Читать книгу Der Bergpfarrer Paket 1 – Heimatroman - Toni Waidacher - Страница 24

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Der letzte Ton der Mondschein-Sonate verklang. Thomas Burger verharrte einen winzigen Moment, um dann mit einem strahlenden Lächeln aufzustehen und den Applaus des Publikums, das bis zum Schluß andächtig gelauscht hatte, entgegenzunehmen. Dankend nahm er den Blumenstrauß in Empfang, den eine Verehrerin ihm auf die Bühne hinaufreichte. Der junge Konzertpianist verbeugte sich und bezog mit einer Handbewegung die Mitglieder des Symphonieorchesters ein, das ihn begleitet hatte.

Dieser Konzertabend war der glanzvolle Abschluß einer Tournee, die den Künstler durch mehrere Städte Europas geführt hatte.

Noch zweimal holte der tosende Beifall Thomas auf die Bühne zurück, bevor er endlich, müde und erschöpft, Frack und Fliege ablegen konnte. Alberto Moreno, Thomas’ Agent, reichte ihm ein Glas Champagner.

»Du warst, wie immer, großartig«, sagte der Italiener. »In allen Kulturbeilagen der Tageszeitungen werden sie von dir berichten. Du bist auf dem Höhepunkt deiner Karriere. Jedes Konzerthaus reißt sich um dich. Ich habe Anfragen aus New York, Chicago und Rio. Du kannst jede Gage verlangen.«

»Im Moment verlange ich nur meine Ruhe«, entgegnete der Dreißigjährige. »Für die nächste Zeit will ich keinen Konzertsaal mehr sehen. Die Tournee war anstrengend, und ich möchte nur noch Urlaub haben.«

»Natürlich«, gab Alberto mit einem Nicken zurück. »Das kann ich verstehen. Aber, wir dürfen auch nicht zuviel Zeit bis zum nächsten Engagement verstreichen lassen. Jetzt wollen die Leute dich spielen hören.«

Thomas legte ihm den Arm auf die Schulter. Alberto Moreno hätte sein Vater sein können, und so ähnlich war auch die Freundschaft, die die beiden Männer verband. Der junge Pianist wußte, was er dem »alten Hasen« im Musikgeschäft verdankte.

»Du kannst mir noch soviel Zucker aufs Brot streuen«, lachte er. »Überreden wirst’ mich net.«

»Mama mia! Hör’, um Himmels willen, mit diesem fürchterlichen Dialekt auf.«

Alberto verdrehte die Augen.

»Du redest ja wie ein Bauer.«

»Was glaubst’ denn wohl«, erwiderte Thomas. »Ich komm ja aus einer Bauernfamilie. Mei’ Großvater war einer, der Vater ebenso, und mei’ Bruder hat den Hof übernommen. Bauer sein, ist ein ehrenwerter Beruf.«

»Das bestreite ich ja gar nicht. Aber du bist keiner. Du bist einer der berühmtesten Konzertpianisten der Welt, und mir stellen sich die Haare auf, wenn ich dich so sprechen höre.«

»Na ja«, meinte der Pianist und schielte anzüglich auf den schmalen Haarkranz, der sich um den sonst kahlen Schädel seines Agenten zog, »soviel gibt’s ja net, was sich da aufstellen könnt’.«

»Du bist und bleibst ein frecher, großer Junge«, schimpfte der Ältere. »Los, zieh’ dich um. Die anderen warten schon. Das Orchester gibt einen Abschiedsempfang für dich. Außerdem habe ich großen Hunger.«

»Okay, ich beeile mich.«

»Wo wirst du deinen Urlaub verbringen?« fragte Alberto, als sie auf dem Weg in den Saal waren, in dem der Empfang stattfand.

Thomas Burger atmete tief ein.

»In der schönen Welt der bayerischen Alpen«, antwortete er. »Ich fahre nach Sankt Johann.«

»Sankt was…?«

Thomas knuffte den anderen freundschaftlich, der natürlich wußte, daß der junge Pianist aus dem Alpendörfchen stammte.

»Tu’ net so«, sagte er. »Du hast mich genau verstanden, net wahr. Also, unterlass’ deine Anspielungen auf meinen Heimatort. Sonst könnt’s sein, daß i’ mir einen and’ren Agenten such’.«

Alberto zog ein Gesicht.

»Mach’, was du willst«, erwiderte er und rang verzweifelt die Hände. »Aber tu’ mir einen Gefallen und red’ deutsch mit mir!«

*

Andrea Hofer lag mit verträumten Augen auf dem Liegestuhl, der auf der Wiese hinter dem Bauernhaus stand. Das dunkelhaarige Madel hatte Kopfhörer aufgesetzt, die mit einem tragbaren CD-Player verbunden waren, der neben ihr lag. Hingerissen lauschte sie dem Klavierspiel. Dabei stellte sie sich vor, wie sie in der ersten Reihe des Konzertsaales saß, und oben, auf der Bühne, stand ein großer schwarzer Flügel, mit einem schmalen Hocker davor, auf dem er Platz genommen hatte.

Ganz deutlich konnte sie sein Gesicht sehen. Die dunkelblonden Haare mit der Tolle, die ihm immer wieder ins Gesicht fiel, die rauchblauen Augen und der lächelnde Mund.

Genauso hatte er sie angesehen, damals, als er von ihr Abschied nahm. Zwölf Jahre war es jetzt her. Thomas war achtzehn gewesen und Andrea siebzehn. In Tränen aufgelöst, hatte sie dem Zug nachgeschaut, der ihn nach München ins Konservatorium brachte. Zuerst waren noch regelmäßig Briefe gekommen, in denen der angehende Pianist von der Ausbildung und seinen Fortschritten berichtete. Doch mit der Zeit wurden sie immer spärlicher, reduzierten sich, von drei Briefen im Monat, erst auf zwei, dann auf einen, und irgendwann blieben sie schließlich ganz aus.

Lange Zeit hörte Andrea gar nichts mehr von ihm, dabei hatten sie sich doch ewige Liebe geschworen. Dann, eines Tages, bekam das Madel zufällig eine Zeitschrift in die Hände, in der ein Artikel über Thomas Burger stand, der ein gefeiertes Debüt als Pianist gegeben hatte.

Andrea schnitt den Artikel aus und legte ihn in eine Mappe. Im Laufe der Zeit sammelte sie alles, was über Thomas zu lesen war – Konzertberichte, Kritiken, Preise und Auszeichnungen, die das junge Talent einheimste. Und tat es auch weh, nur noch aus Zeitungsausschnitten etwas über den Geliebten zu hören und zu wissen, daß er sie wohl längst vergessen hatte – Andrea wurde nicht müde, diese Ausschnitte zu sammeln und akribisch zu ordnen. Mit den Jahren wurde so ein dicker Ordner daraus, der in ihrem Zimmer, in einem Regal über dem Bett, stand. So manchen Abend hatte sie die Sammlung zur Hand genommen und darin geblättert, während sie der Musik lauschte. Seiner Musik, versteht sich, die sie sich von ihrem Erspartem gekauft hatte.

Ja, zuerst hatte es sehr weh getan. Doch inzwischen überwog der Stolz. Andrea freute sich über jeden seiner Erfolge, und vielleicht würde er ja irgendwann, eines schönen Tages zurückkommen…

»Na, träumst schon wieder?« wurde das junge Madel unsanft in die Wirklichkeit zurückgeholt.

Ihre Mutter stand neben dem Liegestuhl und hatte ihr die Kopfhörer heruntergezogen. Walburga Hofer war eine resolute Mittvierzigerin, die uneingeschränkt über den Berghof regierte. Selbst Anton, ihr Mann, kuschte vor der drallen Bäuerin, die einst, in jungen Jahren, als Magd auf den Hof gekommen war.

»Nun schaust aber, daß du die Bohnen pflückst«, sagte sie zu ihrer Tochter. »Anschließend holst die Eier aus dem Hühnerhof. Morgen kommt der Franz Hochanger mit seiner Mutter zum Kaffee. Da kannst gleich nachher noch einen Napfkuchen backen.«

»Ja, Mutter«, antwortete Andrea gehorsam und sprang auf. »Aber den Kuchen für den Franz, den versalz’ ich.«

Sie wußte nur zu gut, was dieser Bursch zu bedeuten hatte – während die beiden Mütter sich bei Kaffee und Kuchen unterhielten, scharwenzelte Franz um Andrea herum und versuchte, sie zum Tanzabend in den Löwen einzuladen. Seit zwei Jahren umwarb er sie jetzt schon, doch das junge Madel hatte jeden seiner Anträge standhaft abgewiesen.

»Ich weiß gar net, was du willst«, schimpfte die Mutter. »Beim Hochanger hättest’ dein geregeltes Auskommen, und der Franz ist doch ein fescher Bursche. Seine Eltern würden sich sofort aufs Altenteil zurückziehen, wenn du ihn endlich heiraten tät’st. Bist ja schließlich auch net mehr die Jüngste!«

Burgl Hofer schüttelte den Kopf. Sie verstand das Madel wirklich nicht.

»Ach geh, Mutter, wann ich heirat’, das bestimm’ ich selbst und auch wen«, gab die Tochter zurück und machte sich daran, die Sachen um den Liegestuhl wegzuräumen.

Ihre Mutter sah ihr hinterher, und ein leises Lächeln glitt um ihren Mund. Diesen Dickkopf, dachte sie nicht ohne Stolz, den hat sie von mir.

*

Sebastian Trenker wanderte am Rande der Landstraße entlang, als neben ihm ein Auto mit Münchener Kennzeichen anhielt. Der Pfarrer von St. Johann kam von einer Wanderung auf die Korber-Alm und hatte auf dem Rückweg einen Besuch auf dem Pachnerhof gemacht.

Es war eine dunkle Limousine, die am Straßenrand hielt. Die Fahrertür wurde geöffnet und ein junger Mann stieg aus.

»Grüß’ Gott, Hochwürden, wollen S’ ein Stück mitfahren?« fragte er.

Sebastian riß erstaunt die Augen auf, als er erkannte, wer da neben ihm gehalten hatte.

»Seh’ ich richtig, Thomas? Bist du’s wirklich?«

»Wie ich leib und lebe«, antwortete der junge Pianist lachend.

Die beiden Männer schüttelten sich die Hände.

»Ich kann’s noch immer net glauben«, sagte der Geistliche, als er neben Thomas Burger in dessen Auto saß. »Wie lang’ bist’ net mehr zu Haus gewesen?«

»Zwölf Jahr’ werden’s jetzt. Ich wär’ ja schon längst gekommen, aber mir fehlte die Zeit. Wissen S’, die vielen Verpflichtungen, die Verträge und Auftritte.«

Sebastian sah ihn von der Seite an.

»Bist ja ein berühmter Mann geworden«, meinte er. »Aber, mir gefällt, daß du immer noch so redest, wie wir hier es tun.«

»Lassen S’ das bloß net meinen Agenten hören«, schmunzelte Thomas. »Dem stehen seine paar Haare zu Berge, wenn er mich so sprechen hört.«

Er deutete auf die Berge, Almwiesen und Tannenspitzen.

»Wenn ich auch in vielen Ländern der Welt gespielt hab’, das hier, das hab’ ich wirklich vermißt«, sagte er. »Mag sein, daß ich berühmt bin, aber verändert hat es mich net. Ich bin der geblieben, der ich war, als ich damals fortging. Und was den Ruhm angeht, da sind S’ ja net ganz unbeteiligt.«

Jetzt war es der Seelsorger, der schmunzelte. Da hatte Thomas wirklich recht, mit dem, was er sagte. Schließlich war er es gewesen, der das Talent des jungen Bauernsohnes erkannt und gefördert hatte. Schon mit dreizehn Jahren durfte Thomas auf der Orgel in Sankt Johann üben, wenn keine Messe war. Im Gegensatz zu seinem Bruder Wenzel, der musikalisch eher unbegabt war, schien Thomas ein angeborenes Gefühl für Melodien und Noten zu haben. Leicht glitten seine Finger über die Tasten, während das Te Deum wie ein Orkan durch das Kirchenschiff hallte.

Sebastian Trenker, der vom Talent des Jungen überzeugt war, nahm Kontakt zu Professor Meyerbrink auf, einem anerkannten Lehrer am Münchener Konservatorium. Der Professor kam und ließ Thomas vorspielen. Natürlich war sein Spiel noch nicht so perfekt wie heute, doch der Musikus erkannte, welch ein musikalisches Genie in dem Buben schlummerte, und bot ihm an, später, nach dem Abitur, bei ihm Unterricht zu nehmen.

Wenzel, der den väterlichen Hof übernommen hatte, zahlte dem Bruder dessen Erbteil aus, wodurch die Ausbildung in der Musikschule finanziell abgesichert war.

»Ich freu’ mich, daß ich dir damals den Anstoß dazu geben durfte«, wehrte der Pfarrer Trenker ab. »Alles andere ist ganz alleine deinem Können zu verdanken.«

Sie waren bei der Kirche angekommen. Der Geistliche bedankte sich für das Mitnehmen. Normalerweise wäre er die paar Kilometer zu Fuß gegangen, aber unter diesen besonderen Umständen war das natürlich etwas anderes.

»Ich wünsch’ dir einen schönen Urlaub«, sagte er zum Abschied. »Bestimmt freuen sich der Wenzel und die Sonja über deinen Besuch.«

»Die wissen’s noch gar net«, lachte Thomas Burger. »Die werden vielleicht Augen machen. Und ganz gespannt bin ich auf die Zwillinge. Ich kenn’ sie ja nur von Bildern.«

»Dann richte deinem Bruder und seiner Familie meine Grüße aus. Vielleicht hast’ ja mal ein bissel Zeit und besuchst mich in der Kirche, du weißt schon – wegen der Orgel.«

»Ich hätt’ schon noch gefragt, ob ich d’rauf spielen darf«, versicherte der Konzertpianist.

»Also, bis bald einmal.«

Sebastian winkte dem Davonfahrenden nach. Er freute sich über dieses unerwartete Wiedersehen und darauf, Thomas in der Kirche spielen zu hören.

*

Der Burgerhof lag wie an den Berg geschmiedet. An die zweihundert Jahre war er alt und hatte Generationen von Bergbauern hervorgebracht. Thomas hatte angehalten und war ausgestiegen. Sein Herz klopfte schneller, als er den väterlichen Hof nach all den Jahren wiedersah. Einiges hatte sich verändert, wie Wenzel es ihm mitgeteilt hatte. Thomas war zwar lange Zeit nicht hier gewesen, aber den Kontakt zu seinem Bruder hatte er, trotz aller Verpflichtungen, nie abreißen lassen. Wenigstens einige Male im Jahr hatte er sich telefonisch gemeldet. Jetzt freute er sich unbändig darauf, Wenzel und Sonja wiederzusehen. Und natürlich Phillip und Ann-Kathrin, von denen er nur die Stimmen kannte.

Als er durch die Hofeinfahrt fuhr, konnte er es sich nicht verkneifen, so lange zu hupen, bis die geschnitzte, bunte Tür des Bauernhauses aufgerissen wurde. Thomas erkannte sofort seinen Bruder, der in Hemdsärmeln und Hosenträgern herausstürmte.

»Ja, Herrschaftszeiten nochamol! Bist ganz narrisch geworden?« rief Wenzel Burger. »Du bringst mir ja die ganzen Küh’ durcheinander mit deinem Gehupe!«

Thomas hupte lachend noch einmal und fuhr Wenzel bis vor die Füße. Da die Abendsonne genau auf die Windschutzscheibe der Limousine fiel, konnte der Bauer nicht erkennen, wer hinter dem Steuer saß.

»Ja, was bist du denn für ein Hirsch, ein damischer?« schrie er und ruderte mit den Armen. »Jetzt fährt der Kerl mich doch glatt über den Haufen!«

»Der damische Hirsch bist du«, gab Thomas laut zurück, während er aus dem Wagen stieg. »Erkennst ja net mal deinen eigenen Bruder.«

»Thomas!«

Wenzel brüllte so laut, daß seine Frau angsterfüllt aus der Tür schaute. Die Zwillinge hatten sich hinter ihrem Schürzenzipfel verborgen. Erst als sie ihren Schwager erkannte, kam Sonja Burger lachend aus dem Haus gelaufen. Wenzel, der zuerst überhaupt nicht begriff, wie ihm geschah, wurde von Thomas herumgeschwenkt.

»Gell, da staunt ihr, was?« sagte der Jüngere, nachdem er den älteren Bruder und dessen Frau herzlich begrüßt hatte.

Die beiden schüttelten immer wieder die Köpfe. Sie konnten es kaum glauben.

»Phillip, Ann-Kathrin, kommt her, der Onkel Thomas ist gekommen«, rief Sonja ihren beiden Kindern zu, die argwöhnisch in der Tür stehengeblieben waren.

Die Zwillinge, sie waren fünf Jahre alt, kamen herausgelaufen. Natürlich erinnerten sie sich an den Onkel, der am Telefon immer so lustig war, und im Fernsehen hatten sie ihn auch schon gesehen. Allerdings hatte ihnen die Musik, die er da machte, weniger gefallen. Sie sangen lieber leidenschaftlich die Kinderlieder, die die Mama ihnen beibrachte. Ihre anfängliche Scheu legten sie aber schnell ab und hingen bald an dem Onkel wie zwei Kletten.

»Mensch, ist das eine Freude«, sagte Wenzel und schlug seinem Bruder begeistert auf den Rücken. »Sag’, wie lang’ kannst bleiben?«

»Ich hab’ mir vorgenommen, drei Wochen Urlaub zu machen«, erwiderte Thomas. »Und so lang’ möcht’ ich schon bei euch bleiben, wenn ihr noch ein Bett frei habt.«

»Du bekommst dein altes Zimmer«, erklärte Sonja. »Phillip, der jetzt darin schläft, quartieren wir so lang’ bei seiner Schwester mit ein.«

»Aber jetzt komm’ erstmal ’rein«, sagte Wenzel. »Du hast doch bestimmt Hunger, von der Fahrt. Und außerdem sind wir gespannt, net immer nur am Telefon zu erfahren, wie’s dir in den Jahren ergangen ist, die du nun fort bist.«

Er schob den jüngeren Bruder ins Haus. Nach und nach kamen die Knechte und Mägde zum Abendbrot hinzu. Thomas brachte zuerst sein Gepäck in das Zimmer, das er bis zu seinem Weggang bewohnt hatte. Es war wie eine Rückkehr in die eigene Vergangenheit, als er es betrat. Als erstes stellte er das gerahmte Foto der verstorbenen Eltern auf das Nachtkästchen. Die Aufnahme war bei der Silberhochzeitsfeier von Theresa und Valentin Hofer, damals vor fünfzehn Jahren, gemacht worden, und begleitete Thomas als wertvollstes Andenken auf allen seinen Reisen. Einen Moment setzte er sich auf sein altes Bett und schaute nachdenklich vor sich hin. Viele Bilder stiegen wieder in ihm auf, und so manches, was er längst vergessen geglaubt hatte, kehrte in sein Bewußtsein zurück.

Ganz besonders ein Gesicht war es, das er plötzlich sah – das anmutige Gesicht der großen Liebe seiner Jugendzeit. Andrea Hofer…

Wie lange war es jetzt her, daß sie sich geschrieben hatten? Schon bald nachdem er sein Studium auf dem Konservatorium aufgenommen hatte, merkte Thomas, wie wenig Zeit ihm für private Dinge blieb. Die Kurse waren anstrengend und verlangten seine ganze Aufmerksamkeit. Irgendwann fand er keine Gelegenheit mehr, Andreas Briefe zu beantworten, die schließlich auch ausblieben.

Mit einem Schmunzeln stand Thomas auf, als Sonja ihn zum Abendessen rief. Wahrscheinlich hatte seine Jugendliebe ihn inzwischen genauso vergessen, wie er sie. Bestimmt war Andrea längst verheiratet und hatte ein Kind, oder auch zwei.

Auf jeden Fall würde er sich freuen, wenn sie sich zufällig wiedersahen – und ihre Küsse, erinnerte er sich wieder, waren es wert, nicht vergessen zu werden.

*

Franz Hochanger gab sich wirklich alle Mühe, Andrea Hofer zu gefallen. Sogar einen Blumenstrauß hatte er mitgebracht, als er am Nachmittag, zusammen mit seiner Mutter, zum Kaffeetrinken auf den Bauernhof gekommen war. Anton Hofer, Andreas Vater, hatte sich schnell wieder verabschiedet, nachdem er die Gäste begrüßt hatte. Da waren noch zwei Wiesen abzumähen, und dann das Holz aus dem Bruch zu holen. Genug Arbeit für ihn, seinen Sohn und den Altknecht.

Burgl Hofer und Waltraud Hochanger hatten schnell ein Gesprächsthema gefunden, mit dem sie sich für den Rest des Nachmittags beschäftigten, während das junge Madel gelangweilt dem lauschte, was Franz zu sagen hatte.

»Ich würd’ mich wirklich freuen, wenn’s mit zum Tanz kämest«, meinte er hoffnungsvoll, nachdem er den Napfkuchen gelobt hatte.

»Den Kuchen hat die Mutter gebacken, nachdem ich gedroht hatte, ihn zu versalzen«, gab Andrea unumwunden zu. »Und du brauchst dir gar keine Mühe geben, ich geh’ net tanzen.«

Der junge Bauer schaute sie enttäuscht an.

»Schad’«, sagte er. »Es wär’ bestimmt a große Gaudi geworden.«

Andrea sprang auf.

»Siehst, und das ist genau das, was ich net will, eine Gaudi«, rief sie. »Ich will bloß mei’ Ruh’ haben.«

Der Kaffeetisch war auf der Wiese hinter dem Haus gedeckt worden. Andrea ging durch den Gemüsegarten und setzte sich unter den großen Birnbaum. Franz sah ratlos zu den beiden Frauen am Tisch.

»Nur zu«, munterte Burgl Hofer ihn auf. »So schnell darfst’ die Flinte net ins Korn werfen.«

»Recht hat sie«, nickte seine Mutter. »Nur net lockerlassen.«

Franz Hochanger machte eher ein skeptisches Gesicht, als er dem Madel folgte. Andrea, die beinahe schon damit gerechnet hatte, sah ihn mürrisch an.

