Читать книгу Der Bergpfarrer Paket 4 – Heimatroman - Toni Waidacher - Страница 13

Mit all meiner Liebe …halte ich zu Dir! Roman von Waidacher, Toni

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Der Jeep, der die kurvige Bergstraße entlangfuhr, machte einen recht betagten Eindruck. An mehreren Stellen hatte er Rostbeulen, die Windschutzscheibe klapperte und die Stoßdämpfer quietschten bei jedem Holpern über eine Unebenheit.

Den Fahrer schien das allerdings nicht zu stören. Er saß fröhlich pfeifend hinter dem Lenkrad und ließ sich den Fahrtwind um die Ohren wehen. Das Verdeck war zurückgeklappt, und die Koffer und Taschen, die auf dem Rücksitz lagen, drohten bei jeder Kurve herauszufliegen. Dennoch dachte Tobias Berghof nicht daran, das Tempo zu drosseln. Ganz im Gegenteil, da wo die Straße ein wenig gerade war, drückte er so kräftig aufs Gaspedal, daß der Wagen vorwärts schoß.

Dann, nach der nächsten Kurve, bremste er ab und lenkte den Jeep an den Straßenrand. Ohne die Fahrertür zu öffnen, sprang er heraus und lief auf die andere Seite. Unter ihm lag das Wachnertal. Die Kirchturmspitze von St. Johann konnte er sehen, ein paar Häuser von Engelsbach, dem Nachbardorf, und auf der anderen Seite das Dorf Waldeck.

»So, da wären wir wieder«, sagte Tobias im Selbstgespräch. »Warst’ ja eine ganz schön lange Zeit fort.«

Er biß sich auf die Unterlippe, während er seinen Blick schweifen ließ. »Himmelspitz« und »Wintermaid« grüßten mit ihren schneebedeckten Gipfeln den Heimkehrer, und vom nahen Kogler konnte Tobias das Rauschen der Kachlach hören, die oben am Berg in die Klamm stürzte.

Tobias atmete tief die frische, würzige Luft ein. Sie duftete nach Wiesenblumen und wilden Kräutern. Unter ihm fuhr ein Bauer mit seinem Traktor über ein Feld, und rechts davon stand eine Kuhherde auf der Weide und labte sich an dem fetten Gras.

»Hat sich nix verändert«, murmelte der Bursche. »Mal schau’n, wie’s im Dorf ist.«

Mit federnden Schritten ging er zu seinem Jeep zurück und sprang hinein. Der Motor startete mit einem lauten Knall, und als der Geländewagen losfuhr, schoß eine dicke, weißgraue Wolke aus dem Auspuff.

Tobias Berghofer war sechsundzwanzig Jahre alt und groß und schlank gewachsen. Das dunkle Haar war länger, als es der aktuellen Mode entsprach, und der Vollbart ließ sein Gesicht älter aussehen, als es wirklich war. Er trug verwaschene Jeans und ein altes T-Shirt. Auf dem Sitz neben ihm lag eine zerschlissene Bundeswehrjacke. Allerdings wirkte er in seinem Aufzug keineswegs unattraktiv. Ganz im Gegenteil, es gab ihm etwas Männliches, Abenteuerliches. In Afrika hätte man ihn ohne weiteres für einen Teilnehmer an einer Safari halten können.

Als er ein paar Minuten später durch das Dorf fuhr, starrten ihm Urlauber und Einheimische hinterher.

Indes kümmerte er sich nicht um die neugierigen Blicke, sondern lenkte den Jeep, am Hotel vorbei, in eine kleine Seitenstraße, an deren Ende ein altes, verfallenes Haus stand. Tobias stieg aus, wobei er diesmal die Fahrertür öffnete, und trat an den Holzzaun, der auch schon mal bessere Zeiten gesehen hatte. Er öffnete die Pforte und betrat den verwilderten Vorgarten. Hier standen die Sträucher mannshoch, das Gras war seit Jahren nicht mehr gemäht worden, und zwischen den Gehwegplatten wucherte Unkraut.

Tobias ging weiter in den Garten. Auch hier dasselbe Bild: Unkraut und Wildwuchs, so weit das Auge reichte.

»Na, hier muß aber ordentlich was gemacht werden«, murmelte er.

Dann drehte er sich zum Haus um und schaute auf die Terrasse. Von außen sah es noch ganz ordentlich aus, wie es drinnen war, wagte er sich nicht vorzustellen – er würde es ohnehin in wenigen Minuten sehen.

Wieder an der Haustür, kramte er den Schlüssel hervor, den er all die Jahre mit sich herumgeschleppt hatte. Es quietschte, als er ihn ins Schloß steckte und herumdrehte. Aber die Tür öffnete sich und schwang knarrend auf.

Dumpfer, muffiger Geruch schlug ihm entgegen. Tobias trat in die Finsternis und zündete ein Feuerzeug an, um wenigstens etwas zu sehen. Rasch durchquerte er den Flur, ging in den Raum, der einmal das Wohnzimmer gewesen war, und riß Fenster und Terrassentür auf. Staub wirbelte auf, als Luft hereinströmte, aber gleichzeitig wurde es heller und angenehmer zu atmen.

Nacheinander öffnete er in den Räumen im Erdgeschoß sämtliche Türen und Fenster. Dann ging er nach oben. Sein altes Zimmer war unverändert. Auch hier war es dunkel und muffig.

»Da hast’ dir aber was vorgenommen!« murmelte er und stieg die Treppe wieder hinab.

Wo sollte er zuerst anfangen?

Eine gute Frage. Als erstes brauchte er wieder fließend Wasser und elektrischen Strom. Aber dazu mußte er in die Stadt fahren und alles wieder anmelden. Außerdem funktionierte das Telefon nicht, er selbst hatte alles abgemeldet, als er damals fortgegangen war.

Nun war er zurückgekehrt, nach sechseinhalb Jahren, um zu bleiben und zu vergessen, was hinter ihm lag...

Daß seine Heimkehr nicht gänzlich unbemerkt geblieben war, ahnte Tobias Berghofer nicht, aber es hätte ihn wahrscheinlich auch nicht sonderlich interessiert.

*

Max Trenker sah irritiert auf, als die Tür zur Revierstube geöffnet wurde und Maria Erbling hereinstürmte – ohne anzuklopfen.

»Grüß Gott«, sagte der Polizist, zwar höflich, aber auch schon ein wenig ungehalten. »Was kann ich für Sie tun?«

»Mitkommen müssen S’«, keuchte die Witwe des ehemaligen Poststellenleiters von St. Johann.

»Wohin?« fragte Max. »Ist was passiert?«

»Einbrecher sind am Werk!« behauptete die Frau. »Schnell, sonst entwischen s’ uns noch!«

»Moment mal«, sagte der Bruder des Bergpfarrers, der nicht so recht glauben mochte, was Maria da sagte. »Wo sind denn Einbrecher?«

»Im Berghoferhaus«, rief sie aufgeregt. »Nun kommen S’ schon!«

»Was? Am hellichten Tag?« meinte der Beamte ungläubig.

Max Trenker schüttelte den Kopf. Alles was Maria Erbling von sich gab, war nämlich mit Vorsicht zu genießen. Sie war die gefürchtetste Klatschtante des Ortes. Im Dorf galt der Spruch, daß man, wenn sich etwas schnell herumsprechen sollte, es nur der Erbling unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertrauen müsse, und sicher sein konnte, daß es sich wie ein Lauffeuer herumsprach.

Seufzend stand der Polizist auf und kam um seinen Schreibtisch herum.

»Schnell!« drängelte die Witwe und lief voran.

Das Haus, von dem sie gesprochen hatte, lag einige Straßen entfernt, und im anderen Fall wäre Max schon mit dem Streifenwagen hingefahren. Aber da er Maria doch nicht so recht über den Weg traute, ließ er das Auto stehen und ging zu Fuß.

An der Straßenecke davor blieb sie plötzlich stehen und deutete aufgeregt auf ein Haus.

»Da«, zischelte sie, »das Auto steht noch da!«

Triumphierend sah sie den Polizisten an.

»Ich seh’s!« Max nickte. »Aber das heißt noch lang’ net, daß es sich um Einbrecher handelt. Haben S’ überhaupt jemanden von denen gesehen?«

»Einen«, antwortete Maria. »Ein ganz übles Subjekt. Wie ein Verbrecher schaut der aus!«

»Na, na, nun mäßigen Sie sich mal«, tadelte der Bruder des Bergpfarrers die Frau. »Mit solchen Anschuldigungen sollten S’ vorsichtiger umgehen, sonst könnt’s sein, daß Sie selbst auf meinem Revier landen.«

Natürlich übertrieb er damit, aber mit Absicht.

»Die Fenster steh’n doch auf«, verteidigte sich die Witwe. »Da hindurch schaffen s’ die Beute aus dem Haus. Da bin ich wirklich ganz sicher!«

Max verdrehte die Augen.

»Was soll’s denn in dem alten Kasten schon zu stehlen geben?« fragte er.

Aber merkwürdig kam ihm das Ganze schon vor. Das Haus stand bereits seit Jahren leer und drohte zu verfallen. Markus Bruckner, der Bürgermeister von St. Johann, hatte schon nach dem Erben suchen lassen, aber der war nirgendwo zu finden gewesen, so daß Bruckner bereits damit gedroht hatte, das Haus im Auftrag der Gemeinde abreißen zu lassen, und das Grundstück zugunsten der Gemeindekassen zu verkaufen.

»Sie bleiben hier!« wies Max Trenker Maria Erbling an.

Ihr war anzusehen, daß sie sich nur sehr ungern davon abhalten ließ, mit ihm zu gehen. Aber der Blick des Beamten ließ sie sich fügen.

Max ging zur Haustür, die sperrangelweit aufstand und schaute in den Flur. Es wehte heftig, wer sich auch immer im Haus aufhielt, hatte sämtliche Fenster und Türen geöffnet.

Sollte etwa...?

Der Polizist konnte seinen Gedanken nicht zu Ende denken, als er durch den Flur ging und die frühere Wohnstube betrat. Auf der Terrasse sah er ihn stehen. Der ›Einbrecher‹ wandte ihm den Rücken zu und schaute in den Garten.

»Sag’ mal, bist du’s wirklich?« fragte der Beamte.

Der Mann drehte sich langsam um und grinste ihn an.

»Hallo Max, altes Haus«, sagte Tobias Berghofer. »Hast’ dich ja kaum verändert.«

»Du aber auch net«, lachte der Bruder des Bergpfarrers und reichte ihm die Hand. »Seit wann bist’ denn wieder da?«

»Noch keine Viertelstunde«, erwiderte der Heimkehrer.

»Und schon bringst’ das ganze Dorf in Aufruhr!« Max schüttelte den Kopf.

Tobias sah ihn erstaunt an.

»Ich? Wieso...?«

Der Polizist schmunzelte.

»Eigentlich bin ich hergekommen, um dich als Einbrecher festzunehmen«, erklärte er.

