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Altes Unrecht gegen neues Glück Im Schatten des silbernen Medaillons Roman von Waidacher, Toni

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Der Wagen des Bergpfarrers bog in die Einfahrt des Hirschlerhofes und hielt vor dem Bauernhaus. Sebastian Trenker stieg aus und schaute sich um. Er entdeckte den Sohn des Altbauern, der am Stall stand und irgend etwas auszumessen schien.

»Grüß dich, Vinzent«, rief der Geistliche und ging zu ihm hinüber.

»Grüß Gott, Hochwürden«, erwiderte der Bauer. »Was führt Sie zu uns?«

»Ich wollt’ eigentlich mit dem Vater sprechen. Ist er daheim?«

»Der ist heut’ schon in aller Frühe aus dem Haus«, erklärte Vinzent Hirschler. »Ein bissel wandern.«

Sebastian sah ihn ein wenig verwundert an. Hubert Hirschler, Altbauer und ehemaliger Besitzer des Hofes, war nicht mehr der jüngste.

»Wandern? Wohin hat er denn gewollt?« erkundigte er sich.

»Den Jägersteig weiter hinauf. Aber warum fragen S’ das?«

Plötzlich ging ein Zucken durch das Gesicht des Bauern.

»Ist vielleicht was passiert?« fragte er erschrocken. »Sind S’ gekommen, weil…«

»Nein, nein«, Sebastian schüttelte den Kopf. »Net, was du denkst. Ist der Vater allein unterwegs?«

»Nein, er begleitet den Herrn Hinzmann«, antwortete Vinzent.

»Aha. Und wer ist das?«

»Ach, irgend so ein Tourist. Wohnt mit seiner Frau in einer der Pensionen drunten im Dorf. Aber die fühlt sich net ganz wohl und hat net viel Lust zu einer Wanderung. Deshalb ist der Vater mit dem Georg losgegangen.«

»Dann heißt dieser Herr Hinzmann also Georg mit Vorname?«

Vinzent nickte.

»Ja, Vater hat ihn vorigen Sonntag kennengelernt. Ist ein ganz netter Mensch, interessiert sich für alte Bauernhöfe. Er war schon einige Mal bei uns.«

Der junge Bauer lächelte.

»Gehört schon fast zur Familie«, setzte er hinzu.

Aber dann blickte er den Bergpfarrer forschend an.

»Sagen S’, Hochwürden, haben S’ einen bestimmten Grund für Ihren Besuch?«

Sebastian Trenker erwiderte den Blick.

»Ja, den hab’ ich«, erwiderte er. »Allerdings möcht’ ich darüber erst einmal mit deinem Vater reden. Aber etwas anderes, kennst du einen Mann namens Franz Gruber? Hat er euch mal aufgesucht?«

Vinzent Hirschler runzelte die Stirn.

»Franz Gruber?« antwortete er. »Freilich kenn ich da jemanden, der so heißt. Eigentlich sind’s sogar mehrere. Ist ja kein ungewöhnlicher Name.«

»Nein, hier in der Gegend ist er weit verbreitet«, bestätigte der Geistliche. »Aber der, den ich meine, spricht hochdeutsch.«

Der Bauer schürzte die Lippen und schüttelte nachdenklich den Kopf.

»Nein«, antwortete er schließlich. »So einen Franz Gruber kenn’ ich net.«

Pfarrer Trenker nickte.

»Dann nix für ungut, Vinzent«, sagte er. »Ich muß jetzt wieder weiter. Grüß mir die Familie. Und ich komm’ mal wieder vorbei.«

Während er zu seinem Auto ging, schaute ihm der junge Bauer nachdenklich hinterher.

Genauso nachdenklich fuhr der gute Hirte von St. Johann ins Dorf hinunter. Sein Besuch auf dem Hirschlerhof war anders verlaufen, als er es sich vorgestellt hatte. Schade, daß der Altbauer nicht daheim gewesen war. Sebastian Trenker hätte ihm schon einige Fragen zu stellen gehabt.

Da war vor allem Huberts Verbindung zu einem gewissen Josef Gruber, einem Mann aus St. Johann, der vor mehr als fünfzig Jahren in einen Diebstahl verwickelt war. Ein wertvolles Medaillon soll er gestohlen und dafür im Gefängnis gesessen haben. Nach seiner Haftentlassung war Gruber nicht wieder nach St. Johann zurückgekehrt. Erst vor kurzem hatte Max Trenker herausgefunden, daß der Mann vor einigen Jahren in Norddeutschland verstorben war, in der Nähe von Hannover hatte er bis dahin gelebt.

Vor kurzem war dann ein Franz Gruber in St. Johann aufgetaucht, hatte sich in der Pension von Marion und Andreas Trenker eingemietet und sich in auffälliger Weise nach einem Brandnerhof erkundigt. Davon gab es allerdings eine ganze Reihe im Wachnertal, denn auch der Name Brandner war nicht ungewöhnlich für diese Region.

Nachdem der Bergpfarrer diesen Herrn Gruber mehrere Male angesprochen hatte, dieser sich ihm gegenüber aber wortkarg gab, hatte der Geistliche schließlich seinen Bruder gebeten, darüber nachzuforschen. Heraus kam eben die Geschichte von dem Diebstahl des wertvollen Schmucks, und Sebastian vermutete, daß Josef der Vater von Franz Gruber war. Max forderte daraufhin die Prozeßakte an, und mit ihrer Ankunft eröffnete sich für den Pfarrer ein ganz neuer Aspekt.

Wie sich herausstellte, war Hubert Hirschler seinerzeit als Zeuge gegen Josef Gruber aufgetreten und hatte diesen schwer beschuldigt. Hubert Hirschlers Aussage gab damals den Ausschlag dafür, daß Josef Gruber verurteilt wurde! Da wurde dem Bergpfarrer klar, welche Verbindung es zwischen dem Namen Hirschler und dem ominösen Brandnerhof gab: Hubert Hirschler hatte, kurz nachdem der Prozeß vorüber war, eine junge Frau geheiratet. Die Tochter eines Bauern und Alleinerbin des Hofes – ihr Name war Maria Brandner.

Und so hatte der Hirschlerhof früher Brandnerhof geheißen!

*

Hubert Hirschler blieb einen Moment stehen und holte tief Luft.

»Sollen wir eine Pause machen?« fragte sein Begleiter.

Der Altbauer schüttelte den Kopf.

»Net nötig, Georg«, erwiderte er, »wir sind ja gleich da.«

Der Mann, der sich Georg Hinzmann nannte, in Wirklichkeit aber Franz Gruber hieß, wischte sich den Schweiß von der Stirn. Es war früher Vormittag, und die Sonne stand am strahlend blauen Himmel. Kein Lüftchen regte sich, und die Temperatur mußte wohl an die achtundzwanzig Grad betragen.

Hubert nickte ihm zu und setzte sich wieder in Bewegung.

»Noch ein oder zwei Kilometer«, sagte er. »Dann machen wir Brotzeit. Die Klara hat uns ordentlich was eingepackt.«

»Eigentlich müßte ich mich deiner Schwiegertochter gegenüber mal erkenntlich zeigen«, meinte Gruber. »Jedesmal wenn wir losziehen, sorgt sie dafür, daß wir nicht verhungern und verdursten.«

Der Altbauer winkte ab.

»Schon gut«, erwiderte er. »Das macht sie doch gern’. Aber sag’ mal, wie geht’s denn deiner Frau?«

»Na ja, heute geht es ihr mal wieder nicht ganz so gut«, entgegnete Franz Gruber. »Der Föhn macht ihr zu schaffen.«

»Schade. Du müßtest sie eigentlich mal mit zu uns bringen. Wenn ihr mit dem Auto fahrt, kann’s doch wirklich net so schlimm für sie sein.«

»Mal sehen«, meinte der Norddeutsche ausweichend. »Vielleicht geht es ihr in den nächsten Tagen ja besser, und wir besuchen euch, kurz bevor wir wieder nach Hause fahren.«

Als Franz Gruber das sagte, drehte er den Kopf zur Seite, damit der alte Mann sein grimmiges Gesicht nicht sah. Er hatte keinesfalls die Absicht, in Kürze wieder nach Hause zu fahren. Seine Frau war auch nicht in der Pension geblieben, wie er Hubert Hirschler erzählt hatte. Lina Gruber war gar nicht nach Bayern mitgekommen, sondern daheim geblieben, in Moorkate, einem kleinen Dorf in der Nähe von Hannover. Sie mußte ja, zusammen mit ihrem Sohn Thomas, den Tischlereibetrieb weiterführen.

Der Altbauer ahnte natürlich nicht, daß er so getäuscht wurde. Auch nicht, was Franz Gruber in Wirklichkeit vorhatte.

Aber er würde es noch früh genug erfahren…

Die beiden Männer hatten den Rest des Weges zurückgelegt und standen nun auf einem schmalen Plateau. Sie blickten ins Tal hinunter und schauten fast bis nach St. Johann hinüber.

»Ist das net ein herrlicher Ausblick?« fragte Hubert.

Er war fünfundsiebzig Jahre alt, aber die sah man ihm nicht an. Auch wenn er sein Leben lang gearbeitet hatte, war er immer noch rüstig und konnte es mit einem Jüngeren durchaus aufnehmen, was die Kondition anging.

»Wunderschön«, stimmte Franz Gruber zu und nahm den Rucksack von der Schulter.

Er öffnete ihn und holte Päckchen mit belegten Broten und eine Thermoskanne heraus. Dann nahmen sie ihre Brotzeit ein, während sie ins Tal schauten.

Franz Gruber war Mitte vierzig, groß und schlank. Das Haar war dunkelbraun, und sein Gesicht machte einen sympathischen Eindruck. Vielleicht war das der Grund, warum Hubert Hirschler so schnell Vertrauen zu ihm gefaßt hatte, als sie sich das erste Mal begegneten.

Daß dies kein Zufall war, wußte nur der Norddeutsche…

Ja, Franz hatte sich alles gut überlegt. Hergekommen war er mit der Absicht, das Unrecht, das seinem Vater widerfahren war, zu rächen. Doch es hatte eine Weile gedauert, bis er den Schuldigen gefunden hatte. Der Brandnerhof, den er gesucht hatte, hieß heute Hirschlerhof. Ein zufällig mit angehörtes Gespräch, während des Tanzabends im Löwen, hatte ihn auf die Spur gebracht. Gruber war gleich am nächsten Tag hinaufgefahren und machte dabei Hubert Hirschlers Bekanntschaft. Indem er dem Alten vorgaukelte, sich für Bauernhöfe zu interessieren, erschlich er sich dessen Vertrauen. Inzwischen war er mehrere Male Gast der Familie gewesen, hatte sich auf dem Hof umgesehen und dabei seinen Plan immer weiter entwickelt.

Und heute sollte es soweit sein. Die Stunde der Abrechnung war gekommen. Hier oben waren sie ganz alleine, und niemand würde Zeuge sein, wenn er dem Widersacher seines Vaters die Anklage entgegenschleuderte.

Wie hatte er diesen Tag herbeigesehnt!

Nur schade, daß sein Vater es nicht mehr erlebte. Aber er, der Sohn, hatte sein Versprechen gehalten, den Mann zu finden, der schuld am Unglück des Josef Grubers war, und nichts und niemand würde ihn daran hindern, seine Rache bis zum letzten Moment auszukosten.

*

»Was bist’ denn so stumm?« fragte der Altbauer nach einer Weile.

Sein Wanderkamerad saß neben ihm und starrte vor sich hin. Hubert Hirschler ahnte, daß ›Georg Hinzmann‹ etwas sehr stark beschäftigte.

»Ich habe an meinen Vater gedacht«, erwiderte Franz Gruber und hob den Kopf.

»Lebt er noch oder ist er etwa schon tot?«

»Ja, er starb vor ein paar Jahren.«

»War er denn so alt oder krank?«

Gruber holte tief Luft.

»Nicht älter, als du damals warst«, antwortete er. »Nein, am Alter hat es nicht gelegen. Er starb an gebrochenem Herzen.«

»Das tut mir leid«, murmelte Hubert Hirschler. »Was war denn geschehen? Oder magst’ es mir net sagen?«

Der Jüngere trank einen Schluck Kaffee. Er hatte lange überlegt, wie er das Gespräch beginnen sollte. Und vor allem, wie es enden konnte. Mehr als einmal hatte er den Gedanken gehabt, diesen Mann neben sich umzubringen. Und hier, an diesem Platz, wäre es geradezu ein Kinderspiel. Sie waren ganz alleine auf dem Jägersteig, und wenn er den Altbauern über den Rand des Plateaus drängte, und dieser in die Tiefe stürzte, dann konnte er es immer noch als Unfall hinstellen…

Doch Franz Gruber war kein Mörder, und sein Vater würde dadurch auch nicht wieder lebendig werden. Hubert Hirschler sollte aber nicht so einfach davonkommen. Er mußte gestehen, was er damals getan hatte, und Josef Gruber in der Öffentlichkeit rehabilitieren.

»Meinem Vater wurde Unrecht zugefügt«, sagte er schließlich. »Er war noch sehr jung damals und ahnte nicht, wie infam ein Mensch sein konnte. Die ganze Geschichte spielte sich vor mehr als fünfzig Jahren ab…«

Er sah Hubert durchdringend an. Doch in dessen Gesicht zeigte sich keine Regung.

Aber wie sollte er auch? Der alte Mann stellte ja keine Verbindung zwischen ihm und Josef Gruber her.

»Mein Vater wurde ins Gefängnis gesteckt, obwohl er unschuldig war«, setzte er hinzu und beobachtete den Alten ganz genau.

War da nicht eben ein Aufblitzen in dessen Augen gewesen? Sah er jetzt zumindest die Parallele zwischen seiner Geschichte und der, die er gerade erzählt bekam?

Hubert Hirschler räusperte sich. Ihm war plötzlich sehr heiß geworden. Natürlich war ihm eingefallen, was ihm seit Jahren auf der Seele lastete…

»Wie… wie kam denn das?« fragte er mit belegter Stimme.

Franz verzog das Gesicht zu einem spöttischen Lächeln.

»Ein vermeintlicher Freund trat in dem Prozeß gegen meinen Vater als Zeuge auf«, fuhr Gruber fort. »Eigentlich ging es bei der ganzen Sache aber um etwas ganz anderes. Die beiden, Vater und sein damaliger Freund, hatten sich in ein und dieselbe Frau verliebt. Wie es aussah, schenkte die ihre Gunst aber meinem Vater. Daraufhin entwickelte der Konkurrent einen perfiden Plan. Er brach in das Haus der Frau ein und stahl Schmuck. Den versteckte er so gut, daß niemand ihn finden konnte.

Und zwar in der Kammer meines Vaters!

Dann sorgte er dafür, daß die Polizei einen Wink bekam. Sie durchsuchten die ganze Wohnung und fanden den Schmuck natürlich. Der ›Freund‹ sagte aus, mein Vater habe mehrmals erzählt, daß er der Dieb sei, und dafür wurde Josef Gruber ins Gefängnis gesteckt!«

Hubert Hirschler atmete schwer. Er war leichenblaß geworden, und auf seiner Stirn standen dicke Schweißperlen. Schon bei der Schilderung war ihm klar geworden, daß das eingetreten war, was er immer befürchtet hatte. Die Geschichte, die ›Georg‹ erzählte, war seine eigene, denn genauso hatte sich damals alles abgespielt.

»Du bist net der, für den du dich ausgibst!« stieß er keuchend hervor.

»Nein, der bin ich nicht«, sagte Franz Gruber ruhig und schüttelte den Kopf. »Ich bin der Sohn des Mannes, den du auf dem Gewissen hast, Hubert Hirschler!«

Der Altbauer war aufgesprungen. Er fuchtelte wild mit den Händen herum.

»Was weißt du schon davon, wie’s damals war?« rief er völlig außer sich. »Dein Vater kann dir viel erzählt haben. Er war ja schon immer ein Aufschneider.«

Gruber fuhr hoch. Drohend stand er vor dem Altbauer und sah ihn zornig an.

»Hüte dich, das Andenken meines Vaters in den Schmutz zu ziehen!« brüllte er unbeherrscht. »Ausgerechnet du solltest ganz leise sein!«

Hirschler war unwillkürlich einen Schritt zurückgetreten. Deutlich flackerte Angst in seinen Augen auf. Sollte es zu einer tätlichen Auseinandersetzung kommen, so hatte er gegen den Jüngeren gewiß keine Chance.

»Georg…«, sagte er leise.

Der unterbrach ihn mit einem Kopfschütteln.

»Gruber ist mein Name. Franz Gruber«, erklärte er. »Georg Hinzmann habe ich mich nur genannt, weil ich nicht wollte, daß du schon vorher darauf kommst, wer ich wirklich bin.«

Er sah die Angst in den Augen des alten Mannes und schüttelte erneut den Kopf.

»Du brauchst dich nicht zu fürchten«, sagte er. »Ich habe nicht die Absicht, dir etwas anzutun, obwohl ich dich in Gedanken schon tausendmal umgebracht habe. Aber das wäre zu wenig an Strafe für dich.«

Hubert sah ihn unsicher an.

»Was… was willst’ dann von mir?« fragte er.

»Ich will, daß du öffentlich bekennst, daß du dieses Medaillon damals gestohlen hast!« forderte Gruber.

»Unmöglich!« rief der Altbauer.

Sein Gegenüber lächelte wieder spöttisch.

»Ich weiß«, nickte er. »Ich habe dich und deine Familie kennengelernt. Dein Sohn und deine Schwiegertochter halten große Stücke auf dich, Hubert. Deine Enkelin, die Franzi, liebt dich abgöttisch, und überall im Tal bist du ein angesehener und geschätzter Mann; ein guter Freund und Nachbar.

Was glaubst du, werden die Leute von dir halten, wenn die Wahrheit ans Licht kommt? Werden sie sagen, man sollte die alte Geschichte ruhen lassen? Was will der Sohn vom Gruber denn noch, nach so langer Zeit?

Nein, Hubert Hirschler, mit den Fingern werden sie auf dich zeigen. Auf den Mann, der einen Unschuldigen ins Gefängnis gebracht hat, der seinem angeblich besten Freund alles nahm, wovon er geträumt hatte. Nicht du säßest heute auf dem Hof, den Maria Brandner geerbt hatte, sondern mein Vater. Gruberhof würde er jetzt heißen, und ich wäre Bauer geworden und nicht Tischler. Du hast das alles durch deine falschen Anschuldigungen zunichte gemacht. Du bist schuld, daß mein Vater viele Jahre seines Lebens in Armut und Elend verbringen mußte. Du hast ihn auf dem Gewissen, Hubert Hirschler!«

Die letzten Worte hatte Franz Gruber förmlich herausgeschrien. Jetzt stand er vor dem Altbauer und rang nach Luft. Der alte Mann war erstarrt, er suchte nach Worten, die sein damaliges Verhalten entschuldigen sollten. Doch Gruber ahnte es und schüttelte den Kopf.

»Spar dir deine Erklärungen«, sagte er hart. »Ich gebe dir eine Woche Zeit, um die Sache von damals richtigzustellen, um den Leuten zu sagen, was du getan hast. Solltest du diese Zeit ungenützt verstreichen lassen, werde ich derjenige sein, der überall bekannt macht, was für ein Mensch du wirklich bist.«

Damit drehte er sich um und ließ Hubert Hirschler stehen.

Der spürte plötzlich einen stechenden Schmerz in der Brust. Nie hatte er Probleme mit dem Herzen gehabt, aber jetzt war es ihm, als wolle es aussetzen. Der Druck wurde immer stärker, und Hubert krümmte sich zusammen.

»Nein«, ächzte er, »das werd’ ich niemals tun!«

Dann richtete er sich auf und ignorierte den Schmerz.

»Hast du gehört?« rief er Franz Gruber hinterher. »Niemals werd’ ich das tun!«

Doch der hörte ihn nicht mehr. Der Mann, der das Unrecht an seinem Vater rächen wollte, war längst um die Wegbiegung verschwunden.

Mutlos sank Hubert wieder auf den Stein, auf dem er zuvor gesessen hatte, schlug die Hände vor das Gesicht und weinte bitterlich.

*

»Wir haben also folgende Fakten«, sagte Sebastian Trenker zu seinem Bruder. »Erstens, Josef Gruber wurde aufgrund der Zeugenaussage von Hubert Hirschler verurteilt. Er verließ das Wachnertal nach Verbüßung der Haftstrafe und kehrte nie wieder zurück.

Zweitens, das gestohlene Medaillon gehörte Katharina Brandner, der Mutter der Frau, die Hubert Hirschler bald darauf heiratete, Maria Brandner. Sie erbte den Hof der Eltern, und nach einiger Zeit wurde er dann in Hirschlerhof umbenannt.

Drittens, nach mehr als fünfzig Jahren taucht der Sohn von Josef Gruber hier auf und sucht nach einem bestimmten Bauernhof, den er aber net finden kann, weil der ja längst umbenannt worden ist. Es deutet aber alles darauf hin, daß es sich um den Hirschlerhof handelt. Also will Franz Gruber etwas vom alten Hubert.

Aber was? Rache dafür, daß der damals seinen Vater beschuldigt hatte?«

Max hob die Hände und ließ sie wieder fallen.

»Schaut ganz so aus«, meinte er. »Und das müssen wir verhindern. Hast’ schon mit dem Hubert gesprochen?«

»Ich wollt’s heut’ morgen«, antwortete der Bergpfarrer. »Aber er war net daheim. Da fällt mir ein, der Vinzent sagte, sein Vater wäre mit einem Mann unterwegs. Einem Urlauber, der Georg Hinzmann heißt…«

»Du sagst es so nachdenklich…«, warf der Polizeibeamte ein.

»Ja, weil es mir seltsam vorkommt. Ausgerechnet jetzt macht der Hubert die Bekanntschaft eines Mannes, der hochdeutsch redet!« Sebastian nickte nachdenklich. »Das kann kein Zufall sein. Ich bin ziemlich sicher, daß es sich bei diesem Mann um Franz Gruber handelt, der sich bloß anders nennt. Auf alle Fälle könntest’ dich mal umhören, ob in irgendeiner Pension ein Mann mit diesem Namen wohnt. Es müßt’ auch eine Frau Hinzmann geben. Vinzent erzählte, daß sie leidend sei und immer im Ort bleibe, wenn ihr Mann unterwegs ist.«

»Das mach’ ich«, erwiderte sein Bruder. »Aber sag’ mal, Sebastian, meinst’ net auch, daß der Hubert in Lebensgefahr schwebt, wenn der Gruber wirklich auf Rache sinnt? Sollten wir net besser nach ihm suchen?«

»Den Gedanken hatte ich zuerst auch«, antwortete der gute Hirte von St. Johann. »Aber dann bin ich zu einem anderen Schluß gekommen. Würde Franz Gruber dem Altbauern wirklich ans Leben wollen, dann hätt’ er schon oft genug die Gelegenheit dazu gehabt. Immerhin ist’s heut’ net das erste Mal, daß sie eine Wanderung unternehmen. Nein, ich denk’ net, daß der Gruber dem Hubert ans Leben will. Seine Rache ist viel subtiler. Ich könnt’ mir vorstellen, daß er den Alten dazu zwingen will, die Wahrheit zu sagen, damit sein Vater endlich rehabilitiert wird.«

»Aber ist das net verrückt, nach so langer Zeit?« Max schüttelte den Kopf.

