blieb selbst ihr noch der Mund offen stehen. Allerdings blieb ihr nicht viel Zeit zum Staunen, denn Nikki nahm sie sofort in Beschlag.

»Ich hab’ dir ein Geschenk mitgebracht«, sagte Sandra und reichte der Kleinen ein Päckchen, das mit einer Schleife zusammengebunden war.

Es war ein wunderhübsches Halstuch mit niedlichen Motiven aus bekannten Märchen darauf. Nikki bedankte sich und band es sogleich um.

»Komm, ich zeig dir mein Zimmer«, sagte das Madel.

»Gehen S’ nur«, nickte Oliver, dem man ansah, wie sehr er sich über den Besuch freute. »Ich mach inzwischen Kaffee.«

Der Tisch war draußen unter den Bäumen gedeckt. Ein leckerer Kirschkuchen stand darauf, den Erna Karber am Morgen auf Nikkis Wunsch hin gebacken hatte. Die Köchin hatte eigentlich einen Apfelkuchen machen wollen, doch das Madel bestand auf einen Kirschkuchen.

Ihr Zimmer hatte Nikki am Morgen eigenhändig aufgeräumt und präsentierte es voller Stolz. Sandra lobte sie tüchtig.

»Und das ist meine Mami«, sagte die Kleine und nahm ein gerahmtes Bild in die Hand, das auf dem Nachtkästchen stand.

Sandra betrachtete es. Andrea Behringer war eine wunderschöne Frau gewesen, die Ähnlichkeit mit ihrer Tochter war unverkennbar.

»Du bist deiner Mami sehr ähnlich«, sagte sie. »Eines Tages wirst du genauso hübsch aussehen wie sie hier auf dem Foto.«

»Das meint Papi auch immer«, antwortete Nikki und zog sie mit sich. »Jetzt komm, es gibt Kaffee und eine Überraschung.«

»Na, da bin ich aber gespannt.«

Oliver erwartete sie schon am Kaffeetisch, und Nikki freute sich diebisch, als Sandra den Kirschkuchen entdeckte und laut auflachte. Als die Kleine dann ihren Papa in das Geheimnis des Kirschkuchens einweihte, stimmte er in das Lachen ein.

Es wurde ein wunderschöner Nachmittag, angefüllt mit Spielen und Herumtoben, und als es langsam dunkel wurde, mußte Nikki schweren Herzens zustimmen, daß Sandra wieder aufbrach. Oliver Behringer ging ins Haus, um die Jacke der Besucherin von der Garderobe zu holen. Nikki und Sandra saßen derweil noch draußen. Das Madel sah die Frau nachdenklich an. Sandra, die den Blick bemerkte, schaute fragend zurück.

»Darf ich dich mal etwas fragen?« wollte Nikki wissen.

»Aber natürlich«, antwortete die Frau.

Nikki kletterte auf ihren Schoß und legte ihre Arme um Sandras Hals.

»Ich hab’ dir doch das Foto von der Mami gezeigt«, sagte sie. »Weißt du, ich hab’ sie schrecklich lieb, aber ich hätt’ auch gern’ eine neue Mami. So eine, die immer für mich da ist. Die mit mir spielt und Hausaufgaben macht. Dann bräuchte ich auch net immer zu anderen Leuten laufen.«

Sandra Hofmayr spürte bei diesen Worten einen dicken Kloß in ihrem Hals. Vergeblich bemühte sie sich, ihn hinunterzuschlucken. Nikki schaute sie beinahe zärtlich an.

»Kannst du net meine neue Mami sein?« fragte sie bittend.

Sandra schloß sie ganz fest in ihre Arme, während ein heißer Tränenstrom sich seine Bahn suchte.

*

Oliver Behringer war lautlos hinzugekommen. Er hatte die Worte seiner Tochter mitangehört. Gehört, wie sie von der toten Mutter sprach, die sie nie kennengelernt hatte und die sie dennoch liebhatte. Wie sehr liebte er diesen kleinen Engel dafür.

Sandra hob ihren Kopf, und er sah die Tränen, die sie geweint hatte. Nikki war ganz erschrokken.

»Hab’ ich was Falsches gesagt?«

Nikki sah ängstlich zwischen ihrem Vater und Sandra hin und her.

Die junge Frau schüttelte den Kopf.

»Nein, Spatz, deine Frage war goldrichtig«, sagte Oliver und nahm Sandras Hand.