»Willst’ mich net verstehen, oder kannst’ es net?« fragte sie. »Ich hab’ doch gesagt, daß ich mei’ Ruh’ will.«

»Geh’ Andrea, was hast denn gegen mich?« stellte der junge Bursche eine Gegenfrage. »Schau, ich mag dich, und ich könnt’ dir schon einiges bieten. Die Eltern würden sich sofort aufs Altenteil zurückziehen, wenn du mich heiraten tätest. Du wär’st die Bäuerin und hättest das Sagen. Den Hof hier erbt doch sowieso der Lukas, und ob ein anderer dir einen größeren bieten kann, wage ich zu bezweifeln.«

Andrea Hofer war aufgesprungen und schaute ihn aus blitzenden Augen an. Dabei hatte sie die Hände in die Hüfte gestemmt.

»Franz Hochanger, was macht dich eigentlich so sicher, daß ich darauf wart’, daß mir jemand einen Bauernhof schenkt?« fragte sie empört. »Ich pfeife auf deinen und jeden anderen Hof. Lieber bleib’ ich hier, als Magd meines Bruders, als daß ich einen heirate, den ich net lieb’!«

»Was willst du denn? Wartest vielleicht auf einen Traumprinzen auf einem weißen Roß?« gab er ärgerlich zurück.

Wut und Enttäuschung war auf seinem Gesicht abzulesen. Andrea erschrak. So weit hatte sie es gar nicht kommen lassen wollen, aber dies war Franz’ wiederholter Antrag gewesen. Er hatte sie schon so oft gefragt, daß das Madel gar nicht mehr mitzählte. Da war ihr ganz einfach der Kragen geplatzt. Aber jetzt tat er ihr beinahe leid.

Geh’ doch mit ihm tanzen, sagte eine innere Stimme zu ihr. Was ist denn schon dabei?

»Also, wenn du noch magst, dann geh’ ich halt heut’ abend mit in den Löwen«, sagte sie in einem versöhnlichen Ton.

»Wirklich?« strahlte er. »Mensch, Madel, ich kann dir gar net sagen, wie ich mich freu’.«

Die beiden Mütter zwinkerten ihm verschwörerisch zu, als Franz und Andrea zurückkamen. An seinem Gesicht konnten sie erkennen, daß die Angelegenheit eine gute Wendung genommen hatte.

Das Gesicht des Madels konnten sie hingegen nicht sehen, denn Andrea hatte sich abgewendet. Schon nach wenigen Minuten stand sie wieder auf und verabschiedete sich.

»Ich muß noch ein bissel was vorbereiten, für heut’ abend«, sagte sie.

»Ich hol’ dich pünktlich um halb acht ab«, freute Franz sich.

*

»Ihr werdet net glauben, wen ich heut’ nachmittag getroffen habe«, sagte Sebastian Trenker zu Sophie Tappert und seinem Bruder beim Abendessen.

Die Haushälterin schnitt gerade von dem selbstgebackenen Brot ab, während Max Trenker schon ungeduldig zu ihr hinüberschielte. Wie immer hatte der »Gendarm von St. Johann« großen Appetit. Was allerdings auch kein Wunder war – gab es doch Sophies allseits beliebten Wurstsalat, für den sie Fleischwurst, saure Gurken, Tomaten und Zwiebeln kleingeschnitten hatte. Das alles wurde zusammengemischt und in einer Marinade aus Essig und Öl geschwenkt. Nachdem sie mit Salz und Pfeffer abgeschmeckt hatte, streute die Haushälterin frische Schnittlauchröllchen darüber. Weil sie genau wußte, wie begehrt ihr Salat war, hatte Sophie Tappert gleich die doppelte Menge gemacht.

Außerdem stand ein gut gereifter Bergkäse auf dem Tisch, den Pfarrer Trenker immer von einer seiner Wanderungen mitbrachte.

»Mach’s net so spannend«, forderte Max seinen Bruder auf.

»Den Thomas Burger«, sagte der Geistliche.

Die Haushälterin und der Polizeibeamte machten erstaunte Gesichter.

»Doch net der berühmte Klavierspieler?« fragte Max.

Sebastian schaute ihn tadelnd an.

»Konzertpianist, Max, net einfach ›Klavierspieler‹«, erwiderte er. »Ja, er verbringt seinen Urlaub in der Heimat.«

Er lehnte sich auf seinem Platz auf der Eckbank zurück.

»Ich seh’ ihn noch vor mir, wie er als Bub drüben in der Kirch’ gespielt hat«, meinte er nachdenklich. »Und dann, als er Sankt Johann vor zwölf Jahren verlassen hat. Ein junger Bursch’ war er damals noch und heut’ ist er ein gestandener Mann.«

»Da haben wir ja eine richtige Berühmtheit unter uns«, sagte Max, während er sich eine ganz große Portion von dem Salat nahm und die Haushälterin ansah. »Schmeckt köstlich, Frau Tappert.«

Sophie nickte, schien aber mit den Gedanken ganz woanders zu sein.

»Nanu, so nachdenklich«, wandte der Pfarrer sich an seine Haushälterin.

Sie lächelte.

»Ich hab’ grad an die Eltern vom Thomas und Wenzel denken müssen«, antwortete sie. »Leider haben s’ ja net mehr erleben dürfen, wie berühmt ihr jüngster Sohn geworden ist. Die Res’l wär’ bestimmt sehr stolz auf ihn gewesen.«

Der Geistliche nickte stumm. Er wußte, daß Thomas’ Mutter und Sophie sich seit der Kinderzeit gekannt hatten. All die Jahre waren die beiden Frauen befreundet gewesen.

Nach dem Abendessen – Pfarrer Trenker hatte sich in das Pfarrbüro zurückgezogen, und Max machte sich für den samstäglichen Tanzabend fein – saß Sophie Tappert in ihrer kleinen Wohnung im oberen Stock des Pfarrhauses und lauschte den Klängen des Klavierkonzerts Nr. 1, von Peter Tschaikowsky. Es war eine Aufnahme des Münchener Rundfunksymphonieorchesters, und der Solist war Thomas Burger. Eine seiner ersten Schallplattenaufnahmen. Sophie hatte sie sich damals gekauft. Sie gedachte der verstorbenen Freundin und war stolz, daß Thomas es so weit gebracht hatte.

*

Der Tanzabend im Saal des Hotels »Zum Löwen«, war immer gut besucht. Sepp Reisinger, der Wirt, konnte beinahe im Schlaf dahersagen, wie viele Maß Bier getrunken wurden. Aber auch im Restaurant herrschte Hochbetrieb. Sepps Frau, Irma, war eine hervorragende Köchin, deren Kunst sich weit über die Grenzen des Dorfes herumgesprochen hatte.

War das Hotel auch die erste Adresse in St. Johann, so wußte das Wirtsehepaar doch genau, was es an den Einheimischen hatte. Daher machten sie auch keinen Unterschied und freuten sich jedes Wochenend aufs neue.

Der Festsaal faßte an die dreihundert Leute, wurde aber meistens abgeteilt, damit er nicht so riesig wirkte. Auf einer Bühne hatten die Musiker ihren Platz, während unten die Tische so gestellt waren, daß die Mitte zum Tanzen frei blieb. Fünf Saaltöchter hatten alle Hände voll zu tun, um die Gäste zufriedenzustellen.

Andrea und Franz saßen, zusammen mit anderen, an einem Tisch im hinteren Bereich. Das Madel hatte sich ausbedungen, nicht so nahe bei der Musik sitzen zu müssen. Als die beiden den Saal betraten, hatten sich alle Augen auf sie gerichtet. Es war ja bekannt, daß der Hochanger-Franz die junge Frau umwarb. Bisher vergeblich, doch nun schien Andrea nicht mehr abgeneigt zu sein, Bäuerin auf dem Hof zu werden.

Nach dem zweiten Glas Wein fand das Madel sogar Gefallen am Tanzen und lehnte es nicht ab, als auch andere junge Burschen sie aufforderten. Sie merkte, wie sehr sie sich sonst abkapselte. Sie sollte viel öfter am Wochenende herkommen.

Zweimal ließ Franz sie sich vor der Nase wegschnappen, doch dann war er schneller und führte sie auf das Parkett. Als sie wieder an den Tisch zurückkamen, hatte sich ein neuer Gast eingefunden. Max Trenker ließ sich keine Gaudi entgehen. Immer zu einem Spaß aufgelegt, war der junge Polizist gern gesehener Gast auf Festen und Feiern.

»Grüßt euch, miteinand«, sagte er zu Andrea und Franz.

Der Bauer schüttelte dem Beamten die Hand und lud ihn auf eine Maß ein.

»Dank’schön, Hochanger. Da sag’ ich net nein«, nickte der Bruder des Seelsorgers von St. Johann.

Er schaute in die Runde.

»Ist ja ganz schön was los«, meinte er. »Da hört’s der Sepp wieder in der Kasse klingeln.«

Das Bier kam schneller, als erwartet.

»Prost«, sagte Franz und stemmte seinen Krug.

Max tat es ihm nach.

»Aahh, das tut gut!«

Er wischte sich den Schaum von den Lippen und sah die anderen Gäste am Tisch verschwörerisch an.

»Habt ihr schon gehört, wer wieder nach Haus gekommen ist?« fragte er. »Ich wett’, ihr kommt net d’rauf.«

Die anderen schüttelten die Köpfe.

»Der Burger-Thomas ist wieder da. Der Bruder vom Wenzel, der berühmte Konzertpianist. Das ist kein Witz. Der Sebastian hat ihn am Nachmittag auf der Landstraße getroffen, als er vom Pachnerhof zurückkam.«

»Was, der Thomas ist wieder da?« riefen sie durcheinander. »Ich glaub’s net! Der Burger ist zurück…«

Andrea Hofer hatte sich zum Nachbartisch umgedreht, an dem eine alte Bekannte saß und daher nur mit halbem Ohr zugehört, was der Polizist da erzählte. Als sie den Namen ein zweites Mal vernahm, ruckte sie herum. Heiß und kalt lief es ihr den Rücken hinunter, als sie Max, der neben ihr saß, am Arm packte.

»Ist das wirklich wahr?« fragte sie aufgeregt.

Die anderen Gäste am Tisch bemerkten ihre Erregung. Einige von ihnen wußten, daß sie und Thomas ein Paar gewesen waren. Wissende Blicke huschten zwischen ihnen hin und her, während Franz nicht wußte, was er von Andreas Aufregung halten sollte.

»Ist Thomas wirklich zurückgekommen?« fragte das Madel den Beamten noch einmal.

»Ja, wenn ich’s doch sage«, gab Max Trenker zurück. »Bis zur Kirche hat er meinen Bruder mitgenommen…«

Die letzten Worte hatte Andrea schon nicht mehr mitbekommen. Sie nahm ihre Handtasche von der Stuhllehne und lief aus dem Saal. Franz Hochanger blieb verdutzt zurück.

»Andrea…«, rief er.

Doch da war das Madel schon aus der Tür.

Franz sah die anderen verständnislos an.

»Was hat sie denn?« fragte er, schob seinen Stuhl zurück und lief ihr hinterher.

*

Als sie draußen die kühle Abendluft spürte, kam Andrea wieder zur Besinnung. Schwer atmend stand sie an der Ecke des Hotels, neben dem Parkplatz. Ihr Herz hämmerte wild in der Brust, und die Gedanken überschlugen sich in ihrem Kopf.

Er war zurück. Thomas war wieder in der Heimat.

Andrea versuchte, ihre Aufregung zu unterdrücken, doch es wollte ihr nicht gelingen. Zwölf lange Jahre! Zwölf Jahre voller Hoffnungen und Enttäuschungen – und nun war es wahr geworden, was sie in all der Zeit so heiß ersehnt hatte.

Der Mann, den sie von ganzem Herzen liebte, hatte zurückgefunden.

Die junge Frau faltete die Hände. Bleib ruhig, ermahnte sie sich. Du mußt ganz ruhig bleiben! Bestimmt wird er mich gleich morgen besuchen.

Ganz deutlich sah sie wieder sein Gesicht, und sie hätte die ganze Welt umarmen mögen.

Eine Stimme riß sie aus ihren Gedanken. Franz Hochanger stand auf der Straße und rief nach ihr. Schließlich entdeckte er Andrea an der Hauswand.

»Madel, was ist denn los?« fragte er, als er bei ihr stand. »Warum läufst denn einfach weg, ohne ein Wort?«

Sie sah ihn nur schweigend an.

»Bring’ mich bitte nach Hause«, sagte sie schließlich, ohne auf seine Frage einzugehen.

»Schon? Der Abend hat doch erst angefangen.«

Er war sichtlich enttäuscht, fügte sich aber ihrem Wunsch. Die Heimfahrt verlief schweigsam, vor dem Hof hielt Franz an.

»Willst mir net sagen, was du hast?« bat er.

Andrea schaute ihn nachdenklich an. Eigentlich ist er ja ein ganz lieber Kerl, dachte sie. Er hat nur Pech, daß er sich in die Falsche verguckt hat. Ich kann doch nix dafür, daß ich einen anderen liebe. Aber, vielleicht sollte ich es ihm sagen. Erstens hat er ein Recht darauf, und zweitens hab’ ich dann meine Ruhe vor ihm.

»Franz’l, du bist ein wirklich netter Bursche, und ich weiß, daß du mich gern’ hast«, sagte sie schließlich. »Aber aus uns beiden kann nie was werden.«

Er machte ein betretenes Gesicht.

»Aber, warum denn net?« fragte er. »Ich würd’ doch alles für dich tun!«

»Ich weiß, Franz, aber, das ist net genug.«

»Net genug?« fuhr er auf. »Wenn ich dir alles schenk’, was ich besitze?«

Andrea schaute mitleidig.

»Nein, Franz, weil ich auch dann net deine Frau werden könnt’. Mein Herz gehört längst schon einem anderen.«

Damit stieg sie aus und ließ ihn in seinem Wagen sitzen. Franz Hochanger war wie betäubt. Na klar, das war’s, warum sie so hartnäckig seine Anträge abgelehnt hatte. Und nun wurde ihm auch klar, wer der Mann war, gegen den er keine Chance hatte.

Seit Max Trenker von Thomas Burger erzählt hatte, war Andrea wie ausgewechselt gewesen. Dabei hatte der Abend so schön begonnen, und Franz hatte sich sogar der kühnen Hoffnung hingegeben, heute den ersten Kuß von dem geliebten Madel zu bekommen.

Thomas also!

Franz kannte ihn noch gut. Sie waren zusammen zur Schule gegangen. Freunde waren sie nie gewesen, Feinde aber auch nicht. Sie gingen eben in eine Klasse, mehr nicht. Später war er fortgegangen. Wer konnte da ahnen, daß er ein Madel zurückgelassen hatte, das ihn immer noch liebte.

Wütend startete der junge Bauer den Motor und fuhr so schnell an, daß der Sand unter den Reifen des Wagens wegspritzte.

Wart, Bursche, dachte er grimmig. So schnell geb ich net auf! Er wußte noch nicht wie, aber irgend etwas würde er sich schon einfallen lassen, um den anderen auszustechen.

Was dem wohl einfiel, nach all den Jahren herzukommen und einem das Madel wegzunehmen? Da hatte er die Rechnung aber ohne den Franz Hochanger gemacht! Und was die Andrea anging – bildete sie sich wirklich ein, der berühmte Musiker wäre gekommen, um sie heimzuführen?

Franz lachte höhnisch auf, aber in dieses Lachen mischten sich Wut und Eifersucht, Trauer und Tränen.

*

Für die Burgers wurde es ein ungewöhnlich langer Abend. Bis tief in die Nacht saß Thomas mit seinem Bruder und der Schwägerin zusammen. So unendlich viel war da, was sie zu bereden hatten.

Ein Jahr, bevor Thomas St. Johann verlassen hatte, war Sonja Kirchleitner auf den Hof gekommen, als Wenzels Braut. Sie erinnerten sich noch gut an die Hochzeitsfeier, und an Thomas’ großen Auftritt in der Kirche, wo er, seinem Bruder und Sonja zu Ehren, auf der Orgel spielte.

Dann bestand er das Abitur und packte seine Koffer. Thomas äußerte, was er schon zu Pfarrer Trenker gesagt hatte, daß ihm keine Zeit geblieben war, um wieder einmal die Heimat zu besuchen. Wenn ihm wirklich ein paar kurze Atempausen blieben, dann nutzte er sie, um sich in seinem Haus auszuruh’n, daß er vor ein paar Jahren in der Nähe von München gekauft hatte.

»Wißt ihr, es ist überall auf der Welt schön«, resümierte er. »Aber hierher zurückzukommen, das ist einfach unbeschreiblich.«

»Magst’ net ganz wieder zu uns kommen?« fragte sein Bruder.

Thomas wiegte den Kopf.

»Net in absehbarer Zeit«, antwortete er. »Im nächsten Monat stehen neue Aufnahmen im Studio an, und in einem halben Jahr geht’s auf eine neue Tournee durch Skandinavien. Allein in Schweden sind vierzehn Konzerte geplant. Ihr seht also, für die nächste Zeit bin ich mit Arbeit eingedeckt. Dafür sorgt schon mein Agent.«

Sie saßen in dem gemütlichen Wohnzimmer, in dem schon Generationen von Burgers gesessen hatten. Auf dem Tisch standen Wein und Gläser, ein paar Käsehappen, die Sonja zu später Stunde noch hergerichtet hatte und lagen etliche Fotoalben, in denen sie blätterten. Thomas lehnte sich in seinem Sessel zurück.

»Aber, wer weiß, was die Zukunft noch bringt«, sagte er. »Eines Tages könnt’ ich mir schon vorstellen, in Sankt Johann zu leben. Ich hab’ zwar mein Haus, aber bestimmt würd’ sich hier auch was finden.«

Sonja schaute auf die Uhr und unterdrückte ein Gähnen. Schon nach ein Uhr nachts!

»Also, ich muß ins Bett«, stellte sie fest. »Dem Wecker ist’s egal, ob Sonntag ist, und den Viechern sowieso. Die wollen pünktlich um fünf ihr Futter haben.«

Sie wünschte eine gute Nacht und ließ die beiden Brüder im Wohnzimmer sitzen. Der Pianist erkundigte sich, wie es sonst so in all den Jahren auf dem Hof ergangen war. Zwar hatte er ja immer wieder mit seinem Bruder telefoniert, dennoch gab es vielleicht das eine oder andere, das sich am Telefon schlecht bereden ließ.

Zu seiner Freude hatte Wenzel jedoch keinen Grund zu klagen. Der Hof stand erfreulich gut da, war ein gesundes Unternehmen, das seinen Mann nährte, was ja in der heutigen Zeit net immer leicht war, wo so mancher Landwirtschaftsbetrieb einging. Doch auf dem Burgerhof konnte man zufrieden sein.

»Es ist net immer leicht, aber man ist sein eigener Herr«, meinte der Bauer schließlich.

»Das ist die Hauptsache«, sagte sein Bruder. »Daß ihr glücklich seid!«

»Und wie schaut’s bei dir aus?« wollte Wenzel Burger wissen. »Bist’ noch net auf dem Weg in die Ehe?«

Thomas schmunzelte. Natürlich hatte es ihm nie an Verehrerinnen gemangelt. Aber seine vielen Verpflichtungen ließen ihm keine Zeit für eine ernsthafte Verbindung.

Wenzel blätterte in einem der Alben. Immer wieder schüttelte er den Kopf.

»Wo ist es denn bloß«, murmelte er. »Es muß doch hier sein!«

»Was suchst’ denn?« fragte Thomas.

Sein Bruder grinste verschmitzt und zog ein Foto hervor.

»Das hier«, antwortete er und legte das Bild auf den Tisch. »Erinnerst dich noch?«

Thomas nahm es hoch und lächelte. Die Aufnahme zeigte ihn und Andrea Hofer. Merkwürdig, seit langer Zeit hatte er heute wieder einmal an sie gedacht, und jetzt wurde er auch noch mit diesem Foto konfrontiert.

»Aber natürlich erinnere ich mich«, antwortete er. »Andrea war doch meine ganz große Liebe. Was macht sie denn so? Ist sie verheiratet, hat sie vielleicht sogar auch schon Kinder?«

Wenzel schüttelte den Kopf.

»Weder noch. Sie lebt immer noch zu Haus’, bei den Eltern.«

»Was?« entfuhr es Thomas. »Aber sie ist doch nur ein Jahr jünger als ich. Findet sie denn keinen Mann?«

»Also, Heiratskandidaten hat’s schon gegeben«, erwiderte der ältere der Burgerbrüder. »Aber die Andrea hat nie einen gewollt. Jetzt macht ihr der Franz Hochanger den Hof, heißt es. Aber der bemüht sich auch schon seit Jahr und Tag vergeblich um sie. Dabei könnt’ sie’s wirklich gut haben bei ihm. Die Altbäuerin würd’ sich schon gern’ zur Ruh’ setzen und einer Jüngeren das Zepter überlassen.«

Er sah seinen Bruder nachdenklich an.

»Wer weiß«, meinte er. »Vielleicht wartet sie ja immer noch auf dich…«

»Ach geh’«, wehrte Thomas ab. »Weißt du, wie lang’ das jetzt her ist? Ich hab’ schon mindestens zehn Jahr’ nix mehr von ihr gehört oder gesehen.«

Er winkte ab und trank den letzten Schluck aus seinem Weinglas. Unsinn, was der Wenzel da sagte, dachte er.

»So, ich geh’ jetzt auch schlafen«, sagte er und stand auf. »Morgen, nein, heut’ früh’ um fünf, steh’ ich zusammen mit dir im Stall.«

Wenzel lachte laut auf.

»Hahaha, das möcht’ ich sehen«, lachte er. »Du weißt ja net einmal mehr, wie man eine Forke hält.«

»Das werd’ ich dir schon zeigen«, versprach der Jüngere. »So fix wie du, bin ich schon lang’!«

*

Wenzel Burger war wirklich sprachlos, als Thomas am frühen Morgen im Stall auftauchte. Arbeitshemd und Hose hatte er sich von Sonja geben lassen, ebenso ein Paar Gummistiefel. Die Sachen waren zwar zu groß, aber die Ärmel und Hosenbeine wurden einfach umgekrempelt. Als Thomas sich dann eine Forke schnappte und loslegte, kannte auch sein Bruder kein Halten mehr.