»Vielleicht ist es das wirklich«, sagte Sebastian. »Aber vermutlich hat der Sohn es dem Vater versprochen, und so, wie ich ihn einschätze, wird ihn nichts und niemand davon abbringen können.«

»Und was willst du jetzt tun?«

»Sie werden net den ganzen Tag unterwegs sein. Irgendwann kommt Franz Gruber in die Pension zurück. Ich hab’ Andreas gebeten, mich dann anzurufen. Wenn’s soweit ist, werd’ ich hinübergehen, und dann kann er mir net mehr ausweichen.«

Die Unterhaltung fand nach dem Mittagessen im Pfarrhaus statt. Max kam dazu immer noch vom Revier herüber. Claudia, seine Frau, arbeitete bei der Zeitung in GarmischPartenkirchen, und es lohnte für sie nicht, nach Hause zu fahren, weil ihre Mittagspause dafür einfach zu kurz war.

Der Polizeibeamte verabschiedete sich von seinem Bruder und versprach noch mal, sich nach einem Georg Hinzmann umzuhören. Er wollte gleich die Pensionen aufsuchen und nachfragen.

Pfarrer Trenker ging in sein Arbeitszimmer. Hier wartete immer noch die unerledigte Post vom Morgen. Als er sich setzte, fiel sein Blick auf das Gemälde an der gegenüberliegenden Wand. Es zeigte den Zwillingsgipfel, ›Himmelsspitz‹ und ›Wintermaid‹, in Öl gemalt.

Sebastian seufzte. Gerne wäre er mal wieder aufgestiegen und hätte den alten Franz Thurecker auf der Kandereralm besucht oder auf der Streusachhütte vorbeigeschaut. Aber die Ereignisse im Dorf gestatteten ihm dieses Vergnügen nicht. Erst einmal mußte die Angelegenheit um Franz Gruber und Hubert Hirschler aufgeklärt werden, ehe der Bergpfarrer sich wieder auf seine geliebte Bergtour machen konnte.

Seufzend nahm er sich den Briefstapel vor und versuchte, den Gedanken an die Berge und einen Aufstieg zu verdrängen.

*

»Was ist denn mit Großvater los?« fragte Franziska Hirschler ihre Eltern.

Dabei deutete sie auf den halbvollen Teller, der auf dem Platz des Altbauern stand.

»Er hat ja kaum etwas gegessen«, setzte sie hinzu. »Ist er vielleicht krank?«

Ihre Mutter zuckte die Schultern.

»Keine Ahnung«, antwortete sie. »Heut’ morgen war er noch ganz gesund, als er mit dem Georg losgezogen ist.«

Franzi schaute nachdenklich zur Tür, durch die ihr Großvater vor wenigen Augenblicken gegangen war. Sie führte in den Anbau, den Hubert Hirschler bewohnte.

»Ob ich mal besser nach ihm schau?« überlegte sie laut.

Ohne eine Antwort abzuwarten, stand sie auf.

»Laß das Geschirr ruhig stehen, Mutter«, sagte sie. »Ich räum’ nachher ab.«

Franzi war ein hübsches, achtzehnjähriges Madl mit dunklem Haar, das sie manchmal zu Zöpfen flocht. Sie besuchte in der Stadt das Gymnasium und wollte nach dem Abitur, zur Überraschung ihrer Eltern, Architektur studieren, anstatt den Hof einmal zu übernehmen, wie es eigentlich üblich gewesen wäre.

Als sie damals diesen Wunsch geäußert hatte, war sie darauf gefaßt gewesen, auf Widerstand zu stoßen. Immerhin ging es um nicht mehr und nicht weniger, als daß der Hof verkauft werden würde, wenn die Eltern einmal nicht mehr lebten. Indes hatte Franzi Unterstützung von seiten des Großvaters erhalten, der sie in ihrem Vorhaben unterstützte. Er liebte seine Enkelin über alles, was vielleicht vor allem daran lag, daß Franzi ihrer verstorbenen Großmutter wie aus dem Gesicht geschnitten war.

Zaghaft klopfte sie an die Tür zu seiner Wohnstube. Franzi wußte, daß der Großvater sich nach dem Essen gerne für eine halbes Stündchen aufs Sofa legte und einen Mittagsschlaf hielt. Als sie keine Antwort erhielt, drückte sie vorsichtig die Klinke herunter und spähte durch die Türöffnung.

»Schläfst du?« flüsterte sie.

Hubert Hirschler lag ausgestreckt auf dem Sofa. Er hatte die Augen geschlossen und regte sich nicht. Franzi ging näher, zog einen Stuhl heran und setzte sich. Dann nahm sie seine Hand und hielte sie fest.

»Was ist mit dir?« fragte sie besorgt. »Du wirst doch wohl etwa net krank?«

Er sah sie an und schüttelte den Kopf.

»Bloß ein bissel müd’«, murmelte der Großvater. »Mach’ dir keine Sorgen.«

»Das tu’ ich aber«, beharrte die Enkelin. »Gegessen hast’ auch nix!«

Hubert versuchte zu lächeln.

»Manchmal hat man halt keinen Appetit.«

Er strich ihr über das Haar.

»Laß mich noch ein bissel liegen«, sagte er. »Ich denk’ grad an deine Großmutter.«

Franzi gab ihm einen Kuß.

»Ich vermisse sie auch«, antwortete sie und ging wieder hinaus.

Der Altbauer seufzte tief auf. Er hatte immer geahnt, daß das Kapitel Josef Gruber noch nicht abgeschlossen war, auch wenn er es all die Jahre verdrängt hatte. Einmal mußte es ja so kommen, dessen war er sicher gewesen. Irgendwann würde ihm die Rechnung für das, was er getan hatte, präsentiert werden.

Und nun war der gefürchtete Tag gekommen!

Verzweifelt war er auf den Hof zurückgekehrt. Was Franz Gruber da von ihm forderte, konnte er unmöglich erfüllen.

Wie stand er dann da?

Vor der Familie, den Nachbarn und Freunden!

Und vor allem vor Franzi…

Die ganze Zeit schon sann er über einen Ausweg nach. Aber es wollte ihm nichts einfallen.

Ob man mit Geld die Sache aus der Welt schaffen konnte?

Gewiß, Reichtümer hatte er nie anhäufen können, aber es war ihm all die Jahre auch nicht so schlecht ergangen, daß er nicht etwas hätte zurücklegen können. Vielleicht half es ja, wenn er dem Sohn seines früheren Freundes seine ganzen Ersparnisse anbot. Dann mußte der doch eigentlich Ruhe geben und wieder abreisen.

Mit langsamen Bewegungen richtete sich Hubert Hirschler auf und ging zum Wohnzimmerschrank hinüber. Er öffnete die rechte Tür und zog einen Schlüssel aus der Tasche hervor. Er war klein und aus Messing. Damit schloß der Altbauer eine Schublade auf, in der er persönliche Dinge aufbewahrte. Neben seinem Sparbuch, Papieren und Dokumenten lag ganz zu unters ein kleines Kästchen aus rotbraunem Leder. Hubert nahm es heraus und ging damit zum Sofa zurück. Schwer atmend ließ er sich nieder und öffnete das Kästchen. Zwischen zwei Wattestückchen gebettet befand sich eine Kette mit einem kunstvoll gearbeiteten Anhänger.

Der Name ›Josefa‹ war darauf eingraviert.

Josefa, das war Marias Mutter gewesen. Sie hatte den Anhänger von ihrem späteren Mann zur Verlobung geschenkt bekommen, und dieser Schmuck war der Gegenstand, um den sich alles drehte.

Er erinnerte sich noch genau an den Tag, als er ihn gestohlen und den Verdacht auf den Freund und Rivalen gelenkt hatte. Und während der alte Mann ihn anschaute und sich erinnerte, rannen ihm die Tränen über das faltige Gesicht.

*

Franz Gruber saß in seinem Pensionszimmer. Er hatte eben mit seiner Frau telefoniert und ihr davon erzählt, was sich auf dem Jägersteig abgespielt hatte.

Lina hatte nicht gewußt, ob sie erleichtert sein konnte. Auch wenn Franz endlich Erfolg gehabt hatte, hieß das noch lange nicht, daß er auch schon bald wieder nach Hause kommen würde. Als sie diesbezüglich eine vage Andeutung machte, hatte ihr Mann ihr gleich jede Hoffnung genommen.

»Nicht bevor die Sache ausgestanden ist«, sagte er. »Jetzt habe ich den Kerl endlich soweit, und er wird klein beigeben!«

»Aber wir brauchen dich hier«, wagte Lina Gruber zu sagen. »Thomas und Horst schaffen es nicht mehr alleine.«

»Es wird nicht mehr lange dauern«, tröstete Franz seine Frau. »Spätestens nächste Woche bin ich zu Hause.«

Mit einem unbeschreiblichen Gefühl dachte er jetzt noch einmal an den Moment, in dem er Hubert Hirschler mit seiner Anklage konfrontiert hatte. Der Mann hatte nichts abgestritten, und jetzt konnte es nicht mehr lange dauern, bis er in aller Öffentlichkeit bekannte, was er damals getan hatte.

»Und wenn er es nicht tut, dann sorge ich dafür, daß es publik wird!« murmelte Franz Gruber mit grimmiger Miene.

Es klopfte an der Tür, und er ging hin und öffnete. Seine Miene verfinsterte sich, als er den Geistlichen sah.

»Grüß Gott, Herr Gruber«, sagte Sebastian freundlich, den abweisenden Gesichtsausdruck ignorierend. »Darf ich einen Moment hereinkommen?«

»Wenn es sein muß«, brummte der Norddeutsche und trat zur Seite.

»Vielen Dank.«

Der Bergpfarrer setzte sich auf einen Stuhl. Gruber nahm ihm gegenüber Platz.

»Was kann ich für Sie tun?« fragte er, immer noch mit abweisendem Blick.

»Erst einmal vielen Dank, daß Sie mir einen Augenblick Ihrer Zeit schenken, Herr Gruber«, sagte Sebastian. »Oder soll ich Herr Hinzmann sagen?«

Bei diesen Worten beobachtete er sein Gegenüber genau, doch in dessen Gesicht zeigte sich keine Regung.

»So nennen Sie sich doch, net wahr?« fuhr der Geistliche fort. »Georg Hinzmann, dessen arme, kranke Frau keinen Ausflug mitmachen kann, weil der Föhn ihr zusetzt…«

Endlich schürzte Franz Gruber die Lippen und bedachte den Besucher mit einem abschätzenden Blick.

»Was wollen Sie?« fragte er, kurz angebunden.

»Das ist net die Frage«, schüttelte Sebastian den Kopf. »Sondern vielmehr, was wollen Sie?«

»Das ist meine Privatsache und geht Sie nichts an!«

Der gute Hirte von St. Johann schüttelte den Kopf.

»Ich sagte es schon, wenn Ihre Anwesenheit hier etwas mit einem Mitglied meiner Gemeinde zu tun hat, dem Sie möglicherweise übel wollen, dann geht mich das wohl etwas an«, erwiderte Sebastian.

»Ihr Mitglied der Gemeinde ist ein gemeiner Schuft!« stieß Gruber hervor. »Er hat einen Unschuldigen ins Gefängnis gebracht und sich an dessen Elend bereichert.«

Sebastian hob die Hand.

»Ich weiß, was Hubert Hirschler Ihrem Vater angetan hat«, sagte er. »Aber ist das wirklich ein Grund, nach mehr als fünfzig Jahren einen Rachefeldzug zu starten?«

»Er wird nicht ungeschoren davonkommen, das verspreche ich Ihnen!« rief Franz Gruber mit lauter Stimme.

»Und was wollen Sie unternehmen?« fragte der Bergpfarrer. »Ihn töten jedenfalls net. Dazu hätten S’ inzwischen mehr als einmal Gelegenheit gehabt.«

In den Augen des anderen stand ein amüsiertes Lächeln.

»Nein«, schüttelte der den Kopf, »umbringen will ich ihn nicht. Warum auch? Das wäre nur eine unzulängliche Rache. Am eigenen Leib soll Hirschler erfahren, was es heißt, wenn die Leute mit dem Finger auf einen zeigen, wenn hinter seinem Rücken über ihn getuschelt wird, über den geachteten Bauern, der sein ganzes Lebensglück dem Unglück eines anderen verdankt.«

»Glauben Sie wirklich, daß das Ihren Vater befriedigt hätte?« äußerte Sebastian seine Zweifel.

»Ja, genau das denke ich«, rief Gruber, er nickte vehement. »Ich glaube es nicht, ich weiß es! Sein ganzes Leben hat mein Vater diesen Mann gehaßt. Immer hat er gewollt, daß Hubert Hirschler eines Tages für das bezahlen soll, was er ihm angetan hat. Ich habe es ihm versprochen, daß dieser Tag kommen wird. Und nun ist es soweit. Hirschler wird öffentlich bekennen, wessen er sich schuldig gemacht hat, oder ich werde es tun. Er hat die Wahl. Und dann wird mein Vater endlich seine Ruhe finden.«

Der Geistliche sah ihn nachdenklich an.

»Ich könnte es verstehen, wenn Ihr Vater hier vor mir sitzen würde«, sagte er. »Aber was bewegt Sie? Was sind Ihre Motive dafür?«

Franz Gruber erwiderte seinen Blick.

»Das kann ich Ihnen ganz genau sagen, Hochwürden«, antwortete er. »Ich bin in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen. In meiner Jugend war das Elternhaus die Hölle für mich. Vater ist nie mit seinem Leben zufrieden gewesen, und das ließ er meine Mutter und mich spüren. Damals habe ich nie begriffen, warum er so war. Erst später hat mein Vater mir alles erzählt, und ich verstand ihn. Ihm wurde alles genommen, wovon er als junger Mann geträumt hatte. Sein Leben verlief anders, als er es geplant hatte, und dafür verfluchte er diesen Mann. Mir ging es nicht anders. Als ich älter wurde und lernte zu begreifen, verstand ich meinen Vater und seinen Haß auf Hubert Hirschler. Es ist nicht alleine seine Rache, die mich hierher trieb, sondern ein stückweit auch die meine. Dafür, daß meine Jugend so erbärmlich war, für die vielen durchweinten Nächte, die Prügel, die ich bekommen habe, wenn Vater wieder einmal seine Depressionen hatte, und für das Elend, das meine Mutter, die mit alledem nichts zu tun hatte, erleben mußte. Deswegen, Hochwürden, wird Hubert Hirschler nicht ungeschoren bleiben! Er wird in aller Öffentlichkeit bekennen, was für ein Mensch er wirklich ist!«

Pfarrer Trenker atmete tief durch. Dieser Mann, der ihm gegenübersaß, war so voller Haß, daß in diesem Augenblick kein vernünftiges Wort mit ihm zu reden war.

Er stand auf und schaute Franz Gruber an.

»Sie tun mir leid«, sagte er leise. »Mit Ihrer Rache im Herzen sind Sie blind für die wirklich wichtigen Dinge im Leben. Wenn Sie zu mir gekommen wären, oder mit mir geredet hätten, als ich Sie ansprach, dann hätten wir sicher eine Lösung gefunden. Eine Entschuldigung vom Huber wäre Ihnen sicher net versagt geblieben, dafür hätt’ ich schon gesorgt. So aber wollen S’ einen Mann vernichten, der sich vielleicht sein Leben lang seiner Schuld bewußt war, die auf seinem Gewissen lastete und ihm sicher auch keine glücklichen Stunden bescherte.

Aber glauben S’ mir, Herr Gruber, ich werd’ net zulassen, daß Sie Hubert Hirschler vernichten, sein Ansehen in den Schmutz ziehen. Ganz gleich, was er getan hat, er ist eines meiner Schäfchen, und ich werd’ es genauso behüten, wie die anderen auch!«

*

Nachdem er das Zimmer verlassen hatte, sprach Sebastian mit Marion. Die Frau seines Cousins saß in ihrem Arbeitszimmer. Trotz des Aufwands, der in der Pension ›Edelweiß‹ betrieben wurde, nahm Marion Trenker sich immer noch Zeit, ihrem eigentlichen Beruf nachzugehen. Sie arbeitete seit Jahren für einen Hamburger Verlag für Kinder- und Jugendliteratur und übte diese Tätigkeit noch immer aus – wenn auch nicht in dem Ausmaß wie früher.

»Ich hab’ gerad’ mit eurem Gast gesprochen«, sagte der Geistliche.

Marion sah ihn ernst an.

»Ist der Herr Gruber denn inzwischen zugänglicher geworden?« erkundigte sie sich.

»Leider net«, erwiderte der Bergpfarrer. »Ganz im Gegenteil!«

Er erzählte, was er herausgefunden hatte, und wie Franz Gruber auf seinen Besuch reagiert hatte.

»Natürlich ist es schlimm, was seinem Vater widerfahren ist«, meinte Marion kopfschüttelnd. »Aber deshalb den Hirschler quasi vor allen Leuten zu blamieren, ist doch aber auch keine Lösung!«

»Sag’s ihm, net mir«, zuckte Sebastian die Schultern. »Aber du kannst sicher sein, daß ich ihn net einfach so gewähren lasse.«

»Was willst du denn unternehmen?«

»Das weiß ich ehrlich gesagt noch net. Auf jeden Fall muß ich mit dem Hubert sprechen. Net, daß da noch ein Unglück geschieht, weil er sich so in die Enge getrieben sieht.«

Er verabschiedete sich und fuhr gleich zum Hirschlerhof hinauf. Diesmal hatte er mehr Glück als am Morgen und traf den Altbauern in seiner Wohnung an.

»Grüß dich, Hubert«, sagte er. »Ich denk’, wir müssen mal miteinander reden. Über Franz Gruber…«

Hirschler nickte und bot ihm einen Platz an.

»Bist’ ganz allein’ zu Haus?«

»Die Klara und Franzi sind in die Stadt gefahren«, antwortete der Altbauer. »Vinzent ist mit dem Knecht droben im Wald.«

Er blickte den Besucher fragend an.

»Sind S’ jetzt hergekommen, um mich gleichfalls anzuklagen?« fragte er.

»Unsinn!« Der gute Hirte von St. Johann schüttelte den Kopf. »Ich bin weder Kläger noch Richter. Was du getan hast, weiß ich, aber das ist eine andere Geschichte. Jetzt geht’s mir darum, dir zur Seite zu stehen und zu helfen.«

Die Schultern des alten Mannes zuckten.

»Sie glauben net, wie sehr ich es bereut hab’«, sagte er leise. »Net erst, seit ich weiß, daß es der Sohn von Josef ist. Schon viel länger quälen mich die Gedanken an meine Schuld. Aber was geschehen ist, ist geschehen und läßt sich net wieder rückgängig machen. Ich hab’ gesündigt, Hochwürden, das ist wahr. Und wenn das Gesetz es will, dann bin ich bereit, meine Strafe dafür anzunehmen.«

Der Altbauer holte tief Luft.

»Aber ich bin net bereit, das was geschehen ist, in aller Öffentlichkeit auszubreiten!« setzte er bestimmt hinzu.

»Das wirst du auch net müssen«, sagte Sebastian. »Genau deshalb bin ich hier. Ich hab’ vorhin mit Franz Gruber gesprochen, und ich muß dir gleich sagen, daß es mir net gelungen ist, an ihn heranzukommen. Aber ich geb’ net auf, das versprech’ ich dir, Hubert.«

»Aber was können wir da machen?« fragte der Alte verzweifelt.

Pfarrer Trenker biß sich auf die Lippe, bevor er antwortete.

»Um eines wirst’ net herumkommen«, antwortete er. »Du mußt deiner Familie alles sagen. Oder weiß sie schon Bescheid?«

Hubert Hirschler wurde blaß.

»Nein«, entgegnete er. »Ich hab’s überlegt, aber ich schäm’ mich so…«

»Dein Sohn und die Klara lieben dich«, sagte der Geistliche. »Genauso die Franzi. Sie werden zu dir halten, da bin ich ganz sicher. Die Scham kann ich dir leider net ersparen, aber auch das geht vorüber. Jetzt ist’s wichtig, daß ihr alle zusammenhaltet und an einem Strang zieht. Ehrlich gesagt weiß ich net, wie der Franz Gruber reagiert, wenn du seiner Forderung net nachkommst. Aber wenn er tatsächlich an die Öffentlichkeit geht, dann brauchst du deine Familie.«

»Was könnt’ er denn sonst noch unternehmen?«

»So, wie ich ihn einschätze, ist er zu allem fähig«, antwortete Sebastian. »Franz Gruber ist voller Haß auf dich, weil er dich nicht nur für das Schicksal seines Vaters verantwortlich macht, sondern auch für seine Jugend in ärmlichen Verhältnissen. Wenn du auf seine Forderung nicht eingehst, könnt’ er vielleicht zu massiveren Mitteln greifen…«

Der Bauer sah ihn bestürzt an.

»Sie glauben, er könnt doch gegen mich…?

»Ja, vielleicht wird er gewalttätig«, nickte der Bergpfarrer besorgt. »Net gegen dich, denn das hätt’ er schon längst können, wenn er gewollt hätt’. Aber vielleicht reicht sein Haß so weit, daß er net davor zurückschreckt, irgendwelche andre Maßnahmen zu ergreifen. Welcher Art sie auch immer sein mögen…«

»Ja, dann werd’ ich mit den Kindern reden«, murmelte Hubert Hirschler und schaute betreten drein.

Sebastian stand auf und legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Wenn’s dir eine Hilfe ist, dann werd’ ich bei dem Gespräch anwesend sein«, bot er an.

Der Altbauer sah ihn dankbar an.

»Das würden S’ wirklich tun?« fragte er ungläubig.

»Freilich. Ich hab’ dir doch gesagt, daß ich gekommen bin, um dir zu helfen.«

»Dann würd’ ich mich wirklich freuen, wenn Sie dabei wären, Hochwürden.«

»Gut. Wann wär’ denn der beste Zeitpunkt?«

Hubert holte tief Luft.

»Am besten bring’ ich’s gleich hinter mich«, sagte er. »Noch heut’?«

Sebastian nickte.

»Wart’ bis nach dem Abendessen«, schlug er vor. »Ich bin gegen sieben wieder da.«

*

In St. Johann unterhielt er sich mit seinem Bruder über die Angelegenheit.

»Sollte der Gruber sich auch nur das kleinste zuschulden kommen lassen, sperr’ ich ihn ein!« sagte Max fest entschlossen.

»Warten wir’s erst mal ab«, erwiderte Sebastian. »Vielleicht sind meine Bedenken ja auch übertrieben.«

Der Polizist nickte. Indes wußte er, daß sein Bruder nie dazu neigte, etwas übertrieben zu sehen. Wenn Sebastian sich Gedanken machte, dann hatte er auch einen Grund dazu.

»Aber es wär’ mir ganz lieb, wenn du auf den Gruber ein Aug’ haben würdest«, bat der Geistliche. »Das heißt natürlich net, daß du ihn rund um die Uhr bewachen mußt, aber er soll schon merken, daß er beobachtet wird.«

»Darauf kannst’ dich verlassen!« Max nickte entschlossen.