»Du machst Scherze!«

»Keineswegs. Gegen dich ist Anzeige wegen Einbruchs erstattet worden.«

Polternd lachte er los. Tobias machte ein Gesicht, daß Max gar nicht anders konnte.

»Maria Erbling war grad bei mir. Sie hat hier ein ganz übles Subjekt gesehen, das das Haus ausräumen will.«

Tobias lachte herzlich mit.

»Oh, Gott«, stöhnte er. »Lebt die etwa immer noch?«

»Gesund und munter wie ein Fisch im Wasser ist sie«, nickte Max. »Und ihre Zunge ist immer noch so spitz wie eh und je.«

Er sah sein Gegenüber fragend an.

»Erzähl’ doch mal«, forderte er Tobias auf. »Bist’ etwa hergekommen, um das Haus wieder in Schuß zu bringen und darin zu wohnen?«

»Genau das hab’ ich vor«, erwiderte der junge Bursche.

»Klasse! Aber da hast’ dir ein schönes Stück Arbeit vorgenommen!«

»Ich weiß. Aber ich hab’ meine Gründe, warum ich zurückgekommen bin...«

»Wo hast’ denn all die Zeit gesteckt?«

Tobias winkte ab.

»Ach, das ist eine lange Geschichte«, meinte er. »Aber ich erzähl’ sie dir gern’ bei einer Maß Bier.«

»Da sag’ ich net nein.«

Max sah auf die Uhr.

»Aber ich muß jetzt los. Im Pfarrhaus warten sie mit dem Mittagessen auf mich«, sagte er.

»Dann bis heut’ abend?«

»Ja, gegen sieben im Biergarten vom Hotel.«

»Prima, Max. Pfüat di’ bis dahin, und grüß deinen Bruder von mir.«

»Der wird Augen machen!« rief der Polizist, als er schon durch den Flur ging.

Draußen auf der Straße stand Maria Erbling und blickte ihm erwartungsvoll entgegen.

»Und«, fragte sie neugierig, »haben S’ die Einbrecher verhaftet?«

»Sie schauen zu viele Krimis«, sagte er und schüttelte den Kopf. »War nur falscher Alarm. Der Besitzer des Hauses ist zurückgekehrt.«

Damit ließ er sie stehen und ging zum Pfarrhaus.

Maria starrte erst ihm hinterher, dann zum Haus hinüber.

»Der Tobias ist wieder da?« murmelte sie erstaunt. »Also, wenn das keine Sensation ist!«

Und dann machte sie sich rasch auf, ihre Sensation unter die Leute zu bringen.

*

Schon als er die Tür öffnete und eintrat, roch Max, daß es heute mittag sein Lieblingsessen geben würde.

Wobei man von »einem Lieblingsessen« eigentlich nicht sprechen konnte, denn der Bruder des Bergpfarrers aß für sein Leben gern, und was Sophie Tappert auf den Tisch stellte, schmeckte immer gut.

Heute hatte sie aber ein Gericht gekocht, das Max besonders gerne mochte: Königsberger Klopse.

Selbstverständlich waren sie frisch hergerichtet, im Pfarrhaus von St. Johann kam nichts aus der Dose auf den Tisch, lediglich die Kapern für die Sauce waren fertig eingelegt gekauft worden, und das Hackfleisch natürlich.

»Ist mein Bruder net da?« fragte Max, als er in die Küche kam.

Der Tisch war bereits gedeckt, in der Mitte stand eine Schüssel mit Roter Beete. Die stammte aus dem Pfarrgarten, und Sophie hatte sie im Frühjahr selbst ausgesät.

»Hochwürden ist im Garten«, erwiderte sie. »Sie können ihm sagen, daß das Essen fertig ist.«

Der Pfarrer saß auf der Terrasse. Er machte auf seinen Bruder den Eindruck, als wäre er in tiefes Grübeln versunken.

»Ist was net in Ordnung?« erkundigte sich Max.

»Nein, nein!« Sebastian blickte auf und schüttelte den Kopf. »Ich hab’ nur noch mal an die Ereignisse der letzten Tage gedacht.«

»Na, das war ja auch net alltäglich, was sich da abgespielt hat«, meinte Max und setzte sich dazu.

Angefangen hatte es damit, daß vor einigen Wochen ein Mann nach St. Johann gekommen war. Er quartierte sich in der ›Pension Edelweiß‹ ein, die Andreas Trenker gehörte, einem Cousin von Sebastian und Max. Der Fremde stellte Nachforschungen an und erkundigte sich in auffälliger Weise nach einem Brandnerhof. Indes gab es davon einige im Wachnertal, und so recht konnte der Mann, der Franz Gruber hieß, nichts herausfinden.

Sebastian war längst auf ihn aufmerksam geworden, doch als er Gruber ansprach und seine Hilfe anbot, gab sich dieser wortkarg, ja abweisend, was den Verdacht des Bergpfarrers, der Mann habe nichts Gutes im Sinn, nur verstärkte.

Tatsächlich stellte sich bald heraus, daß Franz Gruber des Sohn eines Mannes war, der vor mehr als fünfzig Jahren St. Johann verlassen hatte, nachdem er wegen des Diebstahls eines wertvollen Medaillons verurteilt worden war.

Er hieß Josef Gruber und ging, nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis, nach Norddeutschland. Der wahre Dieb und Grubers Rivale im Kampf um die Gunst der schönen Bauerntochter Maria Brandner, Hubert Hirschler, heiratete die junge Frau und gab dem Hof später seinen Namen.

Erst nach und nach erkannte Sebastian Trenker die wahren Zusammenhänge, aber da wäre es beinahe schon zu spät gewesen. Franz Gruber war als Rächer seines Vaters gekommen! Er wollte den Mann ausfindig machen, der Josef Gruber ins Unglück gestürzt hatte, und tatsächlich gelang es ihm. Er bedrängte den alten Bauern, seine Schuld einzugestehen, doch Hirschler weigerte sich, darauf griff Gruber zu krassen Maßnahmen. Erst waren es nur kleine Streiche, die er Hirschler und dessen Familie spielte, aber dann zündete er Strohballen an, und brachte damit den ganzen Hof in Gefahr. Zuvor war er klammheimlich aus der Pension verschwunden und hatte in den Bergen Zuflucht in einer alten Jagdhütte gesucht.Es war ein ständiges Katz- und Mausspiel, das der Mann mit Sebastian betrieb. Aber der gute Hirte von St. Johann hatte einen Trumpf, und der hieß Thomas Gruber. Das war der Sohn von Franz. Er kam, auf die Bitte des Geistlichen hin, nach St. Johann und half, seinen Vater zur Vernunft zu bringen, als dieser den Altbauern über ein Felsplateau zu stoßen drohte.

Indes fand die Geschichte ein gutes Ende. Thomas Gruber hatte nämlich die Bekanntschaft eines sympathischen jungen Madls gemacht. Erst später stellte sich heraus, daß es sich dabei um die Enkelin Hirschlers handelte. Da schien das junge Glück, durch die alten Konflikte, schon wieder bedroht zu werden. Als sich das junge Paar schließlich doch noch glücklich und versöhnt in die Arme sank, war das das Verdienst des Bergpfarrers.

»Ja, und jetzt ist die Franzi mit nach Norddeutschland gefahren«, resümierte Sebastian. »Der Thomas und sie werden irgendwann heiraten, und statt Architektur zu studieren, wie sie es eigentlich vorgehabt hatte, will Franzi nun eine Tischlerehre bei ihrem zukünftigen Schwiegervater machen.«

»Es gibt übrigens eine Neuigkeit«, sagte Max. »Aber erst sollten wir hineingehen und Frau Tappert net länger warten lassen. Eigentlich hatte sie mich geschickt, um dich zum Essen zu holen.«

»Was ist denn jetzt deine große Neuigkeit?« fragte der Geistliche, als sie am Tisch saßen.

»Du wirst es net glauben«, schmunzelte sein Bruder. »Aber ein verloren geglaubter Sohn unseres Dorfes ist zurückgekehrt. Der Tobias Berghofer ist wieder da.«

»Nein!« rief Sebastian überrascht.

»Doch«, nickte der Polizist. »Ich hab’ eben mit ihm gesprochen, nachdem die Maria Erbling mich alarmiert hat, weil sie glaubte, Einbrecher in dem Haus gesehen zu haben.«

Er erzählte die Geschichte, während er seinen Teller mit Klößen, Kapernsauce und Kartoffeln füllte.

»Ich kann’s gar net glauben!« Sebastian schüttelte den Kopf. »Himmel, wie lang’ haben wir nix von ihm gehört.«

Er sah Max fragend an.

»Und weißt’, was er vorhat? Bleibt Tobias da, oder geht er wieder fort?«

»Ich denk’, er bleibt. Er sagt, er will das Haus herrichten und darin wohnen.«

»Das freut mich aber wirklich«, sagte Sebastian. »Ich werd’ ihm nachher mal einen Besuch abstatten.«

*

»Ich bin dann weg!« rief Kathi und lief aus der Tür.

»Wo will sie denn schon wieder hin?«

Wolfgang Steingruber sah seine Frau kopfschüttelnd an.

»Muß sie denn schon wieder fort?« fragte der Bauer mit ärgerlicher Miene. »Als wenn’s auf dem Hof net genug zu tun gäbe.«

»Nun laß sie doch«, antwortete Traudel. »Die Kathi hat auch ein Anrecht auf ein bissel Vergnügen. Genug gearbeitet hat sie ja. Einen freien Nachmittag wirst’ ihr ja wohl gönnen. Außerdem will sie sich net irgendwo herumtreiben, sondern die Burgl im Krankenhaus besuchen.«

Ihr Mann runzelte die Stirn, sagte aber nichts weiter.

Weiber, dachte er bloß, ihr haltet ja immer zusammen!

Die Tochter des Steingruberbauern fuhr die Bergstraße hinunter. Kathi war wirklich froh, wenigstens ein paar Stunden für sich zu haben. In der letzten Zeit hatte es reichlich Arbeit für sie gegeben. Burgl Granzinger, die schon recht betagte Magd, war vor zwei Wochen ins Krankenhaus eingeliefert worden, nachdem Dr. Wiesinger eine Entzündung der Gallenblase diagnostiziert hatte. Die Operation war an sich harmlos, ein Routineeingriff für die Ärzte, aber für Burgl war es eine schlimme Vorstellung gewesen. Ihr ganzes Leben war sie nie ernsthaft krank gewesen, und jetzt operiert werden zu müssen, gefiel ihr überhaupt nicht.

Inzwischen hatte sie aber alles gut überstanden, und mit etwas Glück würde sie in der nächsten Woche entlassen werden.

Kathi brauchte knapp eine halbe Stunde, dann hatte sie das Krankenhaus erreicht. Der Parkplatz war mit Autos von Besuchern vollgestellt, und es gab nur noch wenige freie Plätze.

