Читать книгу Der Bergpfarrer Paket 1 – Heimatroman - Toni Waidacher - Страница 28

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Ungeduldig schaute Xaver Anreuther den breiten Waldweg hinunter, dann warf er wieder einen Blick auf die Uhr. Beinahe Mittag. Wo er nur blieb?

Der Förster schüttelte den Kopf. Er wird sich doch wohl net verfahren haben, dachte er. Aber das konnte eigentlich nicht sein. Schließlich hatte er eine genaue Wegbeschreibung durch den Ainringer Wald an die Adresse in Passau geschickt.

Brutus, der neben ihm lag, hob plötzlich den Kopf und stellte seine Ohren auf. Im selben Moment hörte Xaver Motorengeräusch, das langsam näher kam. Der alte Förster stand auf und ging zur Einfahrt. Er hatte gerade das Tor geöffnet, als ein dunkelgrüner Geländewagen den Weg heraufgefahren kam. Xaver bedeutete dem Fahrer durch Handzeichen, wo er den Wagen abstellen sollte. Dann folgte er ihm und wartete, bis das Fahrzeug stand und die Tür geöffnet wurde.

»Grüß’ Gott, Herr Kollege«, nickte der junge Mann in der grünen Uniform. »Ein herrliches Wetter haben S’ hier.«

»Herzlich willkommen, Herr Ruland«, sagte Xaver und schüttelte die dargebotene Hand.

»Sagen S’ Christian, wenn S’ mögen«, bot der neue Förster vom Ainringer Wald an.

»Gern«, nickte Xaver. »Natürlich nennen S’ mich dann aber auch beim Vornamen. Kommen S’ aber erstmal herein. Ich hab’ ein kleines Mittagessen vorbereitet. Dabei können wir uns über alles unterhalten. Und wenn S’ dann noch Lust haben, machen wir einen Gang durch’s Revier.«

»Ich freu’ mich schon drauf«, entgegnete Christian Ruland.

Er stieß einen leisen Pfiff aus, und aus der offenen Autotür kam ein dunkelbrauner Hund gesprungen. Er stürzte gleich auf den immer noch am Boden liegenden Brutus und begrüßte ihn mit lautem Gebell.

»Schäm’ dich, Nero«, tadelte Christian. »Willst den alten Herrn net artig begrüßen? Noch ist das hier sein Revier.«

Als habe er die Worte seines Herrn ganz genau verstanden, warf Nero sich Brutus zu Füßen und winselte.

Schmunzelnd beobachteten die beiden Männer, wie die Hunde sich beschnüffelten.

»Kommen S’, Christian. Die beiden werden sich schon vertragen.«

Der neue Förster staunte nicht schlecht, als er das »kleine« Mittagessen sah. Einen wahren Festtagsbraten hatte Xaver Anreuther vorbereitet, mit Knödeln und Kraut.

»Sagen S’, haben Sie eine Haushälterin?« erkundigte sich Christian. »Das schmeckt ja großartig!«

Der alte Förster schüttelte den Kopf.

»Das hab’ ich mir in all den Jahren selbst beigebracht«, erklärte er. »Wenn man öfter mal für viele Leute kochen muß, dann bekommt man mit der Zeit Übung darin.«

»Oje«, meinte Christian, »da werden die Lehrgangsteilnehmer keine Freude an meiner Kochkunst haben.«

Im Forsthaus wurden des öfteren Lehrgänge für angehende Forstbeamte abgehalten, die dann auch hier wohnten und verköstigt wurden.

»Da holen S’ sich wohl besser Hilfe aus dem Dorf«, lachte Xaver. »Sonst laufen Ihnen die Prüflinge nach einer Woche davon.«

»Wie ist es denn, dieses Sankt Johann?« wollte Christian wissen. »Ich bin schon ganz gespannt.«

»Na, oft werden S’ net hinkommen«, prophezeite Xaver. »Hier im Forst ist mehr zu tun, als man glauben möchte. Aber, um auf Ihre Frage zurückzukommen – von allen Dörfern, die ich kenne, gefällt Sankt Johann mir am besten. Es ist einfach schön dort, doch oft werden S’ net hinkönnen, im Revier haben S’ alle Hände voll zu tun.«

»Wie sieht’s denn mit Wilddieben und solchem Gesindel aus?«

Der alte Förster wiegte den Kopf.

»Es hält sich in Grenzen«, antwortete er. »Einer, er war der Schlimmste, sitzt noch. Den hab’ ich für lange Zeit hinter Gitter gebracht. Ansonsten kommt’s schon einmal vor, daß jemand Fallen stellt, oder noch schlimmer, Schlingen legt. Da müssen S’ ein Auge drauf haben. Vor ein paar Wochen haben wir erst zwei solcher Lumpelkerle, Vater und Sohn, geschnappt. Aber, wie gesagt, es hält sich in Grenzen.«

»Sie sagten ›wir‹ – wer war denn noch dabei?«

»Sie werden’s net glauben – der Geistliche von Sankt Johann, Pfarrer Trenker und sein Bruder Max. Er ist der Dorfpolizist.«

»Wirklich? Ein Pfarrer?«

Christian mochte es gar nicht glauben.

»Net ein Pfarrer«, schüttelte Xaver Anreuther den Kopf. »Pfarrer Trenker ist schon ’was Besonderes. Sie werden ihn ja kennenlernen. Wenn S’ einmal net weiter wissen, einen Rat oder Hilfe brauchen, dann wenden S’ sich an ihn. Hochwürden hat für jeden und alles ein offenes Ohr.«

*

Nach dem Essen machten sich die beiden Forstbeamten auf, das Revier zu besichtigen. Brutus und Nero liefen vorneweg. Sie hatten sich offenbar schon angefreundet. Allerdings blieben sie immer in Sichtweite ihrer Herren und kamen sofort zurück, wenn sie das Kommando dazu hörten. Es waren eben ausgebildete Jagdhunde.

Förster Anreuther führte seinen Nachfolger zu den markantesten Punkten des Ainringer Waldes, zeigte ihm, worauf er besonderes Augenmerk haben mußte, und verriet ihm sogar die besten Pilzstellen.

»Dort drüben«, deutete er auf eine Kiefernschonung, »dort ist die Stelle, an der die Schlingen ausgelegt waren.«

»Das ist schon eine niederträchtige Gemeinheit«, sagte Christian.

Xaver wußte, was der junge Kollege meinte. Schonungen wie diese wurden von den Tieren bevorzugt, um dort ihre Jungen abzulegen. Geriet nun zum Beispiel eine Rehmutter in eine Schlinge, verendete sie nicht nur jämmerlich, auch ihr Junges kam unweigerlich ums Leben, weil sich niemand mehr darum kümmerte.

Von allen Arten zu wildern, war dies wirklich die brutalste und gemeinste!

»Da lob’ ich mir einen rechten Wildschütz«, meinte Xaver Anreuther. »Irgendwann hab’ ich noch jeden zur Strecke gebracht. Und wenn sie mir auch oft bittere Rache geschworen haben – ihre Drohungen haben’s nie wahr gemacht.«

Auf dem Rückweg zum Forsthaus liefen die Hunde brav neben den beiden Männern her. Christian spürte, wie sein Herz vor Freude hüpfte. Mit dem heutigen Tag war sein Lebenstraum in Erfüllung gegangen. Der Dreißigjährige würde von nun an sein eigenes Revier haben. Eine verantwortungsvolle Aufgabe, die zu erfüllen er gewillt war. Daß er das Zeug dazu hatte, davon war nicht nur der Leiter seiner vorgesetzten Dienststelle überzeugt. Auch Förster Lehwanger, sein Ausbilder und väterlicher Freund in Passau, hatte ihn für diesen Posten empfohlen. Obgleich er ihn nicht gerne gehen ließ, wie er immer wieder betont hatte. Am liebsten hätte er Christian als seinen Nachfolger gesehen.

Doch der junge Förster hatte sich anders entschieden. Zum einen gab seine Liebe zu den Bergen den Ausschlag dafür – Christian hatte seit Jahren jeden Urlaub in den Alpen verbracht – zum anderen war da eine unschöne Geschichte, in der ein Madel eine bestimmte Rolle spielte, die ihm die Entscheidung aus Passau fortzugehen, leicht gemacht hatte.

Sehr oft hatte er sich gefragt, warum die Menschen es manchmal erst nach Jahren merkten, daß sie nicht zusammenpaßten – ihm war es jedenfalls erst nach langer, langer Zeit bewußt geworden, daß Maike die falsche Frau war. Aber da hatte sie sich schon längst von ihm abgewendet.

Während Christian noch darüber nachdachte, krachte plötzlich ein Schuß. Mit einem pfeifenden Geräusch surrte das Geschoß an den beiden Männern vorbei und traf den herabhängenden Ast einer alten Kiefer.

Während die Hunde stocksteif stehenblieben, sahen sich die Männer fassungslos an. Christian war der erste, der sich von seinem Schrecken erholte. Er packte Xaver am Arm und zog ihn mit sich in Deckung. Brutus und Nero folgten ihnen sofort.

»Wer hat denn da geschossen?« fragte Xaver Anreuther verblüfft, nachdem er seine Sprache wiedergefunden hatte.

Christian legte seinen Zeigefinger auf die Lippen und lauschte. Er hatte sein Gewehr von der Schulter genommen und entsichert. Der alte Förster folgte seinem Beispiel. Irgendwo in der Ferne war das Brechen von Zweigen zu hören. Offenbar lief jemand in großer Eile durch den Wald.

Der unbekannte Schütze?

*

Motorengeräusch durchbrach die Stille des Waldes. Der junge Förster ließ das Gewehr sinken.

»Wer immer da geschossen hat – jetzt fährt er davon«, sagte Christian Ruland.

Er sicherte die Waffe und hängte sie sich wieder um. Sie gingen zu der Stelle, an der sie gestanden hatten, als der Schuß fiel.

»Wenn ich den erwische«, erboste sich Xaver. »Der kann was erleben! Das war doch ein Mordanschlag.«

Christian bückte sich und hob den Ast auf, dann schaute er zum Wipfel des Nadelbaumes empor. Die Kiefer hatte einen schlanken, hohen Stamm, der hoch angesetzte Ast hatte wohl in einer Höhe von zweieinhalb Metern gesessen. Es war ein meisterhafter Schuß gewesen.

»Das glaub’ ich net«, widersprach er und deutete nach oben. »So hoch, wie der Ast saß, ist es schon ein Kunststück, ihn herunter zu schießen. Das war kein Zufall, sondern ein Volltreffer. Einen von uns zu treffen, wäre indes eine Leichtigkeit gewesen.«

Der alte Förster mußte seinem jungen Kollegen zustimmen. Trotzdem verstand er nicht, was das Ganze sollte.

»Ich könnt’ mir denken, daß es eine Warnung sein sollte«, meinte Christian. »Es hat sich ja bestimmt herumgesprochen, daß heut’ der neue Förster seinen Dienst antritt. Wer weiß, vielleicht wollte mir auf diese Weise jemand klar machen, daß er sich vor mir net fürchtet.«

»Vielleicht«, brummte Xaver. »Ich könnt’ mir aber auch denken, daß der Schuß doch mir galt. Sozusagen als Abschiedsgeschenk. Manch einer der Halunken hat ja einen makabren Humor.«

»Mag sein«, antwortete Christian. »Aber, haben S’ net gesagt, daß die Schlimmsten alle im Gefängnis sitzen?«

»Stimmt«, nickte Anreuther. »Vor allem der Schlimmste, der mir bittere Rache geschworen hat. Also, wenn ich’s net besser wüßt’, dann würd’ ich glatt sagen, daß der alte Breithammer der Schütze eben war. So einen Schuß traue ich ihm zu, keiner schießt besser als er. Der Breithammer ist ein wahrer Meisterschütze.«

Fast klang so etwas wie Bewunderung in den Worten des Försters mit.

»Aber, der sitzt mindestens noch ein Jahr«, schüttelte er den Kopf.

»Sie machen mich richtig neugierig«, meinte der Jüngere, als sie weitergingen. »Erzählen S’ doch mal, wie er so ist, dieser Breithammer.«

»Ach, ich glaub’, im Grunde ist er gar kein schlechter Kerl, der Joseph Breithammer«, sagte Xaver. »Er hat einfach viel Pech gehabt im Leben. Früh die Frau verloren, das Kind ganz alleine aufgezogen, naja, wie es dann so kommt – keine Arbeit, der Alkohol… Seine Wutausbrüche damals vor Gericht, als er schwor, sich an mir zu rächen, ich hab’s eigentlich nie wirklich ernst genommen.«

Er warf einen Blick zurück.

»Doch wenn ich’s jetzt bedenke… der Schuß trägt eindeutig seine Handschrift.«

»Sie erwähnten ein Kind«, forschte Christian nach. »Wo ist es denn jetzt, wo der Vater im Gefängnis sitzt?«

Xaver Anreuther schmunzelte.

»Das Kind ist inzwischen eine junge Frau«, erklärte er. »Kathrin Breithammer ist etwa Mitte zwanzig und ein ziemlich hübsches Ding. Der alte Breithammer besitzt ein kleines Waldgrundstück. Da hat er vor Jahren eine Hütte darauf gebaut. Die Kathrin wohnt darin.«

»Ganz alleine im Wald?« wunderte sich Christian. »Wovon lebt sie denn? Ich meine, wer sorgt für sie?«

»Oh, die Kathrin kann für sich alleine sorgen. Sie baut Kartoffeln und Gemüse an. Dann sucht sie Pilze und verkauft sie an Gaststätten und Hotels in der Umgebung, und zuweilen geht sie auf einen Hof, wenn Erntezeit ist, und verdient sich etwas dazu. Ich denk’ schon, daß sie ihr Auskommen hat.«

»Das ist ja sehr merkwürdig«, schüttelte der junge Förster den Kopf. »Warum lebt sie denn net im Dorf? Da hätt’ sie’s doch viel bequemer.«

Xaver Anreuther zuckte mit der Schulter.

»Das hab’ ich sie auch schon fragen wollen«, erwiderte er. »Aber die Kathrin ist net gut auf mich zu sprechen, weil ich ihren Vater ins Gefängnis gebracht hab’. Sie lehnt jeden Kontakt mit mir ab.«

»Na, die ist vielleicht gut«, empörte sich Christian. »Immerhin ist Wilddieberei ein Verbrechen, auf das nun einmal Gefängnisstrafe steht.«

Sie waren inzwischen wieder beim Forsthaus angekommen.

»Naja, sie sieht es wohl ein wenig anders«, meinte Xaver. »Sie werden sie bestimmt einmal kennenlernen. Dann können S’ sich ihr eigenes Bild von ihr machen.«

Es war vereinbart, daß Xaver noch so lange im Dienst blieb, bis Christian sich eingelebt hatte. Der alte Förster würde dem jungen alles zeigen – heute war es ja nur ein erster Rundgang – und ihn mit allem bekannt machen. Dazu gehörte auch die Vorstellung des neuen Revierförsters bei den Brüdern des wöchentlichen Stammtisches im Hotel »Zum Goldenen Löwen« in St. Johann.

»Morgen abend lernen S’ dann auch die ganzen wichtigen Leute kennen«, erklärte Xaver.

Der Nachmittag verging mit der Erledigung der Verwaltungsarbeit – auch der Papierkram mußte sein, wie Xaver sich ausdrückte, außerdem machte Christian sich anhand verschiedener Karten mit dem Ainringer Wald vertraut. Erst kurz vor dem Abendessen kam er dazu, seine Koffer und Taschen in das Zimmer zu schleppen, das er fürs Erste bewohnen würde. Später hatte er ja die ganze Dienstwohnung für sich.

Bis spät in die Nacht unterhielten sich die beiden Förster über dieses und jenes, die Arbeit im Wald, Naturschutz und Umwelt, und als Christian schließlich müde, aber glücklich in seinem Bett lag, da wurde ihm wieder einmal bewußt, was er sich immer dann ins Gedächtnis rief, wenn er abgespannt oder gar erschöpft war, daß er den schönsten Beruf der Welt hatte.

*

»Ah, da schau her«, sagte Max Trenker zu sich selbst und pfiff leise durch die Zähne.

Er saß hinter dem Schreibtisch in seinem Büro und hielt ein Fax in der Hand, das eben gekommen war. Absender war die Dienststelle in der Kreisstadt, und der Inhalt glich einer kleinen Sensation.

Der Polizeibeamte von St. Johann warf einen Blick auf die Uhr an der Wand gegenüber. Kurz vor Dienstschluß. Er erhob sich und faltete das Fax zusammen. Dann steckte er es in die Brusttasche seines Hemdes, nahm Jacke und Dienstmütze vom Haken und machte sich auf den Weg.

Draußen schickte er einen bedauernden Blick in Richtung des Pfarrhauses, das in Sichtweite zu seinem Büro lag. Heute abend würde er leider auf den Genuß verzichten, den das Abendessen der Haushälterin seines Bruders bot. Max hatte noch einen dringenden, dienstlichen Termin, der sich nicht hinausschieben ließ.

Dadurch würde er auch zu spät zum Stammtisch kommen, das ließ sich zwar verschmerzen, nicht aber der Verzicht auf die herzhaften Bratkartoffeln, die Sophie Tappert heute abend servierte. Bestimmt hatte sie dazu ihre pikante Sülze vorbereitet. Immer wenn Stammtischabend war, gab es im Pfarrhaus Deftiges. Offenbar war die Perle seines Bruders der Meinung, daß solch eine Unterlage gut für den Bierkonsum sei…

Mochte es bei Max vielleicht stimmen, so gewiß nicht für Sebastien Trenker, der einen Schoppen Roten dem Bier allemal vorzog. Trotzdem ließ sich Sophie Tappert nicht davon abbringen.

Max seufzte, als er in sein Dienstfahrzeug stieg. Er mußte zu einer Zeugenvernehmung nach Engelsbach hinüber, und wie gerne wäre er stattdessen Gast im Hause seines Bruders!

Der Beamte hatte gerade den ersten Gang eingelegt, als er Sebastian vorfahren sah. Er hielt neben dem Wagen an und winkte dem Geistlichen zu.

»Kommst’ net zum Essen?« fragte Sebastian Trenker.

Max machte ein saures Gesicht.

»Pfüat dich», sagte er. »Ich muß hinüber nach Engelsbach. Da wird’s nix heut’ abend. Zum Stammtisch werd’ ich auch erst später kommen können.«

»Ist schon recht«, nickte der Pfarrer ihm zu.

Max hob die Hand zum Gruß und gab Gas. Unterwegs fiel ihm ein, daß er dem Bruder gar nichts von dem Fax erzählt hatte, das er in der Brusttasche mit sich herumtrug.

Naja, er würd’s dann halt am Abend, im Löwen, erzählen. Die anderen werden bestimmt genauso erstaunt sein, wenn sie die Neuigkeit hörten, wie er selbst.

*

Christian Ruland ging den schmalen Waldweg entlang, der nach Xavers Worten direkt zu der Hütte führen mußte, in der Kathrin Breithammer lebte. Der junge Förster war neugierig, was das wohl für eine Frau war, die sich hier im Wald verkroch.

Nero lief schnüffelnd zwischen den Büschen voraus.

Allmählich wurde der Weg breiter und führte schließlich auf eine Lichtung, an dessen Rand er die Hütte sehen konnte. Daneben waren zwei Felder angelegt. Nicht groß, gerade so eben, daß man sie alleine beackern konnte. Auf der anderen Seite schien ein Gartenstück zu sein. Alles in allem machte das Anwesen einen gepflegten Eindruck.

Doch von Kathrin Breithammer war nichts zu sehen.

Christian überlegte, ob er noch näher herangehen durfte. Immerhin befand er sich dann auf privatem Grund.

»Hallo, ist jemand zu Hause«, rief er, bevor er es wagte, bis zur Tür vorzugehen.

Es dauerte eine Weile, bis die Tür einen Spalt breit geöffnet wurde. Das Gesicht einer jungen Frau wurde sichtbar.

»Wer sind S’, und was wollen S’?« fragte sie mit mißtrauischer Stimme.

»Grüß’ Gott, mein Name ist Christian Ruland«, stellte er sich vor. »Ich bin der neue Revierförster.«

»Und? Was wollen S’ hier?« kam es zurück. »Das ist ein Privatgrundstück. Hier haben S’ nix verloren!«

Christian machte eine verlegene Handbewegung.

»Ich wollt’ halt nur Grüß Gott sagen, und mich Ihnen vorstellen.«

Kathrin öffnete die Tür ganz und trat heraus. Dem jungen Förster stockte unwillkürlich der Atem. Alles hatte er erwartet – nur nicht solch eine Schönheit.

»So, vorstellen wollten S’ sich«, sagte die junge Frau in dem gemusterten Kleid. »Das haben S’ ja getan. Jetzt können S’ wieder gehen.«

Er setzte ein charmantes Lächeln auf.

»Warum sind S’ so unfreundlich, Fräulein Breithammer?« fragte er. »Ich hab’ Ihnen doch nix getan. Ich wollt’ nur höflich sein.«

Sie warf ihm einen geringschätzigen Blick zu.

»Dieser Rock da, den Sie tragen, Herr Förster, der ist Grund genug, unhöflich zu sein«, antwortete sie scharf. »So einer wie Sie, der hat meinen Vater ins Gefängnis gebracht. Sollte ich Sie und Ihresgleichen dafür lieben? Also, verschwinden S’ und lassen S’ mir meine Ruhe.«

Damit drehte sie sich um und ging in die Hütte zurück.