Auf dem Hirschlerhof wurde Pfarrer Trenker schon erwartet. Die Familie saß um den Wohnzimmertisch versammelt, als Sebastian eintraf. Vinzent sah ihn fragend an.

»Was ist eigentlich los, Hochwürden?« fragte der Bauer. »Heut’ morgen wollten S’ Vater sprechen, aber mir net sagen, worum es geht. Und vorhin kündigt unser Vater Ihren Besuch an, weil’s was Wichtiges zu besprechen gäbe.«

»Das gibt es in der Tat«, antwortete der gute Hirte von St. Johann. »Aber laß mich erst einmal deine Frau und die Tochter begrüßen.«

Er reichte der Bäuerin die Hand und erkundigte sich bei Franzi, wie es in der Schule ging.

»Alles bestens«, erwiderte das Madl.

Hubert saß stumm in einem Sessel und brütete vor sich hin. In der Hand hielt er das Schmuckkästchen, das er nervös hin und her drehte. Nachdem der Geistliche Platz genommen hatte, schaute der Altbauer seine Familie an.

»Ich möcht’ etwas mit euch besprechen«, begann er langsam. »Aber zuerst dank’ ich Pfarrer Trenker, daß er hergekommen ist.«

»Also, was ist jetzt los?« fragte Vinzent Hirschler ungeduldig. »Ist was passiert?«

»Ja«, nickte sein Vater. »Ich hab’ euch zusammengerufen, weil etwas eingetreten ist, was ich schon lang’ befürchtet hab’…«

Seine Schwiegertochter war blaß geworden. Franzi schaute ihren Großvater entsetzt an.

»Bist du also doch krank?« rief sie mit Panik in der Stimme.

Hubert schüttelte den Kopf.

»Mir fehlt nix«, erwiderte er. »Es geht um etwas ganz anderes. Ihr kennt ja den Georg Hinzmann…«

Allgemeines Kopfnicken war die Antwort.

»Er ist aber net der, für den er sich ausgibt«, fuhr der Altbauer fort. »Sein richtiger Name ist Franz Gruber.«

Vinzent stieß einen überraschten Laut aus.

»Und wieso nennt er sich dann anders?«

»Franz Gruber ist der Sohn von Josef Gruber«, sprach sein Vater weiter. »Ich hatte immer gehofft, daß dieses Kapitel in meinem Leben ein für alle Mal abgeschlossen sei, aber tief in meinem Innern ahnte ich immer, daß die Vergangenheit mich eines Tages einholen würde…«

Erst langsam, dann immer fließender erzählte Hubert Hirschler von der Freundschaft zwischen ihm und Josef Gruber. Von der Frau, in die sie beide sich verliebten, und die ihre Gunst dem anderen schenkte.

Der Altbauer öffnete das Schmuckkästchen und hielt den Anhänger in den Händen.

Nur um Maria Brandner für sich zu gewinnen, hatte er es gestohlen und den Freund beschuldigt. Er erzählte von dem Prozeß und seiner Falschaussage, die Josef Gruber ins Gefängnis brachte.

»Ich rechnete damit, daß Josef nie wieder nach Hause zurückkehren würde, nach der Entlassung aus dem Gefängnis«, gestand er. »Und daß ich nie mehr von ihm hören würde. All die Jahre war es eine trügerische Hoffnung. Aber ich hatte keinen Grund, anzunehmen, daß nach all dieser Zeit die ganze Geschichte doch noch ans Licht kommen konnte.«

Er schaute die Seinen an.

»Und jetzt sitz’ ich hier vor euch, als Dieb und reuiger Sünder und bitt’ euch, mir zu vergeben. Den Josef kann ich net mehr um Verzeihung bitten, und sein Sohn will meine Entschuldigung net annehmen…«

Vinzent und seine Familie sahen sich entsetzt an. Franzi schluchzte auf und stürzte hinaus.

»Bleib!« rief ihr Vater ihr hinterher.

»Laß sie«, schüttelte Pfarrer Trenker den Kopf, der jetzt zum ersten Mal das Wort ergriff. »Ich weiß, wie sehr Franzi ihren Großvater liebt und verehrt. Sie muß das erst einmal alles durchdenken und verstehen.«

Vinzent griff nach der Hand seiner Frau.

»Und was geschieht jetzt?« fragte Klara Hirschler. »Was will Georg… ich meine Franz Gruber von Vater?«

»Er will, daß ich öffentlich meine Schuld bekenne«, sagte der Altbauer.

»Niemals!« schnappte sein Sohn. »Wie steh’n wir denn da, vor all den Leuten!«

»Darüber müssen wir sprechen«, sagte Sebastian. »Ich befürchte nämlich, daß Franz Gruber net von seiner Forderung abweichen wird.«

»Und was ist, wenn Vater net dazu bereit ist?«

Der Geistliche zuckte die Schultern.

»Darüber können wir nur Mutmaßungen anstellen«, erwiderte er. »Vielleicht wird er darüber nachsinnen, wie er euch schaden kann. Ich hab’ Max gebeten, ein Auge auf den Mann zu haben. Er wird sehen, daß er net schalten und walten kann, wie er will. Aber es muß ja gar net dazu kommen, daß Franz Gruber wirklich etwas Böses anstellt. Ich hab’ mir überlegt, noch mal mit ihm zu reden und ihm zu sagen, daß euer Vater net daran denkt, sich öffentlich zu bekennen. Seine Reaktion darauf müssen wir erst einmal abwarten.«

Er stand auf.

»Ihr habt sicher noch was zu bereden«, setzte er hinzu. »Ich schau’ mal nach der Franzi.«

Sebastian fand das Madl in seiner Kammer. Franzi lag auf dem Bett und hatte verweinte Augen. Der Geistliche setzte sich zu ihr und strich ihr ganz sanft über das Gesicht.

»Ich kann versteh’n, was das Geständnis für dich bedeutet«, sagte er. »Aber was immer er getan hat, er ist und bleibt dein Großvater, der dich liebt und dich in allem was du wolltest, unterstützt hat. Schau jetzt net mit Verachtung auf ihn. Er ist auch nur ein Mensch, und Menschen machen nun einmal Fehler. Das liegt in ihrer Natur. Glaub’ mir, niemand bereut das mehr, was geschehen ist, als er, und es ist an uns, ihm zu vergeben.«

Das Madl richtete sich auf.

»So lang’ ich denken kann, ist Großvater für mich die Güte selbst«, sagte es leise. »Unsre Familie war immer eins. Wir lieben uns, und bestimmt gibt es nix, was unser Glück all die Jahre getrübt hat. Ich war sicher, daß es immer so weitergehen würde, und jetzt geschieht das!«

»Grad dann, wenn man net dran denkt, geschieht das Unerwartete«, antwortete Sebastian. »Deshalb ist es gut, wenn man mit allen Eventualitäten rechnet. Dein Großvater hat all die Jahre diese Last mit sich getragen, und gewiß hat sie ihn schwer gedrückt. Jetzt würdest du ihm helfen können, indem du zu ihm hältst und ihm einen Teil dieser Last abnimmst.«

Franzi nickte.

»Ja, Hochwürden«, antwortete sie mit fester Stimme, »das will ich tun!«

*

In den nächsten Tagen geschah erst einmal nichts. Aber das war genau das, was Sebastian Trenker beunruhigte. An dem Abend, an dem Hubert Hirschler seiner Familie alles erzählt hatte, war der Bergpfarrer noch einmal zur Pension ›Edelweiß‹ gegangen und hatte mit Franz Gruber gesprochen. Eigentlich hatte er vorgehabt, eine ruhige und vernünftige Unterhaltung mit dem Mann zu führen. Doch Gruber lehnte ein Gespräch geradewegs ab. Als Sebastian ihm schließlich sagte, daß der Hirschlerbauer unter keinen Umständen bereit war, sich in aller Öffentlichkeit zu bekennen, blickte der Norddeutsche ihn stur an und erwiderte, dann würde er geeignete Maßnahmen ergreifen und den Bauern dazu zwingen. Aber wie diese Maßnahmen aussehen würden, sagte er nicht. Immerhin war er bereit, die Frist von einer Woche verstreichen zu lassen, damit Hubert Gelegenheit hatte, seine Haltung zu überdenken.

Dem guten Hirten von St. Johann war nichts anderes übriggeblieben, als ins Pfarrhaus zurückzugehen und sich mit Geduld zu wappnen.

Mehrmals fuhr er in den darauffolgenden Tagen zum Hirschlerhof. Die Familie war sich einig, daß sie zusammenstehen und dem Großvater helfen mußte. Sebastian war glücklich, daß zumindest in dieser Hinsicht alles in Ordnung war, aber er spürte, daß die Ungewißheit über das, was Franz Gruber vorhatte, an ihren Nerven zerrte. So gut er konnte, sprach er ihnen Trost zu und versicherte, daß sie jederzeit bei ihm anrufen könnten, wenn etwas Ungewöhnliches geschehen sollte.

Max konnte auch nichts Neues berichten. Er beobachtete Franz Gruber immer wieder mal, doch der gab sich ganz wie ein Tourist. Wanderte ein wenig in der Gegend umher, den Leihwagen hatte er am Vortage zurückgegeben, oder saß im Kaffeegarten des Hotels.

Auch Andreas und Marion hatten versucht, ihren Gast in ein Gespräch zu verwickeln, doch der gab gleich zu verstehen, daß ihm daran nicht gelegen war. Und dann wurde die Spannung immer größer.

Es waren noch zwei Tage, bis das Ultimatum ablief, das Gruber dem Bauern gestellt hatte…

An diesem Donnerstagmorgen klingelte schon in aller Frühe das Telefon im Pfarrhaus. Sebastian, der stets früh aufstand, nahm den Hörer ab und hörte Marions Stimme.

»Stell dir vor, der Gruber ist ausgezogen«, sagte die Frau seines Cousins.

»Was, jetzt schon?« rief der Geistliche verwundert. »Aber hatte er net bis Samstag gebucht?«

»Allerdings«, bestätigte Marion Trenker. »Aber eben grad bin ich durch den Flur gegangen und habe gesehen, daß seine Zimmertür aufsteht. Ich habe gerufen, und als keine Antwort kam, bin ich hineingegangen. Ich weiß eigentlich gar nicht warum, aber irgendwie hatte ich so ein komisches Gefühl. Und tatsächlich, seine ganzen Sachen waren fort, und auf dem Tisch lag ein Scheck, ausgestellt auf den gesamten Mietbetrag, bis einschließlich Samstag…«

»Das ist ja eine seltsame Geschichte«, meinte Sebastian nachdenklich. »Sollte Gruber tatsächlich seinen Plan aufgegeben haben und abgereist sein?«

»So schaut’s jedenfalls aus.«

»Hm, dann müßte er eigentlich noch an der Haltestelle stehen«, überlegte der Bergpfarrer laut. »Der erste Bus in die Stadt geht erst in einer guten Stunde. Vorausgesetzt, er will tatsächlich zum Zug…«

»Möglicherweise ist er aber schon gestern abend gegangen«, warf Marion ein. »Das Bett sah jedenfalls nicht so aus, als ob er darin geschlafen hätte.«

»Gestern schon? Könnt’ natürlich sein. Ich geh’ trotzdem mal zum Hotel hinüber.«

Er bedankte sich für den Anruf und sagte seiner Haushälterin Bescheid, daß er gleich wieder zurück sein würde. Als er am Polizeirevier vorüberging, kam gerade Claudia aus der Tür. Die Journalistin war auf dem Weg zur Arbeit.

»Grüß dich, Sebastian«, sagte sie überrascht. »Wohin willst’ denn schon so früh am Morgen?«

Der Bergpfarrer erklärte es ihr. Max kam ebenfalls heraus, um sich von seiner Frau zu verabschieden. Er war nicht weniger überrascht, seinen Bruder zu sehen, als die Journalistin.

»Na ja«, meinte der Polizeibeamte, »wär’ doch schön, wenn wir endlich Ruhe vor dem Burschen hätten.«

»Ich weiß net recht«, meinte Sebastian. »Irgendwie trau’ ich dem Frieden net. Mir kommt’s eher so vor wie die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm.«

Als er das sagte, ahnte er nicht, wie recht er mit dieser Annahme haben sollte…

An der Haltestelle stand noch niemand, der auf den Bus in die Stadt wartete. Sebastian ging ein paar Schritte, um zu schauen, ob Franz Gruber sich vielleicht in der Nähe aufhielt. Auch in den Kaffeegarten und das Hotel schaute er hinein. Doch den Mann, den er suchte, konnte er nirgendwo entdecken. Eine Hotelangestellte, die er fragte, schüttelte den Kopf. Sie hatte niemanden gesehen, auf den die Beschreibung paßte.

Noch einmal wartete der Geistliche ein paar Minuten ab, dann ging er zum Pfarrhaus zurück. Er war immer noch davon überzeugt, daß Gruber sich immer noch irgendwo hier aufhielt, und Sebastian war sich sicher, daß die Sache noch längst nicht ausgestanden war.

Nach dem Frühstück fuhr er zum Hirschlerhof hinauf. Es war unumgänglich, daß er Hubert und dessen Familie über das Verschwinden Grubers unterrichtete.

Auf dem Hof mußte man sich auf alles gefaßt machen!

*

Franz Gruber schaute sich in der Hütte um. Schon vor einigen Tagen hatte er sie entdeckt und herausgefunden, daß sie einem Bauern gehörte, der sie aber kaum nutzte. Die meiste Zeit stand die Hütte leer und diente nur hin und wieder Wanderern, die auf ihrem Ausflug von einem Unwetter überrascht wurden, als Unterschlupf.

Es war ein ideales Versteck. Hoch oben im Bergwald gelegen, zwischen Tannen verborgen, stand die Hütte und war wie geschaffen für Grubers Zwecke.

Natürlich hatte er bemerkt, daß der Bruder des Geistlichen ihn beobachtete, und das hatte ihn gewaltig gestört. Als er darüber nachdachte, welche Maßnahmen er gegen Hubert Hirschler ergreifen wollte, kam ihm diese Hütte wieder in den Sinn. Gruber überlegte sich, wie er es anstellen konnte, der Überwachung durch den Polizisten zu entgehen und ersann einen Plan.

Erst einmal suchte er ein paar Sachen aus dem Kleiderschrank und legte sie beiseite. Den Rest packte er in den Koffer, den er im Schutze der Dunkelheit zu dem Leihwagen brachte. Am nächsten Tag fuhr er in die Stadt. Den Koffer gab er bei der Gepäckaufbewahrung auf und brachte das Auto zu der Verleihfirma zurück. Mit dem Bus fuhr er wieder nach St. Johann.

Als er daran ging, seinen Plan umzusetzen, legte er die restliche Kleidung in seinen Rucksack und kaufte einige Lebensmittel ein, Brot vor allem und Dauerwurst. Dann wartete er, bis es dunkel wurde und verließ die Pension, nachdem er den Scheck ausgeschrieben hatte.

Wo die Hütte lag, hatte er sich ganz genau eingeprägt. Es war eine wolkenlose Vollmondnacht, außerdem hatte er eine Taschenlampe dabei. Franz Gruber hatte kein Problem, die Hütte wiederzufinden, die für die nächste Zeit sein Zuhause sein sollte.

Nach Mitternacht kam er dort an. Grinsend baute er sich ein Bett aus den Decken, die er hier gefunden hatte. Der Geruch störte ihn nicht, als er sich niederlegte. Statt dessen war er in Gedanken bei den überraschten Gesichtern, die die Wirtsleute machen würden, wenn sie entdeckten, daß er ›abgereist‹ war…

Und vor allem Pfarrer Trenker würde dumm schauen!

Mit einem spöttischen Lächeln drehte er sich auf die Seite und schloß die Augen. Das einzige, was ihn beschäftigte, war sein Mobiltelefon. Als er aus der Pension auszog, mußte er überrascht feststellen, daß der Akku seines Handys sich offenbar entladen hatte. Gruber wollte ihn schnell noch aufladen, doch der Akku schien defekt zu sein. Immer wieder versuchte er es, blieb aber ohne Erfolg, und nun gab es vorläufig keine Gelegenheit für ihn, sich mit Lina in Verbindung zu setzen.

Indes schob Franz Gruber dieses Problem erst einmal beiseite und versuchte zu schlafen. Alles andere würde sich schon finden.

Allerdings war an Schlaf nicht zu denken, denn es war fürchterlich kalt in der Hütte. Die Decken wärmten kaum, und Gruber fror erbärmlich. Gerne hätte er einen heißen Kaffee oder Tee getrunken, aber es gab keinen elektrischen Strom, er konnte nicht einmal heißes Wasser machen.

Als der Morgen graute, hatte Gruber immer noch nicht geschlafen. Er stand auf und ging auf und ab, wobei er fröstelnd die Arme um sich schlug.

Egal, dachte er, ich gebe nicht auf!

Ihm war schon klar gewesen, daß der Hirschlerbauer seiner Forderung nicht nachkommen würde, als Pfarrer Trenker das letzte Mal bei ihm war. Und so hatte er beschlossen, sich abzusetzen und das auszuführen, was er sich für diesen Fall vorgenommen hatte. Er würde so lange gegen den Altbauern vorgehen, bis dieser endlich nachgab und öffentlich verkündete, was er getan hatte. Und gleich in der kommenden Nacht sollte es losgehen. Bis dahin wollte Gruber sich hier im Wald und in der Hütte aufhalten, damit ihn niemand zufällig entdeckte.

Sobald die Sonne aufgegangen war, wurde es wärmer. Der Norddeutsche war ein Stück durch den Wald gegangen und hatte eine Lichtung entdeckt, auf der er sich niederließ. Gerne hätte er mit seiner Frau telefoniert und sie beruhigt. Gewiß würde Lina sich Sorgen machen, wenn er in den nächsten Tagen nichts von sich hören ließ. Aber damit mußte er sich abfinden. Was er vorhatte, war wichtiger. Und wenn er erst einmal wieder zu Hause war, würde sie ihn verstehen.

Gruber fühlte sich ausgesprochen wohl. Es wurde immer wärmer, die Sonne brannte auf die Lichtung. Er hatte von seinen Vorräten gegessen, und auf dem Weg hierher entdeckte er einen Bachlauf, der am Rande des Waldes floß. Das Wasser war kristallklar und schmeckte köstlich. Er fragte sich, ob sein Vater jemals hier oben gewesen war, und ob er selbst vielleicht Plätze besucht hatte, die Josef Gruber in seiner Jugend gekannt hatte.

Bevor es wieder dunkel wurde, kehrte er zur Hütte zurück. Dort war alles wie vorher, nichts deutete darauf hin, daß jemand in seiner Abwesenheit hier gewesen war.

Gruber wartete noch ein paar Stunden ab, dann machte er sich auf den Weg. Sein Ziel lag einige Kilometer unter ihm.

Es war der Hirschlerhof!

*

Thomas Gruber blickte seine Mutter besorgt an. Sie saß am Küchentisch und beugte sich über einen Stoß Rechnungen, die sie durchging. Normalerweise hätte sie diese Arbeit drüben im Büro verrichtet. Aber heute hatte sie die Unterlagen, nach Feierabend in der Werkstatt, mit in die Wohnung genommen.

Lina sah auf. Thomas ahnte, was ihn ihr vorging.

»Hat er sich immer noch nicht gemeldet?«

Seine Mutter schüttelte den Kopf.

»Ich werde noch verrückt«, murmelte sie und deutete auf das schnurlose Telefon, das neben ihr auf dem Tisch lag. »Den ganzen Tag versuche ich schon, deinen Vater zu erreichen. Aber ich höre immer nur die Ansage, daß der Teilnehmer zur Zeit nicht erreichbar ist. Ich möchte nur wissen, was da los ist!«

»Vielleicht hat Vater nur vergessen, sein Handy einzuschalten«, meinte der junge Tischlergeselle. »Hast du es mal in der Pension versucht?«

Lina schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn.

»Natürlich«, rief sie kopfschüttelnd. »Daran hätte ich auch selbst denken können!«

Thomas schmunzelte, während er zum Herd ging. Darauf stand eine Pfanne mit Bratkartoffeln. Die Hitze war auf die unterste Stufe geschaltet, so daß die Kartoffeln nur noch warmgehalten wurden, aber nicht mehr brieten. Auf der Anrichte daneben stand ein Teller mit Sauerfleisch darauf. Seine Mutter machte es selbst, und es gehörte zu Thomas’ Lieblingsspeisen.

Während er sich Kartoffeln auffüllte, wählte Lina die Nummer der Pension ›Edelweiß‹ in St. Johann. Der Sohn nahm noch eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank und setzte sich zu ihr.

»Guten Abend«, hörte er seine Mutter sagen, »Gruber hier. Mein Mann, Franz Gruber, wohnt bei Ihnen. Ich versuche schon den ganzen Tag ihn zu erreichen, aber sein Handy scheint nicht zu funktionieren, oder er hat vergessen, es einzuschalten. Könnten Sie vielleicht mal nachsehen, ob er auf seinem Zimmer ist?«

Thomas aß mit Genuß. Die Bratkartoffeln waren mit Speck und Zwiebeln gemacht und schmeckten köstlich.

»Was?« rief seine Mutter plötzlich. »Aber… das kann doch gar nicht sein!«

Der Sohn ließ sein Besteck sinken und sah sie fragend an.

»Wie bitte…? Ach so, ja… ja, dann vielen Dank.«

Lina Gruber legte das Telefon auf den Tisch und sah Thomas seltsam an.

»Was ist denn los?« wollte er wissen.

Sie zuckte die Schultern.

»Ich verstehe das überhaupt nicht«, antwortete seine Mutter. »Die Frau in der Pension hat gesagt, Vater wäre heute morgen nicht in seinem Zimmer gewesen. All seine Sachen seien fort, und er habe einen Scheck dagelassen, für die Miete. Sie vermutet, daß er abgereist ist.«

Ihr Sohn machte ein verwundertes Gesicht.

»Seltsam«, meinte er. »Warum meldet er sich dann nicht? Wenn er tatsächlich auf dem Weg hierher ist, dann muß ich doch nach Hannover, ihn von der Bahn abholen.«

Lina Gruber machte ein besorgtes Gesicht.

»Irgend etwas stimmt da nicht«, sagte sie.

»Wie meinst du das?«

»Ich weiß nicht«, antwortete sie. »Es klang so merkwürdig, als die Frau das sagte. Sie war nicht sicher, ob Vater heute morgen erst ausgezogen ist, oder nicht schon gestern abend…«

Thomas runzelte die Stirn.

»Gestern abend? Aber dann müßte er doch längst hier sein, wenn er den Nachtzug genommen hat…«

Seine Mutter nickte.

»Das stimmt. Er müßte längst hier sein!«

Sie sah ihren Sohn ganz angstvoll an.

»Wenn ihm was passiert ist…«

Hastig griff Franz Grubers Frau zum Telefon.

»Was hast du vor?« fragte Thomas.

»Ich rufe die Polizei an.«

»Und was willst du denen sagen? Daß dein Mann mit dem Zug unterwegs war und nicht angekommen ist?«

Er schüttelte den Kopf und nahm ihr das Telefon aus der Hand.