»Mal seh’n, wer zuerst fertig ist«, sagte er.

Einer übernahm die linke Seite, der andere die rechte. Auf beiden Seiten standen jeweils vierzig Milchkühe. Die beiden Brüder schaufelten den Mist heraus, und füllten neues Stroh hinein. Dabei wollte jeder den anderen übertreffen. Als der Bruder nicht hinsah, warf Thomas eine Forke voll Mist auf Wenzels Seite, der rächte sich und packte den Übeltäter. Er war größer und stärker als der Pianist. Ehe Thomas sich versah, hatte Wenzel ihn auf die Karre mit dem Mist gesetzt und war damit auf dem Weg nach draußen. Dabei hatte er ein Tempo drauf, als gelte es einen Rekord zu schlagen. Thomas hielt sich mit beiden Händen fest und schrie aus Leibeskräften, während Sonja auf dem Hof stand und den Kopf schüttelte.

Mannsbilder wollten das sein? Kindsköpfe waren sie – alle beide!

Kurz vor dem großen Mistberg stoppte Wenzel und ließ seinen Bruder absteigen. Lachend fielen sie sich in die Arme.

»Vor dem Frühstück wird aber geduscht!« rief die resolute Bäuerin. »So, wie ihr zwei stinkt, kommt ihr mir net in die Küch’.«

»Geb’ zu, ich war genauso schnell wie du«, forderte der Jüngere seinen Bruder auf.

»Respekt«, nickte der Bauer. »Ich hätt’ net gedacht, daß man vom Klavierspielen solche Muskeln bekommt…«

Thomas schaute ihn nichtverstehend an. Muskeln? Wieso…?

»… in den Fingern«, vollendete Wenzel lachend und gab Fersengeld, weil sein Bruder mit einem lauten Indianergeheul auf ihn losging.

Später saßen sie beim Frühstück, friedlich vereint, rund um den Tisch in der Küche. Drei Knechte und zwei Mägde gehörten zum Haushalte auf dem Burgerhof. Anni, die älteste der beiden Frauen, war schon seit einer halben Ewigkeit als Magd angestellt. Seit jeher war sie fürs Buttern und Brotbacken zuständig. Thomas hatte schon gestern beim Abendessen von ihrem Rosinenbrot geschwärmt, das man so nirgendwo bekommen konnte. Natürlich stand es heute früh auf dem Tisch. Dazu ein großes Glas herbsüßes Quittengelee.

»Gehst nachher mit zum Gottesdienst?« fragte Sonja ihren Schwager.

Thomas, der zwischen Phillip und Ann-Kathrin saß, nickte.

»Freilich geh’ ich mit«, antwortete er. »Mal sehen, ob ich noch ein paar von den Leuten wiedererkenn’.«

*

Die Kirche war bis auf die letzte Bank besetzt. Pfarrer Trenker schaute zufrieden auf seine Gemeinde. Er entdeckte Thomas Burger in der Reihe, in der die Familie seit Jahren ihre Plätze hatte, ging aber in seiner Predigt mit keiner Silbe darauf ein.

Es hatte ohnehin viel Aufregung um den jungen Musiker gegeben. Thomas meinte, nie zuvor in seinem Leben so viele Hände geschüttelt zu haben, und er wunderte sich, daß er tatsächlich viele wiedererkannte, mit denen er früher oft zu tun gehabt hatte, seien es Schulkameraden oder Nachbarn gewesen. Sie alle waren ziemlich stolz darauf, daß solch ein berühmter Künstler nicht nur unter ihnen weilte, ganz besonders auch, daß er aus ihrer Mitte stammte.

Neugierig, was wohl aus Andrea geworden sei, hatte er immer wieder Ausschau nach ihr gehalten. Doch vergeblich, von der einstigen Freundin war nichts zu sehen. Dabei hatte Sonja versichert, daß Andrea Hofer keine Sonntagsmesse versäumte.

Nach der Kirche folgte der obligatorische Gang ins Wirtshaus. Während Sonja mit den Zwillingen nach Hause fuhr, nahm Wenzel am sonntäglichen Stammtisch teil. Thomas hingegen winkte ab.

»Sei net bös’«, sagte er zu seinem Bruder. »Ich möcht’ mich hier und in der Umgebung ein bissel umschau’n.«

Zielstrebig schlenderte er durch das Dorf, schaute hier und da, erkannte Altes wieder und machte Veränderungen aus. Es hatte sich schon einiges getan in den zehn Jahren seiner Abwesenheit. Doch die Veränderungen waren meist positiv, wie er feststellen konnte.

Langsam führte ihn sein Weg aus St. Johann hinaus, über weite Wiesen, an Felder vorbei. Allmählich ging es bergan, erst nur eine leichte Steigung, dann immer steiler. Schließlich stand er auf einer Almwiese und blickte hinunter ins Tal, wo das Dorf lag. Ohne es wirklich zu merken, hatte Thomas Burger den Weg zum Höllenbruch genommen, einem Bergwald, unterhalb der Hohen Riest. Hier hatten sie als Buben oft herumgetobt, oder Beeren und Pilze gesammelt. Und später, als das Herumtoben nicht mehr so interessant gewesen war, da war der Höllenbruch oftmals Zeuge erster, scheuer Küsse gewesen.

Thomas vermochte nicht mehr zu sagen, wie oft er hier mit Andrea entlang spaziert war. Versonnen setzte er sich auf einen Felsbrocken am Wegesrand und ließ in Gedanken die alte Zeit wieder auferstehen.

Früher hatte er gelacht, wenn die Erwachsenen den Kindern sagten, sie würden sich später einmal nach ihrer Kindheit zurücksehnen. Nun, er sehnte sich nicht unbedingt danach zurück, aber schön war sie doch gewesen, diese Zeit.

*

Andrea Hofer lief im Wohnzimmer unruhig auf und ab. Sie war alleine auf dem Burgerhof, ihre Eltern, der Bruder Lukas und die Knechte und Mägde waren unten im Dorf zum Kirchgang. Obwohl sie kaum einen Gottesdienst versäumte, hatte Andrea heute eine Ausrede gebraucht, um nicht mitgehen zu müssen.

Bestimmt würde er auch in der Kirche sein, und genau das wollte das Madel nicht – den so lange Entbehrten vor aller Augen begrüßen zu müssen.

Sie machte sich seit der letzten Nacht Gedanken, wie sie ihm überhaupt gegenübertreten sollte, wenn es denn soweit war. Seit sie von Thomas’ Rückkehr gehört hatte, war ihr ganzes Leben durcheinander geraten. So stark wie nie zuvor, spürte sie, daß sie ihn immer noch liebte.

Und wie würde es bei ihm sein? Andrea gab sich keinen Illusionen hin. Zehn Jahre waren eine lange Zeit, und Thomas war ein Mann, der sich nicht verstecken mußte. Bestimmt gab es mehr, als nur eine Verehrerin. Nein, sie glaubte nicht, daß er sie noch liebte. Sie wäre schon froh, wenn er sich überhaupt an sie erinnerte.

Seit der letzten Nacht stiegen auch immer wieder die Erinnerungen an die Zeit auf, die sie zusammen verbracht hatten. Sie sah sich wieder, zusammen mit ihm, durch den Höllenbruch spazieren, oder die Hohe Riest hinaufwandern.

Wie lange war sie schon nicht mehr dort gewesen!

Einer plötzlichen Eingebung folgend, nahm Andrea ihre Jacke vom Haken und schlüpfte in ihre festen Schuhe. Was konnte sie besseres tun, als an solch einem Tag voll von Erinnerungen, die Stätte ihrer Jugend wieder aufzusuchen, an der sie so glücklich gewesen war?

Eilig lief sie aus dem Haus. Die Sonntagsmesse war seit einer halben Stunde beendet, und schon bald würden die anderen aus der Kirche zurück sein. Andrea wollte es vermeiden, ihrer Mutter dann langatmige Erklärungen abgeben zu müssen.

Sie wanderte den Pfad hinterm Hof entlang, lief dann über die Weide, auf der die Kühe grasten und erreichte den Rand des Bergwaldes. Zu Hause würde man sie wahrscheinlich suchen und nach ihr rufen, doch hier vermutete sie bestimmt niemand.

Sie schmunzelte. Es war beinahe so wie früher, wenn sie sich heimlich fortstahl, um Thomas zu treffen, anstatt irgendwelche Arbeiten zu erledigen, die die Mutter ihr aufgetragen hatte. Ihr war es dann stets gelungen, den gutmütigen Bruder zu überreden, diese Aufgaben zu übernehmen.

Langsam schlenderte sie weiter, die Anhöhe hinauf, von wo man einen weiten Blick über das Tal hatte. Unten lag St. Johann in der sonntäglichen Mittagsruhe, und von drüben winkten die weißen Spitzen des Zwillingsgipfels, die Wintermaid und der Himmelsspitz. Andrea erinnerte sich, oft mit Thomas hiergewesen zu sein. Zuletzt am Tag vor seiner Abreise. Sie blieb einen Moment stehen. Ewige Liebe hatten sie sich geschworen, und bittere Tränen hatte sie vergossen, als sie, in der Kreisstadt, auf dem Bahnsteig stand und dem Zug hinterherwinkte, der ihn nach München brachte.

Andrea ließ ihren Blick schweifen, schaute vom Tal hinüber zu den schneebedeckten Gipfeln und wieder zurück, hinauf zur Almwiese, von wo aus ein Weg auf die Jenner- und die Korber-Alm führte.

Und dann glaubte sie für einen Moment, ihr Herzschlag setzte aus. Mit weit aufgerissenen Augen starrte das Madel auf die Gestalt, die da, etwas oberhalb von ihr, auf einem Felsbrocken saß und vor sich hinträumte.

Noch einmal schaute sie. Nein, es war kein Irrtum – dort saß niemand anderer als Thomas Burger!

Ihr Herz hämmerte vor Aufregung in der Brust. Sie spürte den Schlag bis zum Hals hinauf, als sie emporstieg. Beinahe hastig zuerst, dann bremste sie ihren Schritt.

War es wirklich Zufall, daß er jetzt hier saß? Oder hatte er die selben Empfindungen wie sie verspürt? Noch hatte Thomas sie nicht bemerkt. Erst als sie wenige Schritte von ihm entfernt stehenblieb, sah er auf.

»Hallo, Thomas«, sagte sie mit bebender Stimme. »Pfüat di’.«

Seine Miene erhellte sich, als er sie erkannte. Der junge Pianist stand auf und eilte ihr entgegen.

»Andrea. Das ist aber eine Überraschung, grüß’ dich.«

»Ich hoff’, keine unangenehme…«

Er hielt sie an beiden Händen.

»Ach geh’. Was redest denn daher?«

Thomas drehte sie hin und her.

»Laß dich anschau’n, Madel. Gut schaust aus. Ich hab’ schon befürchtet, du sei’st krank. In der Kirch’ hab’ ich dich nämlich net gesehen.«

»Heut’ morgen ging’s net ganz so gut«, wich sie aus. »Jetzt ist’s schon wieder besser.«

»Himmel freu’ ich mich, dich wiederzusehen. Hast’ ein bissel Zeit? Es gibt doch soviel zu bereden, nach all den Jahren.«

Plötzlich stutzte er.

»Oder hast am Ende gar eine Verabredung hier oben?« fragte er.

Andrea schmunzelte und schüttelte den Kopf.

»Du meinst, weil wir hier früher…? Nein, ich hab’ keine Verabredung.«

»Na, da bin ich aber froh. Ich möcht’ nämlich net mit einem eifersüchtigen Bräutigam aneinandergeraten.«

»Da kann ich dich beruhigen. Es gibt keinen Bräutigam. Net einmal einen Freund.«

Etwas in ihrer Stimme ließ ihn aufhorchen. Hatte er etwas Falsches gesagt?

»Ich wollt’ dich net kränken«, sagte er entschuldigend. »Es ist nur weil… ich hab’ gehört, daß der Hochanger-Franz…«

»Ach der.«

Andrea machte eine wegwerfende Handbewegung und hakte sich bei ihm ein.

»Was der sich einbildet. Komm, wir gehen ein Stückerl spazieren. So wie früher.«

*

Sie hatten so viel zu bereden. Mit tausend Fragen stürmte Andrea auf ihn ein. Und immer unausgesprochen dabei: die einzig entscheidende Frage überhaupt – ob er sie auch immer noch liebe…

Von der Seite her schaute sie ihn verstohlen an. Gut sah er aus, äußerlich kaum verändert, abgesehen davon, daß er natürlich älter geworden war, irgendwie reifer und männlicher.

Fasziniert lauschte sie seinen Worten, als er berichtete, wie es ihm in all den Jahren ergangen war, als er von seinem Studium erzählte, der mit Glanz bestandenen Abschlußprüfung und den ersten Erfolgen als Solist. Dabei immer gefördert von seinem Lehrer und Mentor, Professor Meyerbrink. Der war es auch, der den Kontakt zu Alberto Moreno geknüpft hatte, der schon einige namhafte Künstler aus dem Bereich der klassischen Musik unter Vertrag hatte. Der Italiener, ein alter Hase in dem Geschäft, mit Musik im Blut, nahm den jungen Absolventen des Münchener Konservatoriums unter seine Fittiche, und von da an war es mit Thomas’ Karriere steil vorangegangen.

Erste Aufnahmen wurden gemacht und es folgten erste Gastauftritte als Solist bei bekannten symphonischen Orchestern.

»Ja, und nun hab’ ich es endlich einmal geschafft, in die Heimat zurückzukehren«, schloß Thomas seinen Bericht.

Er schaute sie strahlend an.

»Und gleich bei meinem ersten Ausflug treff’ ich dich.«

»Ja, es ist schon ein seltsamer Zufall«, antwortete sie mit belegter Stimme.

Thomas schien dieses leises Vibrieren in ihrem Tonfall aber nicht zu bemerken.

»Aber, nun erzähl du doch mal, wie es dir in den Jahren ergangen ist«, forderte er sie auf.

Andrea hob die Schulter und ließ sie wieder fallen. Was sollte sie schon groß erzählen? Daß sie tagaus, tagein ihre Arbeit auf dem elterlichen Hof verrichtete? Daß sie es geschafft hatte, mit der Zeit alle unliebsamen Verehrer zu vergraulen? Bis auf einen natürlich, Franz Hochanger, der sich als hartnäckiger erwies, als sie geglaubt hatte.

Oder sollte sie ihm gar erzählen, daß sie ihn immer noch liebte, daß sie all die Jahre nur auf ihn gewartet hatte?

Andrea Hofer war kein kleines Madel mehr, das sich Tagträumen von Märchenprinzen auf weißen Rössern hingab. Im nächsten Sommer würde sie ihren dreißigsten Geburtstag feiern, und wäre Thomas Burger gestern nicht zurückgekommen, dann hätte sie vielleicht sogar Franz’ Werben nachgegeben. Schließlich wurde sie ja nicht jünger!

Doch von alledem sagte sie nichts.

»Was soll ich da groß erzählen?« meinte sie, wobei sie sich bemühte, möglichst unbekümmert zu klingen. »Das Leben ist, wie es ist. Ich mach’ meine Arbeit…«

Thomas schaute sie ungläubig an.

»Ja aber, Madel, das kann doch net alles sein«, sagte er fassungslos. »Das Leben besteht doch net nur aus Arbeit. Gibt’s denn, außer dem Franz Hochanger, keinen anderen Mann, der sich für dich interessiert? Gut, den Franz willst net, aber ich kann net glauben, daß unter all den Burschen hier, keiner ist, der dir gefällt. Ich hab’ geglaubt, du wärst längst verheiratet.«

So war es also, dachte sie bitter, er hat geglaubt, daß ich längst verheiratet bin. Tränen stiegen in ihr hoch, und Andrea wollte sie verstohlen abwischen, doch Thomas sah die Handbewegung und verstand, daß er etwas Unüberlegtes gesagt hatte. Er griff nach Andrea und hielt ihre Hand fest.

»Verzeih’, das war dumm von mir«, bat er. »Willst mir net erzählen…?«

»Doch, Thomas, das will ich«, sagte sie plötzlich und erschrak dabei über ihre eigenen Worte. »Es gibt keinen anderen Mann für mich, weil ich nur einen einzigen lieben kann. Ich wart’ seit zehn Jahren darauf, daß er zurückkehrt und sein Versprechen einlöst, das er mir damals gab, als er nach München ging, um zu studieren. Ich wart’ darauf, daß er zurückkommt und mir sagt, daß er mich immer noch so liebt, wie ich ihn liebe. Deshalb stürze ich mich in die Arbeit, und deshalb gibt es keinen anderen Mann für mich.«

Thomas machte ein bestürztes Gesicht.

»Aber, Andrea, ich hatte ja keine Ahnung, daß du…«

Er war stehen geblieben und hatte sie zu sich herangezogen. Mit dem Finger wischte er eine Träne aus ihrem Auge, und dann näherten sich seine Lippen langsam ihrem Mund. Andrea zitterte, als sie zum ersten Mal, seit so vielen Jahren, wieder einen Kuß empfing.

»Wenn ich doch nur geahnt hätt’, was du immer noch für mich empfindest«, sagte er. »Verzeih’ mir, ich bin ein Esel!«

Andrea legte ihren Finger auf seinen Mund.

»Da gibt’s nix zu verzeihen«, flüsterte sie. »Die Hauptsach’ ist doch, daß du endlich da bist.«

Sie küßte ihn, wilder und leidenschaftlicher, als jemals zuvor. Thomas hielt sie eng an sich gepreßt, als wolle er sie nie wieder loslassen. Endlich gab sie ihn frei. Ihre Augen schienen ihn zu durchdringen, als sie ihm die entscheidende Frage stellte.

»Und du?« wollte sie wissen. »Gibt es eine Frau in deinem Leben? Bist gar verheiratet?«

Der junge Pianist schüttelte den Kopf.

»Es gab schon ein paar, die es gern gesehen hätten, die Frau an meiner Seite zu werden«, erklärte er. »Aber – ich hab’ nie so recht gewollt.«

Andrea schaute ihn erwartungsvoll an. Thomas erwiderte ihren Blick.

»Ich glaub’, heut’ weiß ich, warum.«

*

Als die Glocke von Sankt Johann aus dem Tal heraufklang, schrak Andrea Hofer zusammen. Ein Uhr, zu Hause warteten sie mit dem Mittagessen.

»Du lieber Himmel, ich muß heim«, sagte sie und löste sich aus Thomas’ Armen.

»Komm’, ich bring dich.«

Hand in Hand liefen sie hinunter. Dabei jauchzten und lachten sie wie glückliche Kinder. Und genau so fühlten sie sich auch – zurückversetzt in eine herrliche Zeit. Vor dem Feld, das an den Hof grenzte, verabschiedeten sie sich.

»Sehen wir uns heut’ abend?« fragte Thomas hoffnungsvoll.

»Aber natürlich«, antwortete Andrea glücklich. »Wann immer, und so oft du willst.«

Er schaute ihr hinterher, bis sie über das Feld gegangen und im Hof verschwunden war. Dann machte er sich nachdenklich auf den Heimweg.

Natürlich hatte er damit gerechnet, irgendwann während seines Aufenthalts in St. Johann, Andrea wiederzusehen. Daß es so schnell dazu kam, war dann doch überraschend gewesen.

Noch überraschender aber war das Geständnis, das sie ihm gemacht hatte. Nie im Leben würde er geglaubt haben, daß das Madel ihm immer noch die Treue gehalten hätte, und beinahe schämte er sich ein wenig dafür, daß er so lange nichts hatte von sich hören lassen. Es gab schon eine Entschuldigung dafür, immerhin waren diese Jahre entscheidend für sein ganzes weiteres Leben gewesen, dennoch verspürte er ein Schuldgefühl gegenüber Andrea. Damals hatten sie sich ewig Liebe geschworen, und sie hatte diesen Schwur wirklich niemals gebrochen. Er hingegen hatte irgendwann einfach nicht mehr daran gedacht.

Ebenso war er überrascht, daß seine eigenen Gefühle ihr gegenüber dieselben geblieben waren wie früher. Es war, als hätte er sie die ganze Zeit über tief in sich verborgen getragen. Erst heute, bei diesem Wiedersehen, tauchten sie wieder auf.

In Gedanken verglich er das Madel mit den anderen Frauen, die sein Leben gekreuzt hatten. Viele waren darunter, bei denen ein Mann schwach werden konnte, doch Thomas war nie dieser Schwäche erlegen, nie hatte er die entscheidende Frage gestellt – ob die Frau bereit gewesen wäre, ihn zu heiraten. Wahrscheinlich hätte keine von ihnen mit nein geantwortet.

Aber alle diese eleganten und attraktiven Frauen erblaßten vor dem Bild, daß sich ihm vor kurzer Zeit geboten hatte, als Andrea ihm gegenüberstand. Wollte er es in einem Wort zusammenfassen, dann kam ihm wirklich nur schön in den Sinn.

Sie sah einfach nur schön aus, in dem Sonntagsdirndl, mit ihren offenen Haaren und den leuchtenden Augen.

Thomas Burger stieß einen lauten Jauchzer aus, der seine ganze Freude und sein Glück zum Ausdruck brachte.

»Wo bleibst’ denn?« fragte Wenzel, als er endlich in das Wohnzimmer trat.

Alle anderen saßen um den Tisch in der Eßecke, wo am Sonntag immer gegessen wurde.

»Entschuldigt, bitte, ich hab’ jemanden getroffen und ganz die Zeit vergessen«, sagte er, während er sich setzte.

»Net so schlimm«, meinte Sonja mit Blick auf ihren Mann. »Der Wenzel ist auch g’rad erst aus dem Wirtshaus zurück.«

Thomas’ Bruder duckte sich unter dem Blick aus den funkelnden Augen seiner Frau.

Die beiden Mägde trugen das Essen auf. Zur Feier des Tages gab es das Leibgericht des Heimgekehrten.

»Kalbsgulasch mit Semmelknödeln!« rief Thomas begeistert aus. »Und Rotkraut dazu.«

»Hat die Anni extra für dich gekocht«, machte Sonja ihn aufmerksam.