Christian blieb einen Moment unschlüssig stehen, dann pfiff er nach seinem Hund und ging davon.

Drinnen stand Kathrin am Fenster und schaute ihm hinterher. Aus dem Schatten des hinteren Teils löse sich eine Gestalt und trat zu ihr. Der Mann legte seinen Arm um die junge Frau. Er war groß, kräftig und hatte breite Schultern.

»Ist er weg?« fragte er.

Die junge Frau nickte und drehte sich zu dem Mann um, der seinerseits dem jungen Förster mit brennenden Augen hinterherblickte. Was dabei in Kathrin vorging, ahnte er nicht…

*

In der einsamen Waldhütte duftete es betörend nach Essen. Auf dem Herd, der mit Holzscheiten beheizt wurde, simmerte ein Topf mit Suppe vor sich hin, im Rohr schmorte ein Kaninchen, und Rotkraut und Kartoffeln waren beinahe gar.

Am Tisch, in der Eßecke, saß der breitschultrige Mann und beobachtete die junge Frau, die geschäftig zwischen Herd und Tisch hin und her lief, und seine Augen strahlten. Kathrin Breithammer legte Teller und Bestecke auf, stellte Gläser und Flaschen dazu. Zur Feier des Tages hatte sie den Tisch mit Wildblumen und Kerzen geschmückt.

»Ach, Madel, wie lang’ hab’ ich auf diesen Augenblick gewartet«, seufzte Joseph Breithammer.

Die Tochter erwiderte sein Lächeln. Sie legte ihrem Vater die Hand auf die Schulter.

»Jetzt bist’ ja endlich daheim«, sagte sie leise. »Komm, trink’ einen Schluck auf deine Heimkehr.«

Sie schenkte zwei Gläser Wein ein. Grüner Veltliner, der im Glanz des Kerzenlichts schimmerte.

»Prost, Vater, darauf, daß du da bist und da bleibst.«

Joseph prostete ihr zu und leerte das Glas auf einen Zug. Das erste Glas Wein nach so vielen Jahren. Seine Miene verfinsterte sich, als er an den Mann dachte, dem er es verdankte, daß er im Gefängnis gesessen hatte. Kathrin sah seinen Blick, und sie wußte, woran er dachte.

»Laß gut sein, Vater«, sagte sie. »Es ist ja vorbei.«

Der alte Mann sah sie sekundenlang schweigend an, dann legte er seine Hand auf ihre, die immer noch auf seiner Schulter ruhte.

»Ich freu’ mich auf das Essen«, sagte er. »Das Zeugs im Gefängnis war ungenießbar.«

»Es ist alles fertig«, antwortete Kathrin. »Du sollst sehen, es wird dir schmecken.«

»Davon bin ich überzeugt«, lachte der Alte und rieb sich in Vorfreude die Hände.

*

»Pfüat euch, miteinand«, sagte Xaver Anreuther und klopfte auf die Tischplatte.

An dem runden Tisch, der in der Gaststube des Hotels »Zum Goldenen Löwen« stand, saßen Pfarrer Trenker, der Bürgermeister von St. Johann, Markus Bruckner, sowie der Apotheker Hubert Mayr, und der Bäcker Joseph Terzing. Vielleicht würde im Laufe des Abends der eine oder andere hinzukommen, wie etwa Max Trenker.

»Läßt’ dich auch einmal wieder sehen?« fragte der Apotheker den Förster.

Es kam nicht sehr oft vor, daß Xaver Zeit und Gelegenheit hatte, an dem Stammtischabend teilzunehmen.

»Freilich, ich muß euch ja meinen Nachfolger vorstellen«, antwortete Xaver und deutete auf seinen Begleiter. »Das, meine Herren, ist Christian Ruland, der neue Förster im Ainringer Wald.«

Die Herren am Tisch begrüßten ihn freundlich und hießen ihn in ihrer Mitte willkommen.

»Vielen Dank«, sagte Christian, als er sich gesetzt hatte. »Wie schon beim Xaver werden S’ auch auf meine Gesellschaft des öfteren verzichten müssen. Aber wenn es meine Zeit zuläßt, werde ich gerne das eine oder andere Glas mit Ihnen trinken.«

Sepp Reisinger war hinzugekommen.

»Wenn Sie’s erlauben, dann geht die erste Runde auf mich«, bot der junge Förster an. »Sozusagen als Einstand.«

»Und von mir gibt’s später die Abschiedsrunde«, lachte Xaver und bestellte für sich ein Bier.

Natürlich mußte Christian, nachdem die anderen sich vorgestellt hatten, von sich erzählen. Er tat dies gerne und ausführlich, und Sebastian meinte, aus seinen Worten herauszuhören, daß dieser junge Mann ein aufrechter Kerl war, der seinen Beruf liebte, und genauso, wie der Bergpfarrer, den Wald als eine Kirche betrachtete, in der Gottes Geschöpfe ihr Zuhause hatten.

Inzwischen war Max Trenker hinzugekommen. Er trug immer noch seine Uniform und begrüßte den neuen Förster.

»Hoffentlich haben S’ net so viel Scherereien mit Wilddieben und anderem Gesindel«, meinte der Polizeibeamte.

Xaver winkte ab.

»So, wie’s ausschaut, haben wir gestern nachmittag schon den Gruß eines solchen Lumpen erhalten«, sagte er und berichtete von dem ominösen Schuß im Wald.

Die Männer am Tisch waren entsetzt. Aufgeregt sprachen sie durcheinander.

»Es ist ja nix passiert», wiegelte Christian ab. »Aber wissen möcht’ ich natürlich schon, wer da geschossen hat. Er muß ein wahrer Meisterschütze sein.«

»Ich hab’ gleich auf den alten Breithammer getippt«, warf Xaver Anreuther ein. »Aber der scheidet ja wohl aus. Der sitzt immer noch im sicheren Gefängnis.«

»Irrtum!« rief Max Trenker dazwischen. »Der Breithammer ist vorgestern entlassen worden. Wegen guter Führung wurde ihm das letzte Drittel der Strafe erlassen.« Er zog das Fax mit der Mitteilung aus der Brusttasche und präsentierte es den erstaunten Stammtischbrüdern.

»Dann hab’ ich keine Zweifel, daß es der alte Gauner war, der auf mich geschossen hat«, sagte Xaver. »Damals, vor Gericht, da hat er mir Rache geschworen, und jetzt will er seine Drohung wahrmachen…«

*

Die Stammtischrunde war in heller Aufregung. Niemand konnte so recht verstehen, warum man den Wilderer vorzeitig entlassen hatte. Einzig Pfarrer Trenker versuchte, die erhitzten Gemüter zu beruhigen.

»Das ist eine ganz normale Maßnahme«, erklärte er. »Wenn ein Strafgefangener sich gut führt, und auch draußen, in der Freiheit, alle Voraussetzungen für eine Resozialisierung gegeben sind, dann kann er, nachdem er Zweidrittel der Strafe verbüßt hat, unter Auflagen entlassen werden. Die restliche Haftzeit wird dann zur Bewährung ausgesetzt.«

»Richtig«, mischte sich Max Trenker ein. »Das ist ja auch der Inhalt dieses Faxes. Man teilt mir mit, daß der alte Breithammer sich regelmäßig bei mir auf dem Revier melden muß. Wenn er dem nicht nachkommt, wandert er zurück ins Gefängnis.«

»Na, dann verhafte ihn gleich, wenn er sich das erste Mal bei dir blicken läßt«, forderte Joseph Terzing wütend. »Er ist net nur ein Wilddieb, sondern ein Mordschütze dazu.«

Pfarrer Trenker sah den Bäckermeister strafend an.

»Na, na«, tadelte er. »Noch ist nichts erwiesen, und so lang’ ist auch der Breithammer unschuldig. Für das, was er getan hat, hat er gebüßt. Jetzt ist er wieder Mitglied unserer Gemeinde, und ich möcht’, daß ihn auch alle so behandeln. Zumindest bis man beweisen kann, daß er der Schütze war. Und selbst dann war es noch lange kein Mordversuch. Wir haben doch alle gehört, daß der Unbekannte den Xaver und den Christian leicht hätte treffen können, statt dessen aber auf den Ast gezielt hat.«

Dem konnte der Bäcker nur kleinlaut zustimmen. Es schien, als schäme er sich für seinen wütenden Ausbruch.

Sebastian Trenker schaute auf die Uhr und stand auf.

»So, Leute, ich wär’ gern noch geblieben, aber ich will morgen in der Früh’ auf Tour. Da muß ich ausgeschlafen sein. Also pfüat euch miteinand.«

»Wart«, sagte Max. »Ich komm’ gleich mit. Morgen wird ein langer Tag. Da tut ein bissel Schlaf schon ganz gut.«

Zusammen verließen sie den Gastraum. Draußen empfing sie ein lauer Sommerabend. Ein ganz besonderer Duft, nach Kirschen und wilden Kräutern, hing in dieser Jahreszeit in der Luft. Sebastian atmete tief durch. Er freute sich auf seine morgige Bergwanderung. Es schien eine Ewigkeit her, daß er dort oben unterwegs war. Aber zu viele Dinge hatten ihn in letzter Zeit in Anspruch genommen, so daß er für sein liebstes Hobby keine Zeit fand.

»Glaubst du, daß der Breithammer auf die beiden Förster geschossen hat?« fragte Max seinen Bruder, während sie die paar Schritte vom Hotel zur Kirche gingen.

»Natürlich kann man in keinen Menschen hineinschau’n«, erwiderte der Geistliche. »Aber vorstellen kann ich es mir net. Warum sollte er es auch tun? Wegen seiner dummen Drohungen, damals vor Gericht? Der Joseph wird froh sein, daß er wieder bei seiner Tochter ist. Das wird er bestimmt net aufs Spiel setzen wollen.«

Er zuckte die Schultern.

»Obwohl – wissen kann ich’s net. Nur glauben und hoffen. Auf jeden Fall werd’ ich ihn demnächst in seiner Hütte aufsuchen.Vielleicht kann ich ihn überzeugen, wenn schon net zur Messe, dann vielleicht zur Beichte, in die Kirche zu kommen. Die Kathrin war auch schon lang’ net mehr da. Ich hoff’, es geht ihr gut.«

Sie waren kurz vor der Kirche angelangt, hier trennten sich ihre Wege. Während der Geistliche nur noch die Straße zu überqueren hatte, um zum Pfarrhaus zu gelangen, mußte Max noch hundert Meter weiterlaufen. Das Haus, in dem sich das Polizeirevier befand, war auch gleichzeitig Max’ Zuhause.

»Also, bis morgen Mittag«, verabschiedete sich der Beamte von seinem Bruder. »Und viel Spaß bei deiner Tour morgen.«

»Schlaf gut«, wünschte Sebastian. »Und dank’ schön. Es wird bestimmt herrliches Wetter sein.«

Im Pfarrhaus packte Sebastian seinen Rucksack und legte die Wanderkleidung zurecht. Für den Proviant fühlte Sophie Tappert sich verantwortlich. Zwar hatte der Pfarrer ihr mehr als einmal gesagt, sie müsse nicht extra aufstehen und frischen Kaffee kochen, doch seine Haushälterin ließ sich nicht davon abbringen. Außerdem packte sie frisches Brot, Käse und Schinken oder Speck ein. Sie sah es überhaupt nicht gerne, daß Hochwürden in den Bergen herumkraxelte, wenn er es aber doch nicht lassen konnte, wollte sie wenigstens nicht schuld daran sein, daß er dort oben verhungerte.

Bevor er einschlief, dachte Sebastian noch einmal an den alten Breithammer und dessen Tochter. Nein, auch wenn man dem Alten das Ärgste zutrauen mochte, diesen Anschlag aber bestimmt nicht.

Eher schmolz das Eis auf dem Gletscher!

*

Christian Ruland wälzte sich in seinem Bett unruhig von einer Seite auf die andere. Er konnte und konnte einfach keinen Schlaf finden. So sehr er sich auch bemühte, seinen Verstand auszuschalten – immer wieder sah er dieses Bild vor sich. Dieses Bild, als Kathrin Breithammer aus der Tür trat und ihm gegenüberstand.

Deutlich sah er ihre schulterlangen, braunen Haare, die dunklen, glutvollen Augen, die ihn anfunkelten und die schlanke, hochgewachsene Gestalt in dem bunten Kleid. Kein Lippenstift, kein Make-up störte ihre natürliche Ausstrahlung. Kathrin war eine jener Frauen, die es nicht nötig hatten, sich zu schminken. Selbst Ringe, Armbänder und Uhren brauchte sie nicht, um sich zu schmücken. Die einzige schlichte Kette, mit dem Kreuz daran, die sie trug, war Schmuck genug.

Der junge Förster tastete nach der Lampe auf seinem Nachttischchen. Er fand den Knopf und schaltete das Licht an. Dann griff er zum Wecker. Drei Uhr. Seit vier Stunden lag er nun im Bett und hatte noch kein Auge zugetan. Seufzend setzte er sich auf. Nero, der unten am Boden zusammengerollt lag, hob den Kopf und schaute seinen Herrn fragend an.

»Ist gut, mein Alter«, sage Christian und tätschelte ihm den Kopf. »Schlaf weiter.«

Er stand auf und ging ans offene Fenster. Laue Nachtluft wehte herein. Christian schlief immer bei geöffnetem Fenster. Im Sommer sowieso, aber auch im Winter mußte es zumindest einen Spalt breit geöffnet sein. Er setzte sich auf die Fensterbank und schaute hinaus. Die Geräusche des Waldes drangen zu ihm herüber. Viele von ihnen wußte er zu unterscheiden.

Aber seine Gedanken waren ganz bei ihr. Seit jener unseligen Geschichte mit Maike, hatte er sein Herz verschlossen gehalten, doch nun schien es, als hätte diese junge Frau, die er heute kennengelernt hatte, diesen Verschluß ein wenig geöffnet. Und ganz deutlich wurde Christian bewußt, daß er sich in Kathrin verliebt hatte.

Mehr noch, er begehrte sie mit jeder Faser seines Körpers. Ja, er liebte sie, wie ein Mann eine Frau nur lieben konnte!

Himmel, konnte so eine Liebe überhaupt eine Chance haben, fragte er sich. Sie war die Tochter eines Wilddiebes, und sie haßte jeden, der den grünen Rock trug – nicht nur den, der ihren Vater ins Gefängnis gebracht hatte!

Konnte er unter diesen Umständen eigentlich erwarten, daß sie seine Liebe erwiderte? Ja, durfte er sich ihr überhaupt offenbaren?

Fragen über Fragen, aber keine Antworten.

*

Der junge Forstbeamte ahnte nicht, daß es im Ainringer Wald noch einen Menschen gab, der keinen Schlaf fand. Genau wie er, saß auch Kathrin am offenen Fenster und schaute in die Nacht hinaus. So vieles war in den letzten Tagen auf sie eingestürzt, sie brauchte Zeit, um über alles nachzudenken.

Drei Jahre hatte sie alleine in der Hütte gelebt. Jetzt war der Vater wieder da, und alles war anders. Sie würde sich erst wieder an das Zusammenleben mit ihm gewöhnen müssen.

Dann war da noch dieser neue Förster, der ihr junges Herz gehörig durcheinander gebracht hatte. Seitdem er am Nachmittag vor der Hütte stand, ging er ihr nicht mehr aus dem Sinn. Und immer wenn sie an ihn dachte, wurde sie ganz nervös und kribbelig.

War das die große Liebe, von der sie schon so viel gehört hatte?

Nicht wenige Burschen aus dem Dorf waren hinter Kathrin hergewesen. Doch sie hatte jeden abblitzen lassen, der ihr zu nahe treten wollte. Dabei hatte sie auch schon einmal zur Flinte gegriffen, wenn einer von ihnen besonders dreist wurde. Meistens hatte dann ein Schuß in die Luft genügt, und die Kavaliere ergriffen die Flucht.

Manchem von ihnen wurde auch mehr gewährt – ein Tanz vielleicht, oder gar ein Kuß. Aber so etwas wie Liebe, hatte sie nie dabei empfunden. Das war seit dem Nachmittag ganz anders, und Kathrin kämpfte einen harten Kampf.

Niemals, so hatte sie damals geschworen, als ihr Vater verurteilt wurde, würde sie ihr Herz an einen Grünrock verlieren. Und doch war sie jetzt drauf und dran, es zu tun.

Es konnte gar nicht anders sein, sie liebte diesen Christian Ruland. Doch sie durfte es nicht. Wie sehr würde es ihren Vater schmerzen, wenn er es erfuhr!

Nein, sie mußte den jungen Förster vergessen, auch wenn es noch so weh tat!

Der Morgen graute bereits, als Kathrin sich von ihrem Fensterplatz erhob. Sie reckte die steifen Glieder und zog sich dann an. Hinter der Hütte gab es einen Brunnen. Sie holte frisches Wasser herein und setzte es auf, um Kaffee zu kochen. Dann bereitete sie das Frühstück vor. Am Nachmittag wollte sie im Wald nach Pilzen suchen. Sie kannte eine Stelle, an der es besonders viele Pfifferlinge gab. Sepp Reisinger vom Hotel in St. Johann bot einen guten Preis für frische Ware, und Geld konnten sie jetzt, wo der Vater wieder da war, gut gebrauchen.

Insgeheim fürchtete sie natürlich, daß ihr der neue Förster begegnete. Wie würde sie sich dann wohl verhalten? Kathrin wußte es nicht, aber ihr Herz schlug schneller bei dieser Vorstellung.

*

Beim ersten Morgengrauen war Sebastian auf den Beinen. Immer wenn er in den Bergen unterwegs war, richtete er es so ein, daß er den Sonnenaufgang erleben konnte. Es war ein herrliches und gewaltiges Schauspiel, wenn sich die glutrote Scheibe allmählich am Horizont zeigte. In Gedanken hörte der Geistliche die zauberhafte Melodie der »Morgenstimmung«, aus Peer Gynt, von Edvard Grieg, und wieder einmal freute sich sein Herz an Gottes Schöpferkraft.

Natürlich war auch Sophie Tappert an diesem Morgen aufgestanden und hatte sich persönlich um Sebastians Frühstück gekümmert. Im Pfarrhaus verzichtete der Geistliche darauf, eine reichhaltige Morgenmahlzeit einzunehmen. Ein Becher Kaffee und ein belegtes Brot genügten ihm, denn zu seinem größten Vergnügen auf einer Tour gehörte ein ausgiebiges Frühstück in der freien Natur.

Auf einer Almwiese hatte er es sich gemütlich gemacht. Von hier oben hatte er einen herrlichen Blick, hinunter ins Wachnertal. Drüben grüßten ihn die weißen Spitzen des Zwillingsgipfels, der Himmelsspitz und die Wintermaid. Lange und genüßlich ließ er sich schmecken, was seine Haushälterin ihm an Köstlichkeiten eingepackt hatte und beobachtete dabei, wie sich rings um ihn herum Leben regte.

Aber natürlich machte der Geistliche sich auch Gedanken über seine Schäfchen und ganz besonders über das, was er gestern abend am Stammtisch erfahren hatte. Daß der alte Breithammer vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen worden war, hatte wohl alle überrascht. In wieweit diese Tatsache mit dem Schuß auf die beiden Frostbeamten in Zusammenhang stand, konnte zur Stunde noch niemand sagen. Dies zu ermitteln, war in erster Linie Max Aufgabe. Xaver Anreuther hatte den Wilderer verdächtigt, auf die beiden Männer geschossen zu haben, also mußte der Polizist der Sache natürlich nachgehen. Wahrscheinlich fuhr er schon am Morgen in den Ainringer Wald, um den Alten zu vernehmen. Aber auch Sebastian würde, wie er es am Abend vorher angekündigt hatte, Joseph Breithammer und dessen Tochter in ihrer Hütte besuchen.

Doch zunächst hatte er noch eine weite Tour vor sich. Sein Ziel war die Korber-Alm. Als er sie erreichte, war es bereits elf Uhr am Vormittag. Sebastian stellte fest, daß er nicht der einzige Besucher hier oben war. So allmählich begann die Urlaubszeit, und damit fanden sich auch wieder die Touristen und Wanderer ein.

»Grüß Gott, Hochwürden«, sagte das junge Madel.

Es kam gerade aus der Hütte und hatte den Geistlichen gesehen, der sich an einen der Tische gesetzt hatte, die draußen aufgestellt waren.

»Pfüat di’, Katja«, grüßte Sebastian zurück. »Bist’ auch einmal wieder hier ’droben, beim Großvater?«

»Es sind ja Ferien, Herr Pfarrer. Da bleib’ ich die ganzen Wochen oben und geh’ dem Großvater zur Hand. Er ist ja den ganzen Tag mit dem Kas’ beschäftigt. Was darf’s denn sein?«

»Ein Glaserl Milch, wie immer, Katja«, bat Sebastian. »Und was habt ihr zum Mittag vorbereitet?«

»Heut gibt’s geschmolzenen Käs’, mit Röstkartoffeln.«

»Hm, das klingt gut. Davon nehm’ ich eine Portion.«

»Ist recht, Herr Pfarrer. Kommt sofort.«

Sebastian schmunzelte über das eifrige Madel. Er freute sich, daß Katja so engagiert mithalf. Eigentlich wohnte sie bei ihren Eltern in St. Johann, doch an den Wochenenden und in den Ferien hielt sie nichts im Tal. Da verbrachte sie ihre Zeit am liebsten hier oben auf der Alm, und half so gut sie konnte.