»Mutter, so geht das nicht. Du mußt der Polizei doch genau erklären, was eigentlich los ist, und das wissen wir nicht.«

Lina hob verzweifelt die Hände.

»Aber was sollen wir denn…«

Das Telefon klingelte und unterbrach sie. Thomas drückte auf einen Knopf und hielt es sich ans Ohr.

»Thomas Gruber…«.

»Guten Abend«, hörte er eine männliche Stimme. »Mein Name ist Trenker. Ich bin Pfarrer in St. Johann.«

Der junge Mann schluckte.

Ein Geistlicher, der anrief? Bedeutete das eine schlechte Nachricht?

»Ist es Vater?« fragte seine Mutter.

Er schüttelte den Kopf und bedeutete ihr, zu warten.

»Sie sind der Sohn von Franz Gruber?« vergewisserte sich der Anrufer.

»Ja. Ist was mit meinem Vater geschehen?«

»Bitte, beunruhigen Sie sich«, bat Pfarrer Trenker. »Es ist nix passiert. Allerdings wissen wir net, wo sich Ihr Vater aufhält.«

»Also, Moment mal. Warum rufen Sie dann hier an?«

»Es ist ein wenig kompliziert«, erklärte der Geistliche. »Ich nehme an, Sie wissen, warum Ihr Vater hierher gereist ist?«

»Ja. Ein alte Geschichte. Wir, also meine Mutter und ich, haben versucht, ihm die Sache auszureden, aber er wollte nicht auf uns hören. Heute haben wir versucht, ihn auf seinem Handy zu erreichen, aber es scheint nicht eingeschaltet zu sein. Meine Mutter hat deshalb in der Pension angerufen. Aber dort sagte man ihr, daß mein Vater abgereist sei.«

»Ich weiß. Der Wirt ist mein Cousin. Seine Frau rief mich eben an und informierte mich von Ihrem Anruf. Deshalb melde ich mich jetzt bei Ihnen.

Es ist folgendes geschehen, Herr Gruber. Ihr Vater hat, wie Sie vielleicht inzwischen wissen, den Mann gefunden, den er gesucht hat. Der Mann heißt Hubert Hirschler. Ihr Vater fordert nun von ihm, daß er sich öffentlich zu seiner Schuld bekennt. Ich kann das net gutheißen und unterstütze den Bauern in seiner Haltung. Deshalb hat Ihr Vater schlimme Maßnahmen angedroht, die den Herrn Hirschler dazu zwingen sollen, nachzugeben. Herr Gruber, ich fürcht’, Ihr Vater hat jegliches Augenmaß verloren und läßt sich zu unbedachten Handlungen hinreißen. Wir wissen net, wo er sich versteckt hält und was er vorhat. Ich möcht’ Sie bitten, herzukommen, damit wir gemeinsam etwas unternehmen können, um Ihren Vater zu finden und Schlimmeres zu verhüten. Wäre Ihnen das möglich?«

Thomas Gruber brauchte nicht lange, um zu überlegen.

»Ja«, antwortete er kurz entschlossen, »ich komme nach St. Johann. Noch in dieser Stunde mache ich mich auf den Weg. Wenn ich die Nacht durchfahre, kann ich morgen früh da sein.«

»Das ist gut«, sagte der Anrufer. »Kommen S’ gleich zum Pfarrhaus. Sie können auch hier wohnen. Ich erwarte Sie.«

»Bis morgen«, antwortete Thomas und beendete das Gespräch.

Seine Mutter war die ganze Zeit unruhig auf ihrem Stuhl hin und her gerutscht.

»Was ist denn?« fragte Lina aufgeregt. »Wer war das? Und warum willst du nach St. Johann?«

Er erklärte es ihr mit wenigen Worten. Lina schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte.

»Ich habe von Anfang an gewußt, daß das nicht gutgeht«, weinte sie. »Warum konnte Vater bloß nicht auf mich hören!«

»Beruhige dich«, sagte Thomas. »Es ist ja noch nichts passiert. Ich packe schnell ein paar Sachen zusammen und fahre dann gleich los.«

»Ja, aber kannst du das überhaupt? Was wird denn aus der Werkstatt?«

Er winkte ab.

»Morgen ist Freitag«, erwiderte Thomas. »Was da anliegt, schafft Horst alleine. Du müßtest ihn nur nachher anrufen und sagen, daß ich nicht da sein werde. Die Stühle für Höbermann müssen nur noch geleimt werden, das Fenster für Timm ist fertig, es wird morgen abgeholt. Na, und dann ist sowieso Wochenende. Und sollte es länger dauern, der Ausbau der Gaststätte ist erst in vierzehn Tagen. Da brennt also nichts, und was sonst noch so anliegt, muß Horst eben alleine machen.«

Er stand auf und zog seine Mutter an sich.

»Hab keine Angst«, sagte er. »Es wird schon alles gutgehen.«

*

Während sein Sohn auf der Autobahn unterwegs war, schlich Franz Gruber zum Hirschlerhof hinunter, um den in seinen Augen renitenten Bauern in die Knie zu zwingen. Ganz genau hatte er sich überlegt, wie er vorgehen würde. Nicht umsonst hatte er sich das Vertrauen der Familie erschlichen und in Haus und Hof alles ausgekundschaftet. So konnte er sich überall bewegen und würde sich zurechtfinden, als ob er hier jahrelang gelebt hätte.

Zunächst wartete Franz Gruber im Schutze der Dunkelheit über eine Stunde ab. Als sich in dieser Zeit nichts regte, betrat er die Einfahrt und wandte sich dem Bauernhaus zu. Im Erdgeschoß, das wußte er, lag neben Küche, Wohnstube und anderen Zimmern auch die Kammer, in der die Tochter schlief. Das Fenster darin ging auf den Garten hinter dem Haus hinaus. Daneben stand der Anbau, in dem Hubert Hirschler wohnte. Sein Sohn und dessen Frau hatten das Schlafzimmer im ersten Stock.

Gruber umrundete das Haus und stand einen Moment lang vor der Tür zur Wohnung des Altbauern.

Ob er jetzt sanft und selig schlief, der Hubert Hirschler?

Wenn ja, war der nächtliche Besucher sicher, dann war es die letzte ruhige Nacht, die der Mann genießen würde. Die Hölle wollte er ihm heißmachen, bis er sich endlich freiwillig zu seiner Tat bekannte.

Franz schlich zurück und wandte sich der Scheune zu. Darin war auch die Werkstatt untergebracht. Auf einem Bauernhof war es notwendig, Reparaturen auch selbst ausführen zu können, wenn es eilte. Er schob das gut geölte Tor ein Stück auf und schlüpfte hindurch. Einen Moment wartete er ab, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, dann ging er zielstrebig weiter.

Als er das erste Mal hier drinnen gewesen war, hatte Hirschler ihm die Werkstatt gezeigt, die mit allem ausgerüstet war, was man sich nur denken konnte. Aber das eigentliche Ziel Grubers war das Regal, in dem eine Reihe von Farbtöpfen stand. Hin und wieder mußte irgendwo auf dem Hof ein Anstrich vorgenommen, oder etwas ausgebessert werden. Außerdem war erst vor geraumer Zeit im Haus gestrichen worden. In einem Behälter standen Pinsel in den verschiedensten Größen. Gruber nahm einen großen, breiten Borstenpinsel und einen Eimer mit roter Farbe. Hirschler hatte ihm erzählt, daß die Enkelin damit eine alte Truhe bemalt hätte. Jetzt schien ihm dieser Farbton genau recht für das, was er sich vorgenommen hatte. Er verließ die Scheune. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, daß es inzwischen kurz nach Mitternacht war. Gruber ging zum Haus zurück. Es hatte ein dunkles Schindeldach und eine weiße Fassade. Die Fensterfront war breit und von der Straße aus gut zu sehen. Jeder, der vorüberkam, würde es lesen können.

Mit aller Gelassenheit öffnete der Tischler den Farbeimer und tauchte den Pinsel hinein. Groß mußten die Buchstaben sein, und er holte sich einen Stuhl aus dem Garten, der dort mit anderen und einem Tisch unter einem Pflaumenbaum stand.

Als wäre es die selbstverständlichste Sache von der Welt nahm Franz Gruber den Pinsel in die Hand und begann das Haus zu beschriften. Er hatte keinen Moment Angst, daß man ihn entdecken könnte, und am nächsten Morgen würde ohnehin jeder sehen, wer sich hier betätigt hatte. Aber auch das war ihm egal. Hubert Hirschler und dessen Familie sollten ganz genau wissen, daß sie ihm nicht entkommen würden.

Jeder Buchstabe maß einen knappen Meter. Da, wo ein Fenster im Wege war, pinselte Gruber einfach über die Scheiben hinweg. Nach einer halben Stunde trat er zurück und begutachtete sein Werk. Jetzt in der Dunkelheit war es nur schwach zu erkennen, aber wenn am Morgen die Sonne aufgegangen war, dann würde die Schrift von der Straße aus sichtbar sein.

Schließlich nickte er zufrieden und verließ den Hof. Farbe, Pinsel und Stuhl ließ er einfach stehen. Während der Norddeutsche zu seinem Versteck zurückging, dachte er einen Moment an seine Frau und den Sohn. Gewiß würden die beiden sich Sorgen machen, wenn er sich nicht meldete. Vielleicht hatten sie sogar schon in der Pension angerufen und sich nach ihm erkundigt.

Gruber überlegte, wie er es anstellen sollte, mit ihnen Kontakt aufzunehmen und sie zu beruhigen. Einen kurzen Augenblick dachte er daran, nach Engelsbach zu gehen und von dort aus zu telefonieren. Doch dann erschien ihm dieser Gedanken weniger klug. Auch in dem Dorf kannten ihn einige Leute, seitdem er sich nach dem Brandnerhof erkundigt hatte. Bestimmt würden sie sich an ihn erinnern.

Zwar war es unerheblich, denn daß er sich immer noch hier aufhielt, würde man spätestens morgen früh wissen, wenn die Schrift am Bauernhaus entdeckt worden war, aber Gruber wollte verhindern, daß man sein Versteck ausfindig machte, in dem er sich relativ sicher fühlte. Gewiß würde niemand annehmen, daß er sich in dieser Hütte verborgen hielt, sondern vermuten, daß er sich irgendwo anders eingemietet hatte.

Also mußte er sich erst einmal damit abfinden, daß er sich nicht mit seiner Familie in Verbindung setzen konnte, und hoffen, daß Lina und Thomas nicht gleich die Pferde scheu machten, wenn sie erfuhren, daß er aus der Pension ›Edelweiß‹ ausgezogen war.

Der Aufstieg hatte ihn ins Schwitzen gebracht. Als er jetzt die Hütte betrat, hüllte er sich gleich in die Decken und legte sich schlafen. Dabei dachte er wieder an die Lichtung, auf der er beinahe den ganzen Tag verbracht hatte, und nahm sich vor, es heute auch wieder zu tun und dabei zu überlegen, was er als nächstes gegen Hubert Hirschler unternehmen würde.

*

»Jetzt schaut euch das an!«

Vinzent Hirschler war wutentbrannt in die Küche gestürzt, wo seine Frau und Hubert saßen. Der junge Bauer hatte gerade die morgendliche Arbeit im Stall verrichtet und nach dem Melken die vollen Behälter an den Straßenrand gebracht, wo sie vom Molkereiwagen geleert werden sollten. Auf dem Rückweg glaubte Vinzent seinen Augen nicht zu trauen, als er auf die Hauswand blickte. Er lief in die Küche und alarmierte Frau und Vater.

Die beiden gingen mit ihm. Klara Hirschler preßte entsetzt die Hand vor den Mund, als sie die Schmiererei sah, ihr Schwiegervater stöhnte auf.

›Hier wohnt ein gemeiner Schuft‹, stand an der Wand, in großen, leuchtend roten Buchstaben geschrieben.

»Den Kerl kauf’ ich mir!« schnaubte Vinzent wütend. »Aus dem mach’ ich Kleinholz!«

»Nur gut, daß die Franzi bei ihrer Freundin übernachtet hat«, sagte seine Frau. »Wir müssen das wegmachen, bevor jemand kommt.«

Sie eilte ins Haus hinein, um Wasser und Wischlappen zu holen. Ihr Mann schüttelte den Kopf, als sie zurückkam.

»Damit geht’s bestimmt net weg«, sagte er.

Er hatte inzwischen den Farbeimer untersucht und dabei festgestellt, daß es sich dabei um den Lack handelte, den er Franzi für ihre Malerei an der Truhe aus der Stadt mitgebracht hatte.

»Da brauchen wir ein richtiges Lösungsmittel«, erklärte er. »Am besten Terpentin. Aber das wird auch net alles wegmachen, da wird immer noch was Rotes zu sehen sein. Wahrscheinlich müssen wir die ganze Fensterfront streichen. So ein hundsgemeiner Kerl!«

Sein Vater biß die Zähne aufeinander. Die ganze Zeit stand Hubert Hirschler stumm da und schaute betroffen auf die anklagende Schrift.

Sein Sohn legte ihm tröstend die Hand auf die Schulter.

»Laß nur, Vater«, sagte er, »von dem lassen wir uns net unterkriegen.«

Im nächsten Moment tönte das Motorengeräusch des Molkereifahrzeugs die Straße herauf. Der Fahrer hielt wie gewohnt vor der Einfahrt und stieg aus.

Es geschah eher selten, daß er jemanden zu Gesicht bekam, wenn er die Milch abholte, doch heute morgen stand fast die ganze Familie vor dem Haus.

»Grüß Gott, zusammen«, rief er hinüber und schaute neugierig auf den roten Satz am Haus. »Nanu, wer will euch denn da übel?«

»Keine Ahnung«, entgegnete Vinzent. »Aber das finden wir noch heraus.«

Im ersten Schreck hatte er gar nicht mehr daran gedacht, daß die Milch abgeholt würde. Jetzt, da der Fahrer die Schmiererei gesehen hatte, war ihm bewußt, daß die Geschichte nicht lange ein Geheimnis bleiben würde. Abgesehen davon, daß der Mann bei nächster Gelegenheit erzählten würde, was hier passiert war, mußten früher oder später auch noch andere Leute hier vorbeikommen. Wanderer, die zum Jägersteig hinauf wollten, oder Besucher, an die er jetzt noch gar nicht dachte.

»Was machen wir denn jetzt?« fragte Klara Hirschler, als sie wieder in der Küche saßen.

Zwar hatte sie wie jeden Morgen das Frühstück bereitet, aber schmecken wollte es niemandem. Vinzent trank nur einen Schluck Kaffee, sein Vater saß mit gesenktem Kopf am Tisch und brütete vor sich hin, und die Bäuerin selbst hatte vom Weinen gerötete Augen und bekam keinen einzigen Bissen herunter.

»Ich fahre nachher in die Stadt und besorge alles, damit wir diese Schweinerei wegmachen können«, sagte der junge Bauer. »Was ist mit Franzi?«

Die Tochter hatte den Abend in St. Johann bei einer Freundin und Mitschülerin verbracht. Auch den heutigen Nachmittag wollte sie noch dort bleiben, weil die beiden Madln für einige wichtige Klassenarbeiten pauken mußten. Erst am Abend erwartete ihre Mutter sie auf dem Hof zurück.

»Vielleicht schaffen wir’s ja, daß sie nix davon erfährt«, hoffte Vinzent, nachdem seine Frau es ihm erklärt hatte.

Er blickte seinen Vater an. Der hob den Kopf und erwiderte seinen Blick.

»Vielleicht sollt’ ich doch tun, was der Gruber verlangt«, sagte Hubert Hirschler mit leiser Stimme.

»Auf gar keinen Fall!« widersprach der Sohn.

»Aber wer weiß, wozu er noch fähig ist«, entgegnete der Altbauer. »Als nächstes zündet er uns womöglich das Haus überm Kopf an.«

»Trotzdem«, schüttelte Vinzent den Kopf. »Wir geben net klein bei! Und wenn der Kerl mir über den Weg läuft, dann schlag’ ich ihn windelweich, daß er zu Fuß nach Haus’ zurückkehrt!«

»Gewalt ist keine Lösung«, wandte Klara ein.

»So? Und was ist das, was er mit uns macht?« rief ihr Mann erregt. »Seelische Gewalt nennt man das ja wohl. Und das laß ich mir net bieten!«

Er stand auf.

»Die Kühe müssen auf die Weide«, murmelte er dabei und ging hinaus.

Hubert und seine Schwiegertochter blieben betroffen sitzen.

*

Thomas Gruber erreichte sein Ziel am frühen Morgen. Als er langsam durch das noch schlafende Dorf fuhr, überkam ihn ein eigenartiges Gefühl.

Von hier stammte also sein Großvater, hier hatte er seine Wurzeln. Wenn es damals anders gekommen wäre, dann wäre er selbst auch in diesem Ort geboren worden.

Es war das erste Mal, daß Thomas in Bayern war. Früher war er meistens an die See gefahren, aber das war noch während der Lehre gewesen. Inzwischen hatte er kaum noch Zeit dafür, bestenfalls wenn es durch irgendwelche Feiertage ein verlängertes Wochenende gab. In der Tischlerei gab es immer genug Arbeit, und für Ferien war nur wenig Zeit. Aber was er sah, entsprach genau dem Bild, das man hatte, wenn man von dieser Gegend hörte oder las. Es gab schindelgedeckte Häuser mit ihren bekannten Lüftlmalereien an den Fassaden, und Thomas konnte sich gut vorstellen, daß er hier auch Einheimische in Lederhosen zu sehen bekam.

Schmunzelnd hielt er vor der Kirche und stieg aus. Auf der Fahrt hierher hatte er sich Gedanken gemacht, wo sein Vater abgeblieben sein könnte. Aber da er sich hier überhaupt nicht auskannte, konnte er nur Mutmaßungen darüber anstellen. Er hoffte auf jeden Fall, daß es ihm gutging und er selber nicht zu spät hergekommen war.

Einen Moment zögerte er, als er vor dem Pfarrhaus stand, es war noch keine sechs Uhr. Doch dann drückte er den Klingelknopf und wartete ab. Es dauerte nicht lange, bis ihm ein schlanker, braungebrannter Mann mittleren Alters, der ein sympathisches Gesicht hatte, die Tür öffnete.

»Herr Gruber, net wahr?« begrüßte er den jungen Mann. »Kommen S’ herein. Ich bin Pfarrer Trenker.«

Thomas mußte zugeben, daß er sich ein ganz anderes Bild von dem Geistlichen gemacht hatte. So jedenfalls hatte er ihn sich nicht vorgestellt. Der Mann konnte mit seinem Aussehen ja ein Schauspieler oder bekannter Sportler sein.

»Wir gehen am besten in die Küche«, sagte der Bergpfarrer und führte den Besucher durch den Flur. »Meine Haushälterin hat Frühstück gemacht, und ich könnt’ mir vorstellen, daß Sie nach der langen Fahrt hungrig sind.«

In der Küche duftete es nach Kaffee und Brötchen, die frisch gebacken worden waren. Thomas erinnerte sich, daß man hier allerdings Semmeln sagte. Tatsächlich, erfuhr er wenig später, hatte Sophie Tappert sie erst vor wenigen Minuten aus dem Backofen geholt.

»Bitt’ schön, nehmen S’ Platz«, forderte der Geistliche ihn auf.

Sebastian schenkte Kaffee ein, und als auch Sophie Tappert sich gesetzt hatte, griff Thomas Gruber zu.

»Haben Sie irgendwas von meinem Vater gehört?« fragte er.

Der gute Hirte von St. Johann schüttelte bedauernd den Kopf.

»Leider net«, erwiderte er. »Indes weiß ich net, ob das eine gute oder schlechte Nachricht ist.«

Thomas blickte ihn irritiert an.

»Wenn ihm was passiert wär’, hätt’ man ihn wahrscheinlich schon gefunden«, erklärte Sebastian. »Andererseits kann sein Verschwinden, oder vielleicht sollt’ man es besser Untertauchen nennen, bedeuten, daß er sich jetzt für einen richtigen Rachefeldzug gegen den Herrn Hirschler einrichtet, und das wär’ aus meiner Sicht alles andre, als gut.«

Thomas Gruber legte seine halbe Semmel wieder auf den Teller zurück.

»Glauben Sie mir, Hochwürden«, sagte er, »meiner Mutter und mir wäre es am liebsten, wenn mein Vater wohlbehalten gefunden würde, und ich ihn wieder mit nach Hause nehmen könnte. Uns ist es egal, was dieser Herr Hirschler getan hat. Es ist viel zuviel Zeit vergangen, um sich jetzt noch darüber aufzuregen, wie gemein er auch immer gegen meinen Großvater gehandelt hat.«

»Ich hab’ mich lange mit dem Hirschler unterhalten«, nickte Sebastian. »Und ich kann Ihnen versichern, daß er selbst es bedauert. Wenn es uns gelingen könnte, ihren Vater und ihn zu versöhnen, dann wär’s das Schönste, was überhaupt passieren kann.«

Sie frühstückten weiter. Thomas bat, daß Sebastian ihn doch einfach duzen möge, was der Bergpfarrer freudig annahm.

»Vielleicht solltest’ dich erst einmal ausschlafen«, schlug er vor. »Immerhin bist’ die ganze Nacht durchgefahren. Ich werd’ nachher zum Hirschlerhof fahren und schauen, ob es da etwas Neues gibt.«

»Und was unternehmen wir in bezug auf meinen Vater?« fragte der junge Mann.

»Ich denk’, das bereden wir beim Mittagessen«, meinte der Geistliche.

»Gut.« Thomas erhob sich. »Aber bevor ich mich hinlege, möchte ich gerne meine Mutter anrufen, damit sie weiß, daß ich heil angekommen bin.«

»Freilich!« Sebastian nickte ihm zu. »Und grüß sie schön. Sie soll sich keine Sorgen machen.«

Während Thomas Gruber telefonierte und sich anschließend schlafen legte, verließ Sebastian Trenker das Pfarrhaus und fuhr zum Jägersteig hinauf. Dabei dachte er an seinen Gast, der einen sympathischen Eindruck auf ihn gemacht hatte. Franz Grubers Sohn war so ganz anders als der Vater, und der Bergpfarrer war überzeugt, daß Thomas ihm eine gute Hilfe sein würde.

Auf dem Hirschlerhof angekommen, sah er die Bescherung, die der nächtliche Besucher angerichtet hatte.

»Dann ist meine Vermutung also richtig«, meinte Sebastian. »Franz Gruber hat sich hier in der Gegend versteckt und will euch zusetzen.«

Er schüttelte den Kopf.

»Hoffentlich hat die Geschichte bald ein Ende«, setzte er hinzu.

Klara Hirschler erzählte, daß ihr Mann in die Stadt gefahren war, um Lösungsmittel und Farbe zu besorgen.

»Ihr könnt es der Franzi trotzdem net verheimlichen«, sagte der Geistliche. »Allein schon, wenn sie den frischen Anstrich sieht, wird sie wissen wollen, was geschehen ist.«

Hubert Hirschler saß auf der Bank vor dem Haus. Als Sebastian neben ihm Platz nahm, blickte der Altbauer ihn traurig an.

»Nimm’s net so schwer«, versuchte Pfarrer Trenker ihm Mut zuzusprechen. »Wir werden ihn finden, und dann wird alles gut.«

»Was macht Sie da so sicher, Hochwürden?« wollte Hubert wissen.