Die Zwanzigjährige nahm den Blumenstrauß, den sie zu Hause im Garten gepflückt hatte, und das Päckchen vom Beifahrersitz. Darin waren einige Stücke Kuchen eingepackt, den Kathis Mutter am Morgen gebacken hatte.

Auch wenn sie nicht zum ersten Mal hier war, so hatte Kathi doch ein merkwürdiges Gefühl, als sie durch die sich automatisch öffnende Tür ging und die große Eingangshalle betrat, die auf die Besucher wie die Lobby eines Hotels wirkte. Den Weg zur Station kannte sie und fuhr mit dem Lift in den dritten Stock hinauf, wo sich die Abteilung für Innere Medizin befand.

Burgl saß in ihrem Bett und blickte der Besucherin erwartungsvoll entgegen.

»Da bist’ ja, Madl«, freute sie sich.

»Grüß dich«, sagte Kathi und beugte sich zu ihr hinunter, um der Magd einen Kuß auf die Wange zu geben. »Wie geht’s dir heut’?«

»Wie soll’s schon geh’n?« entgegnete die alte Frau. »Langweilig ist mir.«

Sie lag in einem Dreibettzimmer, wovon aber zur Zeit nur ein weiteres Bett belegt war. Die Mitpatientin war in Burgls Alter. Ihr war ebenfalls die Gallenblase entfernt worden, und sie sollte am nächsten Tag entlassen werden.

»Hoffentlich kommt dann jemand anderes hier rein«, sagte die Magd. »Sonst sterb’ ich noch vor lauter Einsamkeit.«

Kathi lachte.

»Na ja, die paar Tag’ wirst’ es ja wohl noch aushalten.«

»Net, wenn ich weiterhin dieses Essen vorgesetzt bekomm’!« Burgl schüttelte ernsthaft den Kopf. »Du kannst dir net vorstellen, wie grauenhaft das schmeckt!«

»Schau, dafür hab’ ich dir ein bissel Kuchen mitgebracht.«

»Ach, das ist schön!« freute sich Burgl und aß auch gleich ein Stück.

Kathi blieb über eine Stunde, dann wurde es Zeit, wieder nach Hause zu fahren. Arbeit gab es auf dem Hof noch genug. Sie verabschiedete sich und versprach, am Wochenende noch einmal herzukommen.

»Laß dir die Zeit net lang werden«, rief sie, als sie in der Tür stand.

Gutgelaunt machte sie sich auf den Heimweg.

An der Situation zu Haus’ wird sich in der nächsten Zeit nichts ändern, dachte Kathi, während sie aus der Stadt fuhr und auf die Kreisstraße einbog. Wenn Burgl wieder daheim ist, kann sie net gleich wieder zupacken, sondern muß sich zunächst schonen. Aber Hauptsache, sie wird wieder richtig gesund.

Es war für alle ein Schock gewesen, als die Magd ins Krankenhaus gebracht werden mußte. Nicht nur, weil Burgl Granzinger trotz ihres Alters immer noch eine fleißige Arbeitskraft war, nein, sie gehörte auch mit zur Familie. Immerhin arbeitete sie seit über dreißig Jahren auf dem Steingruberhof. Ihre Großmutter hatte Kathi nicht mehr kennengelernt, die war schon vor ihrer Geburt verstorben, aber Burgl war für die Bauerntochter so etwas wie eine Ersatzoma geworden.

Kathi war so in Gedanken versunken, daß sie erst im letzten Moment das Fahrzeug bemerkte, das wenige Meter vor ihr, unmittelbar nach einer Kurve, auf der Straße hielt. Sie trat auf das Bremspedal und kam nur ein paar Schritte dahinter zum Stehen.

Was ist das denn für ein Hirsch? schoß es ihr durch den Kopf. Läßt sein Auto mitten auf der Straße stehen und schaltet net einmal die Warnblinkanlage ein!

Sie selber tat es, bevor sie ausstieg und die Autotür hinter sich kräftig zuschlug. Kopfschüttelnd betrachtete sie das Fahrzeug vor sich.

Auto konnte man nur mit sehr viel gutem Willen dazu sagen. Die Rostlaube taugte bestenfalls noch dafür, zur Schrottpresse gebracht zu werden.

Kathi schaute stirnrunzelnd auf das Kennzeichen. So eines hatte sie noch nie gesehen. Es war gelb, und die Buchstaben und Ziffern darauf waren rot.

Ein Ausländer also, dachte sie und ging weiter.

Es handelte sich um einen Jeep, der Fahrer lag unter dem Wagen. Seine langen Beine schauten an der Vorderseite darunter hervor, seine Füße steckten in so etwas wie Cowboystiefeln, und er hämmerte gegen irgendwas, die Motorhaube war geöffnet.

»Hallo?« rief Kathi. »Kann ich vielleicht helfen?«

Der Mann ächzte und kam unter dem Wagen hervorgekrochen, dann starrte er sie verblüfft an. In der rechten Hand hielt er einen Hammer.

»Oh, hallo«, nickte er und rappelte sich auf. »Vielen Dank für das Angebot, aber ich hoff’, ich hab’s selber wieder hinbekommen.«

Er lächelte sie an, und Kathi blickte fasziniert in sein bärtiges Gesicht.

»Ist was?« fragte der Mann.

Sie fühlte sich irgendwie ertappt und bemerkte, daß sie rot wurde. Kathi wurde jetzt erst recht verlegen, weil der Fremde es ebenfalls bemerkte.

»Übrigens«, sagte sie rasch, wobei sie auf den Jeep deutete, »wenn man eine Panne hat und liegenbleibt, sollte man zumindest die Warnblinkanlage einschalten. Oder ist es da, wo Sie herkommen, anders geregelt?«

Aus seinem Lächeln wurde ein breites Grinsen.

»Nein«, schüttelte er den Kopf, »in Afrika ist es auch net anders als hier.«

Er deutete auf ihr Auto, dessen Scheinwerfer warnend blinkten.

»Ich hab’s vergessen«, fuhr er fort. »Aber Sie haben’s für mich getan. Vielen Dank.«

Als er Afrika erwähnte, sah Kathi ihn noch interessierter an.

»Schon gut«, sagte sie. »Glauben S’ denn, daß Sie noch damit fahren können, oder sollen wir einen Abschleppdienst rufen?«

»Abschleppen? Ihn?«

Der Fremde wirkte beinahe empört.

»Niemals«, sagte er. »Meinen guten, alten Gefährten repariere ich selbst. Das bin ich ihm schuldig.«

Er schaute auf die Uhr.

»Tja, tut mir leid«, setzte er dann hinzu, »ich hätt’ mich noch gern’ mit Ihnen unterhalten, aber ich bin spät dran.«

Er nickte ihr zu, klappte die Motorhaube nach unten und schwang sich hinter das Lenkrad. Der Motor heulte auf, als der Mann ihn startete, und aus dem Auspuff kam eine dicke, weiße Rauchwolke. Kathi ging unwillkürlich einen Schritt beiseite, um den Gestank nicht einzuatmen. Der Mann winkte und fuhr los.

Wer ist das denn bloß? fragte sich die junge Frau, während sie selber wieder einstieg.

Fährt einen alten Jeep mit ausländischem Kennzeichen, spricht aber selber Deutsch, sogar mit Dialekt, ist offenbar in Afrika gewesen. Alles in allem machte er einen sympathischen und interessanten Eindruck.

Aber auch einen geheimnisvollen.

Ob ich ihn wohl mal wiedersehe?

Nachdenklich fuhr sie weiter. Die Begegnung beschäftigte Kathi Steingruber immer noch, als sie auf den väterlichen Hof fuhr.

Der Mann interessierte sie, gerade weil er so geheimnisvoll auf sie wirkte...

*

Tobias schmunzelte immer noch, als er in die Straße einbog und vor seinem Haus hielt. Während er vorweg gefahren war, hatte er das Madl im Rückspiegel beobachtet.

Fesch war es, ohne Zweifel!

Er grübelte darüber nach, ob er die junge Frau vielleicht von früher kannte. Schließlich war er hier geboren und aufgewachsen, und in der Zeit, bevor er fortgegangen war, hatte er viele Freunde hier gehabt.

Aber so genau wußte er nicht, ob sie sich kannten. Vermutlich waren sie nicht mal ein Jahrgang, so daß die Wahrscheinlichkeit nicht sehr groß war.

Aber die Begegnung hatte ihm gutgetan und gezeigt, daß das Leben weiterging, trotz allem, was hinter ihm lag...

Der Heimkehrer hatte, nachdem Max Trenker gegangen war, seine Sachen aus dem Jeep geladen und erst einmal im Hausflur gestapelt. Ohne Wasser und Strom konnte er überhaupt nicht anfangen, also war Tobias als nächstes in die Stadt gefahren und hatte beides angemeldet. Auch das Telefon sollte in den nächsten Tagen wieder freigeschaltet werden. Solange genügte ihm sein Handy.

Nachdem die Besorgungen erledigt waren, hatte er in einem kleinen Lokal etwas gegessen und hinterher ein paar Sachen eingekauft. Die Tasche in der Hand, betrat er nun den Flur und stieg über Koffer, Reisetaschen und Kartons hinweg. Als er in der Küche den Lichtschalter drückte, flackerte die Lampe kurz auf, dann brannte die Glühbirne.

Die Stadtwerke hatten schnell reagiert. Auch Wasser war da, und Tobias ließ es eine Weile laufen, bis sich die dunkle, trübe Brühe in eine kristallklare Flüssigkeit verwandelt hatte.

Und dann ging es ans große Aufräumen.

Da er die meisten Sachen damals verkauft oder verschenkt hatte, gab es in der Küche nur noch einen alten, wackligen Stuhl und das alte Büffet seiner Großmutter. Immerhin war der Herd noch da, und ein paar Kochtöpfe, die unten im Schrank standen.

Zuerst staubte Tobias den Herd ab, machte Wasser heiß und suchte nach einem Gefäß. Er fand einen zerbeulten Blecheimer, goß das Wasser hinein und gab Putzmittel dazu. Das hatte er vorsorglich eingekauft. Ebenso Bürsten, Spüllappen und Reinigungstücher.

Einen Moment stand er da und wußte nicht, wo er zuerst anfangen sollte. Acht Zimmer hatte das Haus, und jedes einzelne war seit damals nicht mehr geputzt worden.

»Na ja, irgendwo wirst beginnen müssen«, murmelte er und fing an, die Küche zu putzen.

Tobias hatte gerade den Fußboden gewischt, als es an der Haustür klopfte. Er stellte Eimer und Wischmop beiseite und ging durch den Flur.

»Grüß dich, Tobias«, sagte Pfarrer Trenker lächelnd, als die Tür geöffnet war. »Herzlich willkommen in der alten Heimat.«

»Hochwürden! Vielen Dank.«

Er wischte seine Hände an der Jeans ab.