Der junge Pianist beugte sich zu der Magd hinüber, die zwei Plätze neben ihm saß.

»Anni, du bist ein Schatz. Dafür spiel’ ich dir nachher etwas auf der Zither vor.«

»Bloß net«, wehrte Wenzel ab. »Das hat sich früher schon grauslich angehört. Bestimmt wird’s net besser g’worden sein.«

Für diese freche Bemerkung erntete er einen finsteren Blick seines Bruders.

»Jetzt erst recht«, versprach Thomas. »Ich geb’ den Zwillingen gleich nachher Unterricht im Zitherspielen. Während du deinen Mittagsschlaf hältst.«

Phillip und Ann-Kathrin jauchzten vor Begeisterung, während ihr Vater das Gesicht verzog.

»Dann schlaf’ ich eben im Heu«, meinte er.

»So, wie du’s immer tust, wenn’s zu lang’ im Wirtshaus gesessen hast«, warf Sonja ein.

»Sag’ mal, wer war es eigentlich, den du getroffen hast?« fragte Wenzel Burger, mehr um von seinen Wirtshauseskapaden abzulenken, als aus Neugierde.

Thomas nahm sich noch einmal von dem saftigen Gulasch, bevor er antwortete.

»Eine liebe, alte Bekannte«, sagte er und schmunzelte dabei.

»Ach, darum«, meinte Wenzel.

Sein Bruder sah ihn fragend an.

»Warum, darum?«

»Darum schaust so glücklich aus«, sagte er. »Ich kann mir schon denken, wer die liebe, alte Bekannte ist.«

Er schaute in die Runde.

»Ich glaub’, mein kleiner Bruder ist verliebt«, gab er bekannt.

Thomas spürte, wie er rot wurde, als die anderen ihn mit schmunzelnden Blicken bedachten.

Wart, du Hirsch, dachte er. Das zahl’ ich dir heim!

*

Franz Hochanger schob mit einer unwirschen Handbewegung seinen Teller beiseite. Seine Mutter sah ihn forschend an.

»Was ist denn, Bub, hast keinen Appetit?«

»Nein«, lautete die knappe Antwort.

Er stand auf und ging an den kleinen Wandschrank, der neben der Tür hing. Darin waren eine Flasche Enzian und Schnapsgläser. Hastig trank er das erste Glas leer und schenkte sich gleich darauf ein zweites ein. Waltraud Hochanger schüttelte ratlos den Kopf. Seit dem Morgen war ihr Sohn unausstehlich. Kaum daß er den Mund aufbekam, wenn sie ihn nach dem gestrigen Abend befragte. Offenbar mußte der Tanzabend ein einziger Reinfall gewesen sein, und das konnte doch nur mit der Andrea zusammenhängen.

Was wollte dieses Madel bloß? Besser als mit dem Franzl, konnte sie es doch gar net treffen! Oder wollte sie ihr Leben lang als Magd auf dem Hof des Bruders arbeiten?

»Magst noch was vom Pudding?« fragte sie ihren Sohn, in der Hoffnung, ihn vom Enzian abzulenken.

Wenn er dabei blieb, konnte es leicht sein, daß er für den Rest des Tages nicht mehr ansprechebar war.

Ohne zu antworten stellte Franz Hochanger die Flasche zurück und das leere Glas auf den Tisch. Dann verließ er die gute Stube. Seit dem gestrigen Abend sah die Welt für ihn anders aus. Alle Hoffnungen, die er gehegt hatte, waren zerschlagen. Wie hatte er sich auf dieses Tanzvergnügen gefreut! Seit mehr als drei Jahren warb er schon um Andrea Hofer, und gestern hatte sie zum ersten Mal seinem Werben nachgegeben. Franz war sicher gewesen, daß es net mehr lange gedauert hätte, und sie wäre seine Frau geworden.

Wenn nicht dieser Musikus aufgekreuzt wäre und alles zunichte gemacht hätte.

Franz Hochanger schäumte. Den Hals hätte er ihm umdrehen können, wenn er ihn jetzt vor sich gehabt hätte, aber so leicht war er nicht gewillt, aufzugeben. Wart’ nur, Bürschchen, dachte der Bauer, so ohne weiteres kommst net hierher und spannst mir mein Madel aus!

Seit er aufgestanden war, sann Franz darüber nach, wie er den Nebenbuhler ausstechen konnte. Die Nacht war grauenhaft gewesen. Immer wieder sah er Andreas Gesicht, wie sie neben ihm gesessen hatte und ihm sagte, daß sie einen anderen liebe.

Auch wenn sie den Namen des anderen nicht genannt hatte, für Franz stand fest, daß es sich nur um Thomas Burger handeln konnte. Es war ja kein Geheimnis, daß er und Andrea früher einmal befreundet gewesen waren, und die Reaktion des Madels, als sie seinen Namen hörte, war eindeutig gewesen.

Aber das war früher gewesen, vor zehn langen Jahren. Was bildete dieser Kerl sich eigentlich ein, nach so langer Zeit herzukommen und alte Rechte geltend zu machen?

»Aber net mit mir«, sagte Franz Hochanger zu sich und hieb wütend seine Faust in die Hand.

Schon am Morgen in der Kirche hatte er ihn gemustert. Unverschämt gut sah er aus, dieser berühmte Pianist. Franz verstand nichts von klassischer Musik, ihm waren ein Jodler und eine zünftige Polka lieber. Aber er konnte sich schon vorstellen, daß die Frauen auf solch einen Mann, wie Thomas Burger, flogen. Nur dann sollte er sie sich auch, bitt’ schön, in seinen Kreisen suchen. Hier hatte er doch nix mehr verloren. Was verstand denn solch einer überhaupt noch vom einfachen Leben in den Bergen, verwöhnt wie er war, durch den Luxus?

Je mehr er darüber nachdachte, um so mehr steigerte Franz sich in seine Wut hinein. Er wußte noch nicht wie, aber er würde Thomas zur Rede stellen. Er würde ihm klar ins Gesicht sagen, daß er Andrea liebte und vor den Altar führen wolle, und daß hier kein Platz war, für einen wie ihn.

Die Rufe seiner Mutter aus dem Haus überhörte er einfach. Statt dessen setzte er sich in seinen Wagen und machte sich auf den Weg zu seinem Spezi, dem Wachauer-Josef. Der war einer seiner besten Trinkkumpane und würde nicht nur Verständnis für Franz’ Kummer haben, sondern auch einen Trost:

Eine Flasche besten Enzian.

*

Sebastian Trenker und der Mesner von Sankt Johann, Alois Kammeier, räumten in der Sakristei auf, als Thomas Burger die Kirche betrat. Oben an der Orgel saß Anton Hirsinger. Der pensionierte Lehrer übte schon seit Jahren das Amt des Organisten aus. Der volle Klang der zweihundert Jahre alten Orgel brauste durch das leere Kirchenschiff.

Thomas war unter der Empore stehengeblieben und schaute stumm umher. Nichts hatte sich hier verändert. Die Kirche erstrahlte im Glanz der vergoldeten Figuren und Bilderrahmen, den bunten Fenstern und den blauen und roten Farben, die hier vorherrschten.

Langsam schritt er dann durch den Mittelgang, während er der Musik lauschte. Neben dem Eingang zur Sakristei hing ein Bild, das Thomas schon in frühester Jugend angesprochen hatte. Gethsemane, es zeigte den Erlöser im Gebet versunken, am Abend vor der Kreuzigung. Daneben stand, auf einem Podest, eine Madonnenfigur.

Anton Hirsinger beendete sein Spiel, und die plötzlich eintretende Ruhe schuf eine merkwürdige Atmosphäre, die jedoch wieder durch Geräusche aus der Sakristei verändert wurde.

Thomas klopfte an die Tür, die einen Spaltbreit aufstand. Zuvor war er im Pfarrhaus gewesen und hatte nach dem Seelsorger gefragt. Sophie Tappert hatte gesagt, daß der Pfarrer drüben in der Kirche sei.

Die Sakristeitür wurde vollends geöffnet und Sebastian schaute heraus. Er lachte, als er den Besucher erkannte.

»Na, bist ein bissel heimisch geworden?« fragte er.

»Ja. Im Dorf hat sich zwar einiges verändert, aber ich hab’ dennoch alles wiedererkannt.«

Thomas begrüßte den Kammeier-Alois und schaute dann zur Orgel hinauf.

»Darf ich?« fragte er.

»Aber natürlich«, nickte der Geistliche. »Ich glaub, der Hirsinger wird sich auch freuen, dich spielen zu hören. Er müßt’ doch eigentlich noch oben sein.«

»Bestimmt. Er ist ja g’rad erst fertig. Dank’ schön, Hochwürden.«

Thomas ging durch die Seitentür und die kleine Treppe hinauf, über die man zu der Orgel gelangte. Sein alter Schulmeister war gerade dabei, seine Notenzettel zu sortieren und in die richtige Reihenfolge für den nächsten Gottesdienst zu bringen. Er sah auf, als er jemanden die knarrende Treppe heraufkommen hörte.

»Grüß Gott, Herr Hirsinger«, sagte Thomas. »Schön haben S’ gespielt.«

Der Lehrer im Ruhestand wehrte ab.

»Aber, das ist ja gar nix gegen dein Spiel, Thomas«, meinte er und machte gleich darauf ein erschrockenes Gesicht.

»Entschuldigung, ich muß ja jetzt wohl Sie sagen. Schließlich sind S’ ja kein Schulbub mehr.«

Der Pianist hob bittend die Hand.

»Um Himmels willen, nur das net«, bat er. »Sagen S’ bloß weiterhin Thomas zu mir. Das wäre ja noch schöner, wenn mein alter Lehrer mich plötzlich siezte!«

Anton Hirsinger, er stand kurz vor seinem siebzigsten Geburtstag, strahlte, als er das hörte. Er reichte Thomas die Hand.

»Ich hab’ schon heut’ morgen gehört, daß du wieder hier bist«, sagte er. »Aber da saß ich ja hier oben, und später warst du schon fort.«

»Ich hab’ mich ein bissel umgesehen. Nach so langer Zeit ist man neugierig zu erforschen, was es Neues gibt.«

»Und – wie gefällt dir deine alte Heimat? Es hat sich schon einiges getan, net wahr?«

»Ja, aber wie mir scheint, hat es sich zum Positiven entwickelt. Aber, wie geht’s Ihnen selbst? Ich muß sagen, Sie haben sich fast net verändert.«

»Ach, Thomas, danke der Nachfrage. Seit vier Jahren bin ich pensioniert und hab’ seither mehr Zeit für meine Bienen, und gesundheitlich kann ich auch net klagen. Solang’ ich noch die Treppe heraufkomm…«

Er deutete auf die Orgel.

»Du bist doch aber gewiß net hier oben, um dich mit mir über meine Gesundheit zu unterhalten.«

Der junge Mann lachte.

»Spielen würd’ ich schon ganz gern’ einmal wieder.«

Anton Hirsinger rückte den Schemel zurecht.

»Nur zu«, sagte er und trat den Blasebalg. »Nur zu.«

*

Pfarrer Trenker und Alois Kammeier lauschten, als die Toccata von Johann Sebastian Bach erklang. Oben stand Anton Hirsinger neben dem, scheinbar entrückten, jungen Orgelspieler, und machte ein verzücktes Gesicht.

Thomas spielte selbstvergessen, kaum, daß er auf die Noten blickte. Als er geendet hatte, klatschte sein alter Lehrer begeistert in die Hände.

»Wunderbar, Thomas«, sagte er. »Und wenn du mir jetzt noch eine Freude machen willst – dann spiel den Charpentier.«

Der Pianist nickte. Das Te Deum, von Marc-Antoine Charpentier geschrieben, gehörte zu seinen ganz persönlichen Lieblingsstücken. Als er es jetzt wieder anstimmte, da war er wirklich wieder nach Hause zurückgekehrt.

Der Triumphmarsch hallte durch das Kirchenschiff, und Sebastian wurde an die Zeit vor mehr als zehn Jahren erinnert, als der Bub, der Thomas damals war, dieses Werk mit der gleichen Leidenschaft und Eindringlichkeit ertönen ließ, wie heute.

»Mit deinem Spiel hast du uns eine große Freude gemacht«, bedankte er sich, als die beiden Männer nach unten gekommen waren.

Der alte Dorfschullehrer hatte glänzende Augen, als er sich von seinem ehemaligen Schüler verabschiedete.

»Zu meinem siebzigsten wünsch’ ich mir eine Eintrittskarte für ein Konzert von dir«, sagte er. »Bis bald einmal.«

»Eine Sache hätt’ ich noch gern’ mit Ihnen besprochen, Hochwürden«, bat Thomas, nachdem auch der Mesner die Kirche verlassen hatte.

»Aber gern. Setzen wir uns doch gleich her«, deutete der Geistliche auf die Bankreihe, vor der sie standen.

»Ich weiß gar net, wie ich’s anfangen soll«, sagte der Pianist. »Sie wissen vielleicht, daß ich damals, bevor ich fortgegangen bin, sehr eng mit der Andrea Hofer befreundet war.«

Sebastian nickte.

»In all den Jahren hab’ ich nix von mir hören lassen«, fuhr Thomas fort. »Heut’, da treff’ ich sie zufällig wieder, und alles ist wie früher.«

Er erzählte von dem Zusammentreffen und der wieder erflammten Liebe.

»Wissen S’, ich möcht’ das Madel net noch einmal enttäuschen. Zehn Jahr’ hat Andrea darauf gewartet, daß ich zurückkomm’. Alle Burschen, die sich bemühten ihr Herz zu erobern, hat sie enttäuscht, aus Liebe zu mir. Dabei konnte sie doch gar net sicher sein, daß ich überhaupt jemals zurückkehre.«

»Und du?« fragte Sebastian. »Liebst du sie denn auch immer noch?«

»Ja. Das ist ja das Seltsame daran«, erwiderte Thomas. »Es ist, als gäbe es diese Jahre der Trennung nicht. Als hätten wir uns gestern verabschiedet und heut’ schon wieder getroffen.«

Der Geistliche klopfte dem jungen Mann beruhigend auf die Schulter.

»Aber, dann ist doch alles in bester Ordnung«, sagte er.

Thomas wirkte dennoch nachdenklich.

»Oder etwa net?« forschte Sebastian Trenker nach.

»Ich… ich weiß net«, antwortete der Musiker. »Ich hab’ natürlich Verpflichtungen, bin vertraglich gebunden. Kann ich denn der Andrea zumuten, mit mir durch die Welt zu vagabundieren? Sehen S’, Hochwürden, ich hab’ da ein Haus in München. Seit dem Frühling letzten Jahres bin ich genau drei Tag’ dort gewesen. Die andere Zeit hab’ ich in Flugzeugen und Hotels verbracht. Ich fürcht’, daß es für Andrea zuviel wird. Sie kennt doch nix, außer Sankt Johann, und vielleicht noch die Kreisstadt.«

»Ich versteh’ deine Befürchtungen«, sagte der Pfarrer. »Und ich find’ es gut, daß du dir vorher darüber Gedanken machst, und net erst, wenn es zu spät ist. Aber, ich denk’ auch, daß die Andrea eine starke Frau ist. So lange hat sie auf dich gewartet, wobei ihr schon bewußt war, daß du womöglich überhaupt net mehr zurückkommen könntest. Aber ihre Liebe ist so stark, daß sie auch so ein Leben an deiner Seite, sei es noch so aufregend und neu, wird durchstehen können.«

Thomas atmete auf. Die Worte des Geistlichen nahmen ihm seine geheimen Befürchtungen. Er stand auf und reichte Sebastian die Hand.

»Ich dank’ Ihnen recht schön, Hochwürden. Ich glaub’, jetzt trau’ ich mich auch, Andrea zu bitten, meine Frau zu werden.«

Die Miene des Pfarrers erhellte sich.

»Aber geheiratet wird hier in unserer Kirch’, oder?«

»Etwas anderes käme überhaupt net in Frage«, versprach Thomas. »Aber, das müßte in aller Stille vor sich gehen. Ich fürchte nämlich, sonst hätte Sankt Johann lange Zeit keine Ruhe mehr.«

»Die Journalisten, hm? Ich versteh’«, nickte Sebastian. »Da hast du recht. Unser Dorf wäre dann zwar mit einem Schlag in aller Welt bekannt. Aber zu welchem Preis! Sag’ bloß nix dem Bürgermeister von deinen Heiratsplänen. Wer weiß, was der sich dann alles einfallen läßt. Ich hab’ genug damit zu tun, ihm die Flausen aus dem Kopf zu treiben.«

Der Geistliche spielte damit auf die Tatsache an, daß der Bürgermeister von St. Johann, Markus Bruckner, oftmals versuchte, seine hochfliegenden Pläne, im bezug auf den touristischen Ausbau des Ortes, wahr werden zu lassen. Nicht immer waren diese Pläne und Ideen im Einklang mit der Umwelt und Natur. Der Bruckner-Markus hatte den Ehrgeiz, aus Sankt Johann ein zweites St. Moritz zu machen – natürlich mit allen Konsequenzen. Vor gar nicht allzu langer Zeit, war erst der Bau eines Skilifts verhindert worden.

»Ich werd’ mich hüten«, sagte Thomas Burger und sah auf die Uhr. »Himmel, ich muß mich sputen. Die Andrea wartet ja auf mich.«

»Grüß’ sie recht schön. Und komm rechtzeitig vorbei, wegen der Trauung.«

*

Der Wachauer-Josef betrieb auf halbem Wege zwischen Waldeck und St. Johann einen Schrotthandel. Eigentlich hieß er Brandner mit Nachnamen, aber weil er aus der Wachau stammte, dem schönen Donautal im Österreichischen, nannten ihn die Leute halt nur den Wachauer-Josef.

Der Schrottplatz lag abseits der Landstraße. Zu ihm führte nur ein unbefestigter Waldweg, und am Straßenrand zeigte ein altes, verwittertes Schild an, daß es diesen Schrottplatz überhaupt gab.

Franz Hochanger fluchte, als er dem ausgefahrenen Weg folgte. Etliche Male war er schon hier gewesen, und immer wieder fragte er sich, was sein Spezi nur daran fand, in dieser Einöde zu hausen. Aber so oft er auch den Alteisenhändler danach fragte – eine Antwort erhielt er nie.

Knapp drei Kilometer war der Weg durch den dunklen Wald lang. Franz hatte immer das Gefühl, er nehme überhaupt kein Ende mehr, doch dann wurde es plötzlich heller, und schließlich endete die Fahrt vor einem rostigen Zaun. Der Bauer hielt direkt an dem Gittertor, das mit einer schweren Eisenkette gesichert war. Franz hupte zwei-, dreimal. Doch dessen hätte es gar nicht bedurft. Laut kläffend rannten zwei Hunde am Zaun entlang und alarmierten ihren Herrn. Der Österreicher kam und vertrieb die Tiere mit lauten scharfen Worten. Dann schloß er das Tor auf und wartete darauf, daß der Besucher hindurchfuhr.

Franz fuhr über den Platz, bis vor das alte Holzhaus, das Wohnung und Büro in einem war. Rechts und links säumte Schrott jeder Art den schmalen Fahrweg. Von alten Autos, bis hin zu verrosteten Öltonnen, war alles vorhanden, was das Herz eines jeden umweltbewußten Menschen vor Schreck aussetzen ließ. Selbst Franz Hochanger hatte – vergeblich – den Kumpanen darauf hingewiesen, daß das meiste, was hier lagerte, tickende Umweltbomben waren.

Josef Brandner hatte das Tor wieder verschlossen und kam herangehumpelt, als der Bauer aus dem Wagen stieg. Seit er einmal im Rausch über ein paar Kanister gestolpert war, und sich ein Bein gebrochen hatte, hinkte der Österreicher leicht. Ungeduldig, wie er nun einmal war, hatte er das Krankenhaus vorzeitig und auf eigenen Wunsch verlassen, und dabei den Bruch nicht richtig auskuriert.

»Pfüat dich, Wachauer«, sagte Franz. »Hast ’n Schnaps für mich?«

»Auch zwoa, wenn’s denn sein muß«, grinste der Schrotthändler.

Vor dem Haus stand eine alte Hollywoodschaukel in der Sonne, davor ein Plastiktisch und einige Stühle. Auf dem Tisch befanden sich ein überquellender Aschenbecher und die obligatorische Enzianflasche.

»Was machst denn für ein Gesicht?« erkundigte sich der Wachauer-Josef, nachdem sie das erste Glas geleert hatten. »Ist’s immer noch nix mit deinem Fräulein Braut?«

In einer schwachen Stunde hatte Franz ihm mal seine Leidenschaft für Andrea Hofer gestanden, Josef wußte also um die Geschichte.

Der Hochanger-Franz machte ein noch grimmigeres Gesicht und winkte ab.

»Der Zug ist abgefahren«, sagte er schließlich und griff wieder nach der Flasche.

Sein Spezi war neugierig geworden. Nach langem Drängen kam Franz mit der Sprache heraus und erzählte von dem fehlgeschlagenen Tanzabend.

»Und du glaubst, daß es dieser Klavierspieler ist?« fragte Josef. »Da müßt man doch was machen.«

Der Bauer sah ihn etwas fragend an.

»Was meinst denn?«

Der andere zuckte die Schulter.

»Na ja, willst’ dir das etwa gefallen lassen, daß der Herr Musikus nach zehn Jahren daherkommt und dir das Madel vor der Nase wegschnappt? Also, wenn ich an deiner Stelle wär’…, ich wüßt’, was ich tät.«

»So, und was tätest du?«

»Ich würd’ dem Kerl eine Lektion erteilen, daß er es auf immer bereuen tät’, daß er sich überhaupt hier wieder hat blicken lassen.«

Der Gedanke gefiel Franz Hochanger. Er selbst hatte schon mit so etwas geliebäugelt, nur noch net recht gewußt, wie er’s anstellen sollte.

Aber, wozu hat man denn Freunde?

Der Bauer richtete sich auf einen langen Abend und eine noch längere Nacht ein. Es war nicht das erste Mal, daß er auf einem Feldbett in der Hütte geschlafen hatte. Während sie langsam die Enzianflasche leerten, heckten sie einen Plan aus, wie sie dem Rivalen einen Denkzettel verpassen konnten.