»Bei mir ihm Pfarrhaus ist Thomas, der Sohn vom Gruber«, erklärte der Bergpfarrer. »Ich hab’ gestern abend mit ihm telefoniert, und er ist gleich losgefahren, die ganze Nacht hindurch. Er ist ein anderer Mensch als sein Vater. Ich bin sicher, daß es mir mit seiner Hilfe gelingt, den Franz umzustimmen.«

*

Carola Mittlerer öffnete die Haustür und ließ ihre Freundin eintreten. Die beiden Madln waren eben mit dem Bus aus der Stadt gekommen. Jetzt hatten sie mächtigen Hunger.

»Mama hat uns das Essen bereitgestellt«, sagte Carola. »Wir müssen es bloß noch aufwärmen.«

Ihre Eltern arbeiteten noch. Während Hermann Mittlerer in der Stadt bei der Bahn angestellt war, hatte Sigrid, seine Frau, Spätschicht im Krankenhaus. Bevor sie losgefahren war, hatte sie das Mittagessen vorbereitet. Jetzt stand ein Topf mit Gulasch auf dem Herd, dazu sollte es Nudeln geben, die Carola in der Sauce aufwärmte.

Franzi hatte sich auf die Eckbank gesetzt und kramte in ihrer Schultasche. Es war ein anstrengender Vormittag gewesen. Gestern abend hatten sie noch lange für die Englischarbeit gepaukt, morgen würde es Mathe sein.

Die zwei Madln waren seit der Grundschule befreundet, aber während Franzi Hirschler Architektur studieren wollte, hatte sich Carola dafür entschieden, Journalistin zu werden. Während des Essens war die Schule natürlich Thema Nummer eins.

»Mensch, der Wendler hat sich wieder was ausgedacht!« meinte die Bauerntochter und verzog das Gesicht. »Bloß gut, daß wir gestern noch geübt haben. Ich hätt’ die Arbeit sonst glatt verhauen.«

»Ich hab’ viel mehr Angst wegen morgen«, erwiderte Carola. »Mathe ist wirklich net mein Ding.«

»Deshalb hocken wir nachher ja auch über den Büchern, anstatt uns in die Sonne zu setzen«, grinste Franzi.

Indes war ihr gar nicht so froh zumute, wie sie sich gab. Die Geschichte um ihren Großvater hatte sie doch mehr mitgenommen, als sie zugeben wollte. Immer wieder schweiften ihre Gedanken ab, und es gelang ihr nicht, sich richtig auf die Matheübung zu konzentrieren.

»Ist alles in Ordnung?« fragte Carola zwischendurch, die natürlich bemerkte, daß die Freundin nicht ganz bei der Sache war.

Franzi nickte hastig. Niemand außerhalb der Familie sollte etwas von der Angelegenheit erfahren. Das hatten sie abgesprochen, also durfte sie auch ihrer Freundin nichts sagen.

Sie saßen in Carolas Zimmer. Das Fenster war weit geöffnet, und von draußen klang der Straßenlärm herein. Zwei Stunden hatte sie sich schon mit mathematischen Formeln abgequält. Jetzt schlug Carola ihr Buch zu.

»Ich brauch’ mal eine Pause!« sagte sie und lehnte sich auf dem Stuhl zurück.

Franzi drückte das Kreuz durch.

»Ich auch«, stöhnte sie.

»Wollen wir in den Kaffeegarten rüber und ein Eis essen?« schlug die Freundin vor.

»Prima Idee.«

Sie ließen die Bücher liegen und standen auf.

»Nachher können wir ja noch ein Stündchen dranhängen«, meinte Carola.

Franzi zuckte die Schultern.

»Wenn’s net zu spät wird. Ich wollt’ heut’ abend wieder zum Hof zurück.«

»Also von mir aus kannst’ auch noch bis morgen bleiben«, sagte die Freundin. »Du kannst ja deine Eltern anrufen.«

»Mal sehen.«

Sie hatten das Hotel erreicht und betraten den Kaffee- und Biergarten von der Straße her. Wie immer herrschte hier großer Andrang. Das Hotel ›Zum Löwen‹ war der einzige gastronomische Betrieb in St. Johann, und viele Urlauber, die in den Pensionen wohnten, wo in der Regel nur ein Frühstück serviert wurde, kamen her, um die anderen Mahlzeiten einzunehmen. Für sie und die Dörfler war es auch die einzige Möglichkeit Kaffee zu trinken, den hausgemachten Kuchen zu probieren und herrliche Eisbecher zu essen.

Trotz des Andrangs fanden die Madln einen freien Tisch. Er stand unter einem hohen Baum, dessen Blätter reichlich Schatten spendeten. Sie bestellten Eis und Cappuccino und unterhielten sich einmal nicht über die Schule.

»Samstag hab’ ich den Sohn vom Brennerbauern auf dem Tanzabend gesehen«, erzählte Carola. »Der hat schon wieder eine neue Freundin.«

»Ach, der Casanova vom Wachnertal«, schmunzelte Franzi. »Der hat wirklich einen ziemlichen Verschleiß.«

»Und er findet immer wieder eine Dumme, die auf ihn hereinfällt«, nickte die Freundin.

»Bei mir hat er’s auch schon versucht«, sagte Franzi. »Aber ich hab’ ihn abblitzen lassen.«

Sie lachten.

»Und was ist mit Ronny?« wollte Carola wissen.

Franzi verzog das Gesicht.

»Lieber Himmel, bloß net!« rief sie.

Ronny, der eigentlich Ronald Hartmann hieß, war ein Mitschüler, der immer wieder versuchte, mit ihr anzubandeln. Obwohl er sich eine Abfuhr nach der anderen holte, lud er Franzi trotzdem wieder ins Kino oder in die Disko ein.

»Manche werden eben net klug«, sagte die Freundin.

Carola selbst war seit einiger Zeit mit einem anderen Mitschüler befreundet. Ob was daraus werden würde, stand noch in den Sternen.

»Was für ein Typ würde dich denn um den Verstand bringen können?« erkundigte sie sich scherzhaft.

Franzi hatte in die Richtung geschaut, in der der Eingang zum Kaffeegarten lag. Jetzt blickte sie Carola wieder an.

»Der da«, antwortete sie und deutete mit dem Kopf zum Eingang.

Da stand ein junger Bursche und blickte sich suchend nach einem freien Platz um.

»Donnerwetter«, entfuhr es Carola, »du hast aber Ansprüche!«

Aber sie mußte zugeben, daß der Typ was hatte. Groß und schlank war er, das blonde Haar war leicht gewellt, sein Gesicht markant und sympathisch.

Ein Mann zum Verlieben, das sah man auf den ersten Blick!

Sie ahnte nicht, daß Franzi denselben Gedanken hatte. Die Bauerntochter konnte kaum den Blick abwenden, und als der Bursche genau auf ihren Tisch zukam, klopfte ihr Herz vor Aufregung.

*

Thomas war zwar auf der Stelle eingeschlafen, aber knapp zwei Stunden später wachte er schon wieder auf. Trotz der ungewohnten Umgebung wußte er sofort, wo er war. Einen Moment noch blieb er liegen, dann schwang sich der Tischlergeselle aus dem Bett und fuhr sich über das Gesicht.

»Menschenskind«, murmelte er, »hoffentlich macht Vater keine Dummheiten!«

Er ging ins Bad; als er wenig später die Treppe herunterkam, war Pfarrer Trenker gerade von seinem Besuch auf dem Hirschlerhof zurück.

»Komm«, bat er Thomas, »wir müssen unbedingt was besprechen.«

»Haben Sie etwas von meinem Vater gehört?« fragte der Norddeutsche, als sie im Arbeitszimmer des Geistlichen saßen.

Sebastian nahm ihm gegenüber am Schreibtisch Platz.

»Net direkt von ihm«, erwiderte er. »Aber er hat eine Nachricht hinterlassen…«

»Wie soll ich das verstehen?«

»Dein Vater war in der Nacht auf dem Hof und hat dort etwas an die Hauswand geschrieben«, erzählte der Geistliche.

Thomas schaute entsetzt, als er erfuhr, was sein Vater getan hatte.

»Ist er denn jetzt von allen guten Geistern verlassen?« sagte er leise. »Das kann er doch net machen!«

»Nein«, stimmte der Bergpfarrer ihm zu, »das darf er wirklich net. Ich fürcht’ nur, es wird net das einzige sein, was er gegen Hubert

Hirschler unternimmt.«

»Was können wir denn da machen? Wir müssen ihn suchen und zur Vernunft bringen!«

»Sicher müssen wir das«, nickte Sebastian Trenker. »Aber das wird net leicht sein. Wenn sich jemand in den Bergen versteckt und net gefunden werden will, dann gibt es da droben ungezählte Möglichkeiten, um sich zu verkriechen. Ich hab’ schon überlegt, die Bergwacht um Hilfe zu bitten. Andrerseits möcht’ ich die Sache, wegen den Hirschlers, net an die große Glocke hängen.«

»Und jetzt?«

»Ich hab’ mir was überlegt«, antwortete der gute Hirte von St. Johann. »So wie es ausschaut versteckt dein Vater sich tagsüber, um nachts ungestört irgendwas zu unternehmen. Es hat also keinen Zweck, am hellen Tag nach ihm zu suchen. Er würd’ uns schon sehen, bevor wir überhaupt bemerken, daß er da ist. Deshalb wird es notwendig sein, daß wir uns gegen Abend aufmachen, besser noch in der Nacht, wenn er selber unterwegs ist. Ich denk’, es wird genügen, wenn wir in der Nähe des Hofes sind und warten, daß er kommt.«

Thomas nickte verstehend. Indes behagte ihm der Gedanke, den eigenen Vater wie einen Dieb zu verfolgen und zu stellen, überhaupt nicht. Sebastian ahnte, was in ihm vorging.

»Es ist zu seinem Besten«, sagte er. »Und immer noch besser, als wenn die Polizei nach ihm fahndet, wenn er wirklich was Schlimmes angestellt hat. Allerdings wird die Polizei dabei sein, wenn wir nach deinem Vater suchen.«

Thomas riß die Augen auf.

»Muß das wirklich sein?« fragte er. »Ich dachte, die Sache soll nicht offiziell werden.«

»Wird sie auch net«, beruhigte Sebastian ihn. »Der Beamte, der uns begleitet, ist mein Bruder. Er kommt aber net als Polizist mit, sondern weil ich ihn gebeten hab’, uns zu helfen.«

»Ach so«, sagte Thomas.

»Und jetzt zeig’ ich dir die Kirche«, schlug der Geistliche vor. »Natürlich nur, wenn du magst.«

»Gerne«, nickte sein Gast. »Ich erinnere mich, daß mein Großvater immer von der Kirche geschwärmt hat.«

»Ich hab’ seinen Taufeintrag im Kirchenbuch gefunden«, erzählte Sebastian, als sie das Pfarrhaus verließen und hinübergingen. »Ich zeig’s dir gleich.«

Thomas Gruber war von dem Anblick, der ihn im Innern des Gotteshauses erwartete, überwältigt. Moorkate selbst hatte keine eigene Kirche, sondern gehörte zum Sprengel in Hannover. Thomas war in Garbsen getauft und konfirmiert worden, aber die evangelische Kirche dort war eher nüchtern und zweckmäßig gebaut und ausgestattet. Es handelt sich um einen Neubau aus den siebziger Jahren.

Sebastian Trenker führte ihn überall herum und erklärte die Sehenswürdigkeiten. Thomas zeigte wirkliches Interesse und stellte entsprechende Fragen. In der Sakristei durfte er dann das Kirchenbuch in Augenschein nehmen. Es war ein seltsames Gefühl, den Namen des Großvaters zu lesen, aber irgendwie verband es den jungen Burschen auch mit diesem Ort.

Sie hielten sich lange in der Kirche auf, und als Sebastian und sein Besucher zum Pfarrhaus zurückging, hatte Sophie Trenker schon das Mittagessen fertig.

»Wo nur der Max bleibt?« Die Haushälterin schüttelte den Kopf. »Er ist doch sonst immer der Erste bei Tisch.«

Der Bruder des Bergpfarrers verspätete sich tatsächlich um eine geschlagene halbe Stunde. Als er dann endlich erschien, machte der junge Polizist ein nachdenkliches Gesicht.

»Dein Vater ist das also«, sagte er, nachdem er mit Thomas Gruber bekannt gemacht worden war. »Entschuldige, aber der hat sie net mehr alle!«

»Was ist denn, Max?« fragte der Geistliche.

»Der Vinzent hat gegen Franz Gruber Anzeige erstattet, wegen der Schmiererei«, erwiderte der Beamte. »Jetzt ist die Sache offiziell. Ich komm’ gerad vom Hirschlerhof. Ich hab’ das Haus fotografiert und den Farbeimer und Pinsel beschlagnahmt.«

Er blickte den Tischlergesellen bedauernd an.

»Tut mir leid, Thomas«, setzte er hinzu, »aber jetzt muß ich gegen deinen Vater ermitteln.«

*

Obwohl es wie immer ein Augen- und Gaumenschmaus war, was die Haushälterin auf den Tisch gebracht hatte, war Thomas Gruber der Appetit vergangen. Er stocherte eher geistesabwesend mit der Gabel auf seinem Teller herum und zerteilte das Fischfilet in kleine Stücke, ohne sie in den Mund zu stecken.

»Ich vermute, du konntest den Vinzent net von der Anzeige abbringen«, sagte Sebastian.

Max schüttelte den Kopf.

»Ich hab’s versucht«, erwiderte er. »Aber Vinzent hat solch eine Wut im Bauch, daß er net einsehen wollte, wozu das gut sein soll.«

Der Bergpfarrer schaute auf Thomas.

»Vielleicht haben wir heut’ nacht Glück«, meinte er. »Wenn wir deinen Vater von weiteren Anschlägen abhalten können, und er sich bereit erklärt, den Schaden zu ersetzen, können wir den Bauern vielleicht noch umstimmen.«

»Dann würd’ ich die Anzeige jedenfalls unter den Tisch fallen lassen«, fügte Max hinzu.

Er wandte sich seinem Bruder zu.

»Was hast’ denn vor?« erkundigte er sich.

Sebastian erklärte es ihm, und der Polizist nickte.

»Claudia wird freilich net begeistert sein«, meinte er, »aber ich bin dabei.«

Sie besprachen die Einzelheiten, dann mußte Max seinen Dienst wieder aufnehmen.

»Schau’ dich doch ein bissel im Dorf um«, schlug Sebastian Thomas vor. »Nachher solltest’ dich dann noch ein bissel schlafen legen. Es könnt’ unter Umständen eine lange Nacht werden.«

Der junge Bursche nickte.

»Da könnten Sie recht haben«, antwortete er.

Thomas ging den Kiesweg hinunter. Dabei dachte er an das, was sein Vater angerichtet hatte. Er wagte gar nicht, sich auszumalen, zu was er noch fähig sein mochte. Es kam ihm in den Sinn, wie wenig er ihn eigentlich kannte. Schon oft hatte der Vater zu Hause davon erzählt, daß er sich eines Tages aufmachen würde, um den Mann zu finden, der Großvater ins Unglück gestürzt hatte, doch so richtig ernst genommen hatten ihn weder der Sohn, noch seine Ehefrau. Erst als Franz Gruber ganz plötzlich verkündete, daß er losfahren werde, erkannten Thomas und seine Mutter, daß der Ehemann und Vater in all den Jahren diesen Gedanken gehabt haben mußte.

Der junge Norddeutsche spazierte durch den Ort und schaute sich ausgiebig um. St. Johann war ein schönes Dorf, es gefiel ihm ausgezeichnet, und wieder stellte er sich vor, wie es wohl gekommen wäre, hätte sein Großvater die Heimat nicht verlassen, und er, Thomas, wäre hier geboren worden und aufgewachsen.

Nach seinem Spaziergang betrat er den Garten des Hotels, an dem er vorher schon vorbeigekommen war. Thomas staunte über die vielen Gäste, die hier bei Kaffee und Kuchen oder kalten Getränken saßen. Wie es aussah, schien es keinen freien Platz mehr zu geben. Er wollte sich schon wieder umdrehen und gehen, als sein Blick auf einen Tisch fiel, an dem zwei junge Frauen saßen.

Großvater hatte immer erzählt, daß die Menschen in Bayern gastfreundlich seien und in der Regel nichts dagegen hatten, wenn man sich in einem Lokal zu ihnen an den Tisch setzte. Ganz im Gegensatz zu den sturen Niedersachen, hatte Josef Gruber immer behauptet, die eifersüchtig über ihr Revier wachten, als sei der Tisch ihr ureigenster Besitz.

Warum nicht, dachte Thomas, fragen kostet ja nichts.

Er ging zu dem Tisch hinüber und lächelte freundlich.

»Hallo«, sagte er. »Ist hier noch was frei?«

Die Madln sahen ihn an.

»Klar«, nickte Franzi Hirschler.

Und Carola setzte hinzu: »Such’ dir den schönsten Stuhl aus.«

»Danke schön«, lachte er. »Ich bin übrigens Thomas.«

Die beiden nannten ihre Namen.

»Machst’ Urlaub hier?« erkundigte sich Carola.

Thomas überlegte kurz. Am besten würde es wohl sein, wenn er ihre Annahme einfach bestätigte.

»Kann man so sagen«, antwortete er schließlich und bestellte ein Alsterwasser, als die Bedienung an den Tisch trat.

»Alster-Wasser? Was soll denn das sein?« fragte die Frau.

Thomas blickte sie verwundert an.

»Kennen Sie das nicht? Das ist eine Mischung aus Bier und Limonade«, antwortete er.

Die beiden Madln lachten.

»Bei uns heißt das Radler«, klärte Franzi ihn auf.

»Ach so«, meinte er verwirrt. »Dann also ein Radler.«

»Ein kleines oder eine Maß?« wollte die Bedienung wissen.

Rechtzeitig fiel ihm ein, daß sein Großvater ihm einmal erklärt hatte, was eine Maß war – vom Radler hatte er indes nie gesprochen…

»Nein, nein, ein kleines Glas nur, bitte«, sagte er und sah seine Tischnachbarinnen an. »Ich habe gar nicht gewußt, daß man hier nicht verstanden wird, wenn man Deutsch spricht.«

Sie lachten, und Franzi bemerkte, daß ihr Herzklopfen noch immer nicht weniger geworden war.

Er schaute aber auch fesch aus, dieser Bursche!

Sie konnte gar nicht den Blick von ihm wenden, und Carola schien es zu bemerken, denn unter dem Tisch stieß sie die Freundin an und zwinkerte ihr dann zu, als Franzi sie ansah.

»Ihr seid aber keine Urlauberinnen, oder?« erkundigte er sich.

Sie schüttelten die Köpfe.

»Waschechte Wachnertalerinnen«, antwortete Franzi. »Allerdings gönnen wir uns hier einen kleinen ›Urlaub‹, vom Pauken.«

»Abiturstreß?«

Wieder ein Kopfnicken. Und dann unterhielten sie sich über alles Mögliche. Franzi war dabei so von Thomas fasziniert, daß sie für eine Weile ihre Sorgen um den Großvater und Franz Gruber vergaß. Sie hätte noch Stunden hier sitzen und sich mit dem Burschen unterhalten können, aber dann mahnte die Freundin zum Aufbruch.

»Wir müssen los, Franzi, wenn wir noch was schaffen wollen«, sagte Carola.

»Schad’«, meinte die Bauerntochter, »immer wenn’s am schönsten ist!«

Thomas lächelte.

»Vielleicht sehen wir uns ja mal wieder…«

»Ja, vielleicht«, nickte sie und warf ihm einen Blick zu, der Bände sprach.

Er blickte ihnen versonnen hinterher, wobei es aber eher Franzi war, auf der seine Augen ruhten.

Wenn ich unter anderen Umständen hier wäre, dachte Thomas Gruber, dann wüßte ich schon, was ich machen würde.

Aber leider war es kein Urlaub, der ihn nach St. Johann geführt hatte, und im Moment sah es nach allem anderen aus, als daß er Franzi wiedersehen würde. Trotz ihres verheißungsvollen Blickes.

*

Als die Bauerntochter am frühen Abend nach Hause kam, fiel ihr sofort die frisch gestrichene Hauswand auf. Trotz Carolas Einladung, hatte sie sich entschieden, heimzufahren, und als Franzi jetzt aus ihrem kleinen Auto stieg, ahnte sie, daß etwas geschehen war.

»Was ist denn mit der Wand passiert?« fragte sie ihre Mutter.

Klara Hirschler wich ihrem Blick aus.

»Der Vater meinte, sie bräuchte einen neuen Anstrich«, erwiderte sie kurz.

»Und was ist das hier?« ließ Franzi nicht locker und deutete auf den rötlichen Untergrund. »Das war doch vorher net.«

Sie trat einen Schritt zurück und schaute genauer hin.

»Das sind doch Buchstaben darunter«, sagte sie.

Ihre Mutter seufzte. Trotz aller Mühen war es Vinzent nicht gelungen, die rote Farbe ganz abzubekommen, und der neue Anstrich deckte nicht genug. Darunter schimmerte immer noch die Schrift durch.

Franzi sah sie fragend an.

»Mutter, was ist das?« bohrte sie nach und versuchte, die Buchstaben zu entziffern.

»Der Gruber hat das daran geschmiert«, antwortete die Bäuerin endlich. »Letzte Nacht.«

Die Tochter war entsetzt.

»Was?« rief sie ungläubig. »Und ihr habt nix davon bemerkt? Der Kerl schleicht hier umgestört über den Hof, während ihr geschlafen habt?«

Ihre Mutter zuckte die Schultern.

»Ja. Aber beruhig’ dich. Sonst ist ja nix geschehen.«

»Nix geschehen?«

Franzi schüttelte den Kopf und deutete auf die Wand.

»Ist das net schon genug? Was soll denn noch passieren? Das nächste Mal kommt er ins Haus und tut uns was an!«

Sie war außer sich.

»Vater hat ihn angezeigt«, sagte die Bäuerin. »Max Trenker war heut’ mittag da und hat die Anzeige aufgenommen.«

»Das ist aber auch das Mindeste!« entfuhr es Franzi. »Was stand denn da überhaupt?«

Klara Hirschler sagte es ihr. Die Tochter schüttelte den Kopf.

»Und was hat Großvater gesagt?«

»Er wollt’ dem Gruber sagen, daß er bereit ist, sich der Öffentlichkeit zu stellen«, antwortete die Bäuerin.

Franzi preßte ihre Hand vor den Mund und schluchzte auf.

»Manchmal denk’ ich, es ist bloß ein böser Traum«, weinte sie leise, »Und dann hoff’ ich immer, daß ich ganz schnell aufwache.«

Klara nahm ihre Tochter in die Arme.

»Es geht vorüber«, sagte sie. »Pfarrer Trenker war auch da. Er hat gesagt, was sie unternehmen wollen, um den Gruber zu fassen. Jetzt, wo er offiziell angezeigt ist, kann der Max was gegen ihn unternehmen, ohne daß alle Welt von der Geschichte erfährt.«

Sie zog Franzi mit sich.