»Könntest du dir vorstellen, Nikkis Mama zu sein?« fragte er, während er sie hochzog. »Und meine Frau?«

Seine Stimme hatte dabei einen rauhen Klang.

Nikki schaute mit großen Augen auf die Erwachsenen, die sich liebevoll ansahen. Sandra versuchte das Zittern zu unterdrücken, das sie durchfuhr, und mit der Hand zeichnete sie die Konturen seines Gesichtes nach.

»Ja«, antwortete sie. »Das könnte ich mir sehr gut vorstellen.«

Dann bot sie ihm ihre Lippen zum Kuß dar.

»Hurra!« rief Nikki. »Endlich bekomme ich eine Familie.«

Die beiden Verliebten bückten sich und hoben sie gemeinsam hoch. So standen sie ganz eng beisammen, als wollten sie sich nie wieder trennen.

Niemand von ihnen ahnte, daß diese Szene von einem Fenster aus beobachtet wurde. Ilona Gruber stand in ihrem Zimmer und schaute hinaus. Das Licht hatte sie gelöscht, so daß niemand von außen ahnen konnte, daß sich dort jemand aufhielt. Oliver Behringer nahm ohnehin an, daß die Kinderfrau gar nicht im Haus sei.

Auch ohne ein Wort zu verstehen, wußte Ilona das Geschehen im Park zu deuten. Schon als sie die Ankunft der Frau am Nachmittag miterlebte, wußte sie, daß ihre Felle im Begriff waren, davonzuschwimmen.

Doch sollte sie wirklich so leicht die Flinte ins Korn werfen und aufgeben? Wütend suchte sie nach einem Ausweg, einer Möglichkeit, dieser anderen Frau Oliver wieder abzujagen.

Als diese unerwartete Rivalin längst wieder gegangen war, stand Ilona Gruber immer noch in ihrem Zimmer am Fenster und starrte in die Dunkelheit hinaus.

*

Für Sandra begann die neue Woche fröhlicher und beschwingter als alle anderen vorher. Das verdankte sie einem kleinen silbernen Bilderrahmen, den sie an dem Armaturenbrett ihres Wagens befestigt hatte. Darin war ein Foto, das Vater und Tochter Behringer zeigte. Beide lächelten sie strahlend an, als hätten sie bei der Aufnahme schon gewußt, für wen dieses Foto einmal sein würde.

Gut gelaunt schloß Sandra ihren Laden auf und machte sich daran, die Buchführung auf den neuesten Stand zu bringen. Selten kamen Kunden am Morgen, eher schon um die Mittagszeit. Um so erstaunter war die Antiquitätenhändlerin, als kurz nach der Ladenöffnung eine junge Frau das Geschäft betrat.

»Guten Morgen«, begrüßte sie die Kundin freundlich. »Was kann ich für Sie tun?«

Die Frau musterte sie mit einem merkwürdigen Blick, den Sandra nicht zu deuten wußte.

»Die Frage ist, was ich für Sie tun kann, Frau Hofmayr«, gab die andere zurück.

»Wie soll ich das verstehen, Frau…?«

»Mein Name ist Ilona Gruber. Ich denk’, Sie haben ihn schon einmal gehört.«

Das hatte Sandra wirklich, als beiläufig von Nikkis Kinderfrau die Rede gewesen war. Allerdings hatte sie ihn schon bald wieder vergessen. Jetzt stellte sie fest, daß die Frau ihr unsympathisch war.

»Also, Frau Gruber, was können S’ für mich tun?« fragte sie.

»Ich könnt’ Sie davor bewahren, in Ihr Unglück zu laufen.«

Sandra meinte, ihr Herzschlag setze aus.

»Was meinen S’ damit, können S’ sich net deutlicher ausdrücken?«

»Aber ja, natürlich«, erwiderte Ilona. »Schauen S’, ich hab’ gestern mitbekommen, wie Sie in der Villa waren. Glauben S’ mir, ich mein’s gut mit Ihnen, wenn ich Ihnen sag’, daß es sinnlos ist, sich in Oliver Behringer zu verlieben. Der Mann lebt in der Vergangenheit. Für ihn zählen nur seine tote Frau und die Firma.«

Ilona machte eine wohlüberlegte Pause, um ihre Worte wirken zu lassen. Sie sah die Unsicherheit in den Augen der anderen.