Flink brachte sie die frische, kühle Milch und wenig später das Essen an den Tisch. Pfarrer Trenker genoß das einfache, aber wohlschmeckende Mahl und trank ein zweites Glas Milch. Später gesellte sich der Senner zu ihm. Der alte Alois freute sich jedesmal, den Geistlichen begrüßen zu können. Nicht zuletzt auch, weil er von Sebastian verläßlichere Nachrichten aus dem Tal zu hören bekam als von anderen Besuchern. Gerne hätte er noch weitergeplaudert, doch so langsam wurde es für den Seelsorger Zeit, sich auf den Rückweg zu machen. Immerhin lag noch eine ziemlich weite Strecke vor ihm.

Zudem wollte er nicht so spät zurück sein. Schließlich stand sein Besuch beim Breithammer noch bevor.

*

Wie immer lief Nero schnüffelnd voraus, während Christian langsam daherschritt. Der junge Förster schaute sich ausgiebig um in seinem neuen Revier. Was er sah gefiel ihm. Xaver Anreuther hatte in seinen Dienstjahren hier gute Arbeit geleistet, und Christian würde sie fortsetzen. Er war froh, daß der erfahrene Kollege noch ein paar Wochen im Forsthaus bleiben wollte, bevor er zu seiner Schwester zog, wie er erzählt hatte. So konnte er seinen Nachfolger bestens einweisen und ihm seine Erfahrung zugute kommen lassen.

An diesem Nachmittag war Christian allerdings alleine unterwegs. Lediglich Nero, der Setterrüde, begleitete ihn. Nach der letzten, schlaflos vergangenen Nacht fühlte sich der junge Forstbeamte wie gerädert. In aller Herrgottsfrühe war er schließlich aufgestanden und hatte sich daran gemacht, sich im Arbeitszimmer des Forsthauses einzurichten und seine Unterlagen zu ordnen. Als Xaver sich sehen ließ, schien er sehr erstaunt darüber, daß der junge Kollege schon auf den Beinen war. Er sagte aber nichts weiter. Christian überlegte, ob man ihm ansah, daß er ein Problem mit sich herumtrug, denn ein Problem war sie für ihn, seine unerfüllte Liebe zu Kathrin Breithammer.

Er konnte es anstellen wie er wollte – das Madel ging ihm einfach nicht mehr aus dem Sinn.

Christian war völlig in Gedanken versunken, so daß er erst nach einer Weile wahrnahm, daß Nero laut bellend vor ihm hin- und her lief. Als das Tier bemerkte, daß sein Herr auf ihn aufmerksam geworden war, lief er ein kleines Stück in die Schonung hinein, die rechts von ihnen war. Laut kläffend kam er zurückgeschossen, um gleich darauf wieder zwischen den niedrigen Bäumchen zu verschwinden.

Der Rüde gehörte mittlerweile drei Jahre zu Christian. Der Forstbeamte war mit dem Tier zunächst auf einer Hundeschule gewesen und hatte Nero dann zu einem Jagdhund ausbilden lassen. Es hatte seinen Grund, wenn der Setter immer wieder in die Schonung hineinlief und dort etwas verbellte. Christian Ruland folgte dem Hund, der einige Meter vor ihm stand und nun, wo er seinen Herrn kommen sah, aufgeregt mit der Rute wedelte.

»Was hast’ denn Nero?« fragte der Forstbeamte und sah im selben Moment, was das Tier entdeckt hatte.

Unter den niedrigen Kiefernbäumchen lag ein verendetes Reh, gefangen in einer Drahtschlinge.

Kalte Wut stieg in dem jungen Mann auf, als er dieses Verbrechen sah.

»Brav, das hast’ gut gemacht«, sagte er und tätschelte dem Rüden den Kopf. »Aber wehe, wenn ich diesen Lumpenhund in die Finger bekomm’…«

Christian führte nicht weiter aus, was er zu tun gedachte, wenn er den Kerl erwischte. Er überlegte, wie es am klügsten war, weiter vorzugehen. Wahrscheinlich wird irgendwann der Wilddieb auftauchen und nachschauen, ob sich ein Tier in der Schlinge verfangen hatte. Aber wann würde das sein? Am sichersten war es für ihn wohl in der Nacht. Also würde der junge Förster sich auf die Lauer legen müssen, wenn er den Übeltäter schnappen wollte.

Doch zuvor gab es etwas anderes zu tun. Wo eine Schlinge auslag, da waren meisten noch mehr versteckt. Christian suchte sorgfältig die Schonung ab. Dabei stieß er immer wieder auf diese gemeinen Fallen. Nach gut zwei Stunden hatte er insgesamt siebzehn Drahtschlingen gefunden. Gottlob hatte sich in keiner ein Tier verfangen.

Der Forstbeamte setzte seinen Weg fort. Dabei dachte er darüber nach, wie dem Wilddieb das Handwerk gelegt werden konnte. Auch mit Xavers Hilfe konnte er nicht jede Nacht hier im Wald darauf warten, daß der Verbrecher seine Beute einsammelte. Aber eine andere Idee hatte er. Zwar war der Ainringer Wald Staatsforst, aber es gab ein paar Jagdpächter. Denen mußte auch daran gelegen sein, daß das Wild nicht sinnlos gemeuchelt wurde. Christian würde die Pächter zu einem Gespräch ins Forsthaus bitten und ihnen die Lage schildern. Außerdem wollte er sich umsehen, ob irgendwo Wildbrett preiswert angeboten wurde. Die Anzahl der Schlingen ließ darauf schließen, daß jemand im großen Stil wilderte, um daraus Profit zu schlagen. Also würde Christians Augenmerk den Gasthöfen und Hotels der näheren Umgebung gelten.

Wieder lief Nero voraus. Der Förster lauschte aufmerksam, als der Hund wieder laut bellte. Aber er konnte heraushören, daß es sich um eine freundlich gemeinte Begrüßung handelte. Offenbar befand sich irgendwo vor ihm ein Mensch, den der Hund schon einmal gesehen hatte.

Als Christian so nahe heran war, daß er erkennen konnte, auf wen Nero getroffen war, stockte ihm der Atem.

Ein wenig abseits vom Weg sah er Kathrin Breithammer über den Setter gebeugt, das Fell des Hundes kraulend.

*

Der Mann trug eine grüngemusterte Jacke und eine ebensolche Hose. Auch der Hut auf seinem Kopf war aus dem selben Material.

Langsam schlich er sich durch die Büsche, in denen er, dank seiner Tarnkleidung, kaum auszumachen war. Dabei hielt er das Jagdgewehr in der Hand. Die Waffe war entsichert. Schon seit geraumer Zeit hatte er Christian Ruland beobachtet, wobei er darauf bedacht war, daß der Hund des Försters sich nicht seinem Versteck näherte. Da der Wind günstig stand, konnte das Tier die Witterung des Mannes nicht aufnehmen.

Es dauerte schier eine Ewigkeit, bis der Forstbeamte wieder auftauchte. Die ganze Zeit über war der Mann in dem Versteck geblieben, in das er sich geflüchtet hatte, als er den Hund bellen hörte. Von dort aus observierte er die Kiefernschonung. Als Christian Ruland zum Vorschein kam, wußte der Mann in den Büschen, daß der Förster die Drahtschlingen gefunden hatte.

Pech, dachte er. Das bedeutete, daß das Geschäft für die nächste Zeit ruhen mußte. Schade, dabei hatte es gerade erst richtig angefangen. Seine Kunden zahlten bar und fragten nicht danach, woher die Tier stammten, die er lieferte.

Allerdings würde er noch einmal herkommen müssen. Sein bester Abnehmer hatte für den übernächsten Tag ein Hirschkalb geordert. Das mußte er wohl oder übel besorgen. Nur im Augenblick, wo sich der neue Förster im Revier herumtrieb, war es zu gefährlich.

Auch die Nacht schien ihm nicht die geeignete Zeit zu sein, überlegte der Mann, während er vorsichtig in entgegengesetzter Richtung davonging. Höchstwahrscheinlich werden sie heut’ nacht auf der Lauer liegen und darauf warten, daß ich die Beute hole, dachte er und grinste dabei. Aber da würden sie vergebens warten. Morgen, irgendwann im Laufe des Tages mußte sich aber eine Gelegenheit ergeben, wenn er seinen guten Kunden nicht verlieren wollte. Da half alles nichts – er würde das nicht geringe Risiko, am Tage zu wildern, eingehen müssen.

*

Sein Herz klopfte vor Aufregung, wie er es seit seiner Jugend nicht mehr erlebt hatte, und sein Mund war ganz trocken. Die Schlingen steckten, gottlob, in seinem Ränzel.

Kathrin richtete sich auf, als sie seine Schritte hörte. Auch ihr Herz schlug einen schnelleren Takt. Nero hatte sich vor sie hingelegt und schaute sie wedelnd an.

»Grüß Gott, Fräulein Breithammer«, begrüßte Christian die junge Frau.

Er deutete auf den Pilzkorb zu ihren Füßen.

»Lohnt sich’s denn?«

»Grüß Gott, Herr Ruland«, nickte Kathrin freundlich zurück. »Net so recht. Es ist wohl ein

bissel zu trocken. Die Schwammerl lassen jedenfalls auf sich warten.«

Sie standen sich gegenüber, schauten sich in die Augen, und jeder von ihnen hätte zu gerne gewußt, was der andere dachte.

»Kennen S’ sich schon aus, in Ihrem neuen Revier?« erkundigte sich das Madel.

»Ein bissel schon«, antwortete der Förster. »Natürlich wird’s eine Weile dauern, bis ich wirklich alles kenne, aber ich bleib’ ja auch bis zu meiner Pensionierung, und das ist erst in vierzig Jahren. Ich denk’, daß ich bis dahin weiß, wo die besten Steinpilze wachsen.«

Kathrin lachte.

»Da haben S’ aber eine große Konkurrentin in mir«, meinte sie. »Ich weiß, die besten Pilzstellen kenn ich ganz allein.«

Christian hätte auch gerne gelacht, doch gerade eben dachte er an das, was er gestern abend im Gasthaus erfahren hatte – der Vater dieser jungen Frau, der Wilderer Joseph Breithammer, war wieder in Freiheit. Und schon einen Tag später fanden sich eine ganze Anzahl Drahtschlingen im Wald!

Kathrin bemerkte seinen Stimmungsumschwung. Sie sah ihn fragend an.

»Ist was, Herr Ruland? Sie sind auf einmal so anders…«

Er sah auf und blickte direkt in ihr Gesicht.

»Was? Nein, nein«, wich er aus. »Mir ging nur gerade eben etwas durch den Kopf.«

Das Madel nahm seinen Pilzkorb auf.

»Ich glaub’, ich muß dann«, sagte Kathrin. »Bestimmt wird der Vater sich schon wundern, wo ich bleib’.«

»Darf ich Sie ein Stückerl begleiten?« fragte der junge Förster.

»Warum net? Sicherer kann ich ja net heimkommen«, lachte sie. »Ein Förster mit seinem Hund ist doch ein sicherer Geleitschutz durch diesen Wald.«

Jetzt schmunzelte Christian.

»Na, wenn ich an unsere erste Begegnung, gestern nachmittag, denke, dann muß ich sagen: Schutz brauchen S’ bestimmt

net. Sie wissen sich schon zu helfen.«

»Das können S’ glauben«, antwortete sie schlagfertig. »Ich hab’ auch schon so manchen aufdringlichen Kavalier in die Flucht geschlagen.«

Eine Weile gingen sie stumm nebeneinander her, und jeder hing seinen Gedanken nach. Schließlich faßte Christian sich ein Herz. Er mußte herausfinden, ob Joseph Breithammer etwas mit den Schlingen, die er bei sich trug, zu tun hatte, und ob seine Tochter etwas darüber wußte. Nur wie sollte er es anstellen, ohne Kathrins Mißtrauen zu wekken?

»Ihr Vater ist wieder daheim, wie ich gehört hab’«, sagte er, wobei er sich bemühte, seine Stimme gelassen klingen zu lassen.

»Ja«, erwiderte das Madel. »Sie haben ihn vorzeitig entlassen.«

Sie blickte ihn forschend an.

»Wollten S’ mich deshalb heimbringen?« fragte sie plötzlich.

»Nein, nein«, wehrte er ab. »Das hat mit Ihrem Vater nix zu tun.«

»Womit dann?«

Sie waren stehen geblieben. Christian sah Kathrin überrascht an. Diese direkte Art hatte er nicht erwarte.

»Was meinen Sie?«

»Womit es etwas zu tun hat, daß Sie mich nach Hause bringen wollen?«

Der junge Förster merkte, wie er verlegen wurde. Er räusperte sich, bevor er antwortete. Aber er erwiderte doch ihren Blick.

»Sie waren mir vom ersten Augenblick an sympathisch«, gestand er. »Und ich hab’ mich sehr gefreut, als ich Sie vorhin traf.«

Kathrin Breithammer spürte, wie ihr Blut bei diesem Geständnis pulsierte.

»Ich mag Sie auch, Christian«, antwortete sie und nannte ihn zum ersten Mal bei seinem Vornamen.

Der Förster wäre am liebsten im Erdboden versunken. Natürlich liebte er diese junge Frau, aber das war im Augenblick nebensächlich. Der wahre Beweggrund, sie heimzubringen, war sehr wohl, herauszufinden, ob der gerade aus dem Gefängnis entlassene Wilderer schon wieder neue Untaten begangen hatte. Doch Kathrins Frage hatte ihn so durcheinander gebracht, daß er zu einer Notlüge griff. Niemals hätte er ihr in diesem Augenblick sagen können, daß er ihren Vater der Wilderei verdächtigte. Statt dessen schaute er in ihre Augen und glaubte, in einem tiefen, dunklen Meer zu versinken.

Er trat einen Schritt vor, und seine Hand berührte ihren Arm. Langsam glitt sie daran entlang, tastete nach ihrer Hand. Christian zog sie zu sich heran, und seine Lippen suchten ihren Mund. Kathrin drehte den Kopf beiseite, so daß er ihre Wange streifte.

»Bitte net«, flüsterte sie. »Noch net…«

Der junge Förster verstand, was sie meinte. Deutlich genug hatte sie es ihm am Vortag ja gesagt – einen Grünrock würde sie niemals lieben können!

Und nun war es doch geschehen. Christian ahnte, was in ihr vorgehen mußte, ahnte den Zwiespalt ihrer Gefühle, und sah es ein. Letztendlich ging es ihm nicht anders. Sich in die Tochter eines Wilddiebes zu verlieben – konnte das wirklich gutgehen?

Stumm gingen sie weiter, und erst als sie an den schmalen Weg kamen, der zu der Hütte führte, in der Kathrin und ihr Vater lebten, brach Christian das Schweigen.

»Darf ich dich wiedersehen?« fragte er.

Die junge Frau nickte.

»Morgen. Dort, wo wir uns heut’ getroffen haben«, antwortete sie.

»Ich werd’ am Nachmittag da sein«, versicherte er und schaute ihr nach, bis sie um die Biegung verschwunden, und nicht mehr zu sehen war.

Eine ganze Weile stand er noch da und schaute den leeren Weg entlang. Nero war dem Madel ein Stück hinterher gelaufen und kam jetzt zurück. An seinem Halsband leuchtete etwas Gelbes. Christian bückte sich und nahm die Blume in die Hand, die Kathrin dort befestigt hatte. Er steckte sie in die Brusttasche seines Hemdes, so daß die Blume ganz nahe an seinem Herzen war. Dann ging er nachdenklich zum Forsthaus zurück.

*

Pfarrer Trenker war am frühen Nachmittag von seiner Bergtour zurückgekehrt. Nachdem er sich umgezogen hatte, warteten sein Bruder und die Haushälterin schon mit dem Kaffee auf

ihn. Sophie Tappert hatte einen saftigen Rührkuchen mit Rosinen gebacken, den Max sich schon schmeckenließ. Sebastian schmunzelte über das Schleckermaul. Der Geistliche war immer wieder erstaunt darüber, was sein Bruder essen konnte, ohne daß dessen Figur darunter zu leiden hatte.

»Ich verbrenn’ halt die Kalorien gut«, erklärte der Polizeibeamte, wenn er darauf angesprochen wurde.

Sebastian erkundigte sich, ob Joseph Breithammer der richterlichen Auflage, sich regelmäßig auf dem Revier zu melden, schon nachgekommen war.

»Heut’ morgen war er da«, nickte Max. »Ich hab’ das Papier abgestempelt.«

»Und? Hast ihn wegen des Schusses gefragt?«

»Freilich. Aber, ich glaub’ net so recht, daß der Breithammer ’was damit zu tun hat«, meinte der Polizeibeamte. »Der Alte war recht freundlich, keineswegs beleidigt, weil ich ihn danach gefragt hab’. Er meinte nur, daß seine Waffen alle eingezogen worden sind.«

Im selben Moment sprang Max auf und schlug sich gegen die Stirn.

»Ich Rindviech, ich damisches!« schimpfte er. »Warum hab’ ich net gleich daran gedacht?«

Sebastian sah ihn amüsiert an. Es kam nicht oft vor, daß sein Bruder sich als Rindvieh bezeichnete.

»Was meinst’ denn?«

Max setzte sich. Er schüttelte den Kopf.

»Der alte Fuchs hat schon die Wahrheit gesagt – er besitzt wirklich keine Waffen mehr«, antwortete er endlich. »Aber seine Tochter Kathrin, die hat ein Gewehr.«

Pfarrer Trenker schaute gespannt.

»Bist’ da ganz sicher?«

»Aber ja. Du erinnerst dich doch an die Geschichte mit den beiden Moosbachern. Den Willi und seinen Sohn, Hubert – die wir und Xaver im Wald geschnappt haben.«

Sebastian nickte, natürlich erinnerte er sich daran.

»Ich war damals bei der Kathrin draußen und hab’ sie befragt. Sie stand mir dabei mit einem Gewehr gegenüber.«

Der Polizeibeamte sprang wieder auf.

»Na wart’, Bursche, dich kauf’ ich mir«, sagte er. »So leicht bist’ noch net aus der Sache ’raus!«

»Wart«, bat sein Bruder und stand ebenfalls auf. »Laß mich erst einmal mit ihm reden.«

Max Trenker zuckte die Schulter.

»Gut, wenn’st meinst. Aber ein Aug’ werd’ ich auf ihn haben, das soll der Alte wissen.«

*

Joseph Breithammer schaute auf, als seine Tocher die Hütte betrat. Auf den ersten Blick merkte er, daß das Madel etwas beschäftigte. Forschend beobachtete er sie.

Kathrin stellte den Pilzkorb auf den Tisch und holte sich eine Schale aus dem Schrank. Dann setzte sie sich und begann, die wenigen Pilze, die sie gefunden hatte, zu putzen.

»Viel ist es ja net«, bemerkte ihr Vater.

»Ist noch zu trocken«, gab sie einsilbig zurück.

Der Alte trat an den Tisch und begutachtete den Fund.

»Warm genug ist’s ja«, meinte er. »Aber du hast recht, es fehlt der Regen.«

Kathrin arbeitete, ohne weiter auf ihn zu achten. Offenbar war sie mit ihren Gedanken ganz woanders. Joseph kannte diesen abwesenden Blick. So hatte Kathrins Mutter auch immer geschaut, wenn sie mit etwas beschäftigt war.

Das Herz des alten Mannes krampfte sich für Sekunden zusammen, als er an seine Frau dachte, die viel zu früh verstarb und ihn mit dem Madel zurückließ. Sie hatte wirklich kein leichtes Leben gehabt, die Veronika Breithammer. Gott hab’ sie selig!

Dabei hatte alles so wunderschön angefangen, damals, vor beinahe dreißig Jahren, als Joseph Breithammer die jüngste Tochter eines Bergbauern kennen- und liebenlernte. Albert Senger war froh gewesen, daß der junge Mann um Vronis Hand anhielt. Viel konnte er dem Madel nicht mitgeben in die Ehe, nur ein kleines Stückchen Wald, mit einer Hütte darauf, in die das junge Paar einzog. Es war schon ein Segen, daß der Joseph eine gute Arbeit in der Sägemühle hatte. Viel verdiente er net, doch die junge Hausfrau verstand es, aus wenig viel zu machen. Was man net günstig kaufen konnte, wurde selbst hergestellt. Vroni war geschickt im Umgang mit Nadel und Faden, sie kannte schon bald die besten Pilzstellen im Wald, und selbstgesuchte Beeren und Kräuter bereicherten den Speisezettel.

Und natürlich sorgte Joseph Breithammer dafür, daß das eine oder andere Stück Fleisch auf den Tisch kam. Seine Frau gewöhnte sich schnell ab, zu fragen, woher der Hirschrücken kam, oder die Frischlingskeule.

Als Kathrin zwölf war, starb Veronika Breithammer. Ihr Tod hinterließ eine Lücke, die nie wieder geschlossen werden sollte. Mit Joseph Breithammer ging’s von diesem Tag an bergab. Hatte er schon öfter das Gesetz übertreten – nun trieb er es noch ärger, und so manches Jahr verbrachte er im Gefängnis. Seine Tochter, die dann bei den Verwandten untergebracht war, wurde älter, und ihr Einfluß auf den Vater größer. Ihr zuliebe schränkte Joseph Breithammer seine nächtlichen Jagden ein, obgleich er sie nicht ganz unterlassen konnte. So kam es, daß Xaver Anreuther ein besonderes Verhältnis zu dem alten Gauner entwickelte. Es war beinahe so etwas wie eine Haßliebe. Er studierte den Wilderer so genau, daß er anhand gefundener Spuren sagen konnte, ob Joseph der Täter war oder ein anderer.