»Komm, wir wollen Abendbrot essen.«

Hubert Hirschler saß nicht an seinem Platz. Als die Schwiegertochter an seine Tür klopfte, öffnete er nicht. Er habe keinen Hunger, rief er nur, und Klara ging wieder in die Küche zurück.

»Der Sohn vom Gruber ist hergekommen«, erzählte Vinzent seiner Tochter beim Abendessen. »Heut’ nach legen s’ sich auf die Lauer, und ich werd’ dabeisein. Wenn wir den Kerl erwischen, haben wir endlich Ruhe vor ihm.«

»Und wenn net?« wagte Franzi zu fragen.

»Dann werd’ ich einen Hund anschaffen und jede Nacht mit der Flinte draußen warten, bis er kommt«, antwortete ihr Vater mit steinerner Miene, die ausdrückte, wie ernst es ihm damit war.

Seine Frau schüttelte den Kopf.

»Du kannst net jede Nacht Wache halten und am Tag arbeiten«, sagte sie.

»Keine Angst«, entgegnet er. »So lang’ wird’s net dauern. Der Gruber kann sich net ewig im Bergwald verstecken. Einmal geh’n seine Vorräte zu Ende. Spätestens dann muß er herauskommen und sich neue besorgen.«

Das Gespräch kreiste auch nach dem Abendessen um das leidliche Thema. Franzi merkte, daß sie müde war, aber bestimmt keinen Schlaf finden würde. Am liebsten wäre sie morgen zu Hause geblieben, aber das ging nicht. Die Klassenarbeit war einfach zu wichtig.

Seufzend wünschte sie den Eltern eine gute Nacht und ging in ihre Kammer. Angezogen legte sie sich auf das Bett, für den Fall, daß sich etwas Ungewöhnliches ereignete. Dabei war sie mit ihren Gedanken teilweise bei der Geschichte mit Franz Gruber, zum anderen ging ihr der junge Bursche nicht mehr aus dem Kopf, den sie am Nachmittag kennengelernt hatte.

Wenn es doch nur unter anderen Umständen gewesen wäre!

Sie spürte, daß Thomas etwas in ihr berührt, eine Saite zum Klingen gebracht hatte. Zum ersten Mal seit langer Zeit hatte sie sich wieder verliebt, und diesmal hätte durchaus etwas Ernstes daraus werden können…

Als sie, ohne es wirklich zu merken, dann doch einschlief, war es draußen schon dunkel geworden. Die Nacht war angebrochen, und vier Männer hatten sich rund um den Hof verteilt.

Die Wache hatte begonnen.

*

Sie waren erst gegen zehn Uhr zum Jägersteig hinaufgefahren. Sophie Tappert hatte für den Proviant gesorgt, vor allem für heiße Getränke. Jeder von ihnen hatte einen Rucksack dabei, in dem alles Notwendige steckte. Auf dem Hirschlerhof angekommen, wartete Vinzent schon ungeduldig auf die drei Männer. Sebastian stellte ihm Thomas Gruber vor. Sie reichten sich die Hände, und der Sohn des Übeltäters entschuldigte sich für das Verhalten seines Vaters.

»Na ja, irgendwie hat mein Vater uns die ganze Sache ja eingebrockt«, tat der Hirschlerbauer die Angelegenheit ab. »Hoffen wir, daß es heut’ nacht ein Ende hat.«

Der Hof lag am Hang, dahinter breitete sich eine Wiese aus, die fast bis an den Waldrand heranreichte. Von dort oben mußte Franz Gruber kommen, wenn er sich tatsächlich im Bergwald versteckt hielt.

»Wir haben Glück, daß Vollmond ist«, bemerkte der Bergpfarrer. »Das macht es uns leichter, ihn zu sehen, wenn er herabsteigt.«

Die Männer verabredeten, auf welchen Posten sie sich aufstellen sollten. Mittels ihrer Handys wollten sie sich verständigen, wenn der erste Gruber entdeckte. Dann ging jeder zu seiner Position und richtete sich auf eine lange Nacht ein.

Vinzent Hirschler stieg auf das Scheunendach. Dahinter stand eine große Kastanie, deren Blätter ihm Schutz gaben. Er hingegen hatte eine gute Sicht, die vom Nachtsichtgerät, das er immer zur Jagd mitnahm, unterstützt wurde.

Pfarrer Trenker und Max postierten sich jeweils am östlichen und westlichen Ende des Anwesens. Der Geistliche hockte von Büschen verborgen am Zaun. Auch er hatte ein Fernglas dabei, genauso wie sein Bruder.

Thomas Gruber war ein Stück vom Hof in nördliche Richtung gegangen. Er hatte am Abend noch mit seiner Mutter telefoniert, ihr aber verschwiegen, was sein Vater getan hatte. Statt dessen erzählte er, daß er hoffe, Franz Gruber am Abend zu finden – daß es so etwas wie eine Treibjagd auf seinen Vater geben würde, sagte er natürlich nicht.

Sie hatten sich warm angezogen, denn in der Nacht würde es empfindlich kalt werden hier oben. Dennoch zitterte Thomas in seiner Jacke, die Pfarrer Trenker ihm herausgesucht hatte. Aber es war nicht die Kälte, die ihn frösteln ließ, sondern die Angst um seinen Vater. Um sich abzulenken, rief er sich den Nachmittag in Erinnerung. Diese Franzi wollte ihm seither nicht mehr aus dem Kopf gehen. Sehr gerne hätte er sie näher kennengelernt, aber das würde wohl ein Wunschtraum bleiben.

Zwei Stunden waren vergangen, als sein Handy klingelte. Um sich nicht vorzeitig zu verraten, hatten sie alle die Lautstärke ihrer Mobiltelefone heruntergestellt. Es war nur noch ein ganz leiser Ton zu hören. Wie elektrisiert drückte Thomas die Taste, um das Gespräch entgegenzunehmen. Es war Pfarrer Trenker, der sich meldete.

»Alles in Ordnung bei dir?« erkundigte sich der Geistliche.

»Hier ist alles in Ordnung«, antwortete der Tischlergeselle. »Aber das Warten zerrt an den Nerven.«

»Das kann ich verstehen. Hier tut sich nix, und bei den anderen ebenfalls net. Wir müssen Geduld haben.«

Sebastian beendete die Verbindung und griff in seinen Rucksack. Er nahm die Thermosflasche mit dem heißen Tee heraus und trank einen Schluck. Die Wärme tat ihm gut. Ungeduldig schaute er dann wieder in die Richtung, aus der er Franz Gruber erwartete, doch je mehr Zeit verging, um so mehr verlor er die Zuversicht, daß sich in dieser Nacht überhaupt etwas tun würde.

Gegen vier Uhr rief er die anderen an und bat sie auf den Hof zu kommen. Vinzent Hirschler kletterte zähneklappernd vom Scheunendach und unterdrückte einen Fluch.

»Wir haben wohl vergebens gewartet«, sagte Sebastian Trenker.

Der junge Bauer schaute ihn fragend an.

»Und nun?«

»Tja, das ist eine gute Frage. Am besten fahren wir ins Dorf zurück und kommen morgen wieder her«, antwortete der Bergpfarrer.

»Na, das kann ja was werden!« stöhnte Max auf.

»Immerhin haben wir’s versucht«, tröstete sein Bruder ihn. »Vielleicht haben wir ja in der nächsten Nacht mehr Glück.«

Sie verabschiedeten sich von dem Bauern. Vinzent winkte ihnen hinterher und ging in den Stall. In einer knappen halben Stunde hätte er ohnehin aufstehen müssen, da spielte es keine Rolle, wenn er jetzt schon mit der morgendlichen Arbeit begann.

Sebastian, Max und Thomas fuhren ins Dorf hinunter. Sie alle waren enttäuscht, daß Franz Gruber nicht aufgetaucht war, wie sie es vermutet hatten.

»Vielleicht hat er sich anders überlegt und ist längst auf dem Weg nach Hause«, sagte Thomas.

Aber er glaubte nicht wirklich daran.

»Bestimmt net!« Pfarrer Trenker schüttelte den Kopf. »Er hat sich ja was vorgenommen, und die Geschichte mit der Schrift auf der Hauswand war nur ein erster Schritt. Wenn ich bloß wüßt’, was er als nächstes vorhat…«

Müde und enttäuscht gingen sie in ihre Betten. Während Sebastian und Max keine Probleme hatten, sofort einzuschlafen, lag Thomas Gruber noch lange wach. Er dachte an den Mißerfolg ihrer nächtlichen Unternehmung und an das Madl aus dem Kaffeegarten. Als er dann endlich hinübergeschlummert war, hatte er einen seltsamen Traum, in dem sowohl Franzi, als auch sein Vater eine Rolle spielten.

Aber daran erinnerte er sich, als er wieder aufwachte, nur noch bruchstückhaft.

*

Franz Gruber hatte die Nacht in der Hütte verbracht. Nachdem er den ganzen Tag darüber nachgedacht hatte, wie es weitergehen sollte, entschied er, sich erst einmal ruhig zu verhalten. Wahrscheinlich, vermutete er, würde man auf dem Hirschlerhof damit rechnen, daß er wieder zurückkam, und ihm eine Falle stellen. Er konnte sich gut vorstellen, wie wütend der Altbauer und dessen Familie auf ihn sein mußten, als sie seine Anklageschrift entdeckt hatten.

Nachdem er festgestellt hatte, daß seine Vorräte zu Ende gingen, war er gezwungen gewesen, doch hinabzusteigen und sich Essen und Trinken zu besorgen. Allerdings war er nicht nach Engelsbach gegangen, sondern in das weiter entfernte Waldeck gewandert. Das waren zwar mehr Kilometer gewesen, hatte aber den Vorteil gehabt, daß Gruber die meiste Zeit durch Wald und Wiesen gehen konnte, anstatt auf der Landstraße, wo er leichter hätte entdeckt werden können.

In Waldeck deckte er sich erst einmal mit allem ein, was er brauchte, um die kommenden Tage versorgt zu sein, und trank im Gasthaus ein Kännchen Kaffee. Er überlegte, wie er es einrichten konnte, sich in der Hütte auch etwas Warmes zu kochen. Aber diese Möglichkeit schied aus. Feuer konnte er darin nicht machen, und einen Gaskocher, wie er beim Camping benutzt wurde, gab es nicht zu kaufen.

Die Nacht verbrachte er mit Schlafen und Wachen. Immer wieder öffnete er die Augen und starrte in die Dunkelheit. Dummerweise hatte er vergessen, neue Batterien zu besorgen, so daß er gezwungen war, die in der Taschenlampe zu schonen. Als dann endlich der Morgen graute, machte er sich auf den Weg zu der Lichtung, wo er sich niederließ und endlich für ein paar Stunden einschlief.

Als er erwachte und auf die Uhr schaute, stellte Gruber fest, daß es Mittag war. Er aß etwas Brot und Dauerwurst und trank eine Flasche Bier dazu. Dann stand er auf, reckte sich und überlegte, was er anfangen sollte.

Der Anschlag mit der roten Farbe sollte nicht die einzige Maßnahme bleiben, die er unternehmen wollte. Aber noch einmal würde er nachts nicht zum Hirschlerhof schleichen. Es mußte etwas geben, das sich auch am Tage machen ließ, um Hubert Hirschler in die Knie zu zwingen.

Nachdem er eine Weile darüber nachgedacht hatte, packte er seine Sachen zusammen und brachte sie in die Hütte zurück. Dann machte er sich auf und verließ den Wald. Schon bald konnte er den Bauernhof sehen. Dort rührte sich nichts. Franz Gruber setzte sich auf einen alten Baumstamm, der am Wegesrand lag und schaute sehr lange hinunter. Niemand war zu sehen, der Hof lag da wie ausgestorben. Schließlich stand er wieder auf und ging weiter. Sein Ziel war aber nicht der Bauernhof, sondern die Weide, die in einiger Entfernung davon lag. Dort weideten die Kühe. Gruber ging an den Zaun heran, der die Tiere daran hindern sollte, von der Weide zu laufen und öffnete das Tor. Mit fuchtelnden Armbewegungen trieb er die Kühe nach draußen, wo die verwirrten Viecher ziellos durcheinanderliefen.

Grinsend schaute der Mann zu.

Da werdet ihr ein schönes Stück Arbeit haben, die wieder einzufangen, dachte er und rieb sich die Hände. Aber wem ihr das zu verdanken habt, wißt ihr ja.

Als er in sein Versteck zurückging, lachte Gruber immer noch vor sich hin. Daß er am Tage zuschlagen würde, damit rechnete auf dem Hof bestimmt niemand. Und was er als nächstes tun würde, wußte er auch schon…

Bei seinem Einkauf in Waldeck hatte er auch eine Flasche Feuerzeugbenzin eingesteckt. Das mußte den Hirschler endgültig überzeugen, daß es ihm ernst mit seiner Forderung war.

Den Rest des Tages verbrachte der Tischler wieder auf der Lichtung und kehrte erst spät in die Hütte zurück. Es war Samstagabend, und die Dörfler vergnügten sich auf dem Tanzabend, wie er wußte. Auch der Sohn vom Hirschler ging mit seiner Frau dorthin. Die Tochter wahrscheinlich ebenfalls. Er würde es also nur mit dem Alten zu tun haben, wenn er in der kommenden Nacht dem Hof wieder einen Besuch abstattete.

Gruber rieb sich die Hände.

*

Sebastian und Thomas hatten ihre Enttäuschung immer noch nicht überwunden. Aber sie mußten sich damit abfinden, daß Franz Gruber eben doch nicht so berechenbar war, wie sie geglaubt hatten. Als dann Vinzent anrief und von den freigelassenen Kühen erzählte, schüttelte Thomas ärgerlich den Kopf.

»Mein Vater benimmt sich wie ein kleiner Junge!« schimpfte er. »Himmel, was fällt ihm wohl noch alles ein?«

»Ärgere dich net«, sagte der Geistliche. »Früher oder später werden wir ihn finden.«

Er schaute Claudia und Max an, die mit am Abendbrotstisch saßen. Normalerweise wurde an den Samstagabenden im Pfarrhaus immer schön gegessen, und anschließend gingen sie zum Tanzen auf den Saal des Hotels. Manchmal begleitete Sebastian seinen Bruder und die Schwägerin auch. Heute hatten der Bergpfarrer und Max sich allerdings darauf eingerichtet, wieder auf dem Hirschlerhof Wache zu halten. Da Franz Gruber in der Nacht zuvor unsichtbar geblieben war, rechnete der Bergpfarrer damit, daß der Norddeutsche in der kommenden wieder etwas unternehmen würde. Doch dann war der Anruf gekommen.

»Ich denk’, wir können es uns schenken«, sagte er zu seinem Bruder. »Franz Gruber hat sich ja schon wieder was einfallen lassen. Ich glaub’ net, daß er in dieser Nacht noch mal was unternimmt. Geht also ruhig auf den Tanzabend und nehmt den Thomas mit.«

Der zuckte die Schultern.

»Ich weiß gar nicht, ob ich überhaupt Lust dazu habe«, erwiderte er.

Aber dann dachte er plötzlich, daß das vielleicht eine Chance wäre, diese Franzi wiederzusehen. Er vermutete ganz stark, daß sie sich dieses Vergnügen, von dem Hochwürden ihm erzählt hatte, nicht entgehen lassen würde, und nickte schließlich.

»Warum nicht? Ein wenig Abwechslung kann ja nicht schaden.«

Eine halbe Stunde später reihten sie sich in die Schlange vor dem Eingang zum Saal ein. Thomas war erstaunt, welch ein Andrang hier herrschte. Es mußten an die dreihundert Gäste sein, die sich auf dem Saal drängten. Indes gab es für sie keine Platzprobleme, denn der Bruder des Bergpfarrers und dessen Frau saßen am Tisch der Honoratioren des Dorfes. Sie stellten ihren Begleiter als Besucher Hochwürdens vor, und die Anwesenden nickten dem jungen Mann freundlich zu.

Claudia hielt es nicht lange auf ihrem Stuhl. Die attraktive Journalistin hatte schon nicht mehr damit gerechnet, an diesem Abend noch tanzen zu können. Nur ungern wäre sie ohne Max ausgegangen. Jetzt freute sie sich, daß sie doch noch ihrer Leidenschaft frönen konnte, und zog ihren Mann zur Tanzfläche.

Thomas hatte sich ein Glas Wein bestellt. Er trank in kleinen Schlucken, unterhielt sich mit dem Dorfarzt, der ebenfalls mit seiner Frau an dem Tanzabend teilnahm, und schaute sich immer wieder um, ob er Franzi irgendwo entdecken konnte. Aber die Menge war zu groß. Alles wuselte durcheinander, und wenn er glaubte, sie gesehen zu haben, dann war das Gesicht auch schon wieder verschwunden.

Dann sah er plötzlich Carola. Sie tanzte mit einem jungen Burschen am Tisch vorbei. Ihre Blicke begegneten sich, und das Madl lächelte ihm zu.

Thomas Gruber schöpfte neue Hoffnung. Wenn die Freundin hier war, dann war es nicht unwahrscheinlich, daß Franzi sich ebenfalls hier aufhielt.

Dr. Wiesinger und Elena waren auf die Tanzfläche gegangen. Der Gast des Pfarrhauses stand auf und schlenderte zur Theke hinüber, an der sich die Tanzunlustigen drängten. Er bestellte sich ein Glas Mineralwasser und hatte gerade davon getrunken, als Franzi an ihm vorüberging.

»Guten Abend«, rief er ihr zu.

Überrascht blieb sie stehen und sah ihn an.

»Thomas!« sagte sie. »Na, willst’ mal erleben, wie wir Wachnertaler feiern?«

Der junge Gruber nickte.

»Ganz schön was los hier«, meinte er.

Erleichtert hatte er festgestellt, daß sie ohne männliche Begleitung war. Das mußte zwar nicht unbedingt etwas heißen, aber es ließ ihm doch eine gewisse Hoffnung…

Franzi stellte sich zu ihm.

»Möchtest du etwas trinken?« fragte Thomas.

»Gern’«, nickte sie.

Er bestellte auf ihren Wunsch hin eine Weinschorle, und sie prosteten sich zu.

»Bist’ allein hier?« wollte sie wissen.

»Wenn du meinst, ob ich mit einer Frau da bin?«

Er schüttelte den Kopf.

»Nein, ohne Frau.«

Sie lächelten sich an.

»Und du?« fragte Thomas.

»Mit meinen Eltern«, antwortete sie. »Aber die sitzen da hinten irgendwo. Wir fahren nur zusammen her und später wieder nach Hause.«

»Wollen wir tanzen?«

»Aber sicher«, erwiderte Franzi. »Deshalb sind wir ja schließlich hier, oder net?«

Er nahm ihre Hand und führte sie zur Tanzfläche. Die Kapelle spielte einen Foxtrott, und es stellte sich heraus, daß Thomas ein ziemlich guter Tänzer war. Franzi genoß es richtig. Auch sie hatte die Hoffnung gehabt, ihn hier zu treffen. Trotz der Aufregung auf dem Hof, war sie mit ihren Eltern hergekommen. Nachdem die Kühe wieder eingefangen und in den Stall gebracht worden waren, hatte die Familie überlegt, ob sie an diesem Wochenende das Tanzvergnügen nicht besser ausfallen lassen sollten. Doch Franzis Vater hatte schließlich den Kopf geschüttelt.

»Hochwürden ist auch der Meinung, daß Gruber sich heut’ nacht ruhig verhalten wird«, erklärte er. »Wir haben also keinen Grund, hier herumzusitzen und darauf zu warten, daß etwas passiert. Eine vergeudete Nacht reicht mir.«

Und nun tanzten sie miteinander. Sie wußten nichts voneinander, aber beide spürten, daß es etwas gab, das sie verband. Franzi und Thomas blieben noch die nächsten drei Musikstücke auf der Tanzfläche, dann machten die ›Wachnertaler Bu’am‹ eine Pause, und sie gingen vor die Tür. Wie selbstverständlich hielten sie sich an den Händen, und als sie sich in die Augen schauten, pochten ihrer beider Herzen im Einklang.

»Glaubst du an die Liebe auf den ersten Blick?« fragte Thomas mit belegter Stimme.

»Bis gestern net«, antwortete Franzi. »Aber dann hab’ ich dich gesehen und wußte, daß es sie doch gibt…«

Er zog sie an sich und beugte seinen Kopf zu ihr. Sie strahlte ihn an und öffnete ganz leicht den Mund. Dann legte sie ihren Arm um seine Schulter, und Thomas küßte zärtlich ihre Lippen.

*

Franz Gruber umrundete das Bauernhaus. Alles war dunkel. Er hatte über zwei Stunden in den Büschen gehockt und hinübergeschaut. Als er sicher war, daß sich nichts rührte, war er auf das Grundstück geschlichen. Das erste, was ihm auffiel war, daß das Auto von Vinzent Hirschler nicht an seinem Platz neben der Scheune stand. Er vermutete ganz richtig, daß der Bauer mit seiner Frau nach St. Johann gefahren war. Bestimmt hatten sie die Tochter auch mitgenommen. Gruber lauschte einen Moment an der Tür zum Anbau, aber da rührte sich auch nichts.

Er lief zur Scheune hinüber und öffnete die Tür. Unbekümmert drehte er den Lichtschalter und stieg zum Heuboden hinauf. Die Flasche mit dem Feuerzeugbenzin steckte in seiner Hosentasche. Aber Gruber hatte nicht die Absicht, die Scheune anzuzünden.

Er war ja kein Brandstifter!

Aber eine Rolle sollte das Benzin schon spielen…

Er warf mehrere Strohbündel hinunter, die auf dem Boden gelagert wurden. Anschließend schleppte er sie auf die Straße, wo er sie in Abständen von einigen Metern ablegte. Er nickte zufrieden, während er das Benzin darüber verteilte. Schließlich holte er sein Feuerzeug heraus und steckte die Strohbündel in Brand.

Sofort schlugen Flammen daraus empor, und beißender Qualm machte sich breit. Gruber rannte auf den Hof zurück. Mit einem Knüppel, den er gefunden hatte, schlug er gegen die Tür des Anbaus.

»Hirschler, raus mit dir!« brüllte er dabei. »Los, zeig’ dich!«

Drinnen hatte Hubert Hirschler in seinem Bett gelegen. Durch das Geschrei aufgeschreckt, zog er sich hastig an.

Er konnte sich schon denken, wer da draußen herumbrüllte, aber als er die Tür öffnete, war von Franz Gruber nichts zu sehen.

Aber der Altbauer nahm den Brandgeruch wahr.

Hat der Kerl jetzt das Haus angezündet? ging es ihm durch den Kopf.

Er sah nach oben zum Dach, aber da war kein Feuer. Der Lichtschein kam von der Straße her, die Rauchentwicklung war enorm. Hubert Hirschler stolperte über den Hof.

»Bist’ jetzt ganz und gar narrisch geworden?« rief er. »Hast’ den Verstand verloren? Wie weit soll dein Haß auf mich noch geh’n?«

»Bis du endlich bekennst, was für ein Verbrecher du bist!« kam es von irgendwoher zurück.