*

Andrea wartete an der Stelle, an der sie und Thomas sich zufällig wiedergetroffen hatten.

Oder war es gar kein Zufall? War es nicht vielmehr Bestimmung, daß sie ausgerechnet heut’ morgen, nach so langer Zeit, wieder den Ort aufgesucht hatte, mit dem sie so viele glückliche Erinnerungen verband?

Das Madel schmunzelte, als es an das Gesicht der Mutter dachte, das diese gemacht hatte, als sie hörte, mit wem Andrea sich treffen wollte. Deutlich war ihr anzumerken, daß Walburga Hofer alles andere als einverstanden damit war. Nur konnte sie nichts dagegen ausrichten. Ihre Tochter war längst volljährig, und selbst wenn sie es nicht wäre, so würde sie sich kaum von diesem Treffen abhalten lassen.

Den Dickkopf hatte sie nun einmal von der Mutter.

»Paß nur auf, daß er dich net wieder sitzenläßt«, hatte sie Andrea nur noch hinterher rufen können, bevor diese aus der Tür war.

Wenngleich Andrea in Erinnerung an das Gesicht der Mutter schmunzelte – der letzte Satz wurmte doch ein bissel! Denn – so unrecht hatte Burgl Hofer vielleicht gar net.

Natürlich war alles herrlich, seit dem Vormittag, aber manchmal schlichen sich kleine Teufelchen in Andreas Gedanken, die Mißtrauen aussäten. Sie war sich ihrer Liebe zu Thomas sicher. Aber konnte sie auch seiner Liebe sicher sein? Oder würde er wieder gehen und die nächsten zehn Jahre fortbleiben?

Andrea wollte diese Gedanken nicht haben und versuchte, sie zu verdrängen, doch so ganz wollte es nicht gelingen.

Und was wäre, wenn alles ganz anders käme, überlegte sie. Wenn Thomas sie vielleicht fragte, ob sie seine Frau werden wolle?

Bei diesem Gedanken lief es ihr heiß und kalt den Rücken hinunter, und sie erschrak. Das würde ja bedeuten, daß sie von hier fortgehen müßte, weg aus ihrem geliebten St. Johann.

Aber, war sie denn nicht bereit, diesen Preis zu zahlen, wenn sie dafür immer an seiner Seite sein konnte? Andrea wurde schwindelig, als sie sich ausmalte, wie das alles sein würde. Ein ganz neues Leben käme da auf sie zu, eines, das sie bisher nur aus den Zeitschriften kannte, aus denen sie die Artikel über Thomas ausgeschnitten hatte.

»Hallo, wo bist du?«

Thomas’ Stimme riß sie aus ihren Gedanken. Sie winkte ihm zu, als er den Weg heraufkam und lief ihm dann entgegen.

Der junge Musiker empfing sie mit offenen Armen und wirbelte sie übermütig herum. Andrea jauchzte vor Vergnügen, sie waren beide ausgelassen wie Kinder.

Hand in Hand wanderten sie, so, wie sie es früher oft getan hatten, durch den Höllenbruch.

»Was wollen wir denn mit dem schönen Abend machen?« fragte Thomas, nachdem sie eine gute Stunde später zu ihrem Ausgangspunkt zurückgekehrt waren.

Allmählich setzte die Dämmerung ein.

Das Madel zuckte die Schulter.

»Mir ist alles recht«, antwortete Andrea Hofer. »So lang’ ich nur mit dir zusammen bin.«

»Dann hab’ ich eine Idee.«

Thomas zog sie mit sich, den Hang hinunter. Bis St. Johann waren es noch ein paar Minuten zu laufen. Als sie das Dorf erreichten, schlugen die Glocken der Kirche gerade die achte Abendstunde.

»Was hast’ denn vor?« wollte Andrea wissen.

»Ich will mit dir essen gehen«, erwiderte Thomas vergnügt.

»Einfach so?«

Andreas Stimme klang verwundert. Ihre Familie ging nicht sehr oft ins Restaurant, und wenn es doch geschah, dann gab es einen Grund dafür, eine Familienfeier zum Beispiel.

Thomas lächelte verschmitzt.

»Na – net einfach nur so. Ich hab’ schon einen Grund, warum ich dich ausführen möcht’«, tat er geheimnisvoll.

*

Der Wirt vom Hotel »Zum Löwen«, Sepp Reisinger, empfing den prominenten Gast und seine Begleiterin persönlich und führte sie an einen freien Tisch.

Thomas bestellte zwei Gläser Champagner und bat um die Speisekarte. Doch bevor er hineinschaute, nahm er Andreas Hand. Seine Augen strahlten dabei, und der Mund lächelte versonnen.

»Ich bin sehr glücklich, daß ich dich wiedergefunden hab’«, sagte er. »Und ich möcht’ dich nimmer wieder verlieren.«

Andrea fühlte, wie ihr Herz schneller schlug bei diesen Worten. Sie erwiderte seinen intensiven Blick, ohne auf die anderen Gäste zu achten, die noch im Restaurant saßen. Sie tranken den prickelnden Schaumwein, und später bestellte Thomas eine Flasche Rotwein, den sie zu einer delikaten Rehkeule tranken.

Während des Essens erzählte der Musiker von seinen Konzertreisen und Auftritten, und war überrascht, daß Andrea genau zu sagen wußte, welches Konzert wann und wo stattgefunden hatte.

»Du lieber Himmel, woher weißt du das alles?« fragte er erstaunt. »Man könnt’ ja meinen, du wärst jedesmal dabeigewesen.«

Diesmal war sie es, die verschmitzt lächelte.

»Ich hab’ alles gesammelt, was ich irgendwo über dich gelesen hab’.«

»Was? Ist das wahr?«

Andrea nickte.

»Jeden kleinen Artikel, den ich finden konnt’.«

Thomas griff erneut nach ihrer Hand und drückte sie.

»Da hab’ ich so einen treuen Fan und wußte es net.«

Sepp Reisinger trat an den Tisch und erkundigte sich, ob die Gäste mit dem Essen zufrieden waren, was die beiden nur bestätigen konnten. Sepp’s Frau war eine begnadete Köchin.

Als sie das Restaurant verließen, war es kurz vor Mitternacht. Thomas hatte Andrea an die Hand genommen und zog sie mit sich zur Kirche hinüber.

»Willst’ jetzt in die Kirch’?« fragte die junge Frau verwundert.

Der Musiker schüttelte den Kopf. Sie standen vor dem eisernen Tor, hinter dem der Kiesweg zum Gotteshaus hinaufführte.

»Nein, hinein will ich net«, lachte er. »Aber hier, vor unserer schönen Kirche zum Heiligen Johannes, möcht’ ich dich etwas fragen. Willst du mich heiraten?«

»Was?«

Andrea schluckte. Hatte sie richtig gehört? Einen Heiratsantrag?

Thomas schaute sie erwartungsvoll an.

Sie schloß für Sekunden die Augen und atmete tief ein. Wie oft hatte sie von diesem Augenblick geträumt! Und jetzt war er Wirklichkeit geworden. Thomas nahm ihren Kopf in seine Hände und küßte sie zärtlich.

»Willst du?« fragte er noch einmal.

Andrea nickte stumm, mit Tränen in den Augen.

»Ja, Thomas, ich will«, sagte sie endlich und schmiegte sich in seine Arme.

»Ich möchte net noch einmal zehn Jahre vergeh’n lassen«, flüsterte der Pianist. »Die Zeit ist viel zu kostbar, als daß man sie vergeuden darf.«

*

Auf dem Heimweg sprachen sie über das, was Thomas schon mit Pfarrer Trenker besprochen hatte. Andrea war es mehr als lieb, daß die Hochzeit in aller Stille vorbereitet werden sollte. Aufregend würde es noch früh genug werden.

»Aber, auf der Kirmes darf man uns schon zusammen sehen?« fragte sie.

Thomas lachte.

»Natürlich. Was glaubst wohl, wer uns schon alles zusammen gesehen hat! Im Grunde ist’s mir auch gleich. Ich hab’ schließlich nix zu verbergen. Es ist nur so, wie’s der Pfarrer sagt – wenn die Sache publik wird, dann hat Sankt Johann keine ruhige Minute mehr. Das ist der Preis, den ich zahlen muß.«

Sie waren mittlerweile an Andreas elterlichem Hof angekommen. Thomas nahm seine Verlobte in den Arm.

»Auf dich wird auch einiges zukommen«, sagte er. »Ich hab’ ja schon von meinen Verpflichtungen, bis ins nächste Jahr hinein, erzählt. Glaubst du, daß du das alles wirst bewältigen können? Reisen durch die halbe Welt, Hotelzimmer, Konzerthallen – es wird net leicht sein.«

»Wenn du mir hilfst«, erwiderte sie. »Wenn ich nur mit dir zusammen sein kann, dann ist alles andere halb so schwer.«

Es wurde eine schlaflose Nacht für Andrea Hofer. Angezogen saß sie auf ihrem Bett und blätterte in dem Album, das sie angelegt hatte. Tourneen, Konzerte, glanzvolle Auftritte, alles war darin dokumentiert, und nun würde sie schon bald ein Teil davon sein. Ganz schwindlig wurde ihr bei diesem Gedanken. Sie stand auf und trat ans Fenster. Andrea lehnte ihren heißen Kopf an die Scheibe und kühlte ihn an dem Glas. Dann drehte sie sich um und schaute in ihrem Zimmer herum. Und in Gedanken packte sie schon ihre Sachen und überlegte, was sie mitnehmen und was sie hierlassen würde.

Als draußen der Hahn krähte, war sie voller Tatendrang, von Müdigkeit war nichts zu spüren.

Walburga Hofer indes wunderte sich über ihre Tochter. So fröhlich hatte sie Andrea seit langem nicht mehr erlebt.

*

Ferdinand Bichler fluchte und stieg aus dem Führerhaus des Treckers. Im letzten Moment hatte er sein Gefährt noch am Straßenrand zum Halten bringen können. Vorne aus der Haube, über dem Motor stieg eine schwarzblaue Qualmwolke. An den Trecker angehängt war ein langgestreckter Wagen. In ihm befand sich Bichlers Geschäft, eine Schießbude.

Der Schausteller schaute nach vorne, doch von seiner Frau, die mit dem PKW und den beiden Kindern vorausfuhr, war nichts mehr zu sehen. Wahrscheinlich hatte sie gar nicht bemerkt, daß ihr Mann eine Panne hatte.

Mißmutig machte sich der Vierzigjährige daran, den Schaden zu begutachten. Schon am Morgen, als sie losgefahren waren, hatte der dreißig Jahre alte Traktor fürchterliche Geräusche von sich gegeben, und Bichler wäre am liebsten noch in Weihersbach geblieben. Doch die dortige Polizei hatte ihn und seine Familie des Platzes verwiesen. Die Kirmes war zu Ende, und somit endete auch die Erlaubnis, dort auf dem Festplatz zu stehen und zu nächtigen.

Ferdinand schüttelte den Kopf. Dieses Jahr war wirklich wie verhext. Erst hatte seine Frau mit einer schweren Grippe wochenlang das Bett hüten müssen, dann hatte es ihn erwischt. Beim Renovieren seiner Bude war er vom Dach gerutscht und hatte sich ein Bein gebrochen. Als er schließlich wieder aufstehen konnte, hatte die Saison längst begonnen und Ferdinand keine festen Kirmesplätze mehr buchen können. So war er gezwungen, auf gut Glück loszufahren und zu sehen, ob er noch irgendwo unterkommen konnte.

Der Qualm aus dem Motor hatte mittlerweile nachgelassen. Der Schausteller konnte zwar vieles selber reparieren, doch hier war alleine nichts zu machen, das sah er auf den ersten Blick.

Als er wieder herunterstieg, hielt neben ihm ein Polizeiwagen.

Auch das noch, dachte Ferdinand. Für fahrende Leute war es nicht immer leicht, mit der Obrigkeit. Hinzu kam, daß weder der Traktor, noch der Anhänger mit der Schießbude neu waren und immer wieder Anlaß für lästige Polizeikontrollen boten.

Der Beamte stieg aus und tippte sich an den Schirm seiner Mütze.

»Grüß’ Gott, Polizeihauptwachtmeister Trenker aus Sankt Johann«, sagte er. »Haben S’ eine Panne? Kann ich helfen?«

Ferdinand Bichler war erstaunt. Seit einer Ewigkeit war dies mal ein Polizist, der nicht erst nach den Papieren fragte, obwohl er natürlich sehen mußte, daß es sich hier um einen uralten Schaustellerwagen handelte.

»Grüß’ Gott«, erwiderte er. »Vielen Dank für Ihr Angebot, aber ich glaub’ net, daß man da ohne einen Fachmann etwas ausrichten kann.«

Er berichtete von dem Schaden.

»Tja, was machen wir denn da?«

Max Trenker strich sich nachdenklich das Kinn. Unterdessen hielt auf der anderen Straßenseite ein alter Mercedes mit einem Wohnwagenanhänger. Eine Frau stieg aus, hinten im Fond saßen zwei kleine Kinder und schauten neugierig herüber.

»Was ist denn los?« fragte Helene Bichler. »Ich hab’ schon befürchtet, daß was mit dem Traktor ist, als ich gemerkt hab’, daß du net nachkommst.«

Der Schausteller machte seine Frau mit dem Polizisten bekannt. Sie brach in Tränen aus, als sie von dem Schaden hörte.

»Auch das noch!« sagte sie.

»Sie sind Schausteller, net wahr?« stellte Max fest.

»Ja, und so schön dieser Beruf auch ist, manchmal verwünsch’ ich ihn.«

Er erzählte von der Misere, von der er und seine Familie in diesem Jahr betroffen war.

»Die Saison ist gelaufen«, sagte seine Frau. »Jetzt können wir betteln geh’n.«

Sie deutete auf den Traktor.

»Wie soll’n wir das denn bezahlen, ohne Einnahmen?«

Max Trenker hatte inzwischen ein paar Überlegungen angestellt.

»Ich hab’ da eine Idee«, meinte er zuversichtlich. »Bei uns, in Sankt Johann, ist am Wochenend’ Schützenfest. Da bekommen S’ von mir eine Genehmigung für Ihre Schießbude. Und den Traktor lassen wir erst einmal abschleppen. Im Dorf ist eine Autowerkstatt. Der Meister schaut sich den Schaden an, und irgendwie bekommen wir das auch noch geregelt.«

Die beiden sahen den Beamten ungläubig an.

»Ich… ich weiß gar net, was ich sagen soll…«

Helene Bichler fiel Max Trenker um den Hals.

»Schon gut«, wehrte der junge Polizeibeamte grinsend ab. »Sie wissen doch – die Polizei, dein Freund und Helfer.«

*

Auch wenn er es ihm nicht sagte, so war Sebastian natürlich sehr stolz auf seinen Bruder. Max’ Art, den Menschen zu helfen, wenn er nur konnte, berührte den Geistlichen immer wieder, und er wußte, daß der Polizist es nicht deswegen tat, weil sein Bruder Pfarrer war. Max war von Natur aus ein herzlicher Mensch, dem es wichtiger war, zu helfen, als erst alle Paragraphen zu lesen und dann zu entscheiden.

»Du hast richtig gehandelt«, sagte Pfarrer Trenker nur zu seinem Bruder, als sie beim Mittagessen saßen.

Über das Autotelefon hatte der Beamte alles in die Wege geleitet, damit der Schaustellerfamilie geholfen wurde. Inzwischen standen Wohnwagen und Schießbude auf dem Kirmesplatz, während der Traktor sich bereits in der Autowerkstatt befand.

Sebastian hatte den Bichlers schon einen Besuch abgestattet und sich erkundigt, ob sie noch weiterer Hilfe bedurfte.

»Wir sind Ihnen allen sehr dankbar«, hatte Ferdinand Bichler geantwortet. »Wir waren zwar auf dem Weg hierher, weil wir hofften, in Sankt Johann noch einen Standplatz zu bekommen, aber so, auf gut Glück, ist das ja immer eine ungewisse Sache.«

»Lassen S’ mich auf jeden Fall wissen, wenn noch irgend etwas fehlt«, sagte der Geistliche zum Abschied. »Und wenn S’ möchten, dann sind S’ natürlich auch herzlich bei uns in der Kirche willkommen.«

»Ich freu’ mich schon auf das Schützenfest«, meinte Max Trenker, während Sophie Tappert den Nachtisch brachte.

Eine zarte Vanillecreme mit einer fruchtigen Soße. Die Haushälterin hatte die einzelnen Portionen in hohe Weingläser gefüllt, und jedes Glas mit einer Sahnehaube und einer Mandelhippe gekrönt.

»Also, Frau Tappert, wie Sie diese Creme wieder hingekriegt haben«, schwärmte Max. »So locker!«

Dabei schielte er zur Anrichte hinüber, um zu sehen, ob dieses eine Glas wirklich alles war, was die Perle des Pfarrhaushaltes ihm zugedacht hatte. Mit Erleichterung stellte er fest, daß ein zweites Glas auf dem Schrank stand. Sophie reichte es ihm auch schon herüber. Dabei lächelte sie still. Sie kannte ja ihre Pappenheimer. Und während Max es sich schmecken ließ, fragte sein Bruder sich wieder einmal, wo der schlanke Polizeibeamte das alles ließ, was er essen konnte.

*

Am folgenden Samstag herrschte in St. Johann Festtagsstimmung, denn es war wieder Schützenfest. Schon seit Anfang der Woche waren fleißige Hände damit beschäftigt, das große Zelt aufzubauen, in dem nicht nur Tische und Bänke standen, im hinteren Bereich war eine große Bühne, auf der eine Blaskapelle zum Tanz aufspielte.

Für Sepp Reisinger und seine Angestellten bedeuteten die zwei Tage, an denen die Kirmes stattfand, eine ganze Menge Mehrarbeit. Als größter hiesiger Hotelier hatte Sepp den Zuschlag bekommen, als er sich für die Bewirtschaftung des Zeltes bewarb. Daneben lief der Hotelbetrieb natürlich weiter. Das riesige Festzelt war mit einem kleineren verbunden, in dem eine mobile Küche untergebracht war, denn ähnlich wie auf dem Oktoberfest in München, wollten die Besucher auch hier nicht auf Schweinshaxen und Brathendln verzichten. Um den Ansturm der Gäste, von nah und fern, zu bewältigen, hatte der Wirt eine ganze Anzahl Aushilfskräfte eingestellt.

Die Sonne strahlte vom Himmel, als Pfarrer Trenker die Messe unter freiem Himmel las. Anschließend hatte der Bürgermeister das Wort, der das Fest mit einer launigen Ansprache und dem Anstich eines Fasses Freibier eröffnete. Schon bald drängten sich die Besucher, die auch aus Waldeck und Engelsbach kamen, zwischen den Buden und Karussells.

Am Stand der Familie Bichler herrschte der größte Andrang. Sebastian hatte im Gottesdienst auf die besondere Notlage der Schausteller hingewiesen. Inzwischen hatte es sich herausgestellt, daß der Trecker einen neuen Austauschmotor benötigte, und der kostete eine Menge Geld. Um so mehr freuten sich Ferdinand und seine Frau über die vielen Kunden, die darin wetteiferten, den Hauptpreis zu gewinnen.

Mitten im Gedränge waren auch Andrea und Thomas. Eng umschlungen, als fürchteten sie, sich in der Masse zu verlieren, schlenderten sie über den Festplatz. Natürlich blieb es nicht aus, daß sie erkannt wurden. Viele Leute sprachen sie an, und nicht wenige fragten nach, ob die beiden die Absicht hätten, zu heiraten. War diese Frage auch manchmal nur im Scherz gestellt, so machten die Verlobten sich doch einen Spaß daraus, diesen Gedanken entrüstet von sich zu weisen.

»Komm«, rief Thomas, nachdem sie wieder einmal fünf Minuten für sich hatten. »Ich will doch mal sehen, ob ich net das Schießen verlernt hab’. Himmel, ich glaub’ ich hab’ zehn Jahr’ kein Gewehr mehr in der Hand gehabt.«

Ferdinand Bichler reichte ihm die Büchse. Thomas nahm das Gewehr hoch und visierte das Ziel an. Eine dunkelrote Rose, die in einem weißen Röhrchen steckte, das es zu treffen galt.

Das Röhrchen platzte beim ersten Schuß auseinander. Der junge Pianist legte erneut an. Wieder ein Treffer, die zweite Rose fiel, schließlich der letzte Schuß.

»Bravo, Sie haben das Zeug, Schützenkönig zu werden«, lachte Ferdinand, als er die drei Rosen auf den Tresen seiner Schießbude legte.

»Vielen Dank«, wehrte der Meisterschütze ab. »Lieber net.«

Thomas nahm die Blumen und reichte sie Andrea.

»Für die schönste Rose der Welt«, sagte er.

Die junge Frau bedankte sich mit einem Kuß.

»Und jetzt hab’ ich Durst«, rief Thomas und zog sie mit sich in Richtung des Festzeltes.

Daß sie aus der Menge heraus von bitterbösen Blicken verfolgt wurden, bemerkten die beiden in ihrem Glück nicht.

Schnell fanden sie Platz an einem der langen Tische. Hier im Zelt herrschte eine Stimmung, wie sie auf der Münchener Wies’n nicht besser hätte sein können. Unablässig spielte die Kapelle ein Stück nach dem anderen, während die Servierkräfte riesige Tabletts mit Bierkrügen, Schweinshaxen und anderen Leckereien hoch über ihren Köpfen balancierten und an die Tische schleppten.

Die Besucher waren ausgelassen und vergnügt, und auf der Tanzfläche herrschte dichtes Gedränge. Mittendrin tanzten Andrea und Thomas, doch nach der vierten oder fünften Runde brauchten sie eine Atempause. Langsam kämpften sie sich an ihren Tisch zurück.

Andrea kam es vor, als erlebe sie einen schönen Traum. So recht konnte sie es immer noch nicht fassen, was ihr widerfahren, und sie genoß die Blicke der anderen Frauen und Madeln, die sie glühend beneideten.