»Ist ’was?« fragte der Alte seine Tochter, nachdem er ihr eine Weile schweigend zugesehen hatte.

Die junge Frau hob den Kopf und schaute ihn kurz an.

»Warum fragst?«

Er hob die Schulter.

»Weil du so still und nachdenklich bist. Ist irgend ’was im Wald gewesen? Hast jemanden getroffen?«

Kathrin ließ die Hand mit dem Messer sinken.

»Den neuen Förster hab’ ich getroffen.«

Joseph sah sie intensiver an. War da etwas in ihrer Stimme gewesen? Warum hatte so eine feine Röte ihre Wangen überzogen?

»Madel!« entfuhr es ihm im Schrecken der jähen Erkenntnis, »das geht net…«

Seine Tochter hob den Kopf und schaute ihn an.

»Was, Vater, was geht net?«

Joseph Breithammer spürte sein Herz in der Brust hämmern. Er hatte immer gewußt, daß der Tag kommen würde, an dem sein einziges Kind ihn verließ. Der Gedanke daran war schon furchtbar genug. Doch das, was sich da jetzt anbahnte, überstieg seine schlimmsten Befürchtungen.

»Du darfst dich net in einen Grünrock verlieben«, sagte er bestimmt. »Nie und nimmer!«

»Ich weiß, Vater«, erwiderte sie. »Aber es ist schon geschehen…«

*

Minutenlang herrschte Stille in der Hütte. Vater und Tochter schauten sich nicht an. Erst als es an der Tür klopfte, löste sich die Erstarrung der beiden.

Joseph Breithammer ging an die Tür und öffnete sie. Überrascht sah er den Besucher an.

»Pfüat di’, Breithammer«, grüßte Pfarrer Trenker. »Darf ich eintreten?«

»Freilich«, nickte Joseph und ließ den Geistlichen eintreten.

»Grüß Gott, Hochwürden«, sagte Kathrin und stand auf, als sie sah, wer da hereinkam.

Sie wischte sich die Hände am Küchentuch ab und bot Sebastian einen Stuhl an.

»Möchten S’ etwas trinken?« fragte sie.

»Danke, vielleicht ein Glas Wasser. Es ist recht warm draußen.«

»Sind S’ ganz von St. Johann zu Fuß hierher gekommen?« wollte Joseph Breithammer wissen.

»Aber ja. Ich beweg’ mich doch gern’ auf Schusters Rappen«, lachte der Seelsorger und dankte Kathrin, die ihm ein Glas mit frischem Brunnenwasser auf den Tisch stellte.

Sebastian trank einen großen Schluck und wischte sich den Mund ab.

»Ah, das tat gut.«

Er schaute die beiden an.

»Ihr fragt’ euch sicher, warum ich hier bin«, begann er. »Ich will es euch schnell sagen und euch gar net erst lang’ auf die Folter spannen.«

Sebastian beugte sich vor und wandte sich direkt an Joseph Breithammer.

»Erst einmal möcht’ ich euch sagen, daß ich mich freu’, daß du wieder daheim bist. Es ist schön daß deine restliche Strafe zur Bewährung ausgesetzt ist. Ich bin sicher, daß, wenn du dich an die Auflage hältst, eines Tages niemand mehr von deiner Vergangenheit redet.«

»Meinen S’ das wirklich, Herr Pfarrer?« fragte Joseph skeptisch. »Für die Leut’ werd’ ich doch immer der Wilderer bleiben.«

Er lehnte sich zurück und atmete tief durch.

»Ich hab’ gewiß viel falsch gemacht in meinem Leben«, sagte er. »Aber damit ist es jetzt vorbei. Die letzten Jahre, die ich im Gefängnis verbracht hab’, waren eine harte Lehre. Ich will nie wieder zurück. Aber, ob die Leut’ mir das wirklich glauben?«

Er schüttelte den Kopf.

»Allerdings ist es mir auch gleich«, sprach er weiter. »Für mich zählt nur noch eines und das ist Kathrin. Für sie hab’ ich das alles durchgestanden.«

»Ich glaube dir, Joseph«, antwortete Sebastian Trenker. »Und ich würd’ mich freuen, dich bei mir in der Kirche zu sehen.«

»Ich weiß net, ob das so eine gute Idee ist«, gab der Alte zurück. »Hier im Wald, da hab’ ich meine Ruh’. Und das ist alles, was ich will, meine Ruh’. Aber im Dorf… die Leut’…«

»Du hast gehört, daß auf Xaver und den neuen Förster geschossen worden ist?«

Die beiden Männer sahen sich in die Augen, während Kathrin verlegen die Hände knetete. Joseph hielt dem Blick des Pfarrers stand. Sebastian konnte nicht einen Moment entdecken, daß die Augen seines Gegenüber flackerten oder sonstwie eine Unsicherheit zeigten.

»Ihr Bruder sprach davon«, sagte Breithammer schließlich. »Ich war heut’ morgen bei ihm. Ich muß mich regelmäßig auf dem Revier melden. Dabei hab’ ich ihm gesagt, daß ich keine Gewehre mehr besitze. Mit dem Schuß hab’ ich nix zu tun.«

»Ich weiß, daß du beim Max warst«, nickte Pfarrer Trenker. »Und ich will dir glauben, daß du es net warst, der geschossen hat. Aber – es gibt noch ein Gewehr hier bei euch.«

Kathrin Breithammer stand auf.

»Ja, Hochwürden. Ich besitze ein Gewehr. Daraus wurde seit

einer Ewigkeit kein Schuß mehr abgefeuert. Wenn Sie’s wollen, dann können S’ die Waffe überprüfen.«

»Nein, nein«, wehrte Sebastian ab. »Ich glaub’ euch. Bitte, ihr müßt mir glauben, daß ich keinen Verdacht gegen dich hab’, Joseph. Und wenn ihr meine Hilfe braucht, dann laßt es mich wissen. Ich bin immer für euch da, Tag und Nacht.«

»Dank’ schön, Hochwürden«, sagte Kathrin leise, und ihr Vater nickte stumm.

Pfarrer Trenker erhob sich.

»So, ich muß los, damit ich zur Abendmesse zurück bin.«

Er gab den beiden die Hand.

»Laßt es mich wirklich wissen, wenn ihr meine Hilfe benötigt«, sagte er noch einmal eindringlich.

Vater und Tochter schauten sich stumm an, nachdem der Besucher gegangen war.

»Was wird jetzt?« fragte der alte Breithammer schließlich.

»Ich weiß net, was du meinst.«

»Doch, Madel, du weißt es ganz genau. Ich sprech’ vom Förster Ruland. Wirst du ihn wiedersehen?«

Kathrin holte tief Luft.

»Ja, Vater«, erwiderte sie dann. »Morgen.«

*

Christian hob das Glas an die Augen und schaute aufmerksam hindurch. Drüben, auf einer Lichtung, die von hohen Fichten gesäumt wurde, standen eine Hirschkuh und ihr Junges. Die Tiere ästen im spärlichen Gras.

Förster Ruland war nach dem Abendessen noch einmal losgegangen. Eine innere Unruhe trieb ihn an, so daß er nicht untätig im Forsthaus sitzen konnte. Er mußte einfach noch mal hinaus. Für zwanzig Uhr war die Versammlung mit den Jagdpächtern vorgesehen, aber bis dahin wollte Christian noch ein wenig alleine sein.

Während er auf den Hochsitz geklettert war, hatte sich Nero unten an der Leiter im Gras ausgestreckt. Der junge Förster genoß die Stille, die nur von den natürlichen Geräuschen des Waldes unterbrochen wurde.

Die Begegnung mit Kathrin am Nachmittag beschäftigte ihn ununterbrochen. Sie war so ganz anders gewesen, als bei ihrem ersten Zusammentreffen. Christian holte die Blume hervor, die immer noch in der Hemdtasche steckte, und schaute sie an. Eine dottergelbe Butterblume, die beinahe schon vertrocknet war, doch für den Förster war sie schöner als der schönste Rosenstrauß.

Er stellte sich vor, wie die morgige Begegnung verlaufen würde und dachte daran, wie seine Lippen ihre Wange berührt hatten. Was hätte er darum gegeben, sie jetzt in seinen Armen zu halten!

Die Hirschkuh und ihr Kalb waren zwischen den Fichten verschwunden. Seufzend schaute Christian Ruland auf die Uhr. Es war an der Zeit, zurückzugehen, wenn er nicht zu spät kommen wollte. Bestimmt waren die Jagdpächter genauso neugierig darauf, ihn kennenzulernen wie er gespannt war. Schade, daß der Anlaß für diese Zusammenkunft ein anderer, ein schlimmerer, war.

Christian hängte das Gewehr über die Schulter und ging den Weg zurück zum Forsthaus. Nero, der vorauslief, bellte laut, als aus einem Seitenweg eine Gestalt heraustrat. Mit gespitzten Ohren blieb der Setterrüde stehen und beobachtete den Mann aufmerksam. Christian Ruland sah den Fremden an. Ein großer, breitschultriger Mann in abgetragenen Kleidern.

»Grüß Gott«, nickte der Förster ihm zu, als sie sich, nur noch wenige Schritte voneinander entfernt, gegenüberstanden.

Der Unbekannte schaute ihn schweigend an. Christian fragte sich, wer der Mann sein mochte. War es der Haderlump, der die Drahtschlingen gelegt hatte?

Aber er war ohne Waffen. Kein Gewehr, nicht einmal ein Jagdmesser. Ging jemand so in den Wald, um zu wildern?

»Sie sind also der neue Förster?« sagte der Mann unvermittelt.

»Ja. Mein Name ist Christian Ruland. Und wer sind Sie?«

»Joseph Breithammer.«

Im selben Moment ging dem jungen Förster ein Licht auf – es war kein Zufall, daß sie hier zusammengetroffen waren. Die ganze Zeit schon hatte er das Gefühl gehabt, nicht allein zu sein. Ganz so, als ob ihn jemand beobachtete. Auch Nero hatte sich zwischendurch merkwürdig benommen. Jetzt aber schien das Verhalten des Hundes erklärlich. Der alte Breithammer hatte ihn hier jedenfalls erwartet.

»Ich hab’ schon von Ihnen gehört«, sagte er zu Kathrins Vater.

»Was wollen S’ von meiner Tochter?« fragte der Alte, während seine Augen den Förster zu durchdringen schienen. »Lassen S’ uns in Ruhe. Die Kathrin wird nie einen Grünrock lieben. Schlagen S’ sich das aus dem Kopf!«

»Hören S’, Herr Breithammer, das ist eine Sach’ zwischen Kathrin und mir…«, wollte Christian klarstellen, aber da hatte sich Joseph Breithammer schon umgedreht und war zwischen den Büschen verschwunden.

Christian Ruland schaute ihm hinterher. Er verstand zwar, was der Alte gewollt hatte, aber war das auch mit Kathrins Wissen geschehen? Bereute sie schon, sich mit ihm für morgen verabredet zu haben?

Es war nicht mehr weit bis zum Forsthaus. Christian stand vor der Zufahrt und schaute nachdenklich auf das Haus, den Schuppen und die anderen Gebäude, die dazugehörten. Bis zu seiner Pensionierung würde dies alles hier seine Heimat sein, und wie schön wäre es, würde Kathrin diese Jahre mit ihm verbringen.

Doch jetzt, nach dem Zusammentreffen mit ihrem Vater, sah es so aus, als würde das alles nur ein schöner Traum bleiben.

Mit einem bangen Gefühl sah er dem morgigen Tag entgegen.

*

Nach der Abendmesse begleitete Max Trenker seinen Bruder ins Pfarrhaus hinüber. Im Arbeitszimmer des Geistlichen saßen sie zusammen und besprachen die Angelegenheit um den Schuß auf Xaver Anreuther und Christian Ruland.

»Ich bin sicher, daß der alte Breithammer nichts damit zu tun hat«, bekräftigte Sebastian noch einmal seine Meinung. »Die Kathrin hat net bestritten, ein Gewehr zu besitzen.«

»Ich möcht’s ja auch glauben«, beteuerte der Polizist. »Aber wenn ich an Xavers Worte denk’, daß er nur dem Breithammer so einen Meisterschuß zutraut. Und denk’ nur an die Drohungen, die der Alte vor Gericht gegen den Förster ausgestoßen hat.

Und das ist noch net alles…«

Der Pfarrer schaute seinen Bruder neugierig an.

»Was gibt’s denn noch? Ist ’was geschehen, von dem ich noch nix weiß?«

»Allerdings«, nickte Max. »Ich bin bloß noch net dazu gekommen, es dir zu erzählen. Am Nachmittag hat der Christian Ruland auf dem Revier angerufen. Bei seinem Rundgang durch den Wald ist er in einer Schonung auf eine stattliche Anzahl Drahtschlingen gestoßen. Er meint, da betreibe jemand Wilderei im großen Stil, und hat mich gebeten, daß ich in den umliegenden Gasthöfen vorbeischau’, um dort zu kontrollieren. Außerdem hat er für den Abend eine Versammlung der Jagdpächter einberufen.«

Pfarrer Trenker wußte, warum.

»Deshalb waren so wenige in der Abendmesse«, sagte er.

Der Geistliche schenkte von dem Wein nach, der auf dem Tisch stand. Ein kräftiger, dunkelroter Spätburgunder aus dem Keller des Pfarrhauses.

»Aber daß ausgerechnet jetzt diese Schlingen gefunden werden, bedeutet net zwangsläufig, daß der alte Breithammer ’was damit zu tun hat«, stellte er fest. »Schließlich können die Fallen schon länger ausgelegt worden sein, nämlich, als Joseph noch einsaß.«

»Das ist schon richtig«, bestätigte Max die Überlegungen seines Bruders. »Aber vergiß net, daß Xaver den alten Breithammer beinah’ studiert hat, und er meint, daß der Schuß ganz die Handschrift des Alten trägt.«

Pfarrer Trenker machte eine Handbewegung.

»Abwarten«, sagte er. »Meisterschützen gibt’s etliche. Denk’ nur an das Schützenfest. So viele gute Treffer – da käme beinahe jeder zweite in Frage. Nein, außerdem glaub ich net, daß Joseph dem Wild auf so gemeine Art nachstellt. Drahtschlingen – das läßt seine ›Ehre‹ als Wildschütz gar net zu.«

Er lehnte sich ein wenig zurück und dachte nach.

»Ich denk’, wir müssen unsere Nachforschungen in eine ganz andere Richtung lenken«, sagte er nach einer Weile. »Zum Beispiel sollten wir uns fragen, ob da net jemand mit dem Schuß den Breithammer kopiert, und so versucht, den Verdacht auf Joseph zu lenken.«

»Dazu müßte er aber wissen, daß der Alte wieder aus dem Gefängnis ist«, gab Max zu bedenken. »Und heut’ ist er zum erstenmal wieder in St. Johann gewesen. Davor hat ihn noch keiner zu Gesicht bekommen.«

»Bist’ da ganz sicher?« fragte Sebastian. »Denk’ dran, das Gefängnis liegt net um die Ecke. Joseph mußte mit dem Zug bis in die Kreisstadt fahren, und von dort mit dem Bus hierher, wenn er net zu Fuß gegangen ist.«

Max Trenker nickte. Er sah ein, daß er da einen Fehler in seinen Überlegungen hatte. Natürlich war es möglich, daß jemand gesehen hatte, wie der alte Breithammer zurückkehrte, und der sich dann dieses Wissen zunutze gemacht hatte.

Aber wer?

*

Im Forsthaus saßen die beiden Männer noch bis spät in die Nacht zusammen. Die Versammlung mit den Jagdpächtern hatte bis kurz vor elf gedauert. Nach der Vorstellung des neuen Revierförsters kam dieser gleich zu dem Grund für das Zusammentreffen.

Die Jagdpächter, fast alles Bauern aus der Umgebung, die keine eigenen Reviere hatten, waren entsetzt und empört gewesen, als sie von den frevelhaften Taten hörten. Schnell bildeten sich zwei Gruppen von jeweils drei Männer, die regelmäßig Streife gehen wollten. Die beiden Förster konnten mit dem Verlauf des Abends zufrieden sein. Schon in dieser Nacht sollte die erste Streife losziehen. Die Männer machten sich gleich vom Forsthaus aus auf den Weg. Xaver Anreuther und Christian Ruland oblag es, am Tage im Ainringer Wald nach dem Rechten zu sehen.

Der alte Förster, der eigentlich schon pensioniert war – der offizielle Abschied stand zwar noch aus, aber seine Dienstzeit hatte vor einer Woche geendet –, schaute auf die Uhr und hielt sich die Hand vor den Mund, als er gähnte. Auch Christian spürte die Müdigkeit.

»Zeit, schlafen zu gehen, was?« meinte er und erhob sich.

Er nickte dem älteren Kollegen zu.

»Schlafen S’ gut, Xaver«, wünschte er.

»Sie auch, Christian«, erwiderte er. »Hoffen wir, daß es eine ruhige Nacht wird.«

Der Jüngere verstand, was der Ältere meinte. Die Stimmung unter den Jagdpächtern war kurz vor dem Siedepunkt. Wer wußte, was sie mit ihm anstellten, wenn sie den Wilddieb heut’ nacht in die Finger bekamen… Den beiden Förstern wäre es jedenfalls lieber, wenn sie den Übeltäter fingen. In seinem Zimmer setzte Christian sich noch einen Augenblick ans Fenster, so, wie er in der vergangenen Nacht gesessen hatte. Er nestelte die Blume aus seiner Hemdtasche und betrachtete sie nachdenklich. Daß Kathrins Vater ihm so unvermittelt gegenüber stand, beschäftigte ihn den ganzen Abend schon. Er hatte sich regelrecht zwingen müssen, der Versammlung im Forsthaus zu folgen. Jetzt, wo er alleine war und Ruhe hatte, versuchte er, dieses Zusammentreffen noch einmal zu rekapitulieren. Joseph Breithammers Worte waren eindeutig gewesen. Er wollte unter keinen Umständen, daß seine Tochter sich mit einem Förster einließ. Aber was wollte Kathrin?

Geäußerte hatte sie sich zwar im Sinne ihres Vaters, dem widersprach aber die Verabredung für den kommenden Tag. Überhaupt ihre ganze Art, die sie am Nachmittag gezeigt hatte. Freundlich war sie gewesen, locker und fröhlich, nicht so kratzbürstig, wie bei ihrem ersten Aufeinandertreffen. Ein regelrechter Sinneswandel also. Warum, fragte sich Christian, warum konnte ihr Vater behaupten, sie würde niemals einen Grünrock lieben können?

Der junge Förster stand auf und ging ins Bad hinüber. Als er sich kurz darauf schlafen legte, waren seine Gedanken bei dem Madel in der Waldhütte, und er stellte sich vor, was er sie fragen würde, wenn er sie morgen traf.

Es war die einzig wichtige Frage, die ein Mann der Frau, die er liebt, stellt.

Wie würde wohl die Antwort ausfallen?

*

Max Trenker hob schnüffelnd die Nase, als er die Küche des Pfarrhauses betrat.

»Mei, das riecht aber wieder ’mal lecker hier«, sagte er. »Was gibt’s denn Gutes?«

Sophie Tappert, die am Herd stand und in einem der Töpfe rührte, drehte sich nach dem Polizeibeamten um.

»Rehragout mit Spätzle«, antwortete sie.

»Was?« staunte Max. »Mitten in der Woch’?«

Er stellte sich neben die Haushälterin und hob drohend den Zeigefinger.

»Sagen S’ die Wahrheit, Frau Tappert, haben S’ das Fleisch etwa unter der Hand gekauft?«

Die Perle des Pfarrhaushalts schüttelte den Kopf. Sie wußte, daß Hochwürdens Bruder wieder einmal einen seiner Scherze machte.

»Natürlich net«, gab sie zurück. »Das Glück heut’ mittag Rehragout zu essen, verdanken S’ allein dem Unstand, daß ich endlich einmal dazu gekommen bin, die Kühltruhe im Keller aufzuräumen. Dabei hab’ ich das Paket mit dem Rehfleisch gefunden.«

Sie legte den Kochlöffel beiseite und sah den Polizisten forschend an.

»Es ist übrigens noch von der Marianne…«

Max schluckte und wurde verlegen. Sophie Tappert spielte nämlich damit auf eine seiner vergangenen Liebschaften an. Marianne, die jüngste Tochter vom Sendlerbauern, hatte vor ein paar Monaten ihr Herz an Max Trenker verloren. Sie wußte, daß er ein Schleckermaul war. Das Rehfleisch gehörte, neben anderen Köstlichkeiten, wie Räucherschinken und eingeweckte Wurst, zu den Liebesgaben, mit denen das Madel versuchte, Max in den Hafen der Ehe zu lotsen.

Leider vergebens. Der Schwerenöter hatte es rechtzeitig verstanden, die Beziehung zu beenden. Wieder einmal, muß man sagen, denn Max Trenker hatte es leicht mit den Frauen. Seine charmante Art, mit der er die Damen becircte, wirkte immer. Nur all zu eng wollte er sich nicht binden, und so manches gebrochenes Herz blieb dabei auf der Strecke. Sehr zur Mißbilligung seines Bruders, aber noch mehr dessen Haushälterin, die Max’ Eskapaden überhaupt nicht gerne sah. Sie konnte es sich auch nicht verkneifen, ihn dann und wann an eine seiner verflossenen Bräute zu erinnern. Dem Beamten waren diese Spitzen eher unangenehm. Gottlob war im Moment sein Bruder nicht zugegen. Womöglich würde der auch noch seinen Kommentar dazu abgeben.