Der Altbauer konnte nicht ausmachen, von wo Gruber rief. Aber das war im Moment auch seine geringste Sorge. Zwar standen die brennenden Strohballen auf der Straße, aber Hubert Hirschler befürchtete, daß die Flammen doch auf das Haus oder die anderen Gebäude übergreifen konnten. Sobald Wind aufkam, würde er das Stroh aufwirbeln und durch die Gegend fliegen lassen.

Doch wo sollte er zuerst löschen?

Hirschler zählte insgesamt zwölf Flammenherde. Alleine konnte er da gar nichts ausmachen, er mußte die Feuerwehr alarmieren.

»Wart’ nur, wir kriegen dich schon noch«, rief er in die Dunkelheit hinter dem Hof, wo er Gruber vermutete.

»Dann kommt die Wahrheit endlich ans Licht«, kam es zurück.

Der Bauer hastete über den Hof. In seiner Wohnstube stand das Telefon auf einem kleinen Schrank. Mit zitternden Fingern wählte er die Notrufnummer. Er hatte kaum gesprochen und wieder aufgelegt, als auch schon die Feuersirenen durch das Wachnertal klangen.

Es war ein schlimmer, Unheil verkündender Ton, der jedem, der ihn hörte, durch Mark und Bein ging. Bedeutete der Alarm doch nichts anderes, als daß irgendwo Gefahr für Leib und Gut bestand.

Durch den Anruf war nicht nur die Wehr in St. Johann aufgerufen, zu löschen, sondern auch die in Engelsbach und Waldeck. Alle drei Dörfer unterhielten jeweils einen Löschzug, und wenn es brannte, dann galt es zusammenzustehen und den Brand gemeinsam zu löschen.

Hubert Hirschler war wieder nach draußen gelaufen. An der Scheune gab es einen Wasseranschluß mit einem langen Schlauch. Allerdings würde der nicht bis zu allen brennenden Bündeln reichen, aber die in der Nähe würde der Altbauer damit löschen können.

Der Rauch nahm noch zu, als das Wasser auf die Flammen traf, und reizte seine Lungen. Er hustete und hatte Tränen in den Augen. Aus der Ferne hörte er die Sirenen der Einsatzwagen, und in der Dunkelheit zuckten die Blaulichter.

Die Wehr aus St. Johann war zuerst zur Stelle. Mit gewohnter Routine bekämpften die Männer das Feuer. Dann trafen auch die Wagen aus den beiden anderen Dörfern ein.

Max Trenker hatte das Tanzvergnügen verlassen, als der Alarm kam. Er informierte seinen Bruder, der schon vor dem Revier stand, als der Polizist angelaufen kam. Jetzt kümmerte sich der Bergpfarrer um Hubert Hirschler, der mit rußgeschwärztem Gesicht und tränenden Augen auf der Bank vor dem Haus hockte.

»Es war der Gruber«, stieß der Altbauer hervor.

»Ich weiß«, nickte Sebastian. »Wir haben ihn falsch eingeschätzt. Er ist gefährlicher, als wir dachten. Als der Alarm, auf dem Hirschlerhof sei ein Feuer ausgebrochen, auf den Saal kam, hatten die Männer der Wehr sofort das Tanzvergnügen verlassen. Allerdings bekamen viele überhaupt nichts davon mit. Die meisten Gäste hatten ohnehin nichts mit der Feuerwehr zu tun, und die Nachricht war im Lärm untergegangen.

Allerdings hatte jemand Vinzent und Klara informiert.

»Was ist mit Franzi?« fragte Klara, als ihr Mann sich durch die Tanzenden drängte und sie an der Hand mitzog.

»Laß sie«, gab er zurück. »Sie erfährt noch früh genug, was geschehen ist.«

*

Das junge Paar hatte von der kurzen Aufregung nur wenig mitbekommen. Franzi und Thomas wußten nur, daß es irgendwo brannte und die Feuerwehr sich schon auf den Weg gemacht hatte. Sie standen an der Sektbar und schauten sich verliebt an.

»Ich kann es noch gar nicht glauben«, sagte Thomas zu ihr.

Die Bauerntochter lächelte.

»Bis gestern wußten wir noch gar nix voneinander«, erwiderte sie.

Er gab ihr einen Kuß.

»Wie lang’ bleibst’ du eigentlich?« fragte sie.

Thomas hatte die Frage sehr wohl verstanden und auch schon darauf gewartet.

»Wollen wir einen Augenblick hinausgehen?« schlug er vor. »Hier drinnen versteht man ja kaum sein eigenes Wort.«

Franzi nickte und folgte ihm auf die Straße. Vor dem Saaleingang standen oder spazierten andere Besucher des Tanzabends. Drinnen war es nicht nur laut, sondern auch recht heiß. Hier draußen fanden die Leute ein wenig Erfrischung und Abkühlung.

Sie gingen ein Stück die Straße hinunter. Thomas überlegte, wie er seiner neuen Freundin erklären konnte, warum er überhaupt nach St. Johann gekommen war. Es war ja keine gewöhnliche Urlaubsreise gewesen, die ihn hierher geführt hatte.

»Also«, fragte sie noch einmal, »wann mußt du wieder fort?«

Sie lachte, noch bevor er etwas sagen konnte.

»Ist dir eigentlich klar, daß wir überhaupt nix voneinander wissen?« stellte Franzi fest. »Ich hab’ keine Ahnung, woher du eigentlich kommst, oder was du beruflich machst.«

Sie strahlte ihn dabei an.

»Aber eigentlich ist mir das auch ziemlich egal«, fügte sie hinzu. »Ich weiß nur, daß ich dich schrecklich gern’ hab’.«

Ein Paar kam die Straße heraufgeschlendert. Die beiden hatten ihren Spaziergang wohl noch weiter ausgedehnt. Franzi erkannte ihre Freundin, die in Begleitung eines jungen Burschen war.

»Du bist hier?« fragte Carola erstaunt.

»Warum net?« entgegnete die Bauerntochter.

Die beiden sahen sie merkwürdig an.

»Ja…, weißt du denn net…?«

»Was? Was soll ich wissen?« rief Franzi, die plötzlich beunruhigt war. »Ist was passiert?«

»Ja, du meine Güte!« rief Carola Mittlerer. »Auf eurem Hof hat’s gebrannt!«

Das Madl war wie vom Schlag getroffen. Es taumelte einen Moment, und hätte Thomas nicht geistesgegenwärtig zugegriffen, wäre Franzi umgefallen.

Carola sah sie bestürzt an und nahm sie in die Arme.

»Wo sind denn deine Eltern?«

»Ich weiß net. Ich hab’ sie net mehr geseh’n.«

Thomas nahm ihren Arm.

»Komm«, sagte er, »ich bringe dich nach Hause.«

Er sah Carola an.

»Wartest du bitte einen Moment?« bat er. »Ich hole nur schnell meinen Wagen.«

Franzis Freundin nickte. Thomas rannte zur Kirche. Er hatte sein Auto dort an der Straße abgestellt. Seit er einmal vergessen hatte, den Ersatzschüssel einzustecken und er deshalb einen langen Fußmarsch machen mußte, trug er ihn jetzt immer bei sich. Er setzte sich hinter das Lenkrad und fuhr los.

Carola und ihr Freund halfen ihm, Franzi ins Auto zu setzen.

»Wo müssen wir lang?« fragte er.

Die Bauerntochter schien sich wieder gefangen zu haben.

»Erst mal geradeaus«, antwortete sie. »Immer die Straße zum Dorf hinaus und dann nach links abbiegen.«

Thomas fuhr, so schnell es ihm möglich war. Insgeheim beglückwünschte er sich, an diesem Abend nicht mehr als ein Glas Wein getrunken zu haben.

Nach einer Weile kam ihm die Gegend bekannt vor, und dann stieg plötzlich ein fürchterlicher Verdacht in ihm auf…

In der Dunkelheit vor ihm tauchten Lichter auf. Er fuhr an den Seitenrand und ließ drei Feuerwehrautos passieren. Franzi starrte die Fahrzeuge mit entsetzter Miene an.

»Das Feuer scheint gelöscht zu sein«, murmelte sie. »Hoffentlich sind meine Eltern schon daheim, und hoffentlich ist Großvater nix passiert!«

»Sag’ mal, wie heißt ihr eigentlich mit Nachnamen?« fragte Thomas, der die böse Ahnung einfach nicht abschüttelnd konnte.

Aber Franzi reagierte gar nicht darauf. Sie saß neben ihm und hatte die Hände zu Fäusten geballt.

»Das war bestimmt dieser gemeine Kerl« stieß sie hervor. »Dieser Gruber! Er macht uns das Leben zur Hölle, wegen einer Sache, die vor über fünfzig Jahren geschehen ist. Hoffentlich wird er bald gefaßt!«

Thomas hatte einen dicken Kloß im Hals, den er kaum hinunterschlucken konnte. Er fuhr wortlos weiter und konnte keinen klaren Gedanken fassen.

Ausgerechnet das war geschehen, womit er nie in seinem Leben gerechnet hatte – sein Vater führte gegen Franzis Familie einen Kreuzzug.

Gegen die Familie des Mädels, in das er sich verliebt hatte!

O Gott, stöhnte er innerlich auf, wie soll das bloß enden!

Sie erreichten den Hof. Der Sohn von Franz Gruber hatte auf der Straße geparkt. Noch immer roch es nach Rauch, die nassen Strohballen waren gelöscht und auseinandergerissen worden. Es stank erbärmlich.

Auf dem Hof standen mehrere Personen. Erst als sie näherkamen, erkannte Thomas den Pfarrer und dessen Bruder. Bei ihnen standen Vinzent und seine Frau, sowie der Altbauer.

Franzi lief zu ihren Eltern und warf sich weinend der Mutter in die Arme. Klara strich ihr tröstend über den Kopf.

»Es ist ja nix weiter passiert«, sagte sie.

Vinzent hatte inzwischen Thomas erkannt.

»Aber es hätt’ mehr passieren können!« rief er aufgeregt. »Wenn das Feuer auf das Haus übergegriffen hätte, könnt’ der ganze Hof abbrennen.«

Er fixierte den jungen Mann.

»Schau dir genau an, Thomas, was dein Vater getan hat!« brüllte er ungestüm los.

Franzi glaubte, nicht richtig gehört zu haben.

Hatte ihr Vater gerade wirklich Thomas gemeint?

Sie wand sich aus dem Arm ihrer Mutter und drehte sich um. Er stand vor ihr, mit hängenden Schultern und schuldbewußtem Gesicht.

»Geh!« sagte sie. »Ich will dich nie mehr wiedersehen!«

*

An diesem Sonntagmorgen mußte Vikar Moser die Heilige Messe lesen. Im Pfarrhaus wurde eine Krisensitzung abgehalten.

Nach Franzis Aufforderung hatte sich Thomas umgedreht und war zu seinem Wagen gegangen. Sein Kopf war leer, als er nach St. Johann zurückfuhr. Hätte er nur den Schimmer einer Ahnung gehabt, daß Franziska Hirschler mit Nachnamen hieß und die Enkelin des Mannes war, den sein Vater bekämpfte, hätte er ihr niemals seine Liebe gestanden.

Als Sebastian und Max vom Hof zurückkamen, saß Thomas immer noch in seinem Auto, vor der Kirche, und brütete vor sich hin. Der Bergpfarrer klopfte an die Scheibe, und sie gingen den Kiesweg hinauf.

Schon als er die beiden vor dem Hirschlerhof aussteigen sah, ahnte der Geistliche, daß die jungen Leute mehr als nur Sympathie für einander empfanden. Indes war ihm Franzis Reaktion nur zu verständlich.

»Das Madl hängt an seinem Großvater«, erklärte er, als sie in der Küche zusammensaßen.

Sebastian erzählte erst einmal ausführlich von dem Feuer. Hubert Hirschler hatte berichtet, was geschehen war. Daß Franz Gruber ›nur‹ Strohballen angezündet hatte und nicht gleich das Haus, minderte die Schwere seiner Tat nur unwesentlich.

»Wenn der Hof abgebrannt wär’, dann hätt’ sich dein Vater für den Rest seines Lebens unglücklich gemacht«, sagte der Bergpfarrer. »Immerhin hat er jetzt schon eine schwere Schuld auf sich geladen. Der Max muß nach ihm fahnden. Brandstiftung ist nun mal kein Kavaliersdelikt!«

»Dann ist er nun also ein Verbrecher«, resümierte Thomas Gruber verzweifelt.

»Vielleicht, aber nur vielleicht, findet doch noch alles ein gutes Ende«, bemerkte Sebastian.

Der junge Bursche sah ihn fragend an. Hoffnung leuchtete in seinen Augen auf.

»Ich konnte meinen Bruder davon überzeugen, die Angelegenheit mit dem Feuer noch nicht an die zuständigen Kollegen zu übergeben«, fuhr der gute Hirte von St. Johann fort.

»Weißt du, was du da von mir verlangst?« hatte Max entgeistert gefragt. »Wenn das rauskommt, dann kann ich meine Uniform gleich ausziehen. Das kommt einer Strafvereitelung im Amt gleich. Behinderung von Ermittlungsarbeit!«

»Ich weiß«, erwiderte Sebastian. »Trotzdem bitt’ ich dich, noch damit zu warten. Wenigstens bis heut’ abend. Wenn wir den Gruber bis dahin net gefunden haben, dann kannst du die Sache weitergeben.«

Schwer seufzend hatte der Polizist schließlich zugestimmt. Es war ja nicht das erste Mal, daß sein Bruder ihn um so eine Gefälligkeit bat, und immer war es eine richtige Entscheidung gewesen, der Bitte nachzugeben.

Bisher jedenfalls…

»Wir werden erst einmal ein wenig schlafen«, sagte Sebastian nun. »Max kommt nachher rüber, und dann besprechen wir alles. Noch am Vormittag machen wir uns auf die Suche nach deinem Vater. Es wird mühsam werden, aber wir haben keine andre Wahl, wenn wir ihn vor dem Gefängnis beschützen wollen.«

Thomas nickte erleichtert. Aber die Sache mit seinem Vater war nicht das einzige, was er auf dem Herzen hatte.

»Hat sie…, hat Franzi noch etwas gesagt?« fragte er, wobei seine Stimme ein wenig zitterte.

Der Bergpfarrer schüttelte den Kopf.

Nachdem Thomas abgefahren war, hatte sich die Bauerntochter ihrer Mutter weinend an die Brust geworfen. Ihre Eltern verstanden zunächst gar nicht, worum es eigentlich ging. Sie wunderten sich nur im nachhinein, daß ihre Tochter Thomas Gruber offensichtlich kannte und mit ihm nach Hause gekommen war. Die beiden waren sich auf dem Hof doch nie begegnet.

Sebastian, der den Zusammenhang ahnte, nahm Franzi beiseite.

»Ihr habt es beide net gewußt, net wahr?« fragte er.

Sie schüttelte den Kopf. Noch immer rannen ihr Tränen über das hübsche Gesicht. Der Geistliche zog ein Taschentuch hervor und reichte es ihr. Franzi wischte sich damit die Tränen ab.

»Nie und nimmer hätt’ ich mich mit ihm eingelassen!« schluchzte sie.

Dann erzählte sie mit stockenden Worten, wie sie und Thomas sich kennengelernt und am Abend auf dem Tanzvergnügen wiedergesehen hatten.

»Ich hab’ den Thomas herkommen lassen, damit er uns bei der Suche nach seinem Vater hilft«, sagte Pfarrer Trenker. »Glaub’ mir, er ist kein übler Bursche, und wenn die Sache ausgestanden ist, dann muß das net heißen, daß ihr zwei net noch eine Chance hättet.«

Franzi schüttelte vehement den Kopf.

»Ich will ihn nie wiedersehen«, wiederholte sie ihre Worte, die sie Thomas an den Kopf geworfen hatte.

Doch davon sagte der Bergpfarrer dem jungen Gruber nichts, als sie jetzt in der Küche des Pfarrhauses zusammensaßen. Seiner Meinung nach hatte Thomas mit den Untaten seines Vater schon genug am Hals. Da sollte er nicht auch noch so eine niederschmetternde Nachricht verdauen müssen.

*

Nach wenigen Stunden Schlaf versammelten sie sich wieder in der Küche. Sophie Tappert hatte ein reichhaltiges Frühstück hergerichtet, und Max langte ordentlich zu. Thomas hingegen hatte weniger Appetit und mußte sich regelrecht zwingen, um etwas zu essen.

»Wir geh’n zusammen mit dem Vinzent und dem Doktor«, erklärte Sebastian.

Toni Wiesinger war in der Nacht droben am Hirschlerhof gewesen. Man hatte ihn ebenfalls alarmiert, für den Fall, daß es Verletzte gegeben hätte. Während das Feuer gelöscht wurde, hatte der Geistliche sich überlegt, am nächsten Tag eine große Suche nach Franz Gruber zu starten und den Dorfarzt mit einzubeziehen. Dr. Wiesinger hatte sofort zugesagt. Auch er saß jetzt mit am Tisch.

»Ich vermute, daß Franz Gruber sich zwischen dem Hirschlerhof und dem Jägersteig aufhält«, fuhr Pfarrer Trenker fort. »Und zwar irgendwo da oben im Bergwald. Ich hab’s mir schon auf der Karte angeschaut und die Jagdhütten angekreuzt, die ich da kenne. Ich könnt’ mir vorstellen, daß er sich in einer versteckt hält. Die meisten werden von den Besitzern net mehr genutzt.«

»Und was geschieht, wenn wir ihn gefunden haben?« fragte Thomas.

»Dann müssen wir ihn davon überzeugen, daß es ein Irrsinn ist, was er sich da ausgedacht hat, und ihn überreden, daß er aufhört. Thomas, ich würd’ mir wünschen, daß dein Vater einsieht, daß er auf dem besten Weg ist, zum Täter zu werden, der, wenn man ihn auf andere Weise festnimmt, vor Gericht gestellt werden wird. Damit ist niemandem geholfen.«

»Hoffen wir, daß er es einsieht«, murmelte der junge Bursche.

Viel Hoffnung hatte er allerdings nicht. Sein Vater war schon immer ein Dickkopf gewesen, der stets das tat, was er sich vorgenommen hatte, und sich von niemandem in seine Angelegenheiten hineinreden ließ.

Nachdem sie zu Ende gefrühstückt hatten, brachen sie auf. Max trug natürlich Zivil, und der Streifenwagen stand in der Garage des Reviers. Sie fuhren zu viert im Auto des Bergpfarrers zum Hirschlerhof hinauf, wo Vinzent und Hubert sie schon erwarteten.

»Bist’ sicher, daß du mitkommen willst?« fragte Sebastian den Altbauern.

»Freilich!« erwiderte der. »Die Sache muß ja mal ein End’ haben!«

Thomas hatte kaum gewagt, auszusteigen. Sein Blick glitt suchend über den Hof, aber das Gesicht, das zu sehen er gehofft hatte, war nirgendwo zu entdecken. Schließlich wandte er sich an Franzis Vater und streckte ihm die Hand entgegen.

»Ich muß mich schon wieder entschuldigen«, sagte er mit bedauernder Miene. »Seien Sie versichert, daß ich auf keinen Fall gutheiße, was mein Vater da anrichtet.«

Vinzent nickte und drückte ihm stumm die Hand.

Hubert Hirschler sah Thomas an.

»Ich bin die Wurzel allen Übels«, erklärte der Alte. »Aber vielleicht hat dein Vater ja ein Einsehen.«

»Das hoffe ich sehr«, erwiderte der junge Gruber. »Sie wissen gar nicht, wie sehr!«

»Also, auf geht’s«, gab der Geistliche das Zeichen zum Aufbruch.

Sie marschierten nebeneinander die Wiese hinauf. Es würde eine Weile dauern, bis sie den Bergwald erreicht und vielleicht eine Spur von Franz Gruber gefunden hatten.

Schließlich waren sie angekommen.

»Am besten teilen wir uns auf«, schlug Sebastian vor. »Max, du und der Doktor, ihr geht in diese Richtung.«

Er deutete nach links.

»In ein paar Metern führt ein schmaler Pfad in den Wald hinein«, fuhr der Geistliche fort. »Da stehen in Abständen von hundert Metern zwei Hütten. Die eine gehört dem Thalerbauern, die andre dem Schlichter aus Waldeck. Ich hab’s euch auf der Karte eingezeichnet.«

Er wandte sich an Vinzent und dessen Vater.

»Ihr zwei nehmt euch das Stück vor, das euch gehört«, sagte er. »Ihr habt ja nur eine Jagdhütte dort stehen.«

Der junge Bauer nickte.

»Ich war lang’ net da«, meinte er. »Kann gut sein, daß der Gruber sich da häuslich eingerichtet hat.«

»Wenn dem so ist, keine Alleingänge«, schärfte der Bergpfarrer ihnen ein. »Nur beobachten und die anderen mittels Handy informieren. Wir treffen uns dann und bereden alles Weitere. Ich möcht’ net, daß der Gruber durchdreht, wenn er merkt, daß da so viele Leut’ hinter ihm her sind.«

Die Männer nickten, und Sebastian wandte sich an Thomas.

»Wir zwei gehen zusammen«, sagte er. »Das Stück, das zum Hirschlerhof gehört, liegt fast in der Mitte des Waldes. Max und der Doktor schauen links nach, also nehmen wir uns die rechte Seite vor.«

Der junge Gruber nickte. Wieder hatte Sebastian Trenker ihn mit Wanderkleidung und Stiefeln ausgerüstet. Thomas folgte dem Geistlichen. Er hoffte inständig, daß sie Erfolg haben würden.

Nicht alleine wegen Franzi, die dann vielleicht ein anderes Bild von ihm haben würde. Auch wegen seiner Mutter. Lina Gruber hatte mehrfach im Pfarrhaus angerufen, nachdem ihr Sohn sich nicht mehr gemeldet hatte. Einmal hatte Hochwürden ein längeres Gespräch mit ihr geführt, weil Thomas noch im Bett lag und schlief. Erst kurz bevor sie aufgebrochen waren, hatte er zu Hause angerufen und ein paar Worte mit seiner Mutter gewechselt. Sie war völlig aufgelöst gewesen, weil ihr Mann immer noch verschwunden war. Von dem, was er in der vergangenen Nacht angestellt hatte, wußte sie glücklicherweise nichts.

Sie bahnten sich einen Weg durch die dichten Büsche, die den Wald zur Wiese hin begrenzten. Sebastian verließ sich da voll und ganz auf seine Ortskenntnisse, eine Karte brauchte er nicht. Mit traumwandlerischer Sicherheit fand er seinen Weg, und nach kurzer Zeit standen sie vor der alten Jagdhütte, von der der Geistliche wußte, daß sie einem Bauern aus St. Johann gehörte, der sie aber vor Jahren das letzte Mal benutzt hatte.

Ein paar Meter davor blieben sie stehen und spähten durch Bäume und Büsche hinüber.

»Glauben Sie wirklich, mein Vater könnte da drinnen sein?« fragte Thomas zweifelnd.

»Möglich wär’s«, antwortete Sebastian. »Ich werd’ jedenfalls nachschauen. Du wartest erst einmal hier.«

Vorsichtig näherte er sich der Hütte. Angst hatte er nicht, aber man konnte nicht wissen, wie Franz Gruber reagierte, wenn er merkte, daß man ihn aufgespürt hatte. Möglicherweise war er einem Wahn verfallen. Für einen labilen Menschen genügten einige Tage in dieser Einsamkeit, um den Verstand zu verlieren.