»Oliver liebt nur seine Frau«, säte sie ihre böse Saat weiter aus. »Es ist wie ein Traum, in dem er gefangen ist. Und wenn ich es gleich klarstellen soll – niemand sonst, außer mir, hat es je geschafft, ihn aus diesen Träumen zu reißen.«

Mit diesen Worten ließ sie Sandra Hofmayr stehen und ging. Erst das Läuten der Ladenglocke löste die Erstarrung, die die junge Frau gepackt hatte.

Wie sollte sie diesen letzten Satz verstehen? Nur diese Ilona Gruber habe ihn aus seinen Träumen gerissen! Das konnte doch nur bedeuten, daß…

Aber Oliver hatte ihr doch geschworen, daß sie seit Andreas Tod die einzige sei, die er jemals wieder geküßt habe…

Sandra war völlig durcheinander. Hastig schloß sie den Laden ab. Sie brauchte Zeit. Zeit, um darüber nachzudenken, was dieser Besuch eben bedeutete.

Das Klingeln des Telefons überhörte sie. Statt dessen saß sie in ihrem winzigen Büro, und langsam bohrten sich die nagenden Pfeile der Ungewißheit und der Eifersucht in sie hinein.

Sollte sie sich so in diesem Mann getäuscht haben?

*

»Ich versteh’ net, warum sie net abnimmt«, sagte Oliver zu seiner Tochter, die ihn ganz enttäuscht ansah.

Es war wie verhext. Seit dem Vormittag hatte er vergeblich versucht, Sandra anzurufen. Am anderen Ende der Leitung nahm niemand ab. Jetzt wollte Nikki ihr unbedingt noch gute Nacht sagen, doch auch zu Hause schien sie nicht zu sein.

Außerdem war Oliver in Eile. Ein wichtiges Essen mit einem Geschäftspartner mußte er unbedingt wahrnehmen, obwohl er sich viel lieber in seinen Wagen gesetzt hätte und nach St. Johann gefahren wäre.

Ilona Gruber, die das hektische Treiben mit einem süffisanten Lächeln beobachtete, frohlockte. Die Saat, die sie gelegt hatte, war offenbar aufgegangen. Die Rivalin ignorierte das Telefonklingeln.

»Geh ins Bett, Spatz«, sagte Oliver Behringer zu seiner Tochter. »Morgen ruft Sandra ganz bestimmt an. Wahrscheinlich ist sie immer noch geschäftlich unterwegs und kann sich net melden.«

Doch auch am nächsten Tag ließ Sandra nichts von sich hören, und als Oliver in die Stadt fuhr und den Laden aufsuchte, stand er vor verschlossener Tür. Kopfschüttelnd fuhr er wieder zurück. Er verstand es nicht. Sandra hatte doch erzählt, daß sie gerade am Dienstag immer im Geschäft sei, weil ihre Aushilfe da nicht arbeiten könne. Aber zu Hause schien sie auch nicht zu sein. Dort nahm niemand den Hörer ab.

Trotzdem fuhr er nicht zurück nach Waldeck, sondern lenkte den Wagen nach St. Johann. Als er vor dem Haus anhielt, sah er Sandras Wagen vor der Garage stehen. Oliver atmete auf. Stürmisch drückte er den Klingelknopf, erst einmal, dann zweimal. Schließlich hielt er seinen Finger fest darauf, entschlossen, nicht wieder loszulassen, bis jemand öffnete.

Sandras Augen waren vom Weinen gerötet. Oliver war entsetzt, als er sie sah.

»Was ist geschehen?« fragte er. »Willst’ mich net hineinlassen?«

Sandra trat einen Schritt beiseite und ließ ihn eintreten. Sie führte ihn in das Wohnzimmer, in dem es dunkel war. Sandra hatte die Jalousie heruntergelassen, als wolle sie sich vor dem Licht der Sonne verbergen.

»Willst du mir net sagen, was los ist?« forderte Oliver Behringer die junge Frau auf. »Seit gestern versuchen wir dich zu erreichen. Die größten Sorgen haben wir uns gemacht. Nikki ist ganz durcheinander, weil sie glaubt, daß du sie net mehr liebhast.«

Sandra schluchzte auf.

»Ach, Nikki!« entfuhr es ihr.

Oliver nahm sie in die Arme.

»Was ist denn los?« fragte er leise. »Willst’ es mir net sagen? Ich hab’ dich doch lieb. Und wenn du meine Frau bist, dann wollen wir doch net nur die Freude teilen, sondern auch das Leid.«

Sie sah ihn aus tränenverschleierten Augen an.