»Kommen S’ herein«, sagte der Heimkehrer. »Leider bin ich noch net so eingerichtet, daß ich Ihnen was anbieten könnte. Und am besten geh’n wir auf die Terrasse, da steh’n nämlich noch die Gartenmöbel.«

»Mach’ dir bloß keine Umstände«, lachte Sebastian und trat ins Haus.

Tobias hatte einen feuchten Lappen mitgenommen und wischte die Stühle und den Tisch ab. Die Möbel waren aus Holz und hatten die Jahre auf der Terrasse erstaunlich gut überstanden.

Dann saßen sich die beiden Männer gegenüber, und der gute Hirte von St. Johann schaute Tobias fragend an.

»Erzähl’«, forderte er ihn auf. »Wo hast’ all die Jahre gesteckt? Und wie ist’s dir ergangen?«

Die blauen Augen seines Gegenübers schienen sich für einen winzigen Moment zu verdunkeln. Tobias hatte sich zurückgelehnt und die Füße ausgestreckt.

»Das ist so eine lange Geschichte«, erwiderte er. »Ich weiß gar net, wo ich eigentlich anfangen soll...«

»Am besten am Anfang«, meinte der Bergpfarrer schmunzelnd.

»Ja«, nickte Tobias Berghofer, »der Anfang...«

Er beschloß, es kurz zu machen und berichtete davon, wie er, kurz nach der Beerdigung seiner Mutter, mit der er bis zu deren Tod hier im Haus gelebt hatte, den Entschluß faßte, St. Johann zu verlassen und sich damit den Traum zu erfüllen, den er schon träumte, seit er die ersten Bücher über Afrika verschlungen hatte.

Schon immer hatte der Schwarze Kontinent ihn gereizt, und nun gab es nichts mehr, was ihn in der Heimat noch halten konnte.

Indes hatte Tobias, wie er jetzt zugab, sein Vorhaben mit sehr naiven Vorstellungen gefaßt. Nachdem hier alles geregelt war, Paß- und Impfformalitäten, fuhr er mit dem Auto nach München. Dort verkaufte er den Kleinwagen und kaufte ein Flugticket nach Nairobi.

»Ich war ein grüner Junge damals«, lachte er jetzt in der Erinnerung. »Ein Mann, den ich dort kennenlernte, betrog mich um meine ganze Barschaft. Ich war noch keine vierundzwanzig Stunden da, und ich hatte schon keinen einzigen Heller mehr in der Tasche.«

Tobias hatte jedoch Glück im Unglück und lernte einen Farmer kennen, der ihn bei sich aufnahm. Bei John Preston, so hieß der Mann, lernte er alles, was man wissen mußte, um in Afrika überleben zu können. Der Deutsche arbeitete auf der Farm und lebte in der Familie seines Arbeitgebers. Doch nach zwei Jahren trieb ihn das Fernweh weiter.

Er schloß sich einer Safari an und wurde schließlich später selbst Führer durch den Dschungel. Wieder ein Jahr später, nahm er einen Job als Reiseleiter in einem Ferienklub an, wo er die Urlauber durch die Gegend fuhr und ihnen die Schönheiten seiner Wahlheimat zeigte.

Als der Ferienklub dann überraschend Pleite ging, stand Tobias Berghofer wieder auf der Straße. Allerdings war er inzwischen selbstständig genug, um damit fertig zu werden. Er hatte etwas Geld gespart und kaufte sich ein Stück Land, das er bewirtschaftete. Nicht sehr groß, aber er hatte sein Einkommen. Wieder schien ihm das Glück hold zu sein. Er lernte eine junge Frau kennen, die Tochter eines Nachbarn, in die er sich verliebte. Sie planten schon ihre Hochzeit, als das Schicksal unerwartet und erbarmungslos zuschlug.

Patricia verunglückte tödlich, als sie von der Farm ihres Vaters auf dem Weg zu Tobias war. Ihr Jeep kam aus unerklärlichen Gründen von der Straße ab und überschlug sich. Das Unglück wurde erst eine Stunde später von Tobias entdeckt, der losgefahren war, weil seine Verlobte nicht, wie verabredet, zu ihm gekommen war. Als er Patricia anrief und fragen wollte, ob sie sich sehr verspäten würde, erklärte ihr Vater, seine Tochter sei schon längst losgefahren.

Ahnungsvoll machte er sich auf den Weg und fand die Frau seines Lebens in dem Jeep, der nur noch ein Wrack war.

Es war der Tag, an dem sie in Nairobi die Eheringe abholen wollten, die sie eine Woche zuvor ausgesucht hatten...

*

Sebastian Trenker war stumm vor Entsetzen.

»Das tut mir schrecklich leid«, drückte er sein Mitgefühl aus, nachdem er seine Fassung wiedergefunden hatte.

Tobias nagte an seiner Unterlippe und blickte dabei in den verwilderten Garten.

»Ich dachte, ich könnt’ nie wieder glücklich sein«, sagte er leise.

Er griff unter das T-Shirt und holte ein goldenes Kettchen hervor, an dem zwei Ringe hingen.

»Ich habe sie erst Wochen später abholen können«, fuhr er fort, »und trage sie seitdem immer bei mir.«

Nach der Beisetzung wurde ihm schnell klar, daß er nicht länger in Afrika bleiben konnte. Alles dort erinnerte ihn an die glücklichste Zeit seines Lebens, und an das Schreckliche, was er erleben mußte.

Tobias verkaufte seine Farm und den meisten Besitz. Nur ein paar persönliche Dinge behielt er und den Jeep.

Er schiffte sich nach Europa ein und fuhr über Spanien und Frankreich nach Deutschland zurück.

»Tja, und nun bin ich wieder zu Haus’ und muß mein Leben neu einrichten«, sagte er nachdenklich.

»Dann ist es ja ein Segen, daß du das Haus damals net verkauft hast«, meinte der Bergpfarrer. »Sonst hättest’ überhaupt keine Bleibe mehr.«

»Ich weiß gar net, warum ich es net getan hab.« Tobias zuckte die Schultern. »Aber der Gedanke ist mir nie gekommen. Vielleicht war’s ja doch so eine Art Rückversicherung.«

Sebastian richtete sich auf.

»Jedenfalls ist es gut, daß du wieder da bist«, sagte er. »Und wenn du Hilfe brauchst, dann weißt du ja, daß du auf mich zählen kannst.«

Der junge Mann lächelte.

»Ja, Hochwürden«, nickte er, »das weiß ich. Wissen Sie, daß ich oft an Sie und unsre gemeinsamen Bergtouren gedacht hab’? In Afrika gibt’s auch Berge, und gar net mal so kleine. Aber irgendwie hat’s mich nie gereizt, sie zu besteigen.«

»Dann richte dich erstmal ein, und dann steigen wir mal wieder zusammen auf.«

»Eine schöne Idee. Ich freu’ mich schon drauf. Sagen S’, lebt der Franz noch droben auf der Kandereralm?«

»Freilich«, antwortete Sebastian. »Und er macht immer noch den besten Käse weit und breit.«

Der Geistliche erhob sich und reichte ihm die Hand.

»Noch einmal herzlich willkommen«, sagte er. »Ich freu’ mich, daß du wieder da bist, und ich hoff’, daß du, nach all dem, was du hinter dir hast, hier wieder heimisch wirst, und vor allem glücklich.«

Über diese Worte sann Tobias Berghofer noch lange nach.

Würde er wirklich hier wieder heimisch und glücklich werden? Oder war mit Patricia alles gestorben, was das Leben lebenswert machte?

Endlich raffte er sich wieder auf.

»Vom Philosophieren wird die Bude net sauber«, sagte er und machte sich daran, das Bad zu putzen.

Er schaffte es sogar, den Raum, der einmal das Schlafzimmer seiner Eltern gewesen war, wieder herzurichten, so daß er zumindest darin die Nacht verbringen konnte.

Einen Schrank oder gar ein Bett gab es nicht. Aber Tobias war es gewohnt, auf dem Boden zu schlafen. Das hatte er oft getan, damals, als er noch die Reisegruppen durch den Dschungel führte. Und ob nun ein Zeltdach über ihm war oder eine Zimmerdecke spielte keine Rolle.

Er arbeitete und putzte, bis es Zeit wurde, sich zu waschen und umzuziehen. Kurz vor sieben verließ er das Haus und ging zum Hotel hinüber. Als er den Bier- und Kaffeegarten betrat, saß Max Trenker schon an einem Tisch und winkte ihm zu.

Tobias’ Augen weiteten sich überrascht, als er die Frau sah, die neben dem Bruder des Bergpfarrers saß.

War Max immer noch der alte Schwerenöter, der die Herzen der Madln reihenweise brach?

Zu seiner weiteren Überraschung stellte ihm der Polizist seine Begleiterin als seine Ehefrau vor.

»Du bist verheiratet?« fragte Tobias ungläubig. »Donnerwetter, dann mußt’ ja etwas ganz Besond’res sein!«

Der letzte Satz war an Claudia gerichtet. Die Journalistin lächelte.

»Vielen Dank«, sagte sie.

»Komm, setz’ dich«, forderte Max ihn auf. »Ich hab’ schon eine Maß für dich mitbestellt.«

Die Getränke kamen, und der Heimkehrer nahm einen tiefen Schluck, nachdem sie angestoßen hatten.

»Ah, das tut gut!« sagte er und wischte sich den Schaum von den Lippen. »Wißt ihr, das Bier in Afrika schmeckt ja net schlecht, aber es geht doch nix über unsre Braukunst.«

»Du warst in Afrika?« erkundigte sich Claudia interessiert.

»Ja, mehr als sechs Jahre«, erwiderte er.

»Und was hast’ da so getrieben?« wollte Max wissen.

Tobias erzählte es ihnen, wobei er ein paar ganz persönliche Dinge fortließ. Er hatte an diesem Tag schon darüber gesprochen.

»Und jetzt bist wieder da«, meinte der Bruder des Bergpfarrers. »Hast’ dir denn schon Gedanken darüber gemacht, was du jetzt anfangen willst?«

»Ehrlich gesagt, nein«, seufzte der Bursche und schüttelte den Kopf. »Erst einmal werd’ ich das Haus und den Garten auf Vordermann bringen, und dann schau’ ich mich mal um.«

»Na ja, einen Safariführer wird hier niemand gebrauchen können«, lächelte Claudia. »Aber ich könnt’ mir vorstellen, daß dein Leben unsre Leser interessiert. Vielleicht könnt’ ich einen Artikel darüber schreiben und ein Interview mit dir machen.«

Tobias runzelte die Stirn.

»Bist du sicher, daß das jemand lesen will?« fragte er skeptisch.