Max legte seinen Arm um Sophie Tappert und setzte sein charmantestes Lächeln auf.

»Ich weiß ja, daß Sie meinem Junggesellendasein gern’ ein End’ machen möchten, liebste Frau Tappert«, flötete er. »Aber ich hab’ mir geschworen, nur eine Frau zu heiraten, die genausogut kochen kann wie Sie. Aber so eine zu finden, ist schier unmöglich.«

Gott sei Dank, setzte er in Gedanken hinzu.

Die Haushälterin sah ihn mit einem strafenden Blick an, sagte aber nichts weiter dazu. Sie nahm den Deckel von einem Topf herunter, in dem Wasser kochte, gab Salz hinein und begann die Spätzle hineinzuschaben.

Der Polizist machte sich indes nützlich und deckte den Tisch. Als Pfarrer Trenker aus der Kirche herüberkam, war alles bereit.

Natürlich saß Max als erster auf der Eckbank und leckte sich die Lippen, als Sophie Tappert die dampfenden Schüsseln auf den Tisch stellte.

*

»Es schmeckt wunderbar, Frau Tappert«, lobte der Geistliche die Kochkünste seiner Haushälterin. »Aber eigentlich muß ich Ihnen das net sagen. Das hieße ja, Eulen nach Athen tragen, denn alles, was Sie kochen, schmeckt gut.«

»Naja, jede Köchin ist nur so gut, wie die Zutaten, die sie zur Hand hat«, antwortete Sophie Tappert. »Und das Rehfleisch ist von ausnehmend guter Qualität.«

»In der Tat«, nickte Sebastian. »Wo haben S’ das denn her?«

Die Gabel, die Max in der Hand hielt, schwebte plötzlich förmlich in der Luft, und sein geöffneter Mund wollte sich absolut nicht mehr schließen.

Die Perle des Pfarrhaushalts hob den Kopf, schaute den Polizeibeamten triumphierend an und tupfte sich den Mund mit ihrer Serviette ab.

»Das ist noch eine von den Liebesgaben, die Marianne Sendler Ihrem Bruder immer mitgebracht hatte«, antwortete sie.

Sebastian sah Max fragend an.

»Wieso hatte?« wollte er wissen. »Bringt sie jetzt keine Liebesgaben mehr vorbei?«

Max Trenker schaute ärgerlich zurück.

»Ach, was ihr beide habt«, erwiderte er mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Das ist doch längst vorbei.«

Der Geistliche schmunzelte innerlich. Wieder einmal hatte Sophie Tappert es geschafft, Max auf ihre Art zu sagen, was sie von seinen Eskapaden hielt. Äußerlich ließ er sich allerdings nichts anmerken.

»Max, Max, wann wirst’ endlich gescheit?« fragte er statt dessen mit ernstem Gesicht.

Der Polizist legte die Gabel beiseite.

»Ich hab’ keinen Hunger mehr«, bemerkte er dazu.

Die Haushälterin sah ihn forschend an.

»Auch net auf Vanillepudding mit frischen Erdbeeren?« wollte sie wissen.

Und dabei wußte sie genau um die Schwäche des Ordnungshüters für frische Erdbeeren!

»Komm’, Max, mach’ dir nix draus«, lachte Sebastian, und natürlich machte sein Bruder wieder gute Miene zum bösen Spiel.

»Am Nachmittag fahr ich zum Forsthaus hinaus«, erzählte er. »Mal schaun, was es Neues gibt.«

»Wollen wir hoffen, daß der Wilddieb bald in die Falle geht«, meinte der Geistliche. »Damit endlich das Gerede im Dorf aufhört. Natürlich haben die Leut’ Joseph Breithammer im Visier, seit es sich herumgesprochen hat, daß er wieder zurück ist.«

»Kannst’ es ihnen verdenken?«

Der Geistliche schaute seinen Bruder an.

»Auf eine Art net«, antwortete er. »Aber du kennst meine Einstellung, jeder ist erst dann schuldig, wenn diese Schuld auch erwiesen ist. Solange net der Beweis erbracht ist, daß der alte Breithammer net von seinem alten Laster gelassen hat, solange ist er höchstens verdächtig, wie jeder andere auch, der für solch ein Verbrechen in Frage kommt.«

»Natürlich«, nickte Max Trenker. »Ich denk’ ja genauso.«

Er erhob sich.

»Ich muß los«, sagte er zum Abschied. »Nach dem Besuch im Forsthaus hab’ ich noch ein Gespräch mit einem Herrn Burger. Der Mann ist Bewährungshelfer und soll dem Breithammer zur Seite stehen.«

Er atmete tief ein.

»Das ist auch wieder so eine Sache«, fuhr er fort. »Zu den Bewährungsauflagen gehört, daß Joseph einer geregelten Arbeit nachgeht. Aber wer stellt so einen schon ein? Mit dem Vorstrafenregister!«

Sebastian stand ebenfalls auf.

»An dem Gespräch würd’ ich gern’ teilnehmen«, sagte er. »Vielleicht finden wir gemeinsam eine Lösung für dieses Problem.«

Max Trenker setzte seine Dienstmütze auf und rückte den Schirm gerade.

»Also, mir soll’s recht sein«, sagte er und winkte zum Abschied. »Um halb fünf dann.«

»Ich werd’ pünktlich sein«, rief sein Bruder ihm hinterher.

*

»Madel, willst’ es dir net noch einmal überlegen?«

Joseph Breithammer schaute seine Tochter bittend an. Kathrin erwiderte seinen Blick.

»Was ist denn an ihm dran, was bei einem anderen Mann net auch finden kannst? Und er ist einer von denen, die deinen Vater ins Gefängnis gesteckt haben!«

Sie saßen an dem roh gezimmerten Tisch in der Hütte. Das Mittagessen, das sie beendet hatten, war in schweigsamer Atmosphäre verlaufen. Erst jetzt hatte der Alte das Wort an sie gerichtet. Die junge Frau schluckte schwer. Er hat ja recht, dachte sie. Aber hab’ ich net das Recht, den Mann zu lieben, den ich will? Ja, Christian Ruland war Förster, und jedesmal, wenn sie den Vater eingesperrt hatten, da hatte sie sich geschworen, ihr Herz niemals an einen Grünrock zu verschenken.

Aber wie soll man sich dagegen wehren, wenn das Schicksal es anders wollte? Konnte man überhaupt dagegen ankämpfen?

»Hör’ mir zu, Vater«, sagte sie schließlich. »Ich hab’ nur dieses eine Leben, und bis jetzt ist es ziemlich eintönig verlaufen. Wenn ich net hier in der Hütte war, dann hab’ ich bei einem Bauern gearbeitet. Meistens jedoch war ich allein, du warst wieder einmal im Gefängnis. Aber meine Schuld ist es net, daß sie dich eingesperrt haben. Ich hab’ net verlangt, daß du nachts auf die Pirsch gehen sollst. Warum willst’ mich jetzt daran hindern, den Mann, den ich liebe, zu treffen. Christian bedeutet mir mehr, als sonst irgend ’was in meinem Leben, und wenn er mich fragen sollt’, ob ich mit ihm geh’, dann steht meine Antwort schon fest.«

Sie stand auf und räumte den Tisch ab. Ihr Vater hatte auf das, was sie ihm an den Kopf geworfen hatte, nichts erwidert. Dumpf vor sich hinbrütend schaute er ihr zu.

Kathrin setzte Wasser auf und spülte das Geschirr ab. Wortlos stellte sie ihrem Vater von dem Kaffee hin, den sie zwischendurch gekocht hatte, und ebenso wortlos trank er davon. Nachdem sie fertig war, fuhr die junge Frau sich durch das Haar. Sie nahm ein buntgewebtes Tuch vom Haken neben der Tür, und legte es sich um die Schulter.

»Ich geh’ jetzt«, sagte sie. »Am Abend bin ich wieder zurück.«

Dann ging sie hinaus. Joseph Breithammer sah mit leerem Blick auf die Tür, durch die sie verschwunden war. Sein Herz tat plötzlich so weh, als wäre seine Tochter für immer gegangen.

Nach einer ganzen Weile erhob er sich und ging an das Regal, das im hinteren Teil der Hütte stand. Obenauf lag das Gewehr, das Kathrin gekauft hatte, nachdem die Waffen ihres Vater eingezogen worden waren. Der Alte nahm es herunter, wog es nachdenklich in der Hand und hängte es sich schließlich über die Schulter. Dann steckte er eine Schachtel Munition ein. Joseph Breithammer war sich darüber im klaren, daß er damit gegen eine der Bewährungsauflagen verstieß. Wenn er mit dem Gewehr in der Hand erwischt wurde, bedeutete das, daß er sofort wieder zurück ins Gefängnis mußte. Aber in diesem Moment war ihm das egal. Er verließ die Hütte und folgte dem Weg in den Wald hinüber, den Kathrin zuvor gegangen war.

*

Xaver Anreuther und Christian Ruland saßen auf der Veranda des Forsthauses und ließen sich den Kaffe schmecken, den Xaver nach dem Mittagessen gekocht hatte. Dabei besprachen sie ihr weiteres Vorgehen.

»Wir bekommen Schwierigkeiten mit unseren Kontrollgängen«, verkündete der alte Förster, wobei er ein besorgtes Gesicht machte.

Christian sah ihn fragend an.

»Warum?«

Xaver hob die Schultern.

»Bis auf zwei, sind die anderen Jagdpächter Bauern, die auf ihren Höfen arbeiten. Da können’s net jede Nacht noch im Wald herumlaufen.«

Der junge Forstbeamte strich sich nachdenklich über das Kinn.

»Hm, das stimmt natürlich. Also werden wir beide uns die Nächte teilen müssen.«

»So hab’ ich’s mir schon gedacht«, nickte Xaver zustimmend.

»Wenn’s Ihnen recht ist, übernehm’ ich gleich die kommende Nacht«, bot Christian an.

»Ich hab’ nix dagegen«, nickte der Ältere.

Er deutete auf die beiden Hunde. Brutus und Nero lagen friedlich zusammen und dösten vor sich hin.

»Die beiden haben sich zusammengerauft.«

»Ja, schad’, daß sie sich bald wieder trennen müssen«, meinte Christian. »Sie werden Ihren Brutus gewiß net hier lassen wollen.«

»Ganz gewiß net«, schüttelte Xaver den Kopf. »Wir gehören zusammen, wie ein altes Ehepaar.«

Christian Ruland trank seine Tasse leer und stand auf. »Ich geh’ noch mal los«, verkündete er.

»Wer ist denn die geheimnisvolle Schöne, die Sie jeden Tag in den Wald lockt?« neckte der alte Förster den jungen.

Daß er voll ins Schwarze getroffen hatte, merkte er an der Reaktion. Christian wurde rot wie ein Schulbub, den man bei einem Streich erwischt hatte.

Xaver Anreuther sah ihn forschend an. Christian war ja erst ein paar Tag’ da, überlegte er, wer konnte ihm denn in der kurzen Zeit so den Kopf verdreht haben?

Eigentlich… Ja, eigentlich kam da nur eine in Frage!

Himmel, dachte Xaver, wenn das nur gutging… Ein Förster, und die Tochter eines Wilddiebs – das war eine Mischung wie Dynamit. Was würde wohl der alte Breithammer dazu sagen, wenn er davon erfuhr? Xaver Anreuther wollte gar nicht daran denken, was Kathrins Vater unternehmen würde, um diese Verbindung zu verhindern.

Dem Alten war jedenfalls alles zuzutrauen!

*

Christian ahnte nichts von den weiteren Überlegungen seines Vorgängers. Ihm war es nur äußerst peinlich gewesen, so auf Xavers Frage reagiert zu haben. Natürlich mußte der Kollege nun erahnen können, wer ihn in den Wald lockte, wie Xaver sich ausgedrückt hatte.

Da war wohl ein klärendes Gespräch angebracht, dachte Christian weiter, während er dem Treffpunkt, an dem er mit Kathrin verabredet war, näher kam.

Würde der alte Förster für seine Lage Verständnis haben? So viele Jahre hatte er sich mit dem alten Breithammer herumärgern müssen. War es da nicht nur logisch, daß er auch der Tochter seines Feindes ablehnend gegenüberstand? Natürlich konnte er Christian nicht verbieten, Kathrin zu lieben. Doch dem jungen Förster lag sehr daran, sich die Sympathie des alten zu erhalten.

Nero war vorausgelaufen, während Christian sorgfältig auf Spuren achtete, die auf den Wilderer deuten könnten. Doch seit er die Drahtschlingen gefunden hatte, schien der Kerl sich in Luft aufgelöst zu haben. Auch nachts war alles ruhig gewesen, und der junge Förster hoffte, daß es ihm endlich bei seinem Kontrollgang durchs Revier gelänge, den Übeltäter zu fassen.

Leider hatte auch die Überprüfung der umliegenden Hotels, Gaststätten und Wildhändler durch Max Trenker keinerlei Anhaltspunkte gebracht. Nirgendwo war billiges Wildfleisch angeboten worden.

Christian seufzte schwer. Solch einen furiosen Beginn seiner Dienstzeit im Ainringer Wald hatte er sich nicht vorgestellt. Nicht nur, daß ein Wilddieb ihm das Leben schwermachte, er mußte sich auch noch, Hals über Kopf, in die Tochter eines solchen verlieben!

Seit Stunden hatte er darüber nachgegrübelt, ob er sich Kathrin heute offenbaren sollte und war endlich zu einem Entschluß gekommen.

Vor ihm bellte Nero sein freudiges Begrüßungsbellen. Das Herz des jungen Försters schlug schneller. Ohne es zu bemerken, war er schon beinahe an der Stelle angekommen, an der er sich mit Kathrin Breithammer verabredet hatte. Offenbar hatte der Hund sie schon entdeckt.

Endlich sah auch Christian sie. Er blieb einen Moment stehen und ließ das Bild auf sich einwirken, wie sie dort stand, in dem schlichten Kleid, ein buntes Tuch um die Schulter gelegt, und Nero, der aufgeregt um sie herumtollte. Der junge Mann spürte, wie es ihm ganz warm ums Herz wurde und er hätte alles dafür gegeben, Kathrin jetzt in seinen Armen zu halten.

Da schaute sie in seine Richtung, grad so, als wäre ihr bewußt geworden, daß sie beobachtet wurde. Sie lächelte, als sie ihn sah, und Christian hob winkend die Hand.

Einen Moment schauten sie aus der Ferne einander an, dann, wie auf ein stummes Kommando, liefen sie los, jeder dem anderen entgegen. Mit einem lauten Jubelschrei riß Christian sie in seine Arme. Er hielt sie ganz fest an sich gepreßt, und ihre Lippen fanden sich.

Sekundenlang schien die Welt um sie herum nicht mehr zu existieren, es gab nur sie beide und ihre Liebe. Endlich lösten sie sich voneinander und sahen sich in die Augen.

»Daß du endlich da bist«, flüsterte er. »Die Nacht wollt’ kein Ende nehmen, so groß war meine Sehnsucht.«

Kathrin lächelte ihn liebevoll an.

»Ich konnt’s auch net erwarten«, sagte sie leise und schmiegte sich an seine Brust.

Zärtlich strich er über ihr Haar.

»Komm’, laß uns ein paar Schritt’ gehen«, schlug er vor. »Es gibt so viel, was ich dir sagen will.«

Arm in Arm schlenderten sie den Waldweg entlang. Das junge Madel lauschte seinen Worten und ließ sich ganz verzaubern.

»Hörst’ du mir überhaupt zu?« fragte Christian plötzlich.

Er war stehengeblieben und schaute sie an. Kathrin hatte die Augen geschlossen.

»Zwick’ mich«, sagte sie. »Damit ich endlich aufwach’. Das kann doch alles nur ein schöner Traum sein. Ja, ganz bestimmt lieg’ ich in meinem Bett, in der Hütte, und gleich ist alles vorüber.«

Der junge Förster küßte sanft ihre Lippen.

»Nein, glaube mir, das ist kein Traum«, versicherte er. »Du und ich, wir stehen hier und nichts und niemand wird uns je wieder trennen.«

Das junge Madel hob den Kopf und schaute ihn an. Christian entdeckte den traurigen Blick in ihren Augen.

»Was ist?« fragte er erschrocken.

Kathrin hob mühsam die Hand.

»Es ist wegen dem Vater«, antwortete sie leise.

Der Förster ahnte, was sie sagen wollte.

»Er ist dagegen, net wahr?« sagte er. »Er ist gegen uns’re Liebe.«

Das Madel nickte stumm.

»Aber warum?«

Christian stampfte mit dem Fuß auf.

»Was kann er dagegen haben? Ich weiß, was er getan hat, doch für all’ diese Verbrechen ist er bestraft worden. Er hat seine Taten gesühnt, und alles andere interessiert mich net.«

»Er haßt jeden, der den grünen Rock trägt«, erwiderte sie. »Ihm wär’ jeder Mann recht, nur ein Förster darf’s net sein.«

Sie berichtete von der Auseinandersetzung am Vormittag.

Christian schüttelte den Kopf.

»Unsinn«, schimpfte er. »Ich werd’ mit ihm reden. Du wirst sehen, er gibt uns seinen Segen. Früher oder später.«

Er umarmte sie und lachte zuversichtlich.

»Komm’, lach’ auch du wieder«, forderte er sie auf.

Irgendwie schien seine Zuversicht sie anzustecken. Sie spitzte die Lippen und bot sie ihm zum Kuß dar.

Gerade wollte er sich über sie beugen, da zerriß ein Gewehrschuß die Stille des Waldes.

*

Der Mann schlich durch den Wald, das Gewehr hielt er im Anschlag. So gern er es vermieden hätte, heute hier zu sein, es half alles nichts, sein Auftraggeber bestand auf pünktliche Lieferung.

Dabei wußte der Wilderer genau, daß man hinter ihm her war. Zum einen hatte er diesen neuen Förster beobachtet, wie der die Drahtschlingen gefunden hatte, damit war klar, daß nun die Jagd auf ihn eröffnet wurde. Zum anderen hatte er unten im Dorf gehört, daß die Jagdpächter sich daran beteiligten. Er mußte also höllisch aufpassen, wollte er nicht in ihre Fänge geraten.

Er pirschte zu der Stelle, an der er vor Tagen noch eine Hirschkuh mit ihrem Jungen hatte äsen sehen. Und genauso ein Hirschkalb wurde gewünscht.

Hoffentlich treiben sich die beiden Förster nicht ausgerechnet heute nachmittag hier herum, dachte der Mann, der wieder seinen grüngemusterten Anzug trug. In diesen Farben war er zwischen den Büschen und im Dickicht der Bäume kaum auszumachen. Er setzte sich unter einen Baum und wartete ab. Den Wagen hatte er so nahe wie möglich herangefahren. Zumindest, wie er glaubte, es wagen zu können. Dennoch würde er das erlegte Wild noch ein ganzes Stück weit tragen müssen. Von hier aus, bis zum Aufstieg auf den Höllenbruch waren es gut und gerne drei Kilometer. Mit einem mehrere Kilogramm schweren Hirschkalb auf der Schulter gewiß kein leichtes Unterfangen.

Der Wilddieb schmunzelte vor sich hin, als er daran dachte, daß die Nachforschungen des Polizisten im Sande verlaufen waren. Natürlich war er nicht so dumm gewesen, seine Beute in der unmittelbaren Umgebung seiner Untaten feil zu bieten. Kein Wunder, daß Max Trenker da nicht fündig wurde.

Ein Geräusch irgendwo vor ihm ließ ihn aufmerksam werden. Er hielt den Atem an und lauschte gespannt. Jetzt war ganz und gar keine rechte Schußzeit, das war ihm schon klar. Besser wäre es gewesen, abzuwarten, bis die Tiere in der Abenddämmerung aus ihren Verstecken kamen. Er konnte nur hoffen, daß der Zufall ihm hier zur Hilfe kam, deshalb hatte er sich so weit in den Forst hineingewagt.

Vorsichtig richtete er den Oberkörper auf. Das Gewehr hielt er schußbereit, durch das aufgeschraubte Zielrohr suchte er das Sichtfeld ab.

»Komm’ schon«, preßte er leise zwischen die Zähne.

Da war es!

Noch einmal hielt er die Luft an, während sein Herz schneller schlug. Der Wind stand günstig, das Tier konnte keine Witterung aufnehmen. Der Mann visierte das Hirschkalb an, das sich ihm im besten Schußwinkel darbot.

Ein glatter Blattschuß würde es werden.

Der Mann atmete aus, gleichzeitig krümmte sich der Zeigefinger, der die ganze Zeit um den Abzug gelegen hatte, und löste den Schuß aus.

*

Christians Kopf ruckte hoch, als er den Knall hörte. Einen Moment starrte er Kathrin ungläubig an, dann ließ er sie los.

»Da schießt einer!« stieß er hervor. »Es kam von dort.«

Er zeigte in die Richtung, aus der er den Schuß gehört hatte.

»Ich muß dahin«, rief er und pfiff Nero heran, der stocksteif dastand und ebenfalls in die Richtung schaute.

»Christian, warte«, bat Kathrin. »Du darfst net geh’n.«

»Ich muß, Madel«, wehrte er ab. »Der Kerl darf mir net entkommen!«

Sie klammerte sich an ihn, bat und bettelte, doch der Förster schüttelte den Kopf.

»Bitte, Kathrin, laß mich los. Willst du schuld sein, wenn der Haderlump entkommt und noch mehr Schaden anrichtet?«

Beinahe wütend hatte er es gesagt. Resigniert gab sie ihn frei.