Als Thomas sich, spät in der Nacht, von ihr verabschiedet hatte, schien Andrea immer noch im Walzertakt und Polkaschritt zu schweben. Singend tanzte sie die Treppe hinauf und ermahnte sich erst, leise zu sein, als ihr Vater an die Wand pochte und ihr befahl, Ruhe zu geben. Mit einem unterdrückten Kichern verschwand sie unter der Bettdecke und schloß selig die Augen.

*

Ebenso beschwingt machte sich Thomas Burger auf den Weg zum Hof seines Bruders. Am Nachmittag hatten er und Andrea den Wenzel mit seiner Familie auf dem Schützenfest gesehen, später aber aus den Augen verloren.

Während er nach Hause spazierte, stellte Thomas mit Erstaunen fest, daß bereits eine Woche seines Urlaubs vorbei war. Himmel, wie die Zeit raste! Aber, das hatte auch sein Gutes, denn um so schneller rückte der Termin heran, an dem er Andrea vor den Traualtar führen würde. Gleich morgen wollte er Alberto Moreno anrufen, um den Agenten von seiner Absicht in Kenntnis zu setzen. Der würd’ vielleicht Augen machen! Thomas bedauerte, daß weder er, noch Alberto ein Bildtelefon hatten. Zu gern hätte er das Gesicht des Italieners gesehen, wenn er ihm von seinen Heiratsabsichten erzählte.

Der junge Musiker hatte die Landstraße verlassen. Auf direktem Wege würde er noch eine gute halbe Stunde brauchen, um den Burgerhof zu erreichen. Aber Thomas kannte eine Abkürzung, die durch ein Waldstück an einem Bachlauf entlangführte. Da sparte er wenigstens zwanzig Minuten.

Er hatte eben die ersten Schritte auf dem Waldweg getan, als er hinter sich Geräusche hörte. Thomas drehte sich um und sah sich unvermittelt zwei Gestalten gegenüber. Sie trugen dunkle Jacken und Mützen, die sie tief in die Stirn gezogen hatten. Bis auf die Nasenspitzen waren ihre Gesichter mit Tüchern vermummt. Bevor Thomas reagieren konnte, hatten sich die beiden auf ihn gestürzt und droschen auf ihn ein.

Thomas Burger setzte sich zur Wehr, so gut er konnte, und gewiß war er kein Schwächling. Doch die Schurken kannten keine Fairneß und schlugen brutal zu. Einer hielt den Musiker umklammert, während der andere seine Fäuste fliegen ließ. Der Überfallene schrie um Hilfe, doch das war sinnlos. Es war kaum anzunehmen, daß mitten in der Nacht noch jemand hier herumlief. Endlich bäumte Thomas sich auf, und es gelang ihm, sich aus der Umklammerung zu befreien. Er stürzte zu Boden und blieb benommen liegen. Plötzlich spürte er einen fürchterlichen Schmerz in der linken Hand. Einer der beiden, die ihn überfallen hatten, war ihm mit voller Kraft auf die Hand getreten.

Für einen Moment hatte Thomas das Gefühl, ohnmächtig zu werden, und er schloß die Augen. Der Überfall hatte sich beinahe wortlos abgespielt. Als er die Augen wieder öffnete, sah er unter einem Tränenschleier die beiden Kerle davonlaufen. Es kam ihm vor, als ob der eine sein Bein etwas nachzog.

Vorsichtig setzte er sich auf und versuchte, die Hand zu bewegen. Sie war rot und blau geschwollen, und schmerzte fürchterlich. Zwar hatte er auch Hiebe in das Gesicht und in den Leib bekommen, doch die spürte er kaum noch. Auch die schmerzende Hand war zu ertragen, nur ein Gedanke bereitete ihm Sorge – waren die Finger gebrochen? Und würde er sie jemals wieder zum Klavierspielen gebrauchen können?

*

»Ich will Ihnen nichts vormachen, Herr Burger«, sagte Dr. Toni Wiesinger. »Es sieht net gut aus.«

Thomas hatte sich zum Hof seines Bruders geschleppt und ihn aus dem Bett geholt. Wenzel war entsetzt gewesen, als er sah, wie Thomas zugerichtet worden war. Er hatte ihn sofort in seinen Wagen gesetzt und war mit ihm hinunter nach St. Johann gefahren. Dort hatten sie den Arzt wachklingeln müssen, der Thomas sofort behandelte.

»Wie meinen S’ das, Herr Doktor?« fragte der Musiker. »Was genau ist los?«

Dr. Wiesinger deutete auf das Röntgenbild, das er von der linken Hand gemacht hatte. Es steckte vor einem Lichtrahmen und zeigte deutlich zwei gebrochene Finger.

»Schauen’s, der linke Zeigefinger und der Mittelfinger – da haben wir’s mit einem recht komplizierten Bruch zu tun«, erklärte der Mediziner. »Natürlich wird es wieder zusammenwachsen, aber ich kann Ihnen heut’ wirklich noch keine Garantie geben, daß Sie Ihre Hand jemals wieder so gebrauchen können wie zuvor.«

Der Schlag mit einer Keule hätte nicht vernichtender sein können, als diese Diagnose. Es war, als breche für Thomas eine Welt zusammen, als er diese Worte hörte.

Der einfühlsame Arzt ahnte, was seine Diagnose für die glanzvolle Karriere des Konzertpianisten bedeuten mußte, aber er sah auch keinen Sinn darin, etwas zu beschönigen oder zu verschweigen.

»Es muß natürlich nicht zum Schlimmsten kommen«, sagte er dennoch. »Aber, man muß immer damit rechnen, daß einer der beiden Finger steif bleibt.«

Thomas Burger war wie betäubt, als sein Bruder ihn wieder nach Hause fuhr. Die ganze Fahrt über sagte er kein Wort, und auch Wenzel hielt es für angebracht, zu schweigen. Auf dem Hof angekommen, stieg Thomas aus. Dr. Wiesinger hatte die gebrochenen Finger geschient und die ganze Hand in Gips gepackt. Der Verband reichte bis zum Ellenbogen hinauf. Über dem rechten Auge war eine Schwellung, die aber bald zurückgehen würde. Thomas’ Unterlippe war aufgeplatzt.

Wenzel fuhr den Wagen hinter die große Scheune. Als er zum Haus zurückkam, war Thomas schon hineingegangen. Sein Bruder fand ihn im Wohnzimmer, wo der Pianist am Schrank stand. Er hielt eine Schnapsfalsche in der gesunden Hand.

»Gib’ mir auch einen«, sagte der Bauer. »Hast du wirklich keine Ahnung, wer dahinterstecken könnt’?«

Er hatte seinem Bruder diese Frage schon auf dem Weg zum Arzt gestellt. Aber da hatte Thomas nur den Kopf geschüttelt. Zum einen wußte er es nicht, zum anderen war er wegen der Schmerzen gar nicht in der Lage gewesen, darüber nachzudenken, wer es auf ihn abgesehen haben könnte.

»Ich hab’ keine Ahnung«, antwortete der Musiker jetzt. »Ich weiß ja net einmal, wem ich etwas getan haben könnt’. Seit ich hier bin, hab’ ich doch mit niemandem Streit gehabt…«

Er stürzte den Enzian hinunter und sah seinen Bruder an.

»Wenzel…, wenn ich net mehr spielen kann…, dann will ich auch net mehr leben«, flüsterte er.

Den Burgerbauern durchfuhr ein eisiger Schreck, als er den Bruder so reden hörte.

»Um Himmels willen, Thomas, so etwas darfst’ noch net einmal denken!«

Er nahm ihn in den Arm.

»Noch ist ja nix raus«, versuchte er den anderen zu trösten. »Der Doktor hat doch selbst gesagt, daß es noch zu früh ist, etwas darüber zu sagen.«

Er nahm Thomas die Schnapsflasche aus der Hand.

»Komm, das reicht«, sagte er. »Es ist net gut, wenn du zuviel davon trinkst. Du hast schließlich auch ein Schmerzmittel vom Doktor bekommen. Ich denk’, wir gehen jetzt schlafen. Morgen früh rufe ich den Max Trenker an. Der wird die Sache weiter verfolgen.«

*

Am anderen Morgen wartete die Familie vergeblich darauf, daß Thomas herunterkäme. Die junge Bäuerin war entsetzt, als sie erfuhr, was geschehen war. Ihr Mann hatte sie in der Nacht nicht mehr wecken wollen. Als sie hörte, was Dr. Wiesinger gesagt hatte, lief ihr ein eisiger Schauer über den Rücken. Sie wußte doch, wie sehr ihr Schwager für seine Musik lebte.

»Laß ihn«, sagte Sonja, als ihr Mann nach dem Bruder schauen wollte. »Thomas braucht erst einmal Zeit für sich. Ich bringe ihm später das Frühstück und rede mit ihm.«

Sonja Burger wartete bis zum frühen Vormittag. Dann kochte sie frischen Kaffee und bestrich zwei Scheiben Weißbrot mit Butter und Marmelade. Auf einem Tablett balancierte sie das Essen die Treppe hinauf und klopfte an die Zimmertür.

Drinnen regte sich nichts.

Sonja klopfte noch einmal und drückte die Türklinke herunter.

»Thomas…?«

Die junge Frau blieb abrupt auf der Schwelle stehen – das Zimmer war ganz leer. Wirklich merkwürdig, daß sie ihn unten net gesehen hatte…

Die Bäuerin wollte die Tür gerade wieder schließen, als ihr etwas sonderbar vorkam… Thomas’ Koffer stand zwar neben dem Kleiderschrank, aber sein schwarzer Rucksack war nicht mehr da. Sie wußte aber genau, daß er einen besaß, sie selber hatte ihm ja geholfen, die Sachen in den Schrank zu räumen.

Von unten hörte sie jemanden ins Haus kommen.

»Ist der Thomas schon auf?« rief ihr Mann. »Der Max ist da. Er hat ein paar Fragen.«

Als Sonja die Treppe herunterkam, fiel Wenzel das bleiche Gesicht seiner Frau auf.

»Was ist denn los?« wollte er wissen. »Hast ein Gespenst gesehen? Du bist ja ganz weiß.«

»Der Thomas ist fort…«, antwortete sie. »Einfach verschwunden.«

»Wie verschwunden?«

»Er ist weg. Sein Rucksack ist auch net mehr da. Thomas ist weggegangen.«

»Na, weit kann er ja net sein. Sein Auto steht ja noch auf’m Hof.«

Max Trenker war inzwischen ins Haus gekommen.

»Pfüat di, Sonja«, sagte er. »Wie meinst’ denn das, daß der Thomas einfach so verschwunden ist?«

Die junge Bäuerin setzte das Tablett ab und machte eine ratlose Handbewegung.

»Wie ich’s halt sag’. Ich wollt’ ihm eben etwas zu essen bringen, und da ist das Zimmer leer.«

Der Bauer und der Gendarm sahen sich ratlos an.

»Tja, da muß ich halt wieder fahren«, sagte Max Trenker schließlich. »Ich werd’ zwar die Leute befragen, ob sie etwas gesehen haben, deine Angaben allein’ sind ein bissel dürftig. Es wär’ schon schön gewesen, wenn dein Bruder seine Aussage hätte machen können. Wenn er wieder auftaucht, soll er sich halt auf dem Revier melden.«

Der Polizeibeamte verabschiedete sich. Sonja und Wenzel Burger blieben ratlos zurück.

»Was machen wir denn jetzt?« fragte die Bäuerin. »Ich fürcht’, der Thomas macht irgendeine Dummheit…«

Wenzel sah seine Frau entsetzt an.

»Mal bloß net den Teufel an die Wand«, mahnte er.

Plötzlich hatte er eine Idee.

»Ich fahr’ gleich mal zur Andrea hinüber«, sagte er. »Vielleicht ist Thomas bei ihr. Himmel, warum bin ich net gleich darauf gekommen?«

*

Am Sonntag morgen ging es auf den Höfen immer etwas ruhiger zu, als in der Woche. So auch auf dem Hof der Familie Hofer. Als Wenzel vor dem Bauernhaus hielt, machten sie sich gerade für den Kirchgang bereit. Andrea schaute neugierig, als sie den Bruder ihres Verlobten erkannte.

»Pfüat euch, miteinand’«, grüßte der Bauer. »Ist der Thomas vielleicht bei euch?«

Die Hofer schüttelten die Köpfe. Andrea trat zu Wenzel und packte ihn am Arm. Ein untrügliches Gespür sagte ihr, daß etwas geschehen war.

»Was ist mit Thomas?« fragte sie aufgeregt. »Warum suchst’ ihn hier bei uns? Wieso ist er überhaupt verschwunden?«

»Beruhig’ dich, Madel«, sagte Wenzel Burger. »Thomas ist gestern abend auf dem Heimweg… überfallen worden…«

Andrea schrie entsetzt auf. Ihr Vater, der Bruder und Mutter

Burgl waren fassungslos.

»Was… was ist mit ihm? Ist er verletzt?«

Die junge Frau war außer sich.

»Überfallen? Aber, warum?«

Der Bauer berichtete, was geschehen war.

»… als die Sonja ihm das Frühstück bringen wollte, war er net mehr da, und ein Teil seiner Sachen auch net«, schloß er seinen Bericht.

Andrea sah ihre Eltern an.

»Ihr müßt alleine in die Kirch’ gehen«, sagte sie entschlossen. Ich fahr’ mit Wenzel. Ich muß da sein, wenn Thomas zurückkommt.«

»Hast du keine Ahnung, wo er stecken könnt’?« forschte der Bauer auf der Fahrt zurück zum Hof. »Wir wissen ja net, wann er überhaupt das Haus verlassen hat, wie weit er jetzt schon ist. Aber, wo will er überhaupt hin, ohne Auto? Ich denk’ mir, daß er irgendwo steckt, wo er alleine sein und über alles nachdenken kann.«

Die junge Frau kämpfte mit den Tränen. Sie war unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Ihre einzige Hoffnung war, daß Thomas inzwischen zum Hof zurückgekehrt sein könnte.

Aber diese Hoffnung trog. Ebenso ratlos, wie er sie zurückgelassen hatte, erwartete Sonja Burger ihren Mann. Sie schloß Andrea fest in die Arme.

»Wir wollen net das Schlimmste annehmen«, sagte sie leise, während sie Andrea beruhigend über das Haar strich. »Kommt ins Haus. Ich hab’ Kaffee gekocht, und auf dem Herd steht die Fleischbrühe. Die wird uns allen guttun.«

Die Zwillinge freuten sich über den unerwarteten Besuch vom Nachbarhof. Essen wollte Andrea nichts, aber es gelang Phillip und Ann-Kathrin, sie mit kleinen Späßchen und Spielen ein wenig von den trüben Gedanken abzulenken.

Allerdings war der nächtliche Überfall auch Thema des Gespräches, das die Erwachsenen führten, als die Kinder nach dem Essen draußen auf dem Hof spielten.

»Wer macht so etwas nur?« fragte Wenzel Burger. »Und warum? Der Thomas hat doch niemandem etwas Böses getan. Wenn ich die Burschen in die Finger krieg’…«

Er führte nicht weiter aus, was er zu tun gedachte, aber man konnte seinem grimmigen Gesicht ansehen, daß es den Burschen übel ergehen würde, sollte er sie tatsächlich erwischen.

Andrea, die sich inzwischen ein wenig erholt hatte, versuchte nachzudenken. Aber, so sehr sie sich auch den Kopf zerbrach, es wollte ihr niemand einfallen, der für den gemeinen Überfall in Frage kam… außer einem.

»Du glaubst, der Hochanger könnt’ dahinterstecken?« fragte Wenzel, nachdem Andrea von ihrem Verdacht gesprochen hatte.

Die junge Frau hob die Schulter.

»Ich möcht’ niemanden zu unrecht beschuldigen, aber der Franz war schon recht bös’, als ich ihm klipp und klar gesagt hab’, daß ich einen anderen liebe.«

Der Bauer strich sich nachdenklich über das Kinn.

»Also zutrauen würd’ ich’s ihm«, meinte er. »Lang genug macht er dir ja schon den Hof. Und jetzt, wo Thomas wieder da ist, wird er sich schon denken können, um wen es sich da handelt. Na, und wahrscheinlich hat er euch auch zusammen auf dem Schützenfest gesehen.«

Er nickte zuversichtlich.

»Ja, je mehr ich darüber nachdenk’, um so plausibler scheint es mir. Der Hochanger wollte einen Rivalen ausschalten, und er ist ein brutaler Bursche, der vor keiner Keilerei zurückschreckt. Wenn einer dafür in Frage kommt, dann er.«

*

Nicht minder entsetzt über den gemeinen Überfall war Sebastian Trenker, als er durch seinen Bruder davon hörte. Keinem der drei Personen wollte es mehr so recht schmecken am Mittagstisch. Dabei hatte Sophie Tappert wieder einmal so herrlich gekocht.

Eine gute Brühe gab es, mit Fleischklößchen und Eierstich. Danach eine kleine Rehkeule, die in einer sahnigen Wachholdersauce serviert wurde. Dazu gab es Rotkraut, Preiselbeeren und Sophies hausgemachten Spätzle. Zum Dessert hatte die Haushälterin einen aufgeschlagenen Weinschaum vorgesehen.

Selbst Max Trenker wollte nicht so recht zulangen, wie es sonst seine Art war. Ihn wurmte es, daß es in seinem Revier zu solch einem feigen Überfall gekommen war. Allein eine Schlägerei, wie sie schon mal vorkam, fand er überflüssig. Aber einen einzelnen Mann, zu zweit so zusammenzuschlagen, das war schon ein Verbrechen!

»Am meisten Sorge macht mir die Hand vom Thomas«, sagte Pfarrer Trenker. »Wenn die Finger wirklich steif bleiben, dann bricht für ihn eine Welt zusammen. Klavierspielen ist doch sein ein und alles. Der Thomas lebt doch nur dafür.«

Der Geistliche legte das Besteck beiseite und faltete seine Serviette zusammen.

»Ich fahr’ gleich zum Burgerhof hinauf«, sagte er. »Bitte, Frau Tappert, für mich keinen Nachtisch. Ich möcht’ keine Zeit verlieren und gleich losfahren. Vielleicht kann ich irgendwie helfen. Jemand muß sich doch auch um den Wenzel und seine Familie kümmern. Sie werden sich furchtbar ängstigen, jetzt, wo der Thomas verschwunden ist.«

Natürlich hätte Sophie Tappert liebend gerne ihr raffiniertes Dessert serviert, aber sie hatte auch Verständnis, daß der Herr Pfarrer sich jetzt um andere Dinge kümmern mußte. Es war ja nicht das erste Mal, daß Hochwürden alles stehen und liegen ließ, weil es galt, irgendwo helfend einzuwirken.

Sebastian fand Wenzel Burger und dessen Angehörige ratlos zu Hause sitzend. Bei ihnen war immer noch Andrea Hofer, die nicht eher nach Hause wollte, als bis Thomas wieder aufgetaucht war. Zusammen mit dem Geistlichen versuchten sie herauszufinden, wo sich der junge Konzertpianist versteckt haben könnte. Jede noch so winzige Möglichkeit wurde in Betracht gezogen. Sebastian versuchte dabei, so behutsam wie möglich, Trost zu spenden. Daß Thomas aus lauter Verzweiflung eine Dummheit beging, würde man vielleicht nicht ausschließen können, doch so recht glauben wollte es niemand.

»Niemals!« sagte Pfarrer Trenker überzeugt, als dann das Gespräch doch darauf kam. »Thomas ist ein klar denkender junger Mann, der mit beiden Beinen im Leben steht. Er wird niemals eine solch unüberlegte Tat begehen. Er braucht nur etwas Abstand und Ruhe, um über alles nachzudenken. Daß er uns mit seiner überstürzten Flucht ängstigt, hat er gewiß net bedacht.«

Bis in den späten Abend hinein saßen sie im Wohnzimmer. Doch als sich der Geistliche verabschiedete, waren sie keinen Millimeter vorangekommen. Seit mehr als zehn Stunden war Thomas Burger verschwunden, und niemand wußte, wo er sich aufhielt.

Sonja machte für Andrea ein Bett fertig, während Wenzel die Familie des Madels unterrichtete, daß Andrea auf dem Burgerhof blieb.

»Ist der Thomas noch net wieder aufgetaucht?« fragte Walburga Hofer mit echter Anteilnahme.

»Leider net«, bestätigte der Bauer. »Aber wir warten…«

*

Gleich am nächsten Morgen rief Pfarrer Trenker auf dem Burgerhof an und erkundigte sich, ob Thomas schon zurückgekehrt sei. Sonja, die das Gespräch entgegengenommen hatte, weinte am Telefon, als sie mitteilte, daß ihr Schwager immer noch verschwunden war.

Mir sorgenvollen Gedanken machte sich Sebastian auf zum Festplatz. Er wollte sich erkundigen, wie es dem Schaustellerehepaar Bichler ging. Ferdinand empfing den Geistlichen mit trauriger Miene.

»Aber wissen S’, Hochwürden, das Geschäft war schon net schlecht«, erklärte er. »Aber der Austauschmotor wird die ganzen Einnahmen wieder verschlingen. Wir sind ja nur froh, daß Ihr Bruder uns erlaubt, noch eine Weile hier zu stehen.«

»Gibt’s denn keine andere Möglichkeit?« erkundigte sich Pfarrer Trenker. »Muß es denn gleich ein ganz neuer Motor sein?«

Der Schausteller hob die Schulter.

»Einer, aus einem alten Traktor ausgebaut, tät’s auch«, meinte er. »Gibt’s denn hier einen Schrottplatz, oder Altautohändler?«

»Den gibt es«, nickte Sebastian. »Wissen S’ was? Wir fahren eben schnell hin und schauen, ob wir das Passende finden. Bestimmt ist so ein Motor net halb so teuer wie ein neuer.«

»Wollen S’ das wirklich tun?«

Ferdinand Bichler konnte es gar nicht fassen. Soviel Hilfsbereitschaft war er einfach nicht gewohnt.

»Aber ja«, sagte der Pfarrer. »Das ist doch keine große Angelegenheit. Kommen S’, wir nehmen Ihren Wagen, meiner steht bei der Kirche.«

Helene Bichler kam aus dem Wohnwagen.