»Aber ja«, nickte die Journalistin bekräftigend. »Gerade so etwas, wenn ein junger Mann von hier nach Afrika auswandert und als Abenteurer wieder heimkehrt. Das ist doch eine tolle Geschichte!«

»Okay«, schmunzelte er, »ich werd’ drüber nachdenken.«

Sie blieben über zwei Stunden sitzen und unterhielten sich. Claudia und Max waren von Tobias’ Schilderung seiner Erlebnisse fasziniert, aber im Gegenzug wollte er wissen, was sich während seiner Abwesenheit im Wachnertal zugetragen hatte. Viele seiner alten Spezln, hörte er, waren inzwischen verheiratet und brave Familienoberhäupter. Ein paar andere hatten es wie er gemacht und waren fortgegangen. Von den meisten wußte man nicht, wie es ihnen in der Fremde erging. Aber wie sich zeigte, kam doch immer wieder der eine oder andere in die Heimat zurück.

*

Katharina Steingruber saß vor dem Haus und putzte Gemüse für das Mittagessen. Auf ihrem Gesicht lag ein träumerischer Ausdruck. Den hatte sie in der letzten Zeit öfter. Genauer gesagt, seit dem Tag, an dem sie dem geheimnisvollen Fremden begegnet war. Zu gerne hätte sie gewußt, wer der Mann war, und ob sie ihn wiedersehen würde.

Aber, um das herauszufinden, würde sie ins Dorf hinunter fahren müssen, und dazu fehlte ihr die Zeit. Selbst für die Besuche im Krankenhaus fand sie keine Gelegenheit, denn die Arbeit auf dem Hof machte sich nicht von alleine. Immerhin stand das Wochenende bevor, und darauf setzte die Bauerntochter all ihre Hoffnung.

Morgen wollte sie, zusammen mit den Eltern, in die Stadt fahren und Burgl besuchen, und da langer Samstag war, konnte es durchaus sein, daß ihr Vater sich zu einem kleinen Einkaufsbummel überreden ließ.

Aber das stand noch in den Sternen. Wie alle Männer, so scheute auch Wolfgang Steingruber Kaufhäuser, in denen die Frauen stundenlang irgendwelche Sachen anprobierten, während ihre besseren Hälften gelangweilt dastanden und sich darüber wunderten, daß man nicht einfach die Sachen aus dem Regal nehmen, zur Kasse marschieren und bezahlen konnte.

Jedenfalls fand am Abend dann das Tanzvergnügen im Hotel statt, und darauf freute sich Kathi doppelt, weil sie hoffte, daß der Mann, der den altersschwachen Jeep fuhr, ebenfalls dort sein würde.

Seit sie ihn gesehen hatte, war es um sie geschehen. Kathi brauchte nur an ihn zu denken und sie verspürte wieder dieses Kribbeln im Bauch, das man immer dann bekam, wenn man verliebt war.

»Na, träumst’ schon wieder?« riß die Stimme der Mutter das Madl aus seinen Gedanken. »Schau’ bloß, daß das Essen pünktlich auf dem Tisch steht, wenn der Vater heimkommt, sonst gibt’s ein Donnerwetter.«

»Ich bin ja gleich fertig«, erwiderte Kathi und nahm die Schale mit den Gemüseabfällen, um sie zum Hühnerhof zu bringen.

In der Küche setzte sie die Kartoffeln auf, gab Erbsen und Möhren in einen anderen Topf und stellte ihn ebenfalls auf den Herd. In einer Pfanne wurde Margarine zerlassen, und während das Essen zu kochen begann, knetete die Bauerntochter das Hackfleisch mit der eingeweichten Semmel, Zwiebeln und einem Ei zu einer Masse zusammen. Nachdem sie abgeschmeckt und noch einmal mit Salz und Pfeffer nachgewürzt hatte, formte Kathi geschickt die Fleischpflanzerln und legte sie in das heiße Fett.

Als ihre Mutter hereinschaute, hatte sie schon den Tisch gedeckt und das Bier für den Vater bereitgestellt.

»Backen wir den Kuchen heut’ oder morgen?« fragte Kathi.

Traudel Steingruber machte ein nachdenkliches Gesicht.

»Vielleicht besser morgen früh«, antwortete sie. »Sonst schmeckt er net mehr so gut.«

Sie nahm am Tisch Platz.

»Ein paar Blumen müssen wir für Burgl kaufen«, setzte sie hinzu. »Die aus unserem Garten sind net mehr schön.«

Kathi setzte sich zu ihr.

»Du, Mama«, begann sie, »morgen haben die Geschäfte doch länger geöffnet. Könnten wir da net...?«

»Ach, Kind«, seufzte ihre Mutter, »du weißt doch, daß der Papa net so gern einkaufen geht.«

»Ich könnt’ aber eine neue Jeans gebrauchen«, blieb die Tochter hartnäckig. »Und du hast auch schon lang nix Neues mehr bekommen. Erinnerst’ dich noch an das schicke Kleid, das wir vor ein paar Wochen im Kaufhaus gesehen haben? Das hat dir doch so gefallen.«

Die Bäuerin wurde schwach.

»Und morgen ist doch wieder Tanzabend«, setzte Kathi noch eins drauf.

Traudel nickte.

»Mal schau’n«, sagte sie. »Vielleicht können wir ihn ja überreden.«

Sie sah ihre Tochter forschend an.

»Aber mal was anderes«, fuhr sie fort. »Was ist eigentlich mit dem Florian und dir? Habt ihr euch verkracht?«

Kathi machte ein unwilliges Gesicht.

»Ach der!« sagte sie. »Erinnere mich bloß net an den. Das ist aus und vorbei.«

Die Bäuerin war erstaunt.

»Aber wieso denn? Ihr wart doch ein Herz und eine Seele«, sagte sie und schaute nachdenklich vor sich hin. »Der Vater und ich... wir dachten immer, daß ihr zwei mal...«

»...heiratet?« rief Kathi. »Ich! Den Florian? Niemals!«

»Aber warum denn net? Denk’ doch auch mal an später. Wir haben ja nun mal ein Madl bekommen und keinen Bub. Du wirst eines Tags den Hof erben, und dann mußt du einen heiraten, der was von der Landwirtschaft versteht.«

»Ach, Mama, bis dahin wird noch viel Zeit vergeh’n«, antwortete die Tochter. »Und ein Mann findet sich schon für mich. Da brauchst’ keine Angst haben.«

»Fragt sich nur, ob’s auch der Richtige ist«, meinte ihre Mutter.

Das Madl verzog das Gesicht.

»Denkt bloß net, daß ich mir da reinreden laß«, sagte Kathi mit Nachdruck. »Den Mann, den ich heirat’, den such ich mir selbst aus.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Überhaupt, ich weiß gar net was das ganze Gerede jetzt soll«, setzte sie hinzu. »Ich hab’ nämlich net die Absicht, schon nächste Woche vor den Traualtar zu treten. Laß uns lieber Papa überreden, morgen den Einkaufsbummel mit uns zu machen.«

Wolfgang Steingruber kam wenig später zur Tür herein. Er setzte sich gleich an den Tisch, während die Tochter das Mittagessen in Schüsseln umfüllte.

»Ich hab’ eben den Burgmüller getroffen«, erzählte der Bauer. »Und wißt ihr, was der gesagt hat?«

»Woher?« zuckte seine Frau die Schultern. »Wir waren ja net dabei.«

Kathi schmunzelte. Ihr Vater antwortete nichts auf die Bemerkung der Mutter.

»Der Rumtreiber ist wieder da!« sagte er statt dessen. »Stellt euch das mal vor. Nach sechs Jahren taucht er hier plötzlich wieder auf!«

Traudel machte ein erstauntes Gesicht, während Kathi ihre Eltern nur verständnislos ansah.

»Der Rumtreiber?« fragte sie. »Wer ist denn das?«

Der Bauer hatte sich Kartoffeln und Gemüse aufgefüllt und griff nach einem Fleischpflanzerl.

»Den kennst’ wahrscheinlich gar net mehr«, antwortete er. »Drunten in St. Johann hat er gewohnt, zusammen mit seiner Mutter. Als sie gestorben ist, hat er alles verkauft und ist fortgegangen, der Vater lebte da schon ein paar Jahre net mehr. Na ja, das Haus ist er wohl net losgeworden oder wollt’s auch net, das weiß ich net so genau, jedenfalls ist’s all die Jahre immer mehr verkommen, aber der Burgmüller sagt, daß der Rumtreiber es wieder hergerichtet hat.«

Kathi runzelte unwillig die Stirn.

»Du nennst ihn immer nur Rumtreiber«, sagte sie kopfschüttelnd. »Hat er vielleicht auch einen Namen?«

Jetzt war es ihr Vater, der erstaunt aufsah.

»Freilich hat er einen Namen«, erwiderte er. »Berghofer heißt er, Tobias Berghofer.«

»Ach, den meinst du«, sagte die Bäuerin. »Der ist tatsächlich wieder zurück?«

Ihr Mann nickte.

Kathi hatte ihre Gabel aus der Hand gelegt und schaute nachdenklich vor sich hin.

Tobias Berghofer – war das der geheimnisvolle Fremde, der ihr nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte?

Eigentlich kam sonst niemand in Frage. Es paßte alles. Der Mann fuhr ein Auto mit ausländischem Kennzeichen, war nach eigenen Worten in Afrika gewesen und er sprach den hiesigen Dialekt.

Ja, er mußte es sein, und sie wußte jetzt endlich seinen Namen!

Sie kannte sogar das Haus, von dem ihr Vater gesprochen hatte. Es stand zwar in einer Seitenstraße von St. Johann, so daß man nicht sehr oft daran vorbeikam, wenn man dort nichts zu tun hatte, aber gleich vornean wohnte eine frühere Schulfreundin von Kathi, die sie heute noch ab und zu besuchte.

Eigentlich war ich schon lang’ net mehr bei der Vroni, dachte sie schmunzelnd.

Dann sah sie ihren Vater an.

»Mama und ich wollen morgen noch ein bissel in der Stadt bummeln, wenn wir bei Burgl waren«, sagte sie.

Der Bauer schnitt eine Grimasse.

»Ohne mich!« antwortete er unwillig.

»Ach, Wolfgang«, griff seine Frau ein, »jetzt tu’ uns doch den Gefallen! Du könntest übrigens auch eine neue Hose brauchen.«

Ihr Mann stieß einen tiefen Seufzer aus.

»Na schön«, gab er nach. »Aber wenn’s zu lang’ dauert, dann geh’ ich ins Wirtshaus.«

Mutter und Tochter lächelten sich siegesgewiß an.

*

Es war schon erstaunlich, wieviel man schaffen konnte, wenn man sich ranhielt.

Und das hatte Tobias Berghofer getan. Nicht einmal eine ganze Woche war vergangen, und nichts erinnerte mehr an das heruntergekommene Haus, das er vorgefunden hatte. Wie ein Berserker hatte er sich an die Arbeit gemacht, sämtliche Räume gesäubert, die Fenster geputzt und den Garten auf Vordermann gebracht und sogar noch den Zaun vor dem Haus repariert.

Zwischendurch war er in die Stadt gefahren und hatte Möbel gekauft, die am Morgen geliefert worden waren, und nun saß der Heimkehrer zufrieden im Wohnzimmer auf dem neuen Sessel und trank gemütlich eine Flasche Bier.