»Willst mich denn überhaupt heiraten?« fragte sie.

»Aber natürlich. Was ist das überhaupt für eine dumme Frage?«

»Ja, aber liebst du denn net immer noch deine Frau?«

»Doch, natürlich liebe ich sie. Aber das ändert ja nichts daran, daß ich dich ebenfalls liebe. Das ist doch etwas ganz anderes.«

Er schaute sie forschend an.

»Sag mal, wie kommst du überhaupt auf diesen Unsinn?« wollte er wissen.

»Diese Ilona war gestern bei mir im Laden…«

»Was?« fragte Oliver ungläubig. »Hat die dir diesen Floh ins Ohr gesetzt?«

Sandra nickte und erzählte, was die Frau zu ihr gesagt hatte. Oliver Behringer schäumte vor Wut.

»Die fliegt noch heute!« rief er empört.

Er hielt Sandra ganz fest in seinen Armen und sah sie eindringlich an.

»Hör zu«, sagte er. »Ich liebe Andrea und werde sie immer lieben, aber auf eine andere Art als dich. Es stimmt, daß ich geglaubt habe, mich niemals wieder einem anderen Menschen zuwenden zu können. Der Verlust war zu groß, und meine Arbeit schien mir mein einziger Trost zu sein. Dennoch bin ich Realist genug, um mich net in die Vergangenheit zu flüchten. Als wir beide uns begegnet sind, war es, als würde ich neu geboren. Ich habe ein Gefühl wiederentdeckt, von dem ich glaubte, daß ich es längst net mehr besäße. Das Gefühl, einen Menschen zu lieben. Vergiß, was Ilona dir auch immer gesagt hat. Sie hat unrecht, ich brauche dich – wir beide, Nikki und ich, brauchen dich, und darum wirst du jetzt gleich mitkommen.«

»Ja, aber wohin denn?«

Oliver lachte.

»Zu dem Mann, dem wir unser Glück zu verdanken haben«, erwiderte er. »Ich will beim Pfarrer Trenker das Aufgebot bestellen.«

Lachend warf sie sich in seine Arme, und als Oliver sie liebevoll küßte, waren Sandras Tränen vergessen.

*

Über der Hohen Riest ging eben die Sonne auf, als Sebastian den schmalen Pfad emporkletterte. Wie immer, wenn er in den Bergen unterwegs war, trug er seine wetterfeste Wanderkleidung, und wie immer hatte er einen wohlgefüllten Rucksack über dem Rücken hängen. Über dem Höllenbruch machte der Geistliche seine erste Rast. Herrlich duftete der Kaffee aus der Thermoskanne, und köstlich schmeckten Brot und Schinken, den Sebastian mit einem Taschenmesser über den Daumen schnitt.

Tief unter ihm lag sein St. Johann, gerade eben erst aus dem Schlaf erwachend. Pfarrer Trenker wußte es gut behütet.

Er überdachte noch einmal die Geschichte um die kleine Nikki, die sich etwas ausgedacht hatte, um sich bei anderen Leuten etwas Glück zu borgen. Beinahe hatte es ausgesehen, als ob in letzter Sekunde das Glück dreier Menschen durch eine Intrige zerstört werden sollte, doch ein gütiges Schicksal hatte helfend eingegriffen. Unter den zornigen Anschuldigungen ihres Arbeitgebers hatte Ilona Gruber zugeben müssen, Sandra belogen zu haben. Sie hatte durch die neue Telefonnummer, die sie im hauseigenen Verzeichnis las, Namen und Adresse der Antiquitätenhändlerin herausgefunden und dabei ihren Plan gesponnen. Nun, da sie einsehen mußte, daß die böse Saat doch keinen rechten Ertrag brachte, hatte sie ihre Koffer gepackt und die Villa Behringer verlassen.

Sebastian wußte, daß Nikki ihrer Kinderfrau keine Träne nachweinte. Dazu hatte sie auch gar keinen Grund, denn ein ganz besonderes Ereignis stand ins Haus. Schon in wenigen Tagen sollte die Hochzeit von Sandra Hofmayr und Oliver Behringer stattfinden, und damit Nikkis sehnlichster Wunsch in Erfüllung gehen. Endlich würde sie eine richtige Familie haben.

Pfarrer Trenker warf einen Blick zum Himmel.

»Das haben wir gut hingekriegt, net wahr?« sagte er.

Der Bergpfarrer Paket 1 – Heimatroman

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