»Grüß’ Gott, Hochwürden«, sagte sie. »Ich hab’ so halb mitbekommen, daß Sie uns schon wieder helfen wollen. Vergelt’s Gott.«

»Schon gut«, wehrte der Seelsorger ab und erkundigte sich nach den beiden Kindern des Ehepaares.

Charlotte und Alexandra teilten das Schicksal zig anderer Schaustellerkinder – sie besuchten wieder einmal eine andere Schule. Diesmal die in St. Johann.

»Wir fahren dann«, sagte Ferdinand zu seiner Frau.

Pfarrer Trenker erklärte ihm den Weg zum Wachauer-Josef, dem aus Österreich stammenden Schrotthändler.

»Ich glaub’, ich weiß ungefähr, wo das ist«, meinte Ferdinand. »Auf dem Weg hierher hab’ ich ein Schild an der Straße gesehen.«

Kurze Zeit später bog der Wagen in den Waldweg ein. Sie hielten vor dem Tor, und der Schausteller drückte auf die Hupe. Von den Hunden war nichts zu sehen, aber einen Moment darauf kam der Schrotthändler herangehumpelt. Er machte ein mürrisches Gesicht, als wollte er die Kundschaft gleich wieder vergraulen. Als er jedoch den Geistlichen erkannte, hellte sich seine Miene wieder auf, und er öffnete das Tor.

»Grüß’ Gott, Hochwürden«, sagte er, nachdem der Wagen vor der Bretterbude gehalten hatte und die beiden Männer ausgestiegen waren. »Was verschafft mir die Ehre Ihres Besuches. Suchen S’ etwas Bestimmtes?«

»In der Tat«, nickte Sebastian und schaute sich um. »Wir benötigen einen intakten Motor für einen Traktor. Aber welches Modell und so weiter, kann Ihnen der Mann hier besser erklären.«

Ferdinand erklärte, worum es sich bei seiner Zugmaschine handelte. Der Wachauer-Josef rieb sich nachdenklich das Kinn.

»Hm«, meinte er dann. »Ich glaub’, ich hab’ genau das, was Sie suchen. Kommen S’ mal mit.«

Die beiden Männer verschwanden hinter einem riesigen Berg von Schrott, während der Pfarrer beim Wagen des Schaustellers blieb.

Der Wachauer-Josef führte Ferdinand Bichler zu einer Reihe alter, größtenteils schon verrotteter Autos und Traktoren. Aus den meisten waren schon diverse Ersatzteile ausgebaut worden. Ferdinands Augen glitten suchend über das Chaos aus alten PKWs, Schrotteilen und Drahtrollen.

»Der da«, deutete der Alteisenhändler auf einen Traktor in der hintersten Ecke. »Dieselbe Marke, das gleiche Modell.«

Der Schausteller stieg hoch und besah den Motor. So, wie er da vor ihm lag, schien er in Ordnung zu sein.

»Was wollen S’ denn dafür haben?« fragte er, wobei er hoffte, daß der Preis seinen eigenen Vorstellungen entsprach.

Der Österreicher, der einem guten Geschäft nicht abgeneigt war, besaß auch eine gewisse Schläue. Er ahnte, daß der Mann da in einer Notlage war. Warum sonst kam er in Begleitung eines Geistlichen?

Allerdings war es auch dieser Umstand, der dem Wachauer nicht behagte. Offenbar hatte Hochwürden den Mann unter seine Fittiche genommen. Also mußte er behutsam mit seiner Forderung sein.

»Ach wissen S’«, sagte er zu dem Schausteller, »ich will kein großes Geschäft dabei machen. Wenn Sie ihn sich selber ausbauen – unter Brüdern – geben S’ mir fünfhundert auf die Hand, und das Geschäft ist geritzt.«

Ferdinand Bichler, der wieder heruntergestiegen war, glaubte nicht recht zu hören. Das war kein Preis – das war ein Geschenk des Himmels! Er schlug in die dargebotene Hand und besiegelte so den Kauf. In der Hütte zählte er dem Schrotthändler den Betrag in die Hand und erhielt eine Quittung.

»Es muß ja alles seine Ordnung haben«, meinte der Wachauer.

»Ich komm’ dann in einer Stunde mit dem Mechaniker zum Ausbauen«, versprach der überglückliche Ferdinand Bichler.

Jetzt sah die Zukunft wieder ein wenig rosiger aus.

»Haben S’ vielen Dank«, sagte Sebastian Trenker.

Er hatte keine Ahnung, was so ein Traktorenmotor kostete, aber er hielt die Forderung des Schrotthändlers für einen Freundschaftspreis.

»Sie haben einer unglücklichen Familie aus einer Not geholfen.«

Der Mann wehrte ab. Es berührte ihn peinlich, daß der Geistliche so mit ihm sprach.

»Ist schon gut«, meinte er und humpelte neben dem Wagen her zum Tor.

*

Durch den Höllenbruch gelangte man auf die Hohe Riest, von wo mehrere Wege zu den verschiedenen Bergtouren führten. Von hier aus kam man auch auf die Jenner- und die Korber-Alm. Noch weiter höher standen einsame Hütten, in denen Wanderer und Bergtouristen Unterschlupf finden konnten.

Thomas Burger hatte sich nach seiner überstürzten Flucht aus dem Haus seines Bruders hierher zurückgezogen. Ganz weit oben, knapp unter der Spitze des Korber-Jochs, saß er vor der alten Holzhütte und starrte vor sich hin.

Der Schmerz in seiner linken Hand war seit dem Sonntag morgen erträglicher. Bis zum Abend hatten die Tabletten gereicht, die Dr. Wiesinger ihm mitgegeben hatte. Thomas, der nur ein paar Sachen in seinen Rucksack gestopft hatte, war ohne jeglichen Proviant losgegangen. Aber Hunger hatte er ohnehin nicht, und seinen Durst löschte er an einem klaren Gebirgsbach. Erst am späten Nachmittag erreichte er die Korber-Alm, wo er eine Brotzeit einnahm und sich mit Brot, Rauchwurst und Bergkäse versorgte.

So erreichte er sein einsames Versteck, in dem er sich auf das einfache Strohlager legte und die Augen schloß.

Innerhalb weniger Stunden hatte sich sein ganzes Leben verändert. Gestern noch hatte er fröhlich mit Andrea auf dem Schützenfest getanzt, hatte er Pläne für die Zukunft geschmiedet und sich auf ein gemeinsames Leben mit ihr gefreut. Dieser heimtückische Überfall hatte in Sekunden alles zunichte gemacht. Wenn der Arzt recht behielt, dann würde Thomas nie wieder einen Konzertflügel berühren!

Der junge Pianist zermarterte sich den Kopf, wer hinter dem Überfall stecken konnte, und, vor allem warum? Er war sich keiner Schuld bewußt, jemandem etwas getan zu haben, aber je mehr er darüber nachdachte, um so sicherer war er, daß das Verbrechen an ihm in Zusammenhang mit Andrea Hofer stehen mußte.

So kam ihm zwangsläufig Franz Hochanger in den Sinn. Der Musiker erinnerte sich nur vage an den Bauern, mit dem er zur Schule gegangen war. Er hatte keine Ahnung, wie Franz heute aussah. Hinkte er? Einer der beiden Männer war hinkend fortgelaufen, das hatte er jedenfalls noch wahrnehmen können.

Thomas wälzte sich auf die Seite. Was soll’s, dachte er. Die Hand ist kaputt und damit meine Karriere beendet.

Und es stiegen ihm Tränen der Wut und der Trauer in die Augen.

Für einen Moment dachte er an Andrea. Er ahnte, welche Sorgen er ihr und den anderen mit seiner Flucht bereitete. Aber darauf konnte er keine Rücksicht nehmen. Überhaupt – wahrscheinlich war es besser, wenn er sich gar nicht wieder in St. Johann sehen ließ. Sollte er dem Madel zumuten, einen Mann zu heiraten, der eine steife Hand hatte? Der seinen Lebensunterhalt künftig bestenfalls als Klavierlehrer verdienen konnte?

Da war es schon besser, sang- und klanglos zu verschwinden. Irgendwann würde Andrea über den Verlust hinwegkommen. Sie ahnte ja nicht, was die Musik ihm bedeutete, also konnte sie auch nicht ermessen, was es für ihn hieß, nie wieder ein Klavierkonzert zu spielen.

*

Für Andrea Hofer waren es bange Tage des Wartens, der Hoffnung und Enttäuschung. Sie war nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen, geschweige denn, ihre Arbeit auf dem elterlichen Hof zu verrichten. Burgl Hofer, die wußte, was ihre Tochter durchmachte, drückte beide Augen zu. Andreas Aufgaben wurden eben auf die beiden Mägde verteilt.

Sie war nur kurz zu Hause gewesen und schon bald wieder auf den Burgerhof zurückgekehrt. Dort war ihr Platz, solange Thomas verschwunden blieb, und dort wollte sie auch sein, wenn er wieder auftauchte.

Sonja kümmerte sich rührend um die junge Frau, die ihr einmal erzählte, wie sehr sie Thomas liebte. Andrea hatte das Album mitgebracht, in dem sie die ganzen Ausschnitte und Fotos gesammelt hatte, und es schmerzte beide Frauen, den begnadeten Musiker zu sehen. Mutlos legten sie das Album zur Seite und versuchten, sich gegenseitig Trost zuzusprechen.

»So kann’s aber net weitergehen«, sagte Wenzel beim Mittagessen. »Wir müssen konkret etwas unternehmen, eine Suchaktion starten. Ich halt’ diese Warterei einfach net mehr aus.«

Dem konnten die beiden Frauen nur zustimmen. Seit dem vergangenen Sonntag waren sie alle in größter Sorge, und das Essen wollte ihnen überhaupt nicht mehr schmecken.

»Am besten wird’s sein, wenn wir uns aufteilen«, schlug der Bauer vor. »Hat jemand eine Vermutung, wo Thomas sich versteckt haben könnte?«

»Vielleicht auf einer Almhütte«, meinte seine Frau.

»Das ist eine gute Idee«, stimmte Andrea zu. »Früher haben wir oft Wanderungen auf die Almen unternommen. Warum bin ich eigentlich net schon eher darauf gekommen!«

»Also, wer sucht wo?« fragte Wenzel.

»Am ehesten kommen die Korber- und die Jenner-Alm in Frage«, sagte Andrea. »Von der Hohen Riest aus erreicht man beide.«

Sie wandte sich an Sonja.

»Wollen wir dort nach Thomas suchen?«

Die Bäuerin nickte.

»Gut«, sagte ihr Mann. »Dann versuch’ ich mein Glück auf der anderen Seite. Man kann ja net wissen. Vielleicht ist der Thomas auch zu den Zwillingen hinauf…«

Andrea Hofer schlug erschrocken die Hand vor den Mund.

»Hoffentlich net«, sagte sie. »Ohne richtige Ausrüstung…?«

»Nun woll’n wir net gleich das Schlimmste vermuten«, wiegelte Wenzel Burger ab. »Der Thomas weiß um das Risiko. Ich pack’ nur vorsichtshalber meine Ausrüstung ein.«

Der Bauer war ein erfahrener Bergsteiger, der ebensoviel Zeit im Gebirge verbracht hatte, wie sein Bruder auf dem Klavierschemel. Er setzte bei Thomas soviel Vernunft voraus, daß dieser sich nicht ohne Seil und Haken in die Wand wagen würde. Trotzdem wollte er nichts dem Zufall überlassen.

Mit dem Auto fuhr er die beiden Frauen bis an den Rand des Höllenbruchs, von wo aus es nur noch zu Fuß weiterging. Sowohl Wenzel als auch jede der Frauen waren mit einem Handy ausgerüstet – in diesem Falle waren die Geräte ein Segen der Technik.

Wer auch immer zuerst Thomas Burger fand, würde die anderen benachrichtigen können.

*

Andrea und Sonja gingen durch den Höllenbruch zur Hohen Riest hinauf. Nach einer Viertelstunde kamen sie an den Abzweig, wo sich ihre Wege trennten. Sonja nahm den Pfad zur Jenner-Alm, während Andrea den Weg zur Korber-Alm einschlug.

Wieder stiegen die Erinnerungen in ihr auf, als sie zurückdachte an die Zeit vor zehn Jahren. Unzählige Male waren sie und Thomas hier gewesen, und Andrea konnte nicht sagen warum, aber sie hatte das untrügliche Gefühl, daß ihr Gedanke, Thomas könne sich hier oben verkrochen haben, richtig war. Und dieses Gefühl gab ihr neuen Mut und Zuversicht.

Sie erreichte die Almhütte schon eine gute Stunde später. Der Senner erinnerte sich, Thomas Burger gesehen zu haben.

»Freilich, ein junger Bursch’, mit einem Gipsverband an der linken Hand«, sagte er.

»Das ist er. Wissen S’ vielleicht, wohin er wollte?« fragte Andrea aufgeregt.

Der alte Mann zuckte die Schulter.

»Schon möglich, daß er es gesagt hat«, meinte er. »Aber, wissen S’, es kommen so viele Leute zu uns herauf. Da kann ich mir wirklich net alles merken, was sie erzählen. Vielleicht ist er weiter, zum Joch hinauf.«

Andrea schaute mißmutig den Berg hinauf. Sie wußte, daß es dort noch eine alte Hütte gab, in der man unterschlüpfen konnte, falls jemand in ein Wetter geriet, oder nicht mehr rechtzeitig vor Anbruch der Dunkelheit herunter kam. Aber, sollte sie wirklich das Risiko eingehen und den beschwerlichen Weg nach oben nehmen, auch wenn sich Thomas vielleicht gar nicht in der Hütte versteckte?

Der zweifelnde Gedanke kam ihr nur eine Minute, dann war klar, daß sie nichts unversucht lassen würde, um den Geliebten zu finden. Sie nahm das Handy aus der Jackentasche und rief Sonja an.

»Dann wird’s das beste sein, wenn ich Wenzel benachrichtige«, sagte die Bäuerin. »Wenn der Thomas auf der Korber-Alm war, ist es auch wahrscheinlich, daß er weiter hoch zum Joch ist. Da ist eine Hütte…«

»Ich weiß«, unterbrach Andrea sie. »Aber, laß uns jetzt Schluß machen. Ich möcht’ net soviel Zeit verlieren. In ein paar Stunden wird’s dunkel.«

Je höher sie kam, um so schmaler wurde der Pfad. Manchmal mußte Andrea regelrecht klettern, um voran zu kommen. Aber, damit hatte sie keine Probleme. Schließlich war sie in den Bergen aufgewachsen. Ihre einzige Sorge war, ob das Wetter halten würde, aber noch herrschte blauer Himmel und Sonnenschein.

Nach einer weiteren Stunde konnte sie die Hütte sehen. Sie stand wie an den Berg geschmiedet. Andrea beeilte sich. Mit jedem Meter, den sie vorankam, schlug ihr Herz schneller. Endlich hielt sie es nicht mehr aus.

»Thomas!« rief sie, so laut sie konnte. »Thomas, wo bist du?«

Ihre Worte wurden als vielfaches Echo von den Berghängen zurückgeworfen.

Das Madel hielt sich eine Hand über die Augen und schirmte das Sonnenlicht ab. Hatte sich da nicht etwas bei der Hütte bewegt? Sie blinzelte mit den Augen. Doch, jemand schaute heraus, jemand, der durch ihr Rufen aufmerksam geworden war.

Es konnte nur Thomas sein. Sie erkannte den Verband an der linken Hand.

»Thomas – endlich! Wart’, ich komm’ herauf.«

Die letzten Meter waren die schwersten. Sie schienen überhaupt kein Ende zu nehmen. Andrea keuchte und rang nach Luft. Endlich hatte sie es geschafft. Mit zitternden Knien stand sie vor Thomas Burger, der sie schweigend ansah.

Am liebsten wäre sie ihm sofort um den Hals gefallen, aber etwas in seinem Blick hielt sie davon ab.

»Was willst’?« fragte er schließlich. »Warum kannst mich net in Ruh’ lassen?«

Andrea erschrak über diese Worte und den Ton, in dem sie gesprochen waren.

»Aber… ich versteh’ dich net«, sagte sie zögernd. »Ich… ich hab’ dich gesucht, weil ich mir Sorgen gemacht habe, daß du einfach so verschwunden bist. Der Wenzel, Sonja – wir alle haben uns um dich gesorgt.«

Thomas machte ein versteinertes Gesicht.

Andrea machte einen Schritt vor und griff nach seiner gesunden Hand. Der junge Musiker wich unwillkürlich zurück, grad’ so, als habe das Madel eine ansteckende Krankheit. Tränen schossen in ihre Augen, als sie seine Reaktion sah.

»Aber Thomas, was ist denn los?« fragte sie ratlos. »Bitte, ich kann doch nichts für das, was geschehen ist. Warum bist denn so abweisend?«

Thomas Burger sah sie an.

»Geh’«, sagte er. »Geh’ wieder hinunter. Ich will allein sein, und eure Sorgen und euer Mitleid brauch’ ich net. Sag’ meinem Bruder, daß es mir gut geht, aber laßt mich in Frieden. Alle!«

Damit wandte er sich ab, ging in die Hütte und schlug die Tür hinter sich zu. Andrea war wie gelähmt. Unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, stand sie da. Endlich begriff sie, was geschehen war. Thomas, der Mann, den sie liebte, auf den sie all die Jahre gewartet hatte – dieser Mann schickte sie einfach fort!

Sie brauchte eine Weile, ehe ihr die Tragweite seines Handelns bewußt wurde. Andrea unternahm einen zögerlichen Versuch, klopfte an die Tür, rief seinen Namen, doch ohne Erfolg. Der Musiker hatte sich in der Hütte verkrochen, wie ein waidwundes Tier in seinem Bau, und war durch nichts zu bewegen, wieder herauszukommen.

*

»Ich versteh’ es einfach net«, sagte Andrea Hofer weinend. »Was ist nur in ihn gefahren?«

Sebastian Trenker strich ihr behutsam über das Haar.

»Ich könnt’ mir denken, was in den Thomas gefahren ist«, antwortete der Geistliche.

Sie saßen im Pfarrbüro. Die junge Frau hatte keinen anderen Ausweg mehr gewußt, als sich an den Seelsorger zu wenden. Nachdem sie von der Alm heruntergekommen war, hatte sie sich mit letzter Kraft zum Treffpunkt am Höllenbruch geschleppt, wo Wenzel und Sonja schon auf sie warteten. Auf ihre Frage nach Thomas, konnte Andrea nur unter Tränen antworten.

»Komm’, ich fahr dich erst einmal nach Haus’«, sagte Wenzel Burger. »Heut wird’s eh nix mehr, in einer Stunde ist’s dunkel. Aber, gleich morgen früh, steig’ ich hinauf und wasch’ dem Burschen den Kopf. Was fällt dem eigentlich ein?«

Der Bauer war wirklich etwas böse über das Verhalten seines Bruders. Andrea Hofer wollte allerdings nicht zum Hof.

»Setz’ mich bitte bei der Kirche ab«, bat sie. »Ich möcht’ mit dem Herrn Pfarrer reden. Vielleicht weiß er einen Rat.«

Sebastian hatte Frau Tappert gebeten, einen Tee für Andrea zu kochen, und die junge Frau in sein Büro geführt. Sie trank den heißen Kräutertee in kleinen Schlucken, und langsam kehrten ihre Lebensgeister wieder zurück.

»Ich denk’ mir, daß der Thomas glaubt, nie wieder spielen zu können«, sagte der Seelsorger. »Im Augenblick wird niemand an ihn herankommen. Zu tief sitzt der Schmerz, ich meine der seelische Schmerz darüber, daß seine Karriere als Konzertpianist so früh beendet sein könnte. Und in diesem Schmerz ist Thomas ungerecht, auch dir gegenüber. Das mußt du ihm nachsehen und verzeihen. Er meint’s net so.«

Andrea sah ihn an.

»Verzeihen? Ich würd’ ihm alles verzeihen.«

Sebastian nickte.

»Ich weiß, Andrea. Glaub’ mir, es wird sich alles wieder zum Guten wenden, da bin ich sicher. Thomas liebt dich, und er wird wieder zur Vernunft kommen. Vielleicht nützt es was, wenn ich mit ihm rede.«

Andreas Miene hellte sich auf.

»Würden S’ das wirklich tun, Hochwürden?« fragte sie.

Pfarrer Trenker erhob sich.

»Ja, gleich morgen, in der Frühe, brech’ ich auf. Und jetzt fahr’ ich dich heim. Wohin willst denn, zu dir nach Hause, oder auf den Burgerhof?«

»Liebend gerne würd’ ich da sein, wenn Thomas wiederkommt«, erwiderte sie. »Aber, vielleicht ist es erst mal besser, wenn ich nach Hause fahre. Die Eltern machen sich doch auch Sorgen um mich.«

»Gut«, nickte Sebastian. »Dann laß’ ich beim Wenzel anrufen und Bescheid sagen, daß du wieder zu Hause bist.«

»Hat Ihr Bruder eigentlich schon etwas darüber herausgefunden, wer hinter dem gemeinen Überfall stecken könnte?« fragte Andrea, als sie auf dem Weg zum Hof ihrer Eltern waren.

»Bisher net«, antwortete der Geistliche. »Da er Thomas noch net hat sprechen können, ist das, was er darüber weiß, sehr vage. Der Wenzel hat net viel erzählen können, nur daß es zwei maskierte Männer waren, von denen einer beim Weglaufen hinkte…«

Überraschend fuhr der Seelsorger rechts ran und hielt an. Wie geistesabwesend starrte er nach vorne, durch die Windschutzscheibe. Andrea sah ihn fragend an.

»Was haben S’ denn, Hochwürden?«

Sebastian machte ein grimmiges Gesicht.

»Ich glaub’, mir ist gerad’ was eingefallen«, sagte er und drehte sich zu Andrea um. »Wir haben doch neulich darüber gesprochen, daß du den Franz Hochanger in Verdacht hast, net wahr?«

»Ja, aber wir können ihm doch nichts beweisen.«

»Mal sehen. Der Franz ist doch mit dem Wachauer-Josef befreundet, dem Schrotthändler an der Kreisstraße.«

»Ja, das stimmt.«

»Und der Mann hinkt!«

Andrea riß vor Überraschung den Mund auf.