Freilich, es fehlten noch ein paar Kleinigkeiten. So waren noch keine Gardinen da und Lampen fehlten in sämtlichen Zimmern, aber das würde alles nach und nach kommen; jedenfalls konnte man es jetzt schon aushalten.

Nach dem ersten Großputz hatten die Räume im Erdgeschoß einen neuen Anstrich bekommen. Tobias hatte beschlossen, sich erst einmal hier unten wohnlich einzurichten. Es gab sowieso mehr Zimmer, als er brauchte. Dann war er an den Garten gegangen, der fast noch mehr Arbeit machte als das Haus. Aber auch das Unkraut und der hohe Rasen konnten seiner Ausdauer und Arbeitswut nicht standhalten. Die Beete wurden nicht wieder angelegt, dafür war es um diese Jahreszeit schon zu spät, aber im nächsten Frühjahr würde er bestimmt Gemüse anpflanzen und auch die Blumenrabatte wieder herrichten.

Was ihn die ganze Zeit, in der er nun schon hier war, wunderte, war die Tatsache, daß sich außer Pfarrer Trenker und Max sonst niemand um ihn zu kümmern schien. Von den meisten Dörflern hätte er es auch nicht erwartet, so aber doch zumindest von den nächsten Nachbarn. Doch bisher hatte er keinen aus den Häusern rechts und links von ihm zu Gesicht bekommen. Indes hatte er auch sonst kaum jemanden gesehen; die Leute, die ihm beim Einkaufen begegnet waren, kannte er nicht.

Allerdings war ihm das auch herzlich egal. Tobias Berghofer war schon immer mehr ein Einzelgänger gewesen, und was andere über ihn dachten, interessierte ihn nicht weiter.

Einer der ersten Wege, nachdem er zurückgekommen war, hatte ihn zum Friedhof geführt. Das Grab der Eltern wurde durch eine Gärtnerei gepflegt, doch jetzt würde er das selbst übernehmen. Lange Zeit hatte er davorgestanden, stumme Zwiesprache mit den Verstorbenen gehalten und dabei an ein anderes Grab gedacht, das sich, weit fort, in Afrika befand.

»Ihr hättet sie gemocht«, sagte er leise. »Und Patricia euch.«

Auch jetzt, als er in seinem Wohnzimmer saß, mußte er wieder an sie denken. Ihr Foto hielt er in der Hand. Er hatte es kurz vor dem tragischen Unglück gemacht, und es zeigte eine strahlend schöne Frau, die ihn anlächelte, und in ihren Augen las er, wie glücklich sie gewesen war und wie sehr sie sich auf die bevorstehende Hochzeit gefreut hatte.

Unwillkürlich griff sich Tobias an die Brust, wo unter dem T-Shirt das Kettchen mit den Ringen hing, und schloß für einen Moment die Augen.

Dann war es schon an der Zeit fürs Abendessen. Er richtete sich ein paar belegte Brote her, die er auf der Terrasse verzehrte. Dann saß er mit ausgestreckten Beinen auf seinem Stuhl, schaute in den Garten und stellte sich vor, wie es im nächsten Jahr hier aussehen würde, wenn die Beete angelegt waren, und in den Rabatten die Blumen blühten.

Das Zwitschern der Vögel in den Bäumen erinnerte ihn an die Geräusche in Afrika. Es war zwar ganz anders, aber er hatte oft so auf der Veranda seines Hauses gesessen und den Tieren gelauscht. Manchmal erklangen von irgendwoher Trommeln, und die ganze Szenerie war eigentümlich, exotisch und geheimnisvoll gewesen.

Tobias hatte die Augen geschlossen und versetzte sich ganz in die Erinnerung zurück. Er schien die Wärme zu spüren, den Geruch wahrzunehmen und hörte deutlich das Schlagen der Trommeln, die die Arbeiter schlugen, wenn sie abends feierten.

Unwillkürlich richtete er sich auf und schaute um sich.

Blödsinn, schoß es ihm durch den Kopf, Afrika, das war einmal. Du bist wieder daheim, wieder dort, wo du geboren bist.

Aber das Trommeln wollte nicht enden, und plötzlich wußte Tobias, was das zu bedeuten hatte.

»Ach ja, der Tanzabend«, murmelte er, immer noch irritiert.

Er schaute auf die Uhr. Es war kurz nach neun; das Spektakel hatte gerade erst angefangen.

Soll ich, oder soll ich net?

Tobias überlegte eine ganze Weile. Es war schon über eine Stunde vergangen, bis er sich endlich auf den Weg machte. Den Tanzabend gab es schon, bevor er St. Johann verlassen hatte. Die Veranstaltung war immer ein großes Spektakel, zu dem Jung und Alt kamen. Die Bauern freuten sich die ganze Woche über darauf, und nicht wenige Urlauber fanden Spaß daran.

Als er den Saal betrat, war die Stimmung auf dem Höhepunkt. Es wurde ausgelassen getanzt, und der Lärmpegel in der Nähe der Musiker war so hoch, daß die Gäste an den Tischen dort schreien mußten, um sich zu verständigen. Aber das tat dem Vergnügen keinen Abbruch.

Tobias ging an den Tresen und bestellte sich eine Maß.

Hier hatten sich diejenigen eingefunden, die keine Lust zum Tanzen hatten. Bauern und Knechte, Burschen und Madln, alle unterhielten sich über den neuesten Tratsch, oder es wurde wieder einmal über die Bürokraten in Brüssel geschimpft, die mit ihren immer neuen Verordnungen den Landwirten das Leben schwer machten.

Der Heimkehrer hörte amüsiert zu und trank gemächlich sein Bier. Plötzlich stieß ihn jemand an.

»Mensch, du bist’s ja wirklich!« rief ein Mann in seinem Alter. »Dann ist’s ja doch kein Gerücht, daß du wieder da bist.«

Tobias sah ihn einen Moment unschlüssig an, dann weiteten sich seine Augen, und ein Lächeln glitt über seine Lippen.

»Grüß dich, Andreas«, sagte er. »Ja, wie du siehst, stimmt es.«

Andreas Bruckner war ein früherer Klassenkamerad. In der Schule hatten sie nebeneinander gesessen und hinterher oft zusammen gespielt.

»Wie geht’s dir, altes Haus?« wollte der Bauernsohn wissen und deutete auf Tobias’ Bart. »Ich hätt’ dich beinah’ net wiedererkannt.«

»Dank’ schön, geht so.«

»Ich hätt’ wirklich net gedacht, daß ich dich jemals wiedersehen würd’. Warum hast denn net mal was von dir hören lassen?«

Tobias zuckte verlegen die Schultern.

»Ach, du weißt doch wie das ist«, erwiderte er, »man nimmt’ sich’s vor, aber dann wird nix draus. Die Umstände eben.«

»Na klar«, nickte Andreas. »Ich versteh’ das. Aber jetzt muß unser Wiedersehen gefeiert werden.«

Er wandte sich an eine der Saaltöchter hinter dem Tresen.

»Liesl, zwei Obstler!«

Der Schnaps kam, und sie prosteten sich zu.

»Und du?« wolltest Tobias wissen. »Bist schon verheiratet und Familienvater?«

Der frühere Schulfreund grinste.

»Bloß net«, rief er. »Im Wachnertal gibt’s so schöne Madln, da werd’ ich mein Herz doch net an eine einzige verschenken!«

Er lachte polternd.

»Nein, im Ernst«, setzte er hinzu, »gebunden bin ich net, hier und da eine, das reicht mir. Die Zeit kommt noch früh genug. Erstmal wart’ ich ab, bis der Vater mir den Hof überschrieben hat, dann sehen wir weiter.«

Die beiden waren so in ihr Gespräch vertieft, daß sie nicht auf die junge Frau achteten, die in einiger Entfernung saß und immer wieder zum Tresen blickte. Erst als Tobias einmal zufällig in die Richtung sah, erkannte er sie wieder. Er hob grüßend seinen Bierkrug und lächelte hinüber.

Hübsch, dachte er wieder, verdammt hübsch!

*

Kathi Steingruber hatte schon die Hoffnung aufgegeben, Tobias Berghofer würde doch noch auf den Tanzabend kommen. Sie und ihre Eltern waren kurz vor acht eingetroffen und hatten sich an den Tisch gesetzt, der immer für sie reserviert war. Allerdings hatte das Madl diesmal mit seiner Mutter den Platz getauscht, um den Eingang im Blick zu haben. Doch je weiter die Zeit fortschritt, um so enttäuschter wurde Kathi. Der geheimnisvolle Mann, von dem sie nun endlich den Namen wußte, schien keinen Wert auf Unterhaltung zu legen.

Dafür kam aber Florian Waldner an den Tisch und wollte mit ihr sprechen. Kathi schüttelte den Kopf. Der Bursche schien nicht begreifen zu wollen, daß nichts mehr zwischen ihnen war. Ein halbes Jahr waren sie zusammengewesen, und diese Zeit hatte gereicht, ihr zu zeigen, daß sie einfach nicht zusammenpaßten. Florian war gewiß ein netter Bursche, doch das war, nach Kathis Meinung, nicht genug, um mit ihm ein Leben lang glücklich zu werden zu können. Selbst jetzt war es ihr wieder bewußt, als der Bauernsohn von dannen zog, ohne sich wirklich um sie zu bemühen.

Indes war Kathi ganz froh darüber.

Nur, um nicht den ganzen Abend am Tisch zu verbringen, ließ sie sich ab und zu auffordern, ging später auch mal in die Ecke, wo die jungen Leute saßen, die sie kannte. Doch dann zog es sie rasch zurück, und die Bauerntochter setzte sich wieder zu den Eltern und blickte auf die beiden großen Flügeltüren.

Dann endlich, sie hatte es kaum noch zu hoffen gewagt, sah sie ihn. Tobias kam herein, und sofort schlug ihr Herz einen trommelnden Wirbel.

Er schaute noch umwerfender aus, als an dem Tag, als sie sich begegnet waren. Auch wenn er äußerlich nicht sehr verändert war und legere Jeans und T-Shirt trug, so wirkte er in dieser Umgebung doch ganz anders auf sie.

Immer wieder mußte sie hinüberschauen. Schon eine ganze Weile stand er am Tresen und bemerkte sie nicht.

Dachte er überhaupt noch an die Begegnung auf der Straße? Würde er sie wiedererkennen?

Doch! In diesem Augenblick hatte er sie gesehen und hob grüßend seinen Bierkrug!

Damenwahl, flehte Kathi, Damenwahl!

Als habe der Kapellmeister der ›Wachnertaler Bu’am‹ ihre unausgesprochene Bitte erhört, forderte er tatsächlich in der nächsten Sekunde die anwesenden Damen auf, die tanzfaulen Männer und Burschen an ihre Pflicht zu erinnern.

Kathi stand sofort auf und eilte an den Tresen. Tobias sah sie und machte ein erschrecktes Gesicht. Doch das hinderte die junge Frau nicht.