Kathrin Breithammer preßte die Hände vor den Mund, als Christian das Gewehr von der Schulter nahm, es entsicherte und loslief.

Tausend Gedanken wirbelten durch ihren Kopf, und am größten war die Angst, dem geliebten Mann könne etwas zustoßen.

Der junge Förster hastete durch den Wald. Er achtete nicht auf die Äste, die in sein Gesicht peitschten, als er zwischen den Bäumen hindurchlief. Nero war weit vor ihm, blieb nur ab und zu stehen, um die Witterung neu aufzunehmen.

Christian versuchte sich zu erinnern, was er auf den Karten gesehen, und was Xaver Anreuther ihm gesagt hatte. Diese Richtung, in die er lief, führte hinauf zu dem, Höllenbruch genannten, Bergwald, der an den Ainringer Wald angrenzte.

Und dort war auch die Kreisstraße, die ein idealer Fluchtweg war. Wenn der Wilderer mit einem Auto hergekommen war, dann hatte er es höchstwahrscheinlich dort irgendwo abgestellt.

Beinahe wünschte Christian sich, daß der Lump etwas erlegt haben möge, denn dann würde er nur schwerlich vorankommen, mit seiner schweren Beute auf dem Buckel.

Der junge Förster gönnte sich keine Pause, obwohl die rechte Seite von schmerzhaften Stichen gepeinigt wurde. Von Nero war nichts zu sehen, doch Christian wußte, daß er sich auf seinen Hund verlassen konnte.

Nach knapp zehn Minuten, die ihm wie Stunden vorkamen, hörte er verstärktes Bellen. Offenbar hatte der Setterrüde etwas gefunden. Er beschleunigte noch einmal sein Tempo und erreichte den Hund nach einigen hundert Metern.

Nero lief aufgeregt im Kreis und schnüffelte auf dem Waldboden. Christian kam hinzu und sah das Blut. Der Wilddieb hatte also getroffen. Allerdings mußte er es sehr eilig haben. Er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, das erlegte Tier an Ort und Stelle aufzubrechen.

Befürchtete er, dabei überrascht zu werden?

Anders konnte der Förster sich das Verhalten des Verbrechers nicht erklären. Er richtete sich wieder auf. Jetzt galt es, keine Zeit zu verlieren. Der Vorsprung konnte noch nicht all zu groß sein. Wenn seine Vermutung richtig war, dann war der Wilderer auf dem Weg zur Kreisstraße. Vermutlich war dort, auf irgend einem Waldweg, ein Auto geparkt.

Christian mußte sich sputen. Wenn der Kerl seinen Wagen erreichte, dann war es zu spät. Hier im Wald würde er ihn wohl stellen können, doch im Auto konnte er ihm entkommen.

»Los«, rief er seinem Hund zu. »Den Kerl packen wir!«

*

Martin Ambuscher sah neugierig auf, als er den Wagen erkannte, der auf den Hof der Sägemühle fuhr. Er ging hinüber und begrüßte den Mann, der gerade ausstieg.

»Grüß’ Gott, Pfarrer Trenker«, rief er durch den Lärm der kreischenden Säge. »Was verschafft mir die Ehre Ihres Besuches?«

Sebastian reichte ihm die Hand.

»Pfüat di’, Martin. Hast’ ein paar Minuten Zeit? Ich hätt’ ’was mit dir zu besprechen.«

»Freilich Hochwürden. Kommen S’, wir geh’n in mein Büro hinauf. Da ist’s ruhiger.«

Zum Büro, das im ersten Stock eines Anbaues der Mühle lag, führte eine Holztreppe hinauf. Als sie den Vorraum betraten, in dem Martins Frau Astrid saß, die als Sekretärin im Geschäft mitarbeitete, wurde es schlagartig still. Nur wie aus weiter Ferne war das Geräusch der Säge noch zu hören.

Nachdem der Geistliche Astrid Ambuscher begrüßt hatte, folgte er dem Mühlenbesitzer in dessen eigentliches Büro. Martin bot dem Besucher einen Platz an und holte eine Flasche Obstler aus dem Schrank.

»Sie trinken doch einen?« fragte er.

Sebastian hob die Hand.

»Aber wirklich nur einen. Ich bin mit dem Auto da.«

»So, dann erzählen Sie mal, was ich für Sie tun kann, Hochwürden«, forderte Martin Ambuscher den Pfarrer auf, nachdem sie ihre Gläser gelehrt hatten.

»Weniger für mich, Martin, als für einen Mann, der unsere Hilfe braucht«, begann Sebastian den Grund für seinen Besuch zu erklären.

Der Sägemühlenbesitzer lehnte sich zurück und hörte zu.

»Ich selber hab’ es net mehr erlebt, weil ich wohl noch zu klein war«, sagte er, »aber ich weiß es vom Vater, daß der alte Breithammer bei uns in der Mühle gearbeitet hat. Ein guter Arbeiter war das, hat der Vater immer wieder gesagt. Zumindest solang’, bis das Unglück mit der Frau passiert ist.«

»Ja, eine traurige Geschichte«, nickte der Pfarrer. »Und weil der Breithammer schon einmal bei euch gearbeitet hat, hab’ ich gedacht, du würdest ihm eine Chance geben, seine Bewährungsauflagen zu erfüllen. Er braucht eine geregelte Arbeit, sonst muß er ins Gefängnis zurück.«

Sebastian erzählte von seinem Besuch in der Waldhütte und von seiner Überzeugung, daß der alte Breithammer nun geläutert sei.

»Der schießt nie wieder auf ein Wildtier«, schloß er.

Martin Ambuscher hatte sich das alles angehört. Schließlich hob er die Arme und ließ sie wieder fallen.

»Also, von mir aus kann er gleich morgen anfangen, wenn er will«, meinte er. »Ich werd’ ihm da ganz gewiß net im Weg’ stehen, wenn er auf den Pfad der Tugend zurück möcht’.«

Sebastian erhob sich und reichte dem Sägemühlenbesitzer die Hand.

»Ich dank’ dir, Martin«, sagte er. »Du hast gleich zwei Menschen glücklich gemacht. Auch Kathrin wird froh sein, wenn ihr Vater wieder regelmäßig zur Arbeit geht.«

»Ach ja, Kathrin«, erinnerte der junge Mann sich. »Wir sind zusammen zur Schule gegangen, aber ich glaub’, ich hab’ sie seit jener Zeit net mehr gesehen. Wie geht es ihr?«

»Gut, denk’ ich«, antwortete der Geistliche. »Obwohl ich mir vorstellen könnt’, daß sie net ganz glücklich ist in der Hütte.«

»Was? Haust sie etwa immer noch da? Himmel, die muß da raus! Ich hätt’ gedacht, daß sie längst verheiratet ist.«

»Noch net«, schüttelte Sebastian den Kopf. »Aber das kommt bestimmt irgendwann.«

Er verabschiedete sich von Martin Ambuscher und stieg in seinen Wagen. Als er auf der Kreisstraße in Richtung St. Johann fuhr, stellte er sich lächelnd vor, welch ein Gesicht Max wohl machen würde, wenn er bei dem Gespräch mit dem Bewährungshelfer gleich einen Arbeitsplatz für Joseph Breithammer präsentieren konnte. Und was der Alte wohl erst sagen würde!

Die Gedanken des Geistlichen wurden unterbrochen. Rechts von ihm lag die Straße, die zum Ainringer Wald und zum Höllenbruch führte. Mit hoher Geschwindigkeit kam ein Fahrzeug aus dieser Straße geschossen und nahm Sebastian die Vorfahrt. Reaktionsschnell war der Geistliche auf die Bremse gestiegen. Mit einem lauten Quietschen kam sein Wagen zum Stehen. Außer den beiden Autos waren keine mehr auf der Straße, sonst hätte das waghalsige Manöver des fremden Fahrers böse enden können. Sebastian fuhr rechts heran und atmete tief durch. Ein dunkelblauer Kombi war es gewesen, erinnerte er sich nur, alles andere war zu schnell gegangen. Weder das Gesicht des Fahrers war zu erkennen gewesen, noch das Kennzeichen.

Nach einigen Minuten startete Sebastian wieder und fuhr weiter. Warum nur, fragte er sich, mochte es der andere so eilig gehabt haben, daß er sein Leben und das seiner Mitmenschen so leichtfertig aufs Spiel setzte?

*

»Such, Nero, such!« rief Christian Ruland immer wieder.

Der Rüde lief vor ihm, die Nase am Boden. Über Stock und Stein ging es, einen regelrechten Zickzackkurs, den der Wilddieb gerannt war. Der junge Förster fragte sich, wie groß der Vorsprung des Flüchtenden wohl sein mochte. Sollte er es etwa schaffen zu entkommen?

Das durfte nicht sein!

Die Gegend veränderte sich allmählich. Rechts stieg die Landschaft stetig an, ein Zeichen, daß bald der Aufstieg zum Höllenbruch erreicht war, während rechts weite Felder und Wiesen in Sicht kamen. Noch weiter entfernt konnte Christian das graue Band der Kreisstraße sehen, die sich dahinzog.

Noch einmal mobilisierte der Förster seine letzten Kräfte. Es konnte nur noch ein paar Meter sein, bis er aus dem Wald heraus war und an den breiten Weg kam, der auf die Straße führte.

Irgendwo vor ihm knallte eine Autotür, und der Motor wurde angelassen. Ein Schrei unbändiger Wut entrang sich seinen Lippen, als Christian den Weg erreichte und von dem davonfahrenden Auto nur noch das Heck sah, das beinahe von einer Staubwolke verschluckt wurde.

Keuchend blieb er stehen, während Nero dem Wagen hinterher rannte und erst aufgab, als der Fahrer das Tempo weiter erhöhte. Christian rang nach Luft. Er war gelaufen, als gelte es sein Leben, doch er hatte es nicht geschafft, den Schurken zu stellen.

Enttäuscht machte er sich auf den Rückweg. Wer war der Kerl nur, der so dreist am hellen Tag wilderte? Kathrins Reaktion fiel ihm ein, wie sie versucht hatte, ihn zurückzuhalten, als er gleich nach dem Schuß loslief. So ganz hatte er es nicht verstanden. War es wirklich Sorge um ihn gewesen? Oder hatte sie einen anderen Grund gehabt, ihn zurückzuhalten?

Ein ungeheuerlicher Verdacht stieg in ihm auf.

Hatte sie verhindern wollen, daß er den Wilderer stellte? War das alles eine abgekartete Sache? Das Treffen mit ihm, die Geschichte vom Vater, der dagegen sei?

Dazu paßte auch, daß der alte Breithammer ihm gestern auflauerte und Kathrin angeblich ausreden wollte.

Sein Herz hämmerte in der Brust, aber das kam nicht mehr vom schnellen Lauf. Angst war es, die ihn beschlich. Angst, sich in dem Madel getäuscht zu haben. Was würde sie wohl sagen, wenn er sie jetzt wiedertraf?

Als er jedoch zur der Stelle kam, an der er Kathrin zurückgelassen hatte, war sie nicht mehr da. Sollte er ihr zur Hütte folgen und sie sofort zur Rede stellen?

Nach langem Überlegen kam er zu dem Schluß, daß es keinen Sinn hatte. Vermutungen waren keine Beweise, und die fehlten ihm schlußendlich. Aber er würde aufpassen. Wenn es verräterische Zeichen gab, dann würde er sie sehen!

Langsam schlug er den Weg zum Forsthaus ein. Er war gespannt, was die kommende Nacht bringen würde. Wenn dieser Lump keine Angst hatte am Tage zu wildern, dann wird er schon gar nicht in der Nacht davor zurückschrecken. Christian hoffte inständig, daß er es sein möge, der den Wilderer in die Finger bekam. Der alte Xaver Anreuther hätte gegen den Mann wahrscheinlich gar keine Chance, wenn er ihm nicht mit dem Gewehr im Anschlag gegenüber stand.

*

Als er im Forsthaus ankam, war Max Trenker noch da. Betrübt berichtete Christian von seiner Beinahe-Begegnung mit dem Verbrecher. Max und Xaver hörten ihm zähneknirschend zu.

»Als ich dann an den Weg beim Höllenbruch ankam, fuhr der Kerl gerade weg«, schloß der junge Förster seinen Bericht.

»Himmel«, stieß der Polizeibeamte aus. »Der Lump muß doch zu fassen sein.«

»Aber wie?« meinte Xaver Anreuther.

»Besitzt der alte Breithammer eigentlich ein Auto?« fragte Christian.

Die beiden anderen schauten sich fragend an. Der alte Förster zuckte mit der Schulter.

»Keine Ahnung«, antwortete er.

»Ich kann mich net erinnern, ihn jemals in einem gesehen zu haben«, sagte Max Trenker. »Aber ich kann mich ja mal erkundigen. Was für ein Fahrzeug war es denn, in dem der Wilderer gesessen hat?«

»Ich hab’ net viel erkennen können«, erwiderte Christian. »Es war ja in eine riesige Staubwolke gehüllt. Ich weiß nur, daß es ein Kombi gewesen ist, blau oder schwarz. Aber das Fabrikat? Keine Ahnung.«

»Naja, zumindest wissen wir, daß der Mann einen dunklen Kombi fährt«, meinte Max. »Immerhin besser als gar nichts. Heut’ abend fahr ich nach Engelsbach und Waldeck hinüber und frag’ dort in den Hotels und Gaststätten nach den Fleischlieferanten. Irgendwie müssen wir diesem Haderlump doch beikommen! Aber jetzt muß ich los. Ich komm’ eh’ schon zu spät zu meiner Verabredung.«

Der Beamte verabschiedete sich von den beiden Förstern und fuhr nach St. Johann zurück. Er war gespannt, den Bewährungshelfer kennenzulernen, der Joseph Breithammer betreuen sollte. Dieser Herr Burger mußte schon ein harter Bursche sein, wenn er sich bei dem Alten durchsetzen wollte…

Als er vor dem Revier ankam, war von Herrn Burger weit und breit noch nichts zu sehen. Nur eine junge Frau ging vor dem Haus auf und ab, unter dem Arm eine Aktenmappe. Max stieg aus und schloß den Wagen ab. Dann tippte er an den Schirm der Dienstmütze und nickte der Frau zu.

»Grüß’ Gott, wollen S’ vielleicht zu mir?«

»Wenn Sie Herr Trenker sind, dann ja«, antwortete sie und schaute dabei auf die Uhr. »Wir hatten um siebzehn Uhr einen Termin. Jetzt ist es zehn Minuten nach.«

Der Polizist sah sie erstaunt an.

»Also, entschuldigen S’, aber von einem Termin mit Ihnen weiß ich nichts«, sagte er.

Jetzt schaute die Frau ungläubig. Sie öffnete die Aktenmappe und entnahm ihr ein Schreiben.

»Dieses Schreiben müßten Sie eigentlich vom Amtsgericht bekommen haben«, erklärte sie. »Darin wird mein Kommen angekündigt. Da, sehen Sie selbst. H. Burger, siebzehn Uhr.«

Max starrte sie entgeistert an.

»Sie sind der Herr Burger… äh, nein, natürlich net, ich mein’ – also, entschuldigen S’ noch mal. Mir ist da ein ganz dummer Fehler unterlaufen. Ich hab’ doch tatsächlich das H. für ›Herr‹ gelesen. Ich mein’, ich hab’ geglaubt, der Bewährungshelfer wäre ein Mann…«

Ein spöttisches Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. Offenbar war diese Situation nichts Neues für sie.

»Sie sind net der erste, der diesem Irrtum unterliegt«, sagte sie auch gleich darauf und hielt ihm die Hand hin. »Helga Burger.«

Max schüttelte die Hand, gleichzeitig stellte er fest, daß die junge Frau ausnehmend sympathisch war. Wenn ich ein Verbrecher wär’, die tät’ ich mir auch als Bewährungshelferin wünschen, dachte er, während er die Tür zur Revierstube aufschloß und sie zuerst eintreten ließ.

Als er die Tür schließen wollte, sah er Sebastian von der Kirche herüberkommen.

»Ich hoff’, ich bin noch net zu spät«, rief er schon von weitem. »Ist der Herr Burger schon da?«

»Nein, nein«, grinste Max. »Aber etwas viel Besseres.«

»So, was denn?« fragte sein Bruder erstaunt.

Max lachte über das ganze Gesicht.

»Der Herr Buger ist eine Frau Burger«, erklärte er. »Und zwar eine äußerst gut aussehende!«

»Oh, Max, wann wirst du endlich gescheit?« seufzte Sebastian und trat ein.

*

Helga Burger schaute den weiteren Besucher neugierig an.

»Darf ich Ihnen meinen Bruder vorstellen«, sagte Max. »Er ist der Seelsorger von St. Johann – Pfarrer Trenker. Das, Sebastian, ist Frau Burger, die Bewährungshelferin vom alten Breithammer.«

»Grüß’ Gott, Frau Burger.«

Sebastian reichte ihr die Hand.

»Wenn Sie erlauben, würd’ ich gern’ an diesem Gespräch teilnehmen.«

»Aber bitte. Ich hab’ nichts dagegen«, erwiderte die junge Frau, wobei sie den Geistlichen verstohlen musterte.

Innerlich schüttelte sie den Kopf. Das war der Pfarrer von St. Johann? Wenn sein Bruder ihn nicht vorgestellt hätte – Helga Burger würde es nicht geglaubt haben. Einen Geistlichen hatte sie sich immer anders vorgestellt, nicht so… ja, so sportlich und agil. Wenn sie an einen Pfarrer dachte, dann hatte sie das Bild eines Mannes vor Augen, der eine Soutane trug und Gottesfürchtigkeit verbreitete. Aber dieser Sebastian Trenker war da ein ganz anderer Schlag.

»Tja, Frau Burger«, unterbrach Max Trenker ihren Gedankengang, »Ihr Besuch hat ja einen bestimmten Grund. Kennen Sie den Herrn Breithammer schon?«

Helga schüttelte den Kopf. Sie öffnete die Aktenmappe.

»Persönlich nicht«, antwortete sie. »Ich weiß nur, was über ihn in den Akten steht. Und damit möchte ich gleich auf sein Problem zu sprechen kommen, das ich sehe. Herr Breithammer ist ja wiederholt wegen Wilderei verurteilt worden. Die Bewährungsauflagen sehen nun vor, daß der Mann einer geregelten Arbeit nachgehen muß, wenn er nicht wieder eingesperrt werden will.

Meine Frage ist: Hat er überhaupt die Möglichkeit, hier oder in der näheren Umgebung eine solche Arbeit zu finden?«

Max Trenker hob die Schulter.

»Ehrlich gesagt – ich seh’ da ein bissel schwarz…«

»Entschuldige Max, wenn ich dich unterbrech’«, mischte Sebastian sich ein, »aber ich hab’ da eine gute Nachricht.«

Er berichtete von seinem Gespräch mit Martin Ambuscher und dessen Bereitschaft, Joseph Breithammer sofort einzustellen.

»Das ist ja wunderbar«, freute sich Helga Burger. »Da fällt mir wirklich ein Stein vom Herzen.«

Sie sah die beiden Männer an.

»Wie steht’s denn mit den anderen Auflagen? Meldet er sich regelmäßig hier auf dem Revier?«

Das konnte Max bestätigen.

Helga machte ein skeptisches Gesicht.

»Und das Jagen?« fragte sie. »Wie man aus Erfahrung weiß, fällt es gerade diesen Straftätern schwer, von ihrer Leidenschaft zu lassen…«

Der Polizeibeamte richtete sich in seinem Stuhl auf.

»Natürlich kann ich meine Hand net ins Feuer legen«, meinte er. »Aber ich glaub’ schon, daß der Joseph vom Gefängnis die Nase voll hat. Zwar haben wir ihn net Tag und Nacht unter Kontrolle, aber wir müssen ihm halt vertrauen.«

»Ich kann meinem Bruder da nur zustimmen«, sagte Sebastian und erzählte von seinem Besuch in der Waldhütte.

Helga Burger nickte zufrieden und steckte die Akte in die Mappe zurück.

»Jetzt hab’ ich nur noch ein Problem«, sagte sie. »Wo finde ich Herrn Breithammer? Ich hab’ keine Ahnung, wo ich diese Hütte in der er wohnt, suchen soll.«

»Da machen S’ sich mal keine Gedanken. Selbstverständlich fahr’ ich Sie hin«, bot Max Trenker an.

»Oh, vielen Dank«, freute sich die junge Bewährungshelferin über dieses freundliche Angebot.

Dabei blickte sie Max tief in die Augen. Ein fescher Bursche war er schon, dieser Polizeibeamte, das war ihr schon aufgefallen, als er aus seinem Dienstwagen gestiegen war.

Sebastian, dem dieser tiefe Blick nicht entgangen war, verkniff sich ein Schmunzeln. Was mochte sich da wohl wieder anbahnen…? Ein Glück nur, daß Frau Tappert nichts davon sah!

*

Kathrin Breithammer hatte eine ganze Weile darauf gewartet, daß Christian zurückkäme. Angstvoll ging sie in die Richtung, in die der junge Förster gelaufen war, rief immer wieder seinen Namen, ohne eine Antwort zu erhalten. Nur Neros Gebell war aus weiter Ferne zu hören.