»Ist das wahr?«

»So wahr ich der Seelsorger von Sankt Johann bin«, bekräftigte Sebastian Trenker. »Heut’ morgen war ich mit dem Besitzer der Schießbude auf dem Schrottplatz. Der Herr Bichler brauchte einen Austauschmotor für seinen Traktor. Dabei ist es mir aufgefallen. Der Wachauer-Josef ist neben uns her und hat das Tor geöffnet. Er hat eindeutig gehinkt.«

»Dann hab’ ich auch keine Zweifel mehr, daß der Franz hinter der ganzen Sache steckt«, sagte Andrea. »Dieser gemeine Schuft!«

Der Pfarrer startete den Motor wieder und gab Gas.

»Wenn er es war, wird er seine Strafe bekommen«, sagte er.

*

Thomas hatte wieder einmal eine schlaflose Nacht verbracht. Seit er hier oben war, gelang es ihm kaum, ein Auge zuzumachen. Zu viele Gedanken kreisten in seinem Kopf, und immer wieder war da die zentrale Frage, wie würde es weitergehen?

Aber, so sehr er sich auch das Gehirn zermarterte, eine Antwort wollte ihm nicht einfallen.

Noch bevor die Sonne richtig am Himmel zu sehen war, stand er auf und ging zu dem kleinen Gebirgsbächlein, das hinter der Hütte floß. So gut es eben mit einer Hand ging, machte er Morgentoilette und trank aus dem eiskalten Bach.

Die Schmerzen waren verschwunden, sie traten eigentlich nur dann noch auf, wenn er die gebrochenen Finger ungeschickt bewegte. Wenn er jedoch aufpaßte, kam das nur selten vor. Allerdings war der einstmals weiße Verband inzwischen schmutzig und grau geworden und hätte dringend gewechselt werden müssen.

Thomas kam vom Bach zurück und schaute auf den kläglichen Rest seines Proviants. Für heut’ würd’s vielleicht noch reichen, aber spätestens morgen mußte er zur Almhütte hinunter, wenn er hier oben nicht verhungern wollte.

Mißmutig biß er in einen Kanten Brot. Seine Finger kratzten dabei an seinem Drei-Tage-Bart. Zwar hatte er auch seinen Toilettenbeutel mitgenommen, elektrischen Strom gab es allerdings in der Hütte nicht. Seinen Rasierapparat hatte er umsonst mitgeschleppt.

Thomas schnitt ein Stück von dem Käse ab. Rechten Hunger hatte er nicht, er wußte aber, daß er essen mußte, und so zwang er sich dazu. Nach dem Frühstück tat er das, was er seit dem Sonntag nachmittag getan hatte – er setzte sich nach draußen auf die Bank und schaute vor sich hin.

So saß er auch da, als Sebastian bei der Hütte ankam.

»Sie?« fragte der Musiker erstaunt, als er den Geistlichen vor sich stehen sah. »Was wollen Sie denn hier oben?«

»Mit dir reden, Thomas«, erwiderte der Pfarrer. »Darf ich mich zu dir setzen?«

»Aber natürlich.«

Er rückte zur Seite, und Sebastian nahm neben ihm Platz.

»Schön ist’s hier, net wahr?« sagte er zu dem Musiker.

Der Pfarrer von St. Johann war heute nicht als Seelsorger zu erkennen. In seiner Wanderkleidung, dazu braun gebrannt und von sportlicher Natur, hätte er eher ein Profibergsteiger sein können, und wirklich war er auch schon für einen solchen gehalten worden. Sebastian liebte die Berge und war oft in ihnen unterwegs. Traf er dann auf einen anderen Wanderer, der ihn nicht kannte, so war der Fremde stets überrascht, wenn er erfuhr, mit wem er es zu tun hatte.

»Was, Sie sind der Pfarrer?« war eine oft gestellte Frage.

»Du weißt ja, daß ich oft in den Bergen wandere«, begann der Geistliche das Gespräch. »Und es hätt’ sein können, daß wir uns zufällig über den Weg laufen. Aber heut’ ist es kein Zufall, daß ich hier bin. Ich bin gekommen, um mit dir zu sprechen, Thomas.

Ich will dir net vorwerfen, daß du fortgelaufen bist und alle, die dich kennen und liebhaben, in Angst und Sorge zurückgelassen hast. Obwohl es leichtfertig von dir war. Viel lieber möcht’ ich dir sagen, daß ich auch um deine Sorgen und Ängste weiß. Die Diagnose von Doktor Wiesinger muß schrecklich für dich gewesen sein. Aber, vielleicht ist sie ja net endgültig.«

»Das ist meine einzige Hoffnung«, antwortete Thomas Burger.

»Und darum ist es wichtig, daß du mit mir nach Hause kommst. Du mußt unbedingt zu einem Facharzt. Zu einem Spezialisten. Toni Wiesinger hat sich schon mit ihm in Verbindung gesetzt und über deinen Fall gesprochen. Es besteht durchaus Hoffnung, daß deine Hand wieder ganz in Ordnung kommt.

Außerdem…«

Der junge Pianist sah den Seelsorger an.

»Ja…?«

»Außerdem ist da die Andrea, die sich die allergrößten Sorgen um dich macht.«

Thomas atmete tief ein.

»Ich weiß«, sagte er. »Aber sagen Sie selbst, kann ich es dem Madel jetzt noch zumuten, mich zu heiraten? Wird sie es mit mir aushalten können, so unzufrieden, wie ich mit meinem Schicksal bin? Was wird denn, wenn meine Hand nicht wieder in Ordnung kommt?«

Sebastian legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Wart’s doch erst einmal ab«, beschwor er ihn, »außerdem liebt dich das Madel, und diese Liebe gibt der Andrea die Kraft, alles mit dir durchzustehen.«

»Also gut«, gab Thomas nach. »Gehen wir nach unten. Wollen wir hoffen, daß Sie recht haben, Hochwürden, und daß meine Hand wieder ganz in Ordnung kommt.«

Sie machten sich an den Abstieg.

»Wenn ich nur wüßt’, wem ich dies alles zu verdanken hab’«, sagte Thomas einmal zwischendurch.

Pfarrer Trenker blieb einen Moment stehen und schaute nachdenklich.

»Ich will nichts versprechen«, meinte er dann. »Aber vielleicht wissen wir schon bald mehr.«

»Sie machen mich neugierig.«

Sebastian hob die Hand.

»Wart’ noch ein Weilchen. Ich möcht’ niemanden anklagen, bevor net der Beweis erbracht ist.«

*

Der Beweis wartete schon, als Sebastian und Thomas auf dem Burgerhof ankamen. Zunächst einmal waren Wenzel und Sonja überglücklich, daß der Bruder zu ihnen zurückgefunden hatte, und die beiden Zwillinge begrüßten den Onkel mit einem lauten Gebrüll.

Außerdem wartete Max Trenker auf Thomas’ Rückkehr.

»Der Wachauer-Josef hat ein volles Geständnis abgelegt«, sagte der Polizeibeamte.

Er war zu dem Schrotthändler gefahren und hatte ihm auf den Kopf zugesagt, an dem Überfall auf Thomas Burger beteiligt gewesen zu sein. Der Österreicher war so überrascht gewesen, daß er gar nicht auf die Idee kam, es abzuleugnen. Allerdings beschuldigte er seinen Kumpan, Franz Hochanger, der eigentliche Übeltäter gewesen zu sein. Er habe nur dabeigestanden…

»Wie auch immer«, schloß Max seinen Bericht, »komm’ in den nächsten Tagen aufs Revier und mach’ deine Anzeige. Dann geht alles wieder seinen geregelten Gang.«

Thomas gähnte unterdrückt.

»Das hat Zeit«, sagte er. »Jetzt möcht’ ich erst einmal richtig ausschlafen. In den letzten Nächten hab’ ich kaum ein Auge zugemacht.«

Er bedankte sich bei Pfarrer Trenker und dessen Bruder, dann schloß er Wenzel und Sonja in die Arme.

»Es tut mir leid, daß ihr euch solche Sorgen gemacht habt. Ich hab’ einfach net richtig nachgedacht.«

»Schon gut«, antwortete Wenzel. »Die Hauptsache ist doch, daß du gesund und wieder hier bist.«

Bis zum Abend schlief Thomas in seinem alten Zimmer. Als er dann endlich erwachte, fühlte er sich, zum ersten Mal seit Tagen, wieder wohl. Das Abendessen im Kreis der Familie schmeckte ihm, wie lange nicht, und er beschloß, gleich am nächsten Tag Dr. Wiesinger aufzusuchen.

Wie er allerdings Andrea gegenübertreten sollte – das wußte er nicht…

*

»Grüß’ Gott, Frau Hochanger, ist der Franz zu Hause?«

Thomas stand vor dem Bauernhaus. Die Idee, den Verdächtigen zur Rede zu stellen, war ihm spontan gekommen, nachdem er in Dr. Wiesingers Praxis gewesen war.

Der Arzt hatte die Hand untersucht und den Verband gewechselt. Die Gipsschiene war noch in Ordnung. Anschließend hatten sie die Möglichkeiten der weiteren Behandlung durchgesprochen. Es gelang dem Arzt, seinem Patienten neuen Mut zu machen.

»Der Kollege Vahrer ist ein erfolgreicher Spezialist auf dem Gebiet. Möglicherweise kommen wir sogar um eine Operation herum.«

Thomas konnte soviel Glück kaum glauben. Um so mehr wurmte es ihn, daß jemand, der ihn in diese Lage gebracht hatte, einfach so weiterlebte, als wäre nichts geschehen. Aus diesem Grund war er zum Hochangerhof gefahren.

»Der Franz ist drüben, im Holz«, sagte die Altbäuerin.

Sie schaute den Besucher neugierig an.

»Was wollen S’ denn von ihm?«

»Wir sind zusammen zur Schule gegangen«, erwiderte Thomas nur und bedankte sich für die Auskunft.

Den Weg zum Holz kannte er. Es waren nur ein paar hundert Meter, zudem hörte man schon von weitem den Lärm der Motorsäge. Er bahnte sich den Weg durch das Dickicht und stand bald darauf am Rand einer Lichtung, auf der Franz Hochanger arbeitete. Durch das Geräusch seiner Säge hatte der Bauer noch gar nicht bemerkt, daß er nicht mehr alleine war. Gerade hatte er den Stamm einer hohen Fichte angesägt. Franz Hochanger stellte den Motor ab, und legte die Säge aus der Hand. Der Baum neigte sich langsam zur Seite. Thomas trat vor.

»Grüß’ dich, Franz«, rief er in die plötzlich eintretende Stille, die nur durch das Knarren des angesägten Baumes durchbrochen wurde.

Der Bauer wirbelte überrascht herum. Als er seinen Rivalen erkannte, lief er vor Zorn rot an.

»Was willst?« schrie er unbeherrscht. »Hat’s dir noch net gereicht? Dann komm’, hol’ dir noch eine Abreibung!«

Er ballte seine Rechte zur Faust und holte aus. Thomas wich zur Seite und der Schlag ging ins Leere. Dafür mußte Franz einen Hieb vor die Brust hinnehmen. Er taumelte und stürzte rücklings zu Boden. Keiner von ihnen hatte auf die angesägte Fichte geachtet. Erst als sein Gegner am Boden lag, erkannte Thomas die Gefahr.

»Paß auf, der Baum!« schrie er noch, aber da war es schon zu spät. Das letzte Stück Stamm brach weg, und der Baum fiel.

Ein weit ausgreifender Ast traf Franz Hochanger und begrub ihn unter sich.

Thomas Burger stürzte hinzu. In dem Geäst war der Bauer kaum zu sehen, nur ein leises Stöhnen zeigte an, daß jemand unter dem Baum begraben lag.

Für den Bruchteil einer Sekunde schoß ein Gedanke durch Thomas’ Kopf. Was wäre, wenn er jetzt einfach fortginge, und Franz dort liegen ließ, wo er war? Niemand würde fragen, wie es geschehen war, schließlich sah es eindeutig wie ein Unfall aus. Thomas brauchte sich nur etwas Zeit lassen beim Hilfeholen, und seine Rache wäre perfekt…

Ebenso schnell verwarf er diesen Gedanken wieder. Niemals könnte er einen anderen Menschen in solch einer Situation im Stich lassen, egal, was der ihm angetan hatte.

Es war ein schwieriges Unterfangen, mit nur einer Hand eine Motorsäge in Gang zu setzen, doch irgendwie gelang es ihm. So weit er es wagen konnte, ohne den Verletzten zu gefährden, sägte er die Äste ab. Franz Hochanger lag auf dem Rücken, das Gesicht war blutverschmiert, die Augen hatte er geschlossen. Thomas gab ihm ein paar leichte Schläge auf die Wange, langsam kehrte Franz aus seiner Ohnmacht zurück.

»Kannst’ dich bewegen?« fragte Thomas.

»Die Rippen tun mir weh.«

»Die werden gebrochen sein. Alleine schaff’ ich’s net. Ich muß Hilfe holen.«

Franz Hochanger hob mühsam eine Hand.

»Wart’«, sagte er. »Warum tust das? Du könnt’st mich doch einfach hier liegenlassen.«

Thomas grinste.

»Meinst net, daß ich net daran gedacht hätt’?« gab er zurück.

Er erhob sich.

»Beweg’ dich net. Es wird ein Weilchen dauern, bevor Hilfe kommt.«

»Danke, Thomas«, sagte Franz. »Und – das mit deiner Hand – es tut mir leid…«

Der junge Musiker sah ihn einen Moment an, dann drehte er sich um und lief los.

*

Sie trafen sich an dem Ort ihres Wiedersehens. Lange hatte Thomas gebraucht, bis er sich überwand und Andrea um dieses Treffen bat. Beide waren sie aufgeregt, als sie sich gegenüberstanden.

»Es tut mir leid«, sagte Thomas und hob hilflos die Arme. »Ich weiß, daß es falsch war, einfach fortzulaufen, und noch falscher war das, was ich zu dir gesagt hab’.«

Er strich über ihr Haar.

»Glaubst’, daß du mir verzeihen kannst?«

Andrea spürte die Tränen in ihren Augen. Sie wischte sie fort und lächelte.

»Ach, Thomas, du weißt doch, daß ich dir alles verzeihen kann«, flüsterte sie.

»Ich hatte einfach Angst«, versuchte er, zu erklären. »Inzwischen weiß ich, daß meine Hand wohl wieder ganz gesund wird, aber vor ein paar Tagen war da nur diese schreckliche Ungewißheit.

Wie hätt’ ich denn weiterleben können, ohne meine Musik? Mein ganzes Leben ist doch von ihr geprägt. Todunglücklich wäre ich gewesen, und mein Leben hätt’ ich wahrscheinlich als mürrischer, alter Mann beendet, der mit nichts auf der Welt mehr zufrieden gewesen wäre.

Deshalb war ich so grob zu dir. Ich hab’ geahnt, daß sich an deiner Liebe zu mir nichts geändert hätte, egal, ob ich weiterhin ein erfolgreicher Pianist gewesen wäre oder nicht. Aber ich war mir nicht sicher, ob ich es dir wirklich hätte zumuten können. Darum wollte ich, daß du gehst…«

Er zog sie in seine Arme, und sein Mund suchte ihre Lippen. Ganz, ganz innig erwiderte sie seinen Kuß und preßte sich an ihn, als habe sie Furcht, er könne wieder fortlaufen.

»Glaubst du wirklich, ich hätt’ all die Jahre auf dich gewartet, um dich dann in solch einer Situation allein zu lassen?« fragte sie, als er sie wieder freigegeben hatte. »So lange war mein Herz geduldig, aber nun fordert es. Du hast mich gefragt, ob ich deine Frau werden will, und ich habe ja gesagt. Ja, Thomas, ich will es immer noch. Und es ist mir egal, ob du ein erfolgreicher und berühmter Mann bist, oder jemand, der sein Brot in aller Stille verdient. Ich liebe dich um deinetwillen, nicht um das, was du darstellst.«

Thomas war von ihren Worten zutiefst gerührt. Wie anders sonst, hätte sie ihm ihre Liebe noch offenbarer machen können?

»Dann wollen wir keine Zeit verlieren und noch heute mit Pfarrer Trenker sprechen«, sagte er.

»Wart’ noch einen Augenblick«, hielt Andrea ihn zurück. »Nimm mich fest in deine Arme und versprich mir, mich nie wieder loszulassen.«

»Nie, nie, niemals wieder«, schwor er und küßte sie liebevoll.

*

Die leichten Morgennebel wurden allmählich von den wärmenden Strahlen der Sonne aufgelöst, als Sebastian sich seinen Weg durch das Holz bahnte. Im Höllenbruch erwachte das Leben, die Vögel zwitscherten, und in den Büschen raschelte und kratzte es. Der Bergpfarrer, wie er von seinen Freunden neckend genannt wurde, atmete tief die herrlich frische Waldluft ein.

Auf dem Rücken trug er den Rucksack, mit dem Proviant, den Sophie Tappert für ihn bereitgestellt hatte. Selbstgebackenes Brot befand sich darin, ein Stück kerniger Rauchspeck und natürlich eine Thermoskanne mit heißem Kaffee.

Pfarrer Trenker, der seinen Weg im Schlaf kannte, erreichte die Hohe Riest, stieg von dort den Berg hinauf und kletterte, abseits des Pfades, in luftige Höhen. Von drüben her grüßten der Himmelsspitz und die Wintermaid und unter ihm lag das Tal mit »seinem‹« Dörfchen, St. Johann.

Sebastian setzte sich auf einen Felsvorsprung und frühstückte. Dabei wanderten seine Gedanken zu den Geschehnissen der letzten Tage zurück.

Franz Hochanger war mit ein paar gebrochenen Rippen davongekommen. Thomas’ rasche Hilfe hatte Schlimmeres verhütet. Als die Retter den Bauern aus seiner unglückliche Lage befreiten, war auch der Geistliche zugegeben gewesen. Ihm hatte Franz sich anvertraut und zugegen, der Urheber des nächtlichen Überfalls auf Thomas Burger gewesen zu sein.

»Jetzt schäm’ ich mich dafür«, sagte er zu Sebastian.

»Damit wird’s aber wohl net getan sein«, hatte der Pfarrer geantwortet. »Max wird die Anzeige an den Staatsanwalt weiterleiten müssen. Da kommt noch was nach.«

»Ich weiß, Hochwürden«, erwiderte der Bauer. »Und ich bin bereit, für das, was ich getan hab’, zu büßen.«

Thomas Burger hatte inzwischen seine Hand von Dr. Vahrer, einem erfahrenen Chirurgen, untersuchen lassen. Die Diagnose, die der Mediziner stellte, machte dem jungen Musiker Mut und Hoffnung. Der Bruch war erstaunlich schnell geheilt, und wenn in ein paar Wochen die physikalische Therapie begann, sollte es ihm schon bald wieder möglich sein, seine Hände wie früher über die Tasten eines Konzertflügels gleiten zu lassen.

Die Hochzeit stand bevor. Noch wurde alles versucht, den Termin geheimzuhalten, doch so ganz einfach war es nicht. Besonders der Bruckner-Markus bestürmte Andrea und Thomas immer wieder mit irgendwelchen Vorschlägen für die Trauung. Dabei hegte er die Hoffnung, doch noch einen Werbeerfolg mit dieser Hochzeit zu verbinden.

Sebastian schmunzelte, als er daran dachte. Der Bürgermeister ließ wirklich nichts unversucht, St. Johann in die Schlagzeilen zu bringen.

Der Geistliche reckte und streckte sich. Vor ihm lag noch ein weiter Weg, aber so anstrengend er auch sein mochte, den Bergpfarrer schreckte so leicht nichts ab.

*

Thomas Burger ging ungeduldig in der kleinen Garderobe auf und ab. Andrea, seine Frau, saß mucksmäuschenstill auf einem Stuhl und beobachtete ihn. Der junge Musiker sah sie an und lächelte. Sie erwiderte dieses Lächeln und drückte sich an ihn, als er sich über sie beugte und sie sanft küßte.

»Es wird schon schiefgehen«, sagte sie zuversichtlich.

»Natürlich wird’s schiefgehen!« rief Alberto Moreno, der eben durch die Tür gekommen war, und die letzten Worte mit angehört hatte. »Draußen sitzen achthundert Leute und warten nur auf dich.«

Es war Thomas’ erstes Konzert seit dem Überfall. Die gymnastischen Übungen hatten die Hand vollkommen wiederhergestellt, und dieser Aufführung waren wochenlange Stunden am Flügel in der Münchener Villa vorausgegangen.

Unter Tränen hatte Andrea Abschied von zu Hause genommen, nachdem das ganze Dorf an der Hochzeit der beiden teilnahm. Jetzt waren sie in der Garderobe des Konzerthauses und fieberten dem Auftritt entgegen. Es hatte sich nicht verheimlichen lassen, daß der bekannte Musiker Opfer eines Überfalls geworden war, um so gespannter war das Publikum.

»Kinder, wir müssen«, mahnte der Italiener und klatschte in die Hände.

Andrea gab ihrem Mann einen Kuß und wünschte ihm Glück. Dann eilte sie in den Saal, um ihren Platz einzunehmen. Sie saß natürlich in der ersten Reihe. Alberto Moreno würde, wie immer, hinter der Bühne den Auftritt seines Schützlings verfolgen.

Thomas wurde mit lautem Beifall begrüßt. Er verbeugte sich und bezog das Orchester in die Begrüßung mit ein. Dann setzte er sich auf den Schemel vor dem Flügel. Augenblicklich herrschte gespannte Stille.

Als dann die ersten Takte des »Hummelfluges« begannen, da war Andreas sehnlichster Wunsch in Erfüllung gegangen. Wie in einem Traum gefangen, saß sie auf ihrem Platz und lauschte dem Mann dort oben auf der Bühne. Ihrem Mann!

Und sie erinnerte sich an einen Satz, den Pfarrer Trenker ihnen auf ihrer Hochzeit gesagt hatte: »Liebe überwindet alle Hindernisse, und Liebe kann alles verzeihen.«

Zehn lange Jahre hatte sie auf diesen Augenblick gewartet. Und jetzt war ihr geduldiges Herz belohnt worden.

Der Bergpfarrer Paket 1 – Heimatroman

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