»Darf ich bitten?« sagte sie, und ihr Ton ließ keinen Zweifel daran, daß sie sich keinen Korb geben lassen würde.

Tobias Berghofer machte gute Miene zum bösen Spiel und stellte den Krug auf den Tresen.

»Tut mir leid, Andreas«, sagte er zu seinem Gesprächspartner, »aber da muß ich mich wohl fügen.«

Der grinste nur und nickte.

Kathi hatte ihn schon auf die Tanzfläche gezogen, und er legte seinen Arm um sie.

»So sieht man sich also wieder«, meinte Tobias, während sie sich im Takt das langsamen Walzer bewegten. »Ich hoff’, Sie sind mir net mehr bös’, wegen neulich?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ach wo«, meinte sie. »Im übrigen kannst’ ruhig du zu mir sagen. Ich heiß Katharina Steingruber, aber Kathi reicht.«

»Angenehm«, lächelte er. »Tobias Berghofer.«

Zu seiner Überraschung nickte sie.

»Ich weiß.«

»Tatsächlich?« fragte er erstaunt. »Woher...?«

»Die Spatzen pfeifen’s vom Dach, daß du wieder da bist«, erwiderte Kathi.

»So? Ich hab’ noch gar nix gehört.«

»Das kommt davon, daß’ dich in deinem Haus verkriechst und net unter die Leute gehst.«

»Na ja, wie du siehst, bin ich ja nun unter den Leuten«, meinte er. »Was pfeifen s’ denn noch so, die Spatzen?«

Sie lächelte, aber in Wirklichkeit gar ihr gar nicht danach zumute, denn offenbar ließen die Leute kein gutes Haar an Tobias Steingruber.

Zumindest hatte sie den Eindruck, wenn sie ihren Vater reden hörte...

»Ach, das übliche Gerede halt«, antwortete Kathi nur. »Wo du

wohl gesteckt hast, all die Zeit, und warum du wieder heimgekehrt bist.«

»Komisch, was die Leute alles so interessiert.«

Der Tanz war zu Ende, aber weder sie, noch er machten Anstalten, die Tanzfläche zu verlassen. Statt dessen nahm Tobias erneut ihren Arm, und sie tanzten weiter.

»Mich würd’s auch interessieren, wo du warst und was du da erlebt hast«, sagte die Bauerntochter. »Das heißt, du hast ja schon Afrika erwähnt. Aber wo genau?«

»Ich war in Kenia«, antwortete er. »Dort hatte ich eine kleine Farm.«

»Das mußt du mir aber genauer erzählen!«

Tobias lächelte. Kathi Steingruber schien wirklich daran interessiert zu sein, ohne irgendeinen Hintergedanken. Ihr ging es wohl nicht um den üblichen Dorftratsch, sondern um ihn und seine Geschichte an sich.

»Gern«, nickte er. »Aber hier ist wohl net der rechte Ort.«

»Dann treffen wir uns morgen«, sagte sie sofort. »Ich komm’ dich besuchen.«

Oha, dachte er verblüfft, die geht aber ran!

»Glaubst’ wirklich, daß das so ein guter Gedanke ist?« fragte er zweifelnd. »Was werden die Leute dazu sagen, wenn sie dich bei mir sehen?«

Kathi blinzelte ihn an.

»Das ist mir völlig egal«, entgegnete sie selbstbewußt. »Ich kann schließlich machen, was ich will!«

Wieder mußte er lächeln. Und Tobias stellte fest, daß ihm die junge Frau immer besser gefiel. Fast spürte er schon so etwas wie ein zärtliches Gefühl, wenn er sie anschaute.

Doch dann sah er Patricias Gesicht, und biß sich auf die Lippe.

Kathi entging der wechselnde Ausdruck seines Gesichts nicht.

»Ist etwas?« fragte sie.

Tobias schüttelte den Kopf.

»Also dann, morgen nachmittag um drei«, sagte sie.

»Okay. Ich werd’ einen Kuchen backen.«

*

»Wer ist denn der Kerl, mit dem deine Kathi da tanzt?«

Florian Waldner sah den jungen Burschen, der ihn eben angesprochen hatte, mit glasigen Augen an.

»Meine Kathi?« entgegnete er mit schwerer Zunge. »Hat sich was! Das war einmal.«

Georg Heppner war erstaunt.

»Wie, seid ihr auseinander? Das hab’ ich ja gar net gewußt.«

Er deutete mit dem Kopf zur Tanzfläche, auf der Kathi und Tobias sich drehten.

»Wegen dem etwa?«

Florian stand schon eine ganze Weile am Tresen und ertränkte seinen Kummer in Obstler und Bier. Sein Versuch, wieder mit der hübschen Bauerntochter zusammenzukommen, war kläglich gescheitert. Dabei war er sicher gewesen, daß es gar nicht ernst gemeint war, als Kathi ihm den Laufpaß gegeben hatte. Frauen hatten eben manchmal ihre Launen, damit mußte man sich einfach abfinden und sie gewähren lassen. Es war ja auch nicht das erste Mal, daß es zwischen ihnen gekriselt hatte. Aber das mußte ja noch lange nicht heißen, daß die Beziehung endgültig zu Ende war.

Hatte er jedenfalls angenommen.

Dabei hatte es so schön angefangen. Genau hier, auf einem der Tanzabende, waren sie sich nähergekommen. Florian hatte schon lange ein Auge auf Kathi geworfen, und auch ein wenig Berechnung steckte dahinter. Als zweitgeborener Sohn kam er als Erbe nicht in Frage, den elterlichen Hof würde einmal sein älterer Bruder übernehmen. Ihm blieb nur, für Thomas zu arbeiten, oder sich nach einer Hoferbin umzusehen. Aber davon gab es im Wachnertal so viele nun auch wieder nicht. Da war die Aussicht, eines Tages Kathi Steingruber zu heiraten, schon so etwas wie ein Sechser im Lotto.

Der Heppner-Georg stieß ihn an.

»Willst’ dir das wirklich gefallen lassen?« stänkerte er weiter. »Stell’ dir doch mal vor, was dir da durch die Lappen geht.«

»Das weiß ich selbst«, erwiderte Florian ungehalten. »Aber was soll ich denn machen?«

»Ihm eins auf die Nase geben!« lachte der Knecht, der auf dem Brandnerhof arbeitete.

Florian Waldner sah ihn stumm an. Er wußte, daß der Schorsch, wie Heppner allgemein gerufen wurde, immer dabei war, wenn es eine Rauferei gab. Allerdings nie als Beteiligter, sondern immer nur als johlender Zuschauer, der die Kontrahenten durch sein Geschrei noch weiter anzustacheln suchte.

Außerdem hatte er selbst einmal versucht, mit Kathi anzubändeln, und natürlich hatte er dabei auch den Bauernhof im Auge gehabt. Indes waren seine Chancen bei ihr nie sehr groß gewesen.

»Eins auf die Nase geben und ihm klarmachen, daß der Bursche sich net einfach ein Madl schnappen kann, wie’s ihm gefällt«, bohrte Heppner weiter. »Mensch, Florian, jetzt laß dir doch net den Schneid abkaufen. Zeig’s ihm!«

Der Bauernsohn nahm einen weiteren Schluck aus dem Bierkrug und wischte sich hinterher über die Lippen.

Recht hat er ja, der Schorsch, dachte er. Wahrscheinlich ist der Kerl der Grund, warum die Kathi mit mir Schluß gemacht hat.

Aber die Gelegenheit war eigentlich ungünstig. Er selbst merkte, daß er zuviel getrunken hatte und sich kaum noch auf den Beinen halten konnte, und der Bursche da drüben, der so eng mit der Kathi tanzte, sah nicht gerade wie ein Schwächling aus.

Dennoch, irgendwas mußte er unternehmen, bevor er vor aller Welt wie ein Depp dastand, weil ihm seine Verlobte wegen eines anderen fortgelaufen war.

Wenn er sich nicht irrte, dann mußte es sich bei dem Kerl um diesen Rumtreiber handeln, von dem alle sprachen. Und da mußte sich doch vielleicht was machen lassen...

Florians Hirn war nicht so sehr vom Alkohol umnebelt, daß er nicht noch einen klaren Gedanken fassen konnte. Er beschloß, erst einmal abzuwarten, wie sich die Dinge entwickelten und den Rumtreiber nicht aus den Augen zu lassen.

Georg Heppner spürte, daß er den Bauernsohn nicht weiter ›aufheizen‹ konnte, und verlor das Interesse. Er trollte sich davon, und Florian blieb alleine stehen. Nach einer Weile sah er, daß Kathi an den Tisch zurückging, an dem ihre Eltern saßen, während der Bursche nicht mehr zu sehen war.

Er bestellte einen weiteren Obstler, doch die Saaltochter hinter dem Tresen schüttelte den Kopf.

»Für heut’ ist’s genug, Flori’«, sagte Liesl. »Schau lieber, daß du sicher nach Haus’ kommst.«

Eigentlich hätte sich Florian Waldner folgsam gefügt, und es war ja nur in seinem eigenen Interesse, wenn die Bedienung aufpaßte, daß er sich nicht sinnlos betrank. Doch heute wollte er nicht gehorchen. Er baute sich breitbeinig vor dem Tresen auf und stemmte die Fäuste in die Hüften.

»Wenn ich was trinken will, dann wirst’ mich gefälligst bedienen!« brüllte er los.

Sofort war Sepp Reisinger zur Stelle.

»Laß gut sein«, sagte der Wirt. »Wenn meine Leute meinen, daß jemand genug hat, dann dürfen s’ ihm nix mehr ausschenken. Das ist eine Anweisung von mir.«

Er legte dem Bauernsohn einen Arm um die Schultern und wollte ihn vor die Tür bringen. Doch Florian schüttelte ihn ab und hob drohend die Faust.

»Keiner rührt mich an!« donnerte er.

Sepp wich zur Seite, aber ein paar andere Gäste packten den Betrunkenen und beförderten ihn kurzerhand nach draußen.

Dort schwankte Florian zu einer Bank auf der anderen Straßenseite und ließ sich darauf niedersinken.

»Laß ihn seinen Rausch ausschlafen«, meinte einer der Burschen. »Wenn’s kalt wird, kommt er schon wieder zur Vernunft.«

Also ließen sie ihn sitzen und gingen wieder hinein.

*

»Ich muß mich wohl mal wieder bei meinen Eltern sehen lassen«, sagte Kathi. »Aber lauf’ net fort, nachher möcht’ ich noch mal mit dir tanzen.«

Tobias nickte schmunzelnd.

»Keine Angst«, erwiderte er und sah ihr hinterher, wie sie zwischen den Tischen verschwand.

Er schlenderte durch den Saal, an der Tanzfläche vorbei und schaute sich um. Die meisten Leute kannte er nicht, oder erkannte sie nicht wieder. Einmal glaubte er die Frau aus dem Nebenhaus zu sehen. Brunner hieß die Familie, aber sicher war er nicht, ob es wirklich die Nachbarin war. Schließlich ging er an den Tresen zurück und bestellte ein Wasser. Neben ihm stand eine Gruppe von vier Männern, die ihn auffällig musterten. Tobias beachtete sie nicht weiter, bis einer ihn ansprach.