Nach einer Viertelstunde wagte sie es, ihm noch weiter zu folgen und kam an die Stelle, wo das erlegte Wild seine Blutspur hinterlassen hatte. Überrascht schaute sie auf die Gestalt, die in der Nähe zwischen den Bäumen stand und herübersah. Kathrin hatte sie kaum wahrgenommen, doch jetzt erkannte sie ihren Vater. Die Augen des jungen Madels weiteten sich vor Entsetzen, als sie ihr eigenes Gewehr in seinen Händen sah.

»Bist du narrsich geworden?« schrie sie ihn an und riß die Waffe an sich. »Wenn der Christian dich damit sieht oder der Anreuther – du weißt doch, daß du dann ins Gefängnis zurück mußt.«

»Na und«, gab er zurück. »Sollen S’ mich doch sehen. Ich fürcht’ mich net vor dem Alten, und vor deinem Galan schon gar net!«

Kathrin hielt ihm das Gewehr unter die Nase.

»Hast du etwa geschossen?» wollte sie wissen.

»Natürlich net. Ich hab’s dir doch versprochen.«

Sie blickte ihn traurig an.

»Und was soll das hier?« fragte sie und deutete auf die Waffe. »Warum setzt du deine Freiheit so leichtfertig aufs Spiel?«

Der alte Mann hob und senkte hilflos die Schulter. Was sollte er darauf antworten? Er wußte ja, daß seine Tochter recht hatte. Dumm war es von ihm, aber nach dem Streit in der Hütte war ihm alles egal gewesen.

Kathrin Breithammer schaute um sich.

»Komm«, sagte sie. »Wir müssen verschwinden. Christian kann jeden Moment hier auftauchen. Wenn er das Gewehr sieht, denkt er wer weiß was.«

Sie blickte ihren Vater forschend an.

»Hast du gesehen, wer geschossen hat?«

Der alte Mann schüttelte den Kopf.

»Als der Schuß fiel, war ich noch drüben, auf der anderen Seite. Erst dann bin ich hierher. Der Ruland ist dem anderen hinterher. Wahrscheinlich will der über die Kreisstraße weg. Wenn da sein Wagen steht, dann hat der Förster keine Chance.«

Seine Tochter musterte ihn. Hatte der letzte Satz nicht ewas zu begeistert geklungen? Kathrin war sich sicher zu wissen, wem die Sympathie ihres Vaters gehörte. Gewiß nicht Christian Ruland. Sie zog ihn mit sich.

»Laß uns zur Hütte gehen«, sagte sie. »Vielleicht kommt er dorthin.«

»Da hat er nix zu suchen«, grantelte der Alte. »Das werd’ ich ihm schon zeigen!«

»Nix da«, erwiderte die Tochter bestimmt. »Wenn Christian fragt, wirst du höflich antworten, daß du den ganzen Nachmittag in der Hütte gewesen bist.«

Den ganzen Weg über befürchtete sie, der junge Förster könne irgendwo aus den Büschen auftauchen, doch sie erreichten ihr Zuhause, ohne daß Christian oder sonst jemand auftauchte. Später hatten sie Kaffee gekocht und sich über den mutmaßlichen Wilderer unterhalten, als sie draußen Stimmen vernahmen.

Kathrin hastete zum Regal hinüber und legte eine Decke über das Gewehr, während ihr Vater durch das Fenster spähte.

»Wer ist es denn?« rief das jungen Madel leise.

»Der Trenker-Max und eine junge Frau«, gab Joseph Breithammer zurück. »Komisch, was wollen die denn hier?«

*

»Pfüat di’, Breithammer«, grüßte Max, nachdem er und die Frau eingetreten waren. »Das ist Frau Burger. Sie ist deine Bewährungshelferin.«

Der Alte starrte Helga Burger nicht verstehend an. Sie reichte ihm die Hand.

»Guten Tag, Herr Breithammer«, sagte sie. »Ja, wie der Name schon sagt, ich soll Ihnen helfen, damit bei Ihrer Bewährung alles glattgeht.«

Sie schaute sich in der Hütte um.

»Können wir uns setzen?«

Kathrin war aus dem hinteren Teil der Hütte nach vorne gekommen.

»Bitt’schön, nehmen S’ Platz«, deutete sie auf die Stühle und Bank aus Holz.

»Das ist Kathrin, die Tochter von Herrn Breithammer«, stellte Max das Madel vor.

Sie setzten sich.

»Tja, Breithammer«, nahm der Polizist das Wort. »Ich hab’ der Frau Burger schon erzählt, daß du dich regelmäßig auf dem Revier meldest. Das ist soweit in Ordnung.«

Er schaute in die Runde.

»Ich hoff’, daß du kein Gewehr mehr angefaßt hast…«

Kathrin spürte, wie sie bis unter die Haarwurzeln rot wurde.

»Nein, nein«, beeilte der Alte sich zu sagen.

»Schön, Herr Breithammer«, freute sich Helga Burger. »Dann ist ja alles in bester Ordnung. Wir haben nämlich noch eine Überraschung für Sie mitgebracht.«

Vater und Tochter sahen sich ratlos an.

»Was für eine Überraschung?« fragte Kathrin.

»Es geht um die letzte Bewährungsauflage, nämlich, daß Ihr Vater einer geregelten Arbeit nachgehen muß«, erklärte Helga. »Ehrlich gesagt, hat mir diese Auflage schon einiges Kopfzerbrechen gemacht. Aber der Bruder von Herrn Trenker hat heut nachmittag eine Lösung gefunden.«

»Der Herr Pfarrer?« wunderte Joseph sich. »Was für eine Lösung denn?«

»Mein Bruder hat mit dem Ambuscher-Martin gesprochen«, berichtete Max. »Du kannst gleich morgen wieder in der Sägemühl’ anfangen.«

Kathrin stieß einen Freudenschrei aus, und ihr Vater schaute ungläubig von Helga zu Max, und wieder zurück.

»Ist das wirklich wahr?« fragte er fassungslos.

»Freilich, wenn ich’s sag«, nickte Max.

»Gut, Herr Breithammer«, sagte Helga Burger und zog eine

Akte aus ihrer Mappe. »Ich hab’ hier noch ein paar Formalitäten, die aber schnell erledigt sind. Morgen gehen Sie zur Arbeit, und ich denke, ich werde in der nächsten Woche wieder vorbeischauen.«

Es gab noch ein paar Schriftstücke zu unterzeichnen, dann verabschiedeten sich Helga Burger und Max Trenker wieder.

»Ach, Breithammer, hast du eigentlich ein Auto?« fragte der Polizeibeamte, bevor er die Hütte verließ.

»Nein, hab’ ich net«, erwiderte er. »Warum willst’ das wissen?«

»Ach, ich hab’ mich nur gefragt, wie du zur Arbeit kommst«, winkte Max ab.

Natürlich wollte er nicht sagen, daß er nach einem dunklen Kombi suchte.

»Ich geh’ halt zu Fuß«, lachte der alte Breithammer. »Durch den Wald ist’s ja nur halb so weit.«

»Na dann, pfüat euch, ihr zwei«, nickte Max und folgte Helga Burger, die schon draußen stand.

Vater und Tochter sahen sich an. Kathrins Augen füllten sich mit Tränen.

»Das… das ist ja fast wie Weihnachten«, sagte sie unter Lachen und Schluchzen.

Joseph Breithammer schluckte ebenfalls. Er strich seinem Kind über das Haar, konnte sein Glück noch gar nicht fassen.

»Jetzt wird alles gut, Madel«, flüsterte er.

Und Christian, dachte Kathrin, während sie ihren Vater anschaute, wirst’ ihn doch noch akzeptieren?

*

Im Pfarrhaus saßen Sebastian und Max nach dem Abendessen im Arbeitszimmer des Geistlichen zusammen. Der Polizist berichtete von seinem Besuch in der Waldhütte.

»Die Kathrin war überglücklich«, erzählte er. »Naja, und der alte Breithammer – man konnte ihm seinen Stolz regelrecht in den Augen ablesen. Der Martin Ambuscher wird gewiß net bereuen müssen, dem Alten eine Chance gegeben zu haben.«

»Das denk’ ich auch«, nickte sein Bruder. »Überhaupt bin ich froh, daß die Sach’ so eine glückliche Wendung genommen hat.«

»Tja, nun bleibt nur noch die leidige Geschichte mit diesem unbekannten Wilddieb«, seufte Max und erzählte von den Ereignissen am Nachmittag.

Sebastian wurde hellhörig, als der Polizist einen dunklen Kombi erwähnte, dessen Fahrer verdächtigt wurde, etwas mit der Wilderei zu tun zu haben.

»Ein dunkler Kombi?« fragte der Seelsorger noch einmal nach.

»Schwarz, oder dunkelblau. So genau hat der Förster Ruland das net erkennen können.«

»Ein dunkelblauer war’s«, sagte Sebastian und erzählte von dem selbstmörderischen Fahrer, der aus dem Waldweg auf die Kreisstraße einbog, ohne auf ein anderes Fahrzeug zu achten.

»Und du hast net erkennen können, um was für ein Fabrikat es sich handelt?«

»Leider nein«, bedauerte der Geistliche.

»Naja, immerhin ist’s eine Spur«, sagte Max. »Wenn auch nur eine vage.«

Die Brüder unterhielten sich noch eine ganze Weile über die Angelegenheit. Insbesondere mutmaßten sie, wie wohl die beiden Förster weiter vorgehen würden.

»Erstmal können sie nur ihre Runden drehen«, meinte Max. »Die meisten Jagdpächter haben auf ihren Höfen zu tun. Da sind Xaver und Christian auf sich alleine angewiesen.«

»Dann müssen wir ihnen wohl wieder einmal zur Seite stehen«, schlug Sebastian vor.

»Ja, aber in den nächsten Tagen wird’s schwierig für mich«, erklärte der Beamte. »Auf meinem Schreibtisch stapeln sich die Akten. Ich könnt’ höchstens nachts mit einspringen.«

»Na, damit wär’ den beiden doch schon geholfen. Ich werd’ gleich noch einmal zu ihnen hinausfahren und die Sache mit den beiden absprechen.«

Sebastian lehnte sich in seinen Sessel zurück und schaute seinen Bruder an.

»Und sonst?« fragte er.

Max schaute ihn arglos an.

»Was meinst?«

Pfarrer Trenker lächelte spöttisch.

»Nun komm’, du weißt genau, wovon die Rede ist. Ich sprech’ von Fräulein Burger.«

Jetzt grinste Max auch.

»Ein fesches Madel, net wahr?« sagte er verschmitzt.

»Dem du gleich wieder den Kopf verdreht hast«, konsternierte sein Bruder.

Doch Max Trenker, der alte Schwerenöter und Herzensbrecher, winkte ab. Er hatte nämlich mit seinen Flirtversuchen Schiffbruch erlitten.

»Die junge Dame ist in festen Händen«, sagte er bedauernd. »Sie ist seit zwei Jahren verlobt, und will noch in diesem Jahr heiraten.«

Sebastian schlug auflachend die Hände zusammen.

»Max, ich kann dir gar net sagen, wie leid mir das tut«, erklärte er mit einem süffisanten Lächeln.

Daß sein Bruder endlich einmal bei einer Frau abgeblitzt war, kam schon einer kleinen Sensation gleich.

»Ach, was gäbe ich drum, könnte Frau Tappert das jetzt miterleben!«

Max Trenker stand auf und stellte sich vor seinen Bruder, die Fäuste in die Hüften gestemmt.

»Untersteh’ dich, auch nur ein Sterbenswörtchen darüber zu sagen«, warnte er den Älteren. »Ich sprech’ mein Lebtag’ kein Wort mehr mit dir!«

Sebastian lachte.

»Ich versprech’s, Max. Soviel Hohn und Spott wie unsere Perle über dich ausgießen würd’, wär’ sogar mir zuviel.«

Der Polizeibeamte setzte sich wieder.

»Was soll’s«, meinte er. »Es gibt so viele schöne Frauen in St. Johann und Umgebung – irgendwo wartet schon eine auf mich.«

Pfarrer Trenker hob mahnend den Zeigefinger.

»Übertreib’s net, Max«, sagte er. »Irgendwann kommt eine, da erwischt’s dich richtig, und dann will sie net. Auch Frauen können Männerherzen brechen, net nur umgekehrt…«

*

Die beiden Förster hatten sich nach dem Abendbrot nach draußen gesetzt, als Pfarrer Trenker im Forsthaus eintraf. Dankend nahm er die Tasse Tee entgegen, die Xaver anbot.

»Ich bin gekommen, um mit euch abzusprechen, wie Max und ich in dieser Sache helfen können«, sagte er und wandte sich direkt an Christian Ruland. »Es war übrigens ein dunkelblauer Kombi.«

Er erzählte auch den Förstern von dem nur knapp verhinderten Zusammenstoß am Nachmittag. Christian richtete sich auf.

»Schade, daß wir net das Fabrikat kennen«, klagte er. »Dann wäre es ein Leichtes, den Kerl zu schnappen.«

»Wie habt ihr denn nun eure Runden eingeteilt?« erkundigte sich der Geistliche.

»Der Christian geht heut’ nacht«, antwortete Xaver. »Und ich lös’ ihn dann am Morgen ab.«

»Also, beim Max sieht’s etwas schlecht aus«, erklärte Sebastian. »Aber mit mir könnt ihr rechnen.«

»Zwei von den Jagdpächtern können wir ebenfalls mit einplanen«, ergänzte der junge Förster.

»Na also, dann sind wir ja schon fünf«, sagte Sebastian zufrieden.

Sie besprachen die Einzelheiten und teilten ein, in welchen Schichten gegangen werden sollte. Eigentlich wollten sie, daß immer zwei Männer zusammen gingen, doch leider war das nicht in allen Schichten möglich. So mußte Christian schon in der ersten Nacht alleine los.

»Halb so wild«, meinte er, als er Pfarrer Trenker zum Wagen brachte.

Der Förster hatte es extra so eingerichtet, daß er den Geistlichen hinausbegleitete. Seit dem Nachmittag lag ihm etwas auf dem Herzen, das schwerer wog als eine Zentnerlast. Sebastian hatte ein sehr feines Gespür für solche Dinge und schon geahnt, daß Christian noch etwas von ihm wollte.

»Haben S’ sich schon ein bissel eingelebt?« erkundigte er sich. »Solch einen Anfang haben S’ sich wahrscheinlich net vorgestellt, was?«

»Wahrlich net«, schüttelte der junge Mann den Kopf.

Er schaute den Seelsorger direkt an.

»Hochwürden, als wir uns das erstemal beim Stammtisch trafen, haben Sie gesagt, daß ich, wenn immer mich ’was bedrückt, damit zu Ihnen kommen kann.«

»Das stimmt, Christian«, nickte Sebastian. »Und nun bedrückt Sie etwas. Ich hab’s schon gespürt. Also, ’raus mit der Sprache.«

»Tja, wie soll ich beginnen?« überlegte der junge Förster laut. »Sie kennen ja die Geschichte um den alten Wilderer hier aus dem Wald, dem Breithammer-Joseph. Ich hab’… also, ich hab’ die Kathrin kennengelernt, und net nur das, ich liebe sie von ganzem Herzen…«

»Und nun wissen S’ net weiter, weil Sie auch noch den Alten in Verdacht haben, er könne wieder aktiv sein, net wahr?«

Christian nickte.

»Ja, seit dem Nachmittag weiß ich net mehr ein noch aus.«

Er erzählte von Kathrins merkwürdigem Verhalten, als er den Wilddieb verfolgen wollte.

»Ich weiß net«, sagte er und hob verzweifelt die Schulter. »Ich hatte den Eindruck, als wolle sie mich regelrecht an der Verfolgung hindern.«

Pfarrer Trenker überlegte, natürlich konnte es verschiedene Gründe für das Handeln des Madels geben.

»Könnte es net sein, daß Kathrin ganz einfach Angst um Sie hatte?« fragte er.

»Das hab’ ich zuerst auch gedacht«, antwortete Christian. »Nachher war sie dann nicht mehr da, so daß ich sie hätte fragen können.«

Er sah den Pfarrer bittend an.

»Können S’ mir net einen Rat geben, Hochwürden«, bat er.

»Doch, und das will ich gerne tun«, erwiderte Sebastian Trenker. »Lassen S’ einfach Ihr Herz sprechen, und lauschen Sie d’rauf, was es Ihnen sagt.«

Er schüttelte Christian Ruland zum Abschied die Hand und stieg in seinen Wagen. Von innen kurbelte er die Seitenscheiben herunter.

»Himmel, das hätt’ ich ja beinah’ vergessen«, sagte er hastig. »Der alte Breithammer scheidet als Täter wohl aus. Einen Wagen besitzt er net und schon gar keinen dunkelblauen Kombi.«

Er winkte und fuhr los. Morgen nachmittag würde er wiederkommen und zusammen mit dem jungen Förster durchs Revier gehen.

*

Christian fühlte sich erleichtert, als sei ein riesiger Stein von seinem Herzen gefallen. Am liebsten wäre er sofort zu Kathrin geeilt, doch seine Pflichten als Förster hinderten ihn daran. Statt dessen ging er hinein und bereitete sich auf seine nächtliche Pirsch vor. Xaver Anreuther hatte fürsorglich eine Thermoskanne mit heißem Tee bereitgestellt. In einer Brotdose befand sich ein kleiner Imbiß.

Gegen zweiundzwanzig Uhr ging Christian los. Nero lief an der Leine neben ihm. Die ersten Stunden bis Mitternacht verliefen ereignislos. Der junge Förster, mit einer Stablampe ausgestattet, suchte immer wieder die Schonungen ab, doch bisher gab es keine neuen Schlingen. Offenbar hatte der Wilddieb noch keine Gelegenheit gehabt, welche auszulegen.

Gegen ein Uhr in der Frühe machte Christian es sich auf einer Lichtung bequem. Gerade über ihm stand der volle Mond, der die Nacht so erhellte, daß er sogar Zeitung hätte lesen können. Der heiße Tee schmeckte herrlich und weckte seine Lebensgeister. Bis drei mußte er noch ausharren. Dann würde er sich mit Xaver treffen, der die restliche Nachtschicht übernehmen wollte.

Die belegten Brote waren, dank Neros Hilfe, schnell verzehrt, und während Christian sich einen weiteren Tee in den Becher goß, machte der Setter sich auf, die nähere und weitere Umgebung zu erkunden. Der junge Förster dachte sich nichts dabei. Schon oft war der Hund eine Weile verschwunden gewesen, um dann irgendwo da aufzutauchen, wo man ihn nicht vermutete. Wahrscheinlich war er aber immer in Rufweite zu seinem Herrn.

Nach einer langen Pause stand Christian wieder auf und reckte die steifen Glieder. Es war zwar Sommer, aber die Nächte waren recht kühl, und das Sitzen auf dem Waldboden tat ein Übriges. Der Förster stieß einen leisen Pfiff aus, um anzuzeigen, daß es weiterging, und setzte seinen Weg fort. Nero würde gleich seine Witterung aufnehmen und der Fährte folgen.

Die Pause, die Christian eingelegt hatte, war eigentlich viel zu schnell vergangen. Er hatte in dieser Zeit natürlich an das geliebte Madel gedacht. Immer wieder konnte er es sich vorstellen, wie es sein würde, wenn sie an seiner Seite, als seine Frau, im Forsthaus lebte. Gleich morgen früh wollte er zur Waldhütte gehen und sie fragen, ob sie seine Frau werden wolle. Und wenn es sein mußte, dann würde er sogar ihren Vater um Kathrins Hand bitten!

War es Absicht oder hatte er es nicht bemerkt? Wie auch immer – Christian hatte unwillkürlich den Weg schon eingeschlagen, der zu der Hütte führte, in der das geliebte Madel wohnte. Sein Herz klopfte schneller, als er daran dachte, wie es wäre, sie jetzt hier im Wald zu treffen, wo die Welt ihnen ganz alleine gehörte.

Da riß ein Schuß ihn aus seinen Träumen. Wie ein Donner hallte er durch die Nacht und schreckte die Tiere des Waldes auf.

Wie ein Blitz durchzuckte es den jungen Förster – der Wilddieb hatte wieder zugeschlagen!

*

Einen Moment verharrte er und überlegte, aus welcher Richtung der Schuß gekommen sein könnte. Der Wind hatte den Knall herübergetragen und er wehte von dort her, wo die Waldhütte der Breithammers stand.

»Nero, Fuß!« rief Christian und stürmte los.

Er schickte ein Dankgebet zum Himmel, dafür, daß es Vollmond war, und er einigermaßen sehen konnte. Der Weg, auf dem er lief, war relativ breit, so daß er nicht durch das dichte Unterholz mußte. Der Förster hatte sein Gewehr schußbereit in der Hand, als er, unmittelbar nach einer Biegung, jemanden vor sich sah. Zuerst glaubte er, es sei ein Mann mit einem Buckel, doch dann wurde ihm bewußt, daß der Wilderer ein erlegtes Tier auf der Schulter trug.

Christian riß das Gewehr an die Wange und visierte den Flüchtenden an.

»Stehen bleiben, oder ich schieße!« schrie er den Unbekannten an.

Als der Mann weiterlief, gab der Förster einen Warnschuß in die Luft ab. Daraufhin stoppte der Wilddieb seine Flucht. Christian war bis auf zehn Schritt an ihn heran.

»So, Bursche, jetzt laß’ das

Tier fallen, und dann dreh’ dich um«, befahl er. »Aber net so schnell.«

Der Wilddieb ließ seine Beute langsam heruntergleiten. Im Mondlicht konnte Christian nur ahnen, daß es sich um einen Rehbock handelte. Das Tier fiel auf den Waldboden, und der Mann wirbelte im selben Moment herum.