Drinnen rührte sich nichts. Die Hütte selbst war nicht sehr groß. Sie maß drinnen kaum mehr als sechs Quadratmeter, eher weniger. Sebastian spähte durch das blinde Glas der Scheibe, konnte aber kaum etwas erkennen. Er wandte sich zur Tür und drückte die Klinke herunter.

Die Hütte war leer. Der Bergpfarrer ging hinein und sah sich um.

Leer war sie, aber jemand war hier gewesen, und das konnte nur Franz Gruber gewesen sein.

Es gab eindeutige Spuren, daß er hier drinnen übernachtet hatte. Die alten Wolldecken lagen zu einem Bett zurechtgemacht, in einer Ecke stand eine Plastiktüte, in der sich Müll befand.

Sebastian ging wieder heraus und winkte dem wartenden Thomas zu.

»Dein Vater war ohne Zweifel hier«, sagte er. »Ich geb’ den anderen Bescheid. Wir müssen uns treffen und absprechen, wie die Suche weitergehen soll.«

*

»Ha, Hirschler, da hast schön dumm aus der Wäsche geguckt, als du das Feuer gesehen hast, was?« lachte Franz Gruber vor sich hin. »Wenn dir jetzt nicht endlich die Erleuchtung kommt, daß ein öffentliches Geständnis deine einzige Chance ist, dann kann dir niemand mehr helfen.«

Der Mann aus Norddeutschland lag auf der Lichtung – ›seiner Lichtung‹ – und amüsierte sich immer noch königlich über seinen Streich. Er fühlte sich ausgesprochen wohl dabei und dachte keinen Augenblick daran, daß ihm jemand auf der Spur sein könnte. So sicher kam ihm das Versteck vor.

Er hatte lange geschlafen. Auch wenn das Bett in der Hütte alles andere als bequem war. Nachdem er gefrühstückt hatte, war er wieder hierher marschiert und hatte sich in die Sonne gelegt. Stundenlang überlegte er, wie er sich mit dem Hirschlerbauern in Verbindung setzen konnte, damit dieser endlich sein Einverständnis gab. Schließlich konnte er nicht den Rest seines Lebens damit verbringen, den Alten zu ärgern, damit dieser klein beigab.

Das Mobiltelefon fiel immer noch aus. Bei seinem Einkauf in Waldeck hatte Gruber sich schon nach einem neuen Akku erkundigt, aber so etwas gab es nur in der Stadt zu kaufen. Im Dorfladen konnte man bestenfalls seine Guthabenkarte für das Mobiltelefon aufladen, aber das nützte ihm gar nichts.

Gruber schlief noch eine Runde, dann stand er gähnend auf, reckte und streckte sich, und ging zu dem Bachlauf, an dem er seinen Durst löschte.

Am Abend würde er nach Waldeck gehen, nahm er sich vor. Bei seinem letzten Besuch dort hatte er einen Münzfernsprecher gesehen. Im ersten Moment wollte er Lina anrufen, doch dann hatte er es gelassen. Bestimmt hatte sie in der Pension nach ihm gefragt, und wenn er sich jetzt meldete, würde seine Frau nur auf ihn einreden, nach Hause zu kommen und die ganze Sache aufzugeben.

Aber Aufgeben kam nicht in Frage!

Doch um mit Hirschler zu sprechen, mußte er nach Waldeck zurück. Und vielleicht konnte er schon bald sein Leben aufgeben und nach Hause zurückkehren.

Gruber trank noch einmal und füllte seine leere Wasserflasche auf, dann machte er sich auf den Weg, zurück zur Lichtung.

Plötzlich verharrte er, er hob den Kopf und lauschte.

Waren da nicht Schritte gewesen, hatte nicht ein Zweig geknackt? Waren das Stimmen und ein seltsamer Klingelton? Hastig warf er sich ins Gebüsch. Keine Sekunde zu früh, denn aus dem Dickicht kamen zwei Männer auf den Weg, die Franz Gruber sofort erkannte.

Hubert Hirschler und dessen Sohn!

Der Jüngere hielt ein Handy an sein Ohr.

»In Ordnung, wir sind gleich da«, sagte er und wandte sich zu dem Alten um. »Hochwürden hat die Hütte gefunden, in der Gruber übernachtet. Wir sollen zu ihm kommen.«

»Geh’ schon voraus«, antwortete der Altbauer. »Ich komm’ gleich nach, will nur kurz zur Lichtung schauen.«

»Aber, Vater, warum denn?« hörte Franz Gruber den Sohn fragen. »Hochwürden will sich mit uns absprechen.«

»Ja, ja, geh’ nur schon«, winkte Hubert Hirschler ab.

Vinzent schüttelte den Kopf und ging zurück. Der Mann in seinem Versteck frohlockte.

Na, da habe ich mir ja einen nächtlichen Fußmarsch erspart, dachte Gruber und beobachtete, wie sein ärgster Feind den Weg zur Lichtung einschlug.

Vorsichtig folgte er ihm, wobei er bemüht war, jedes Geräusch zu vermeiden. Wenn Hirschler die Lichtung erreichte, würde er auch den Rucksack entdecken und wissen, wem er gehörte.

Der Altbauer war erstaunlich gut zu Fuß. Aber das hatte Franz Gruber ja schon festgestellt, als die beiden ihre Wanderungen unternommen hatten – damals, als über seine wahre Identität noch nichts bekannt war.

Hubert Hirschler drückte die Zweige auseinander und trat auf die Lichtung. Er wußte selbst nicht, warum er unbedingt hierher gewollt hatte. Vielleicht war es eine Ahnung gewesen. Wenn dem so war, hatte sie ihn nicht getrogen. Mit einem Blick sah er den Rucksack im Sonnenschein liegen, und wußte, daß es der von Franz Gruber war.

Er drehte sich suchend im Kreis und sah ihn plötzlich vor sich stehen. Grinsend hatte sich der Tischler vor ihm aufgebaut, die Arme über der Brust verschränkt.

»Da bist du ja«, sagte er mit einem hämischen Grinsen. »Bist du extra heraufgekommen, um mir zu sagen, daß du endlich dein Verbrechen bekennst?«

Der Altbauer sah ihn empört an.

»Einen Dreck werd’ ich«, stieß er hervor und spukte vor Gruber aus.

Der schüttelte den Kopf.

»Aber, aber«, tadelte er amüsiert, »hast du immer noch nicht eingesehen, daß du am Ende bist? Gegen mich kommst du nicht an. Das Feuer in der letzten Nacht war nur eine Warnung. Allerdings meine letzte. Wenn du dich immer noch weigerst, dann geschieht was, das dir ihm Traum nicht einfallen würde.«

Den letzten Satz hatte er sehr ernst gemeint. Allerdings ließ sich Hubert Hirschler davon nicht einschüchtern.

»Und, was willst unternehmen?« gab er zurück. »Mich umbringen vielleicht?«

Er riß sich mit einer heftigen Bewegung das Hemd auf, daß die Knöpfe nur so durch die Gegend flogen, und zeigte Gruber seinen nackten Oberkörper.

»Na los, dann tu’s« rief er. »Schieß auf mich, oder schlag mich tot. Aber das traust’ dich ja net. Feig’ bist. Wie ein Dieb schleichst dich in der Nacht heran und legst’ Feuer. Aber genauso feig’ war dein Vater. Und du bist net besser als er!«

Franz Gruber sprang auf ihn zu und griff nach seinen Armen.

»Ich werde dir zeigen, wer hier der Feigling ist«, sagte er gefährlich leise. »Los komm, Hirschler. Eigentlich bist du es nicht wert, daß ich mir die Hände an dir schmutzig mache, aber ich laß es nicht zu, daß du meinen Vater beleidigst. Ausgerechnet du!«

Er zog den widerstrebenden Bauern mit sich, und Hubert Hirschler war sicher, daß sein letztes Stündlein geschlagen hatte.

*

»Wo bleibt er denn?«

Sebastian Trenker schaute besorgt in die Richtung, aus der Vinzent gekommen war.

»Vater ist gleich da«, erklärte der Bauer. »Er wollt’ noch zur Lichtung. Leider konnt’ ich ihn net davon abbringen. Sie wissen ja, wie eigensinnig er sein kann.«

Das war vor mehr als zehn Minuten gewesen. Nach dem jungen Bauern trafen auch Max und Toni Wiesinger ein. Jetzt warteten sie auf Hubert Hirschler.

»Da stimmt doch was net«, sagte der Bergpfarrer und winkte den anderen zu. »Kommt, wir müssen ihn suchen.«

Diesmal blieben sie zusammen. An die Lichtung hatte der Geistliche auch schon gedacht. Er konnte sich gut in Franz Grubers Lage versetzen und meinte zu wissen, daß der Mann nachts in der Hütte erbärmlich gefroren haben mußte. Da war der Platz unter freiem Himmel, auf den die Sonne beinahe den ganzen Tag schien, ein schöner Ort, um sich ordentlich durchzuwärmen.

Als sie dort ankamen, sahen sie Grubers Rucksack.

»Ob sie aufeinander gestoßen sind?« fragte Vinzent Hirschler.

Sebastian hatte schon die abgerissenen Knöpfe entdeckt.

»Net nur aufeinander gestoßen, sondern auch aneinandergeraten«, sagte er und deutete auf den Boden.

Die anderen wußten sofort, was die Knöpfe, die dort verstreut lagen, zu bedeuten hatten. Der Sohn des Altbauern unterdrückte einen Schrei.

»Und jetzt?« fragte Max.

»Wir müssen sie suchen«, antwortete sein Bruder. »Weit können sie ja net sein. Folgt mir!«

Er bahnte sich einen Weg durch die Büsche und hielt immer die Arme vor das Gesicht, um sich vor den herabhängenden Zweigen der Bäume zu schützen.

Lange brauchten sie nicht zu suchen, die Spur der abgerissenen Äste war eindeutig. Offenbar hatte Franz Gruber den Bauern mit sich gezerrt, ohne dabei auf die Büsche und Bäume zu achten. Sebastian ahnte, wohin der besessene Mann wollte, und das bereitete ihm ein ungutes Gefühl.

»Denkst du auch, daß er ihn nach oben bringt?« wandte sich Max an seinen Bruder.

»Ich fürchte ja«, antwortete der gute Hirte von St. Johann.

Bis zur Spitze des Jägersteigs war es nicht mehr weit. Der Weg führte aus dem Wald heraus und wurde steinig. Die Felsen ragten links und rechts in die Höhe, und nach einer Weile erreichten sie das Plateau.

»Zurück!« befahl der Bergpfarrer, der die Situation sofort erkannte.

Am Rande des Plateaus, da wo es mehrere hundert Meter in die Tiefe abfiel, standen die beiden Männer. Franz Gruber hatte den Altbauern bei den Armen gepackt und drängte ihn immer weiter an den Abgrund.

»Um Himmels willen, Herr Gruber, machen S’ sich net unglücklich!« rief Sebastian. »Lassen S’ den Mann frei und richten S’ net noch mehr Schaden an. Es ist doch schon genug geschehen!«

Franz Gruber hob den Kopf und schaute herüber. Sein Gesicht war eine wutverzerrte Grimasse.

»Er hat es nicht anders verdient«, brüllte er voller Zorn. »Dieser Mann hat das Leben meines Vaters zerstört, und jetzt zerstöre ich seines!«

Thomas, der hinter Max und dem Doktor stand, wollte sich vordrängen, doch der Polizist hielt ihn zurück.

»Wart’«, sagte er. »Laß erst meinen Bruder mit ihm reden.«

»Wenn er Vater was antut, dann bring’ ich ihn um!« knurrte Vinzent, den es kaum noch auf der Stelle hielt. »Eigenhändig!«

»Nix wirst’ tun!« schüttelte Max den Kopf.

»Der Mann ist völlig ausgerastet«, sagte Dr. Wiesinger leise. »Wenn es uns gelingt, an ihn heranzukommen und zu bändigen, kann ich ihm eine Beruhigungsspitze geben.«

»Noch net«, antwortete der Bruder des Bergpfarrers. »Sie stehen zu dicht am Rand. Das kann für den Gruber genauso gefährlich werden, wie für den Hubert.«

Sebastian schätzte die Situation ebenso ein. Jetzt was gegen Franz Gruber zu unternehmen, könnte fatale Folgen haben.

»Herr Gruber, seien Sie doch vernünftig«, versuchte er es noch einmal. »Sie irren, wenn Sie glauben, daß Ihr Vater durch diese leidige Geschichte sein ganzes Leben lang unglücklich gewesen ist. Ja, vielleicht hatte er Rachegedanken gehabt. Aber auch für ihn hat es glückliche Momente gegeben. Er hat seine Frau kennen- und liebengelernt. Gewiß haben die beiden sich net das Jawort gegeben, weil sie aneinander net gut waren. Und als Sie geboren wurden, da muß Ihr Vater stolz und glücklich gewesen sein. Ich will net in Abrede stellen, was er durchgemacht hat, als er unschuldig im Gefängnis saß, aber das alles wiegt doch einen Mord net auf, und ein Mörder werden S’ sein, wenn S’ den Hubert jetzt da hinunterstürzen. Den Rest Ihres Lebens werden S’ im Gefängnis sitzen. Wollen S’ das wirklich? Denken S’ doch an Ihre Frau und Ihren Sohn. Der Thomas ist so ein prima Bursche, der Ihnen nur Freude macht. Wollen S’ das alles wirklich aufs Spiel setzen, nur wegen eines Rachegedanken?«

Franz Gruber hatte Sebastian Trenker reden lassen, ohne ihn zu unterbrechen. Als der Geistliche jetzt seinen Sohn erwähnte, schaute er auf.

»Was… was wissen Sie von Thomas?« rief er.

»Vieles«, entgegnete der Bergpfarrer. »Er ist hier, bei uns. Er ist hergekommen, um Sie nach Hause zu holen.«

»Sie lügen! Sie haben sich das ausgedacht, um dieses erbärmliche Leben hier zu retten.«

»Nein, Vater«, rief Thomas. »Pfarrer Trenker lügt nicht. Ich bin hier!«

Max trat beiseite und gab den Weg frei. Franz Gruber stand mit offenem Mund da und konnte es nicht fassen, ihn zu sehen. Seine Arme sanken kraftlos herab und ließen Hubert Hirschler los.

*

Als die Männer auf den Hof gekommen waren, stand Franzi hinter der Gardine des Küchenfensters und sah Thomas. Ihr Herz krampfte sich zusammen. Sie dachte an den vergangenen Abend, den ersten Kuß, die liebevollen Worte, die sie sich gesagt hatten. Tränen standen in ihren Augen, als sie sich den Moment in Erinnerung rief.

Und dann die Erkenntnis, daß er der Sohn von Franz Gruber ist. Wie ein Keulenschlag hatte es sie getroffen, und Franzi hatte nicht gewußt, was sie mehr quälte, daß Thomas ihr nicht gleich die Wahrheit gesagt, oder daß sie sich ausgerechnet in ihn verliebt hatte.

Nachdem ihr Vater und Großvater zusammen mit den anderen aufgebrochen waren, kam die Mutter in die Küche. Für Klara Hirschler war es auch ein Schock gewesen, daß ihre Tochter sich offenbar in den Sohn des Übeltäters verliebt hatte, der ihnen in den letzten Tagen das Leben zur Hölle gemacht hatte. Jetzt nahm sie Franzi in den Arm und strich ihr tröstend über das Haar.

»Er ist net der einzige Bursche auf der Welt«, sagte sie.

Das Madl schluchzte wieder auf. Die halbe Nacht hatte es wachgelegen und immer an ihn denken müssen.

»Aber keinen wie Thomas…«

Die Bäuerin holte tief Luft.

»Auch wenn er net der Sohn vom Gruber wär’«, sagte sie, »es hätt’ doch gar keinen Zweck. Er lebt net hier, da wo du zu Haus’ bist. Denk’ dran, was du dir vorgenommen hast. Architektin willst’ werden, das ist doch ein ganz anderes Leben, als an der Seite eines Tischlers.«

Franzi hörte kaum zu. Um sich abzulenken, machte sie sich schließlich an die Vorbereitung für das Mittagessen. Der Kirchgang würde heute ausfallen, aber trotz allem ging das Leben weiter, und man mußte sich damit abfinden.

Aber immer wieder spähte sie zum Fenster hinaus. Mehr als drei Stunden waren die Männer jetzt unterwegs. Es wurde schon bald Nachmittag, doch zu sehen waren sie nicht.

Der Braten schmorte in der Röhre, Gemüse und Kartoffeln wurden warmgehalten. Mutter und Tochter wechselten sich damit ab, aus dem Fenster zu schauen, ob Mann und Vater, Großvater und die anderen nicht endlich zu sehen waren.

Was für ein Drama sich auf dem Jägersteigplateau abspielte, ahnten sie nicht.

Franz Gruber war wie vor den Kopf geschlagen, als sein Sohn plötzlich vor ihm stand. Thomas ging langsam auf ihn zu, während die anderen mit angehaltenem Atem zusahen.

Hubert Hirschler stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als Gruber ihn losließ, aber der Altbauer wagte nicht, sich zu bewegen. Erst als Thomas bei ihnen stand, machte er einen vorsichtigen Schritt weg vom Abgrund.

Sebastian nickte ihm zu und bedeutete dem Alten, zu ihnen zu kommen. Aufatmend schloß Vinzent seinen Vater in die Arme.

Thomas lächelte zaghaft.

»Komm, Vater«, sagte er. »Der Spuk ist zu Ende.«

Franz Gruber blickte ihn durchdringend an.

»Warum machst du mit ihnen gemeinsame Sache?« fragte er, und Enttäuschung lag in seiner Stimme.

»Weil es nicht richtig ist, was du tust«, antwortete der Sohn ernst. »Pfarrer Trenker hat recht. Großvater hatte auch glückliche Momente in seinem Leben, und die alte Geschichte gehört auf den Müll der Vergangenheit geworfen und vergessen. Du bist jedenfalls kein Racheengel, Vater. Und dann denke an Mama. Sie kommt um vor Sorge. Komm, laß uns nach Hause fahren. Die Hirschlers werden von einer Anzeige absehen, wenn du den Schaden ersetzt, den du angerichtet hast.«

Der Bergpfarrer war neben sie getreten.

»Es stimmt, was Ihr Sohn sagt«, erklärte Sebastian. »Mein Bruder ist Polizist, wie Sie ja wissen. Er wird die Anzeige gegen Sie zurückhalten. Ihr Wort, daß Sie für alles aufkommen, genügt. Es ist noch net zu spät. Nur müssen S’ ein Einsehen haben und diesen Wahnsinn hier beenden.«

»Vater!« sagte Thomas eindringlich.

Franz Gruber blickte ihn an, dann schaute er auf den Geistlichen und schließlich zu Hubert Hirschler hinüber. Er nickte.

Dr. Wiesinger kam zu ihnen.

»Herr Gruber, ich bin Arzt«, sagte er. »Ich möcht’ Sie gern’ untersuchen und Ihnen eine Spritze geben. Sind S’ damit einverstanden?«

Der Tischler nickte wieder. Sebastian lächelte Thomas zufrieden an.

»Komm, Vater«, wandte sich Vinzent an den Altbauern, »laß uns gehen.«

Die beiden Männer wandten sich um und stiegen hinab.

Nachdem Franz Gruber verarztet worden war, machten sich auch Sebastian und die anderen auf den Heimweg. Ihr Wagen stand noch am Hirschlerhof, also mußten sie zuerst dorthin. Vinzent und sein Vater saßen auf der Bank vor dem Haus. Sie blickten auf, als Gruber sich aus der Gruppe löste und zu ihnen kam.

»Laß ihn«, sagte Sebastian, als Thomas ihm nacheilen wollte.

»Was willst’ denn noch?« fragte der Altbauer, als der Tischler vor ihm stand.

Franz Gruber sah ihn bedrückt an. Die von Dr. Wiesinger verabreichte Spritze hatte ihre Wirkung getan. Er war die Ruhe selbst.

»Ich wollte mich entschuldigen«, antwortete Gruber. »Ich habe eingesehen, daß es ein Fehler war, überhaupt herzukommen, und was ich getan habe. Ich werde den Schaden voll und ganz ersetzen.«

Hubert sah ihn einen Moment schweigend an. Dann stand er auf und griff in seine Hosentasche. Als die Hand wieder zum Vorschein kam, hielt sie die Kette mit dem kunstvoll gravierten Anhänger. Der Altbauer schaute das Schmuckstück an, dann streckte er die Hand vor.

»Nimm«, sagte er. »Damit hat es angefangen. Ich hab’ die Kette all die Jahre versteckt. Vor der Maria und vor mir selbst. Jetzt, wo’s ein Ende hat, soll sie dir gehören. Auch ich will mich entschuldigen. Damals hab’ ich net anders gekonnt, und es tut mir leid, daß ich den Josef ins Gefängnis gebracht hab’. Aber meine Liebe zu Maria war stärker als alle moralischen Bedenken. Ja, ich hab’ Schuld auf mich geladen, aber glaub’ mir, Franz, auch ich hab’ darunter gelitten. Vielleicht können wir uns beide verzeihen. Du für das, was ich getan hab’, ich vergeb’ dir alles, was in den letzten Tagen geschehen ist.«

Franz Gruber schluckte.

Eine Entschuldigung, ein Einsehen, Unrecht getan zu haben – wie lange hatte er darauf gewartet!

Er nahm dem Bauern die Kette aus der Hand und betrachtete sie. Dann gab er sie zurück und schüttelte den Kopf.

»Gib sie deiner Enkelin«, sagte er. »Wenn jemand das Recht hat, sie zu tragen, dann Franzi. Schließlich ist die Maria ihre Großmutter.«

Das Madl stand an der Tür und lauschte. Daß die Kette in der Familie bleiben sollte, freute die Bauerntochter. Aber viel lieber wäre ihr gewesen…

»Ich habe noch einen Vorschlag«, hörte sie den Bergpfarrer sagen. »Wie wäre es, wenn die Kette bei Franzi bleibt und trotzdem auch im Besitz der Familie Gruber ist?«

»Wie soll das denn gehen?« fragte der Tischler verblüfft.

Sebastian lächelte.

»Franzi, komm heraus«, rief er.

Die Haustür öffnete sich, und das Madl trat heraus. Unsicher schaute es zu Thomas hinüber.

»Komm, gib deinem Herzen einen Ruck«, forderte der gute Hirte von St. Johann sie auf.

Thomas stand neben ihm, er schluckte, als er Franzi sah, und sein Herz klopfte bis zum Hals hinauf. Ihre Mutter schob sie weiter.

»Geh«, sagte Klara Hirschler. »Du hast dir genug die Augen ausgeweint.«

Dann standen sie voreinander und sahen sich an.

»Ich kann nur sagen, daß mir leid tut, was geschehen ist«, murmelte Thomas mit belegter Stimme. »Und, daß ich dich von ganzem Herzen liebe.«

Franzi nickte stumm. Aber es hätte auch keiner weiteren Worte mehr bedurft. Ihr Kuß sagte alles, was es noch zu sagen gegeben hätte.

Der Bergpfarrer Paket 4 – Heimatroman

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