»Bist du net der Berghofer?« fragte der Mann.

»Stimmt«, nickte er.

»Bei uns gehört’s sich eigentlich, daß man sich vorstellt«, schnarrte der andere. »Hast’ es wohl net nötig, was?«

Tobias bedachte ihn mit einem Blick, der den Mann unsicher werden ließ.

»Warum sollte ich das tun?« fragte er. »Schließlich kennt ihr mich doch.«

»Bist’ wohl nix geworden in der Fremde«, mischte sich ein anderer ein. »Bloß überheblich.«

Tobias stellte sein Glas ab.

»Was wollt ihr von mir?« sagte er. »Laßt mich einfach in Ruhe. Ich hab’ mit euch nix zu schaffen und ihr net mit mir.«

Er wandte sich zum Gehen. Lust auf eine Rauferei hatte er nicht, und daß die Männer nicht mehr nüchtern waren, sah er. Einer packte ihn an der Schulter und wollte ihn zurückhalten. Tobias ergriff das Handgelenk und hielt es eisern fest. Der Mann verzog das Gesicht.

»Aua!«

»Laßt gut sein«, sagte Tobias friedlich und schüttelte die Hand ab.

Dann ging er weiter, während die Männer ihm hinterher blickten.

»So ein Angeber!« fluchte einer.

»Dem gehören Manieren beigebracht!« sagte ein anderer.

Und dann standen sie zusammen und schimpften über den eingebildeten Schnösel, der es nicht nötig hatte, sich mit ihnen abzugeben.

Tobias Berghofer war vor die Tür getreten. Draußen war es angenehm lau, und der Lärm nicht mehr ganz so groß wie drinnen auf dem Saal. Er holte tief Luft und sah sich um. Vereinzelt standen hier und da Paare und suchten, genau wie er, Erfrischung. Niemand beachtete ihn, als er weiterging und die Straße überquerte. Ein einsamer Trinker saß auf einer Bank und hatte die Augen geschlossen. Tobias blieb einen Moment stehen und sah den Mann an.

»Meinst’ net, daß es ein bissel kalt werden könnt’ heut’ nacht?« fragte er und rüttelte den Schlafenden an der Schulter.

Der blinzelte und öffnete die Augen.

»Wawas... was willst’ von mir?« lallte der Betrunkene.

»Nix. Ich mach’ mir bloß Gedanken, ob du vielleicht erfrieren könntest.«

Florian Waldner schüttelte den Kopf. Im ersten Moment wußte er überhaupt nicht, wo er sich befand, doch dann sah er den Burschen, der sich über ihn beugte, und schlagartig kam die Erinnerung zurück.

»Du?« keuchte er und versuchte aufzustehen.

Tobias sah ihn irritiert an. Der Mann sah so wütend aus, als wollte er ihn jeden Moment anspringen.

»He, nun mal friedlich«, sagte er. »Wenn du unbedingt auf der Bank übernachten willst, dann tu’s halt.«

Florian hatte die Nebel in seinem Gehirn fortgewischt. Vielleicht hatte die Viertelstunde, die er hier draußen geschlafen hatte, ihm dabei geholfen, die Trunkenheit zu vertreiben. Jetzt erinnerte er sich auch wieder daran, was der Heppner-Georg zu ihm gesagt hatte.

»Ihm eins auf die Nase geben!«

Jawohl, genau das würde er tun!

Der Bauernsohn holte aus, und seine Faust landete unter Tobias’ Auge. Der wich überrascht zurück.

»Bist’ net ganz bei Trost?« rief er. »Was soll das?«

Florian stand auf und stierte ihn aus immer noch glasigen Augen an.

»Was das soll, willst’ wissen?« grunzte er und winkelte die Arme an. »Daß du die Finger von meinem Madl lassen sollst, das soll das!«

»Dein Madl?« Tobias schüttelte den Kopf. »Kenn’ ich überhaupt net.«

»Lügner! Ich hab’ doch selbst geseh’n, wie du mit der Kathi getanzt hast. Denk’ nur net, daß du Rumtreiber nach sechs Jahren wieder heimkommen und mir die Braut wegnehmen kannst.«

Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, holte er erneut aus, doch Tobias blockte den Schlag ab und gab Florian einen Stoß. Der flog auf die Bank zurück und blieb sitzen.

»Hör’ mal zu, du Depp«, sagte Tobias Berghofer grob, »ich weiß ja net, was für Hirngespinste dir in deinem vernebelten Kopf herumspuken, aber ich hab’ net die Absicht, irgendwem die Braut wegzunehmen. Hast’ das begriffen?«

Ohne eine weitere Antwort abzuwarten ging er ärgerlich nach Hause.

Offenbar war es ein Fehler, den Tanzabend zu besuchen, dachte der Heimkehrer, als er wenig später auf der Terrasse saß und vor sich hinschaute. Vielleicht hätt’ ich überhaupt net wieder hierher zurückkommen sollen.

Er schüttelte den Kopf.

Dann ist die Kathi also mit diesem Stiesel verlobt, überlegte Tobias weiter. Dann frag’ ich mich bloß, warum sie auf Teufel komm raus mit mir flirtet?

Es war müßig, über die Antwort weiter nachzugrübeln, erfahren würde er sie frühestens, wenn sie tatsächlich morgen nachmittag herkam. Aber so recht mochte er es nicht glauben. Wahrscheinlich hatte sie sich nur einen Scherz mit ihm erlaubt.

»Verdammt«, murmelte er plötzlich vor sich hin, »warum muß bloß alles, was ich anpacke, schiefgehen?«

Hier war er nicht glücklich geworden, drüben in Afrika nur scheinbar und jetzt, wo er zurück war, fühlte Tobias, daß er in der Heimat nicht willkommen war.

Vielleicht wär’s ja doch das beste, wenn ich wieder packe und irgendwohin verschwinde, wo mich niemand kennt, und ich in aller Ruhe leben kann, dachte er, als er im Bett lag.

Er hatte Patricias Foto in der Hand und betrachtete es im Schein des Vollmonds, der durch das offene Fenster schien.

Doch dann verblaßte das Gesicht seiner verstorbenen Verlobten und machte dem der jungen Frau Platz, die sich auf überraschende Weise in sein Leben zu drängen schien.

Kathi und Patricia, zwei Frauen, die unterschiedlicher nicht sein konnten, und doch faszinierte jede von ihnen Tobias auf ihre Weise.

*

Kathi war enttäuscht mit ihren Eltern nach Hause gefahren. Immer wieder war sie durch den Saal gegangen und hatte nach Tobias Ausschau gehalten. Doch so sehr sie auch suchte, er war nicht mehr da.

Auch am Sonntagmorgen wartete sie vergeblich darauf, daß er in die Kirche kommen würde. Sie saß auf ihrem Platz und sah sich um.

»Was ist denn eigentlich los?« fragte ihre Mutter. »Suchst’ jemanden?«

Kathi antwortete nicht.

»Der Florian sitzt da hinten«, fuhr die Bäuerin fort.

Nach der Heiligen Messe fuhren sie wieder zum Hof zurück. Das Mittagessen war schon vorbereitet worden, und es mußten nur noch die Knödel zum Schweinsbraten gekocht werden.

Das Madl aß eher lustlos.

»Ich fahr’ ins Dorf«, erklärte Kathi nach dem Essen.

»Aber zum Melken bist’ wieder da!« rief ihr Vater hinterher.

Sie hatte lange überlegt, ob sie wirklich fahren sollte. Es sah ja so aus, als hätte Tobias es gar nicht ernst gemeint. Immerhin war er gestern abend einfach so verschwunden, ohne sich von ihr zu verabschieden. Doch dann war die Sehnsucht stärker gewesen und hatte über ihre Bedenken gesiegt.

Als Kathi in die Straße einbog, schaute sie auf das Haus, in dem Vroni Huber wohnte. Aber sie hielt nicht an, sondern fuhr weiter bis zum Ende. Dort sah sie den Jeep stehen, und ihr Herz klopfte, als sie ausstieg.

Ihr Finger zitterte, als sie den Klingelknopf drückte. Es dauerte einen Moment, dann hörte sie Schritte, gleich darauf wurde die Tür geöffnet.

»Was ist denn mit dir passiert?« fragte sie überrascht, als sie Tobias’ Gesicht sah.

Unter dem linken Auge prangte ein großer, blau unterlaufener Fleck.

Er sah sie einen Moment unschlüssig an. Mit ihrem Besuch schien er irgendwie doch nicht gerechnet zu haben, und Kathi war plötzlich unsicher, ob es tatsächlich richtig gewesen war, herzukommen.

Aber dann grinste er und trat zur Seite.

»Komm rein«, sagte Tobias und deutete mit einem Finger auf den Fleck. »Das ist ein Andenken an deinen Verlobten.«

Die Bauerntochter war in den Flur getreten, jetzt riß sie erstaunt die Augen auf.

»Was redest’ da? Von meinem Verlobten? Wer soll denn das sein?«

»Wie er heißt, weiß ich net«, antwortete Tobias und ging voran. »Aber er war wohl ziemlich sauer darüber, daß wir beide zusammen getanzt haben.«

»Bist’ deshalb so klammheimlich verschwunden?« wollte sie wissen.

»Setz’ dich erstmal«, erwiderte er und deutete auf einen Sessel. »Eigentlich hab’ ich gar net damit gerechnet, daß du tatsächlich kommst. Aber jetzt freu’ ich mich.«

»Also, das mußt du mir genauer erzählen«, sagte sie, nachdem sie Platz genommen hatte.

Tobias winkte ab.

»Es schaut schlimmer aus, als es ist«, meinte er und setzte sich ihr gegenüber. »Es tut mir leid, daß ich einfach verschwunden bin. Aber gestern abend gab’s noch etwas, was mich davon überzeugt hat, daß ich besser gar net erst auf den Tanzabend gegangen wär’.«

»Aber was war denn nun los?« wollte Kathi wissen.

Er holte tief Luft und erzählte, was sich zuerst am Tresen abgespielt hatte.

»Ich hab’ keine Ahnung, was die Männer eigentlich wollten«, sagte er. »Vielleicht waren s’ nur auf Streit aus. Aber es war schon komisch, daß sie direkt mich angesprochen haben und mich provozieren wollten. Tja, und als ich dann an die frische Luft ging, sah ich den Burschen auf der Bank sitzen. Ich wollt’ ihn bloß wecken, damit er net die ganze Nacht auf der Bank verbringt, und dann muß bei ihm eine Birne durchgebrannt sein. Er schimpfte, daß ich ihm sein Madl wegnehmen wollte und ging auf mich los.«

Kathi sah ihn fassungslos an und zuckte die Schultern.

»Es gibt keinen Verlobten«, sagte sie.