Instinktiv wollte sich der junge Förster fallen lassen, als er das Gewehr in den Händen des anderen sah, doch der hatte schon den Abzug betätigt. Eine grellrote Feuerlanze schoß auf ihn zu. Christian verspürte einen heftigen Schlag in der Brust, und gleich darauf einen fürchterlich brennenden Schmerz. Er schrie auf. Als er umstürzte, war er schon ohne Bewußtsein.

»Himmelkruzifixnochamoal!« fluchte der Schütze, während er sich langsam dem auf dem Boden liegenden Förster näherte.

Hatte er ihn voll getroffen? Selber schuld! Warum mußte der Kerl auch hier herumschleichen?

Am meisten ärgerte der Mann sich aber über seine eigene Dummheit, hatte er doch angenommen, daß die Förster nach den Ereignissen des Nachmittags glauben würden, der Wilderer würde sich vorerst nicht mehr in den Wald wagen.

Hab’ ich mich doch verrechnet, dachte er.

Er stand über Christian Ruland, der aus einer Wunde an der Brust blutete. Das Gewehr hielt er schußbereit in den Händen. Entweder war der Förster schon tot, oder nur bewußtlos.

Der Wilddieb hob noch einmal die Waffe und legte auf Christian Ruland an. Wieder zerriß ein Schuß die Stille der Nacht. Doch nicht der verwundete Förster war das Ziel der todbringenden Kugel. Statt dessen traf sie die Hand des Todesschützen, abgefeuert aus dem Gewehr, das Joseph Breithammer in den Händen hielt.

Dem Wilderer wurde die Waffe aus den Händen gerissen, und ein entsetzter Schrei entrang sich seinen Lippen, als er sich vergegenwärtigte, was geschehen war.

Gehetzt sah er sich um. Woher mochte der Schuß gekommen sein?

Der Mann machte sich nicht mehr die Mühe, sein Gewehr aufzuheben. Die verletzte Hand unter den anderen Arm pressend, rannte er davon. Ein zweiter Schuß wurde abgefeuert, und die Kugel sauste ihm hinterher, landete aber irgendwo zwischen den Bäumen, ohne weiteren Schaden anzurichten.

Joseph Breithammer trat aus seinem Versteck hervor und eilte zu Christian Ruland, der immer noch mit geschlossenen Augen am Boden lag. Aus einiger Entfernung drang heftiges Hundegebell herüber, und wenig später schoß Nero heran. Der Setter stürzte sich auf seinen Herrn und leckte ihm winselnd über das Gesicht, in dem sich kein Leben regte.

Der Alte zerrte das Tier am Halsband zurück und befahl ihm, Platz zu nehmen. Merkwürdigerweise gehorchte das Tier dem fremden Mann. Joseph strich dem Hund über den Kopf.

»Hätt’s ein bissel eher da sein müssen«, sagte er. »Dann hätt’ dein Herr eine bessere Chance gehabt. Laß mich mal schau’n, ob ich was tun kann.«

Als hätte er den Fremden verstanden, legte sich Nero neben den Förster. Joseph Breithammer beugte sich über Christian. Erleichtert stellte er fest, daß der Mann noch lebte. Er öffnete vorsichtig Jacke und Hemd des Verletzten. Die Wunde sah schlimm aus, aber wenn er Glück hatte, dann würde er überleben. Die Kugel hatte wohl das Herz verfehlt, wie Joseph Breithammer flüchtig feststellte. Jedenfalls saß die Wunde zu hoch, als daß das lebenswichtige Organ hätte getroffen sein können.

Der Alte holte ein Messer hervor und zerschnitt Christians Hemd, so gut es ging, in lange Streifen. Damit legte er notdürftig einen Verband an. Die Blutung zu stoppen, war jetzt am Wichtigsten. Das alles geschah in wenigen Minuten. Joseph Breithammer richtete sich auf.

»Paß’ schön auf, ich bin gleich zurück«, sagte er zu Nero, der ihn genau beobachtet hatte.

Der Hund ahnte wohl, daß der Mann seinem Herrn helfen wollte.

Als Kathrins Vater zur Hütte zurückkam, sah er, daß drinnen Licht brannte. Offenbar war seine Tochter aufgewacht. Er schluckte schwer, als er daran dachte, welch schreckliche Nachricht er jetzt überbringen mußte.

*

Später vermochte Kathrin nicht mehr zu sagen, was es war, das sie geweckt hatte. Sie meinte, plötzlich einen Schuß gehört zu haben. Unruhig stand sie auf, entzündete die Petroleumlampe auf dem kleinen Tisch neben ihrem Bett und lief hinüber zu dem Raum, in dem der Vater schlief. Als sie entdeckte, daß das Bett leer war, stieg eine böse Ahnung in ihr auf. Rasch zog sie sich an, als ein neuer Schuß fiel, kurz darauf noch einer. Und das Gewehr lag nicht mehr im Regal!

Nein, Vater, dachte sie verzweifelt, das darfst du net!

Nichts anderes konnte sie glauben, als daß Joseph Breithammer nicht von seinem alten Laster habe lassen können. Noch am Nachmittag hatte er erklärt, daß alles wieder gut werde, doch jetzt hatte ihn offenbar das alte Fieber wieder gepackt!

Das Madel griff nach seinem Tuch und warf es sich über, als die Tür aufgerissen wurde und der alte Breithammer hereinstürmte. Abgehetzt sah er aus, keuchend nach Luft ringend, und die Haare wirr in der Stirn hängend.

»Vater!« schrie Kathrin und sah fassungslos auf das Gewehr in seinen Händen.

Joseph Breithammer warf die Waffe auf den Tisch. Er riß das Madel in seine Arme.

»Nein, nein«, sagte er beruhigend. »Es ist net das, was du glaubst. Aber du mußt mitkommen. Es ist etwas Furchtbares geschehen.«

In hastigen Worten berichtete er, was vorgefallen war. Die Augen seiner Tochter weiteten sich vor Entsetzen, als sie hörte, daß der geliebte Mann schwer verwundet sei, vielleicht sogar im Sterben liege.

»Du bist schneller als ich mit meinen alten Beinen«, rief Joseph, während sie zu der Stelle eilten, an der Christian lag. »Du mußt ins Dorf und den Doktor holen. Ich bleib’ beim Förster.«

Kathrin stürzte sich auf Christian, verzweifelt rief sie seinen Namen und küßte das bleiche Gesicht.

»Schnell, beeil’ dich«, befahl ihr Vater. »Sonst ist’s vielleicht zu spät.«

Nie zuvor in ihrem Leben war die junge Frau so schnell gelaufen. Dabei war sie in ständiger Sorge, jegliche Hilfe für Christian könne zu spät kommen. Als sie das Dorf erreichte, lag St. Johann im tiefsten Schlummer. Kathrin hämmerte gegen die Tür des Hauses, in dem Toni Wiesinger wohnte.

Immer, wenn Vollmond war, hatte der Arzt einen leichten Schlaf. Schon nach wenigen Minuten öffnete er. Das Madel berichtete, was geschehen war. Dr. Wiesinger, der noch seinen Morgenmantel trug, nickte.

»Laufen S’ zur Kirch’ hinüber und sagen S’ dem Pfarrer Bescheid«, sagte er. »Ich zieh’ mich schnell an.«

Pfarrer Trenker hörte das Klingeln an der Haustür und war schneller wach als seine Haushälterin. Als er Frau Tappert oben rumoren hörte, rief er nach ihr. Die Haushälterin blickte zwar ein wenig verschlafen, war aber sofort hellwach, als sie hörte, was los war.

»Bitt’ schön, rufen S’ Max an«, trug Sebastian ihr auf.

Aber da war Sophie Tappert schon ans Telefon geeilt und hatte die Nummer des Polizeireviers gewählt.

Alles in allem war weniger als eine halbe Stunde vergangen, seit Kathrin losgelaufen war, als zwei Autos mit hoher Geschwindigkeit zum Ainringer Wald fuhren. In dem einen saßen der Arzt und das Madel, in dem anderen Fahrzeug Sebastian und Max Trenker.

Alle hofften inständig, daß sie nicht zu spät kamen.

*

»Nun erzähl’ einmal, Breithammer, wie sich alles abgespielt hat«, forderte Max Trenker Kathrins Vater auf.

Zusammen mit seinem Bruder und dem Alten saß der Beamte in der Waldhütte und nahm das Protokoll auf.

Über sein Handy hatte Dr. Wiesinger einen Notarztwagen angefordert, nachdem er die Wunde versorgt hatte. Dank Josephs beherztem Handeln war die Blutung rechtzeitig gestoppt worden. Christian Ruland lebte zwar, aber es sah nicht gut aus, wie der Arzt sich vorsichtig ausdrückte. Kathrin hatte darauf bestanden, den Verletzten ins Krankenhaus zu begleiten.

Joseph hatte sich die ganze Zeit, die er auf seine Tochter und den Arzt wartete, Gedanken gemacht, wie er erklären sollte, warum er mit einem Gewehr im Wald unterwegs war. Natürlich wäre die Wahrheit die einfachste Erklärung, aber – würd’ man sie ihm auch abkaufen? Dennoch, der ehemalige Wilderer, der wieder auf dem Pfad der Tugend wandeln wollte, entschloß sich, die Geschichte so zu erzählen, wie sie sich zugetragen hatte.

Er berichtete, daß er wegen seiner neuen Arbeitsstelle zu aufgeregt war, um schlafen zu können. Deshalb sei er vor die Haustür gegangen, um eine Pfeife zu rauchen. Kathrin sah es net gern, wenn er dies in der Hütte tat.

Irgendwann habe er eine Stimme gehört, eine laute Stimme, und kurz darauf einen Schuß. Natürlich wußte er nicht, wer da gerufen und geschossen hatte, aber er schätzte die Situation so ein, daß, nicht weit von seiner Hütte, auf einen Menschen geschossen worden war, denn gleich darauf erklang auch ein Schmerzensschrei. So hatte er sich das Gewehr seiner Tochter gegriffen und war losgelaufen. Im letzten Moment konnte er dann dem Todesschützen die Waffe aus der Hand schießen.

Das Gewehr des Wilderers lag auf dem Tisch. Deutlich sah man, wo die Kugel es getroffen hatte, außerdem waren Blutspuren daran. Der Unbekannte mußte also verletzt sein.

Joseph Breithammer schaute unsicher von Max zu Sebastian und wieder zurück.

»Glauben S’ mir«, sagte er beschwörend. »So war’s, und net anders.«

Die beiden Brüder schauten sich an. Max nickte.

»Ich glaub’s dir gerne, Breithammer«, meinte er. »So, wie’s ausschaut, hast du dem Christian Ruland das Leben gerettet – wenn er durchkommt.«

Sebastian legte dem Alten die Hand auf die Schulter.

»Du brauchst wirklich keine Angst zu haben«, munterte er ihn auf. »So wie du gehandelt hast, war es reine Notwehr.«

Der alte Breithammer atmete erleichtert auf. Die Brüder standen auf.

»Langsam wird’s hell«, sagte Max. »Ich werd’ mir noch mal den Tatort ansehen. Vielleicht finden sich noch ein paar Spuren.«

»Und ich fahr’ in die Stadt ins Krankenhaus«, erklärte Pfarrer Trenker.

Draußen im Wald stand immer noch der Wagen des Arztes. Toni Wiesinger war zusammen mit Kathrin im Krankenwagen mitgefahren. Den Schlüssel hatte er Sebastian überlassen, der die beiden aus der Kreisstadt abholen sollte.

*

Unablässig ging das Madel den Flur auf und ab. Dann blieb sie wieder vor der Glastür stehen. Darauf stand: Operationsbereich. Zutritt verboten! Darunter der Name des Stationsarztes.

Kathrin starrte auf die schwarzen, aufgeklebten Buchstaben, ohne sie wirklich zu lesen. Sie kannte die Worte auswendig. Dr. Wiesinger kam um die Ecke, in der Hand zwei Plastikbecher mit Kaffee, den er aus dem Automaten geholt hatte, der auf dem Nebenflur stand. Der Arzt deutete auf die Reihe Stühle an der Wand.

»Kommen S’, Kathrin, Sie müssen sich setzen«, forderte er sie auf.

Der Kaffee schmeckte scheußlich, aber er war so stark, daß er zumindest wachhielt.

»Wird er durchkommen?« fragte Kathrin den Dorfarzt zum wiederholten Male.

Dr. Wiesinger versuchte ihr Mut zu machen und Zuversicht auszustrahlen.

»Wir müssen das beste hoffen«, sagte er. »Die Kollegen, die sich jetzt um Christian kümmern, werden alles tun, um ihn zu retten. Die Wunde ist zwar net ungefährlich, aber wenn die Kugel keine Organe verletzt hat, dann hat er eine gute Chance.«

Kathrin trank das dunkelbraune Gebräu in kleinen Schlucken. Sie spürte, wie diese Warterei an ihren Nerven zerrte. Kurz vor fünf Uhr kam Pfarrer Trenker hinzu.

»Noch kein Ergebnis?« fragte er.

Kathrin schaute ihn nur aus tränennassen Augen an, Dr. Wiesinger schüttelte den Kopf.

»Sie operieren noch«, erklärte er.

Endlich öffnete sich die Tür, und der Stationsarzt kam heraus. Er begrüßte Sebastian, den er von früheren Besuchen des Geistlichen im Krankenhaus her kannte.

»Er lebt«, sagte Dr. Wendler nur. »Er lebt und wird überleben.«

Kathrin, die beim Erscheinen des Arztes aufgesprungen war, spürte, wie ihr einen kurzen Augenblick schwindlig wurde. Wie durch einen Wattebausch nahm sie die Worte des Stationschefs wahr.

»Wir haben die Kugel entfernt, Organe sind nicht verletzt. Die Blutung war zuerst sehr stark, wurde aber dann rechtzeitig gestoppt. Herr Ruland ist jetzt auf der Intensivstation.«

»Kann ich… darf ich zu ihm?«

Der Arzt blickte auf das erschöpfte Madel, dann sah er Pfarrer Trenker an, der ihm zunickte.

»Also gut«, entschied er. »Ich geh’ davon aus, daß Sie seine Verlobte, und damit seine nächste Angehörige sind. Eine Schwester wird Sie zu ihm bringen.«

Während sich eine herbeigerufene Schwester Kathrins annahm, verabschiedeten sich Sebastian und Dr. Wiesinger von dem Stationsarzt und verließen das Krankenhaus. Die Fahrt zurück nach St. Johann verlief, bis auf ein paar kurze Worte, eher schweigend. Pfarrer Trenker überdachte die Ereignisse der Nacht. Ganz besonders den Bericht, den Joseph Breithammer abgegeben hatte. Wenn der Todesschütze tatsächlich verwundet war, dann hatte man doch eine weitere Spur. Die Suche mußte sich auf einen Mann konzentrieren, der eine verwundete Hand hatte und einen dunkelblauen Kombi fuhr. Gewiß keine leichte Aufgabe, aber vielleicht kam einmal Kommissar Zufall zu Hilfe.

*

Der Raum war abgedunkelt. Christians Bett, es war das einzige in dem Krankenzimmer, stand an der Wand gegenüber der Tür. Daneben stand ein »Galgen«, an dem der Tropf hing. Ängstlich schaute das Madel auf die vielen Schläuche, die von einem Gerät zu dem Kranken führten. Etwas piepste leise, und auf einer kleinen Anzeige fuhr ein grüner Strich in wellenartigen Bewegungen auf und ab.

Die freundliche Nachtschwester schob einen Stuhl an das Bett. Kathrin setzte sich. Bleich und reglos lag Christian vor ihr. Nur die schwachen, kaum wahrnehmbaren Atemzüge zeigten an, daß überhaupt noch Leben in ihm war. Vorsichtig tastete sie nach seiner Hand. Dann senkte sie den Kopf und ließ ihren Tränen freien Lauf.

Sie wußte nicht, wie lange sie so gesessen hatte. Längst war die Nachtschweter von der Kollegin für den Tagesdienst abgelöst worden. Kathrin lehnte das Angebot für ein Frühstück dankend ab. Keinen Bissen hätte sie herunterbekommen, angesichts des geliebten Mannes, der auf Leben und Tod lag.

»Wann wird er aufwachen?« fragte sie angstvoll, als Schwester Lisa wieder einmal nach ihr schaute, eine resolute Frau, ein paar Jahre älter als Kathrin Breithammer.

Die Krankenschwester überprüfte Puls und Blutdruck bei dem Patienten und schloß eine neue Flasche an den Tropf an.

»Es ist soweit alles in Ordnung«, sagte sie. »Es kann nicht mehr lange dauern. Aber es ist nur gut, wenn Herr Ruland schläft. Da kann er am besten wieder zu Kräften kommen.«

Sie schaute die junge Frau an.

»Wollen S’ wirklich net etwas essen und trinken?«

Kathrin zuckte die Schulter.

»Ich weiß net, ob ich überhaupt etwas herunterbekommen würd’.«

»Ach was«, schüttelte Lisa den Kopf. »Sie müssen bei Kräften bleiben. Was nützt es Ihrem Verlobten, wenn er aufwacht, und Sie ohnmächtig sind? Kommen S’ mit. Wir gehen ins Schwesternzimmer. Und wenn S’ nur einen Bissen essen, das ist immer noch besser als gar nichts.«

Kathrin ließ es geschehen, daß die Schwester sie mit sich nahm. Und wirklich verspürte sie plötzlich einen Heißhunger. Dankbar aß sie das Brötchen. Der heiße Kaffee weckte ihre Lebensgeister, und sogar ein Lächeln umspielte ihre Lippen, als Schwester Lisa einen Scherz machte.

»Danke«, sagte das junge Madel, als es fertig war. »Sie hatten recht. Es wurde höchste Zeit, daß ich etwas zu essen bekam.«

»Dann laufen S’ mal schnell«, rief eine andere Schwester von der Tür her. »Ihr Verlobter ist eben aufgewacht.«

»Ist das wirklich wahr?«

Kathrin lief zum Krankenzimmer hinüber. Beinahe scheu öffnete sie die Tür. Christian lag in seinem Bett und sah sie erwartungsvoll an. Er lächelte, als er sie erkannte.

»Ich würd’ dich gern’ in die Arme nehmen«, sagte er, »ich fürchte nur, das wird ein bissel schwierig.«

Er hob den Arm, an dem die ganzen Schläuche befestigt waren.

Die junge Frau schaute ihn an. Tränen rannen über ihr Gesicht. Christian zog sie mit der freien Hand zu sich herunter.

»Die Schwester hat erzählt, daß du die ganze Nacht an meinem Bett gesessen bist. Danke, du wunderbare Frau.«

Vorsichtig küßte sie seinen Mund.

»Ich hatte solche Angst«, gestand sie.

Mit kurzen Worten schilderte sie, was nach dem Schuß auf den Förster weiter geschehen war.

»Dann hat dein Vater mir also das Leben gerettet«, sagte Christian. »Ich glaub’, daß er net so schlecht ist, wie über ihn gesagt wird. Aber das Gerede wird sowieso aufhören, wenn ihr erstmal im Forsthaus wohnt.«

Kathrin sah ihn ungläubig an.

»Wir – im Forsthaus?«

»Freilich. Wenn du meine Frau bist, wirst du wohl zu mir ziehen. Oder soll ich etwa mit in der Hütte wohnen?«

Er lachte, verzog aber schmerzhaft das Gesicht.

»Nicht jetzt«, sagte Kathrin und legte ihren Finger auf seine Lippen. »Zum Lachen haben wir noch unser ganzes Leben.«

Dann küßte sie ihn liebevoll.

*

Sebastian saß in der Kirche und schaute nachdenklich auf das Kreuz über dem Altar. Er hatte ein Dankgebet gesprochen, denn seit gestern war Christian Ruland wieder im Forsthaus. Das Drama um den neuen Förster hatte ein glückliches Ende gefunden.

Beinahe, jedenfalls. Trotz aller Bemühungen war es der Polizei noch nicht gelungen, den Wilderer und Todesschützen dingfest zu machen.

»Die Nachforschung hat ergeben, daß es mehr als siebenhundert Kombis gibt«, hatte Max Trenker seinem Bruder erklärt. »Da braucht’s fast eine Sonderkommission, um die Halter alle zu überprüfen.«

Der Geistliche war froh und dankbar, daß Christian Ruland wieder genesen war, aber genauso sehr bedauerte er, daß der Mann noch nicht gefaßt werden konnte. Er war sicher, daß der Täter früher oder später wieder zuschlagen würde – war erst einmal Gras über die Geschichte gewachsen.

Aber das eröffnete auch eine neue Chance, dem Kerl endgültig das Handwerk zu legen. Der Schuß auf den jungen Förster hatte für einiges Aufsehen in St. Johann gesorgt. Die Dörfler waren sich einig, daß der Täter bestraft werden müsse. Und sie würden mithelfen, wenn es darum ging, ihn zu stellen. Vielleicht war es nur noch eine Frage der Zeit, bis man ihn gefunden hatte.

Dieses Zeichen von Solidarität freute Sebastian natürlich, und er war ungeheuer stolz auf seine Gemeinde. Er konnte sich gar nicht vorstellen, jemals woanders zu sein. St. Johann war seine Heimat, die er liebte, so wie die Menschen, die hier wohnten.

Der Geistliche stand auf und ging ins Pfarrhaus hinüber. Dort warteten schon Wanderkleidung und Rucksack auf ihn, damit er seinem Spitznamen gerecht wurde…

Der Bergpfarrer Paket 1 – Heimatroman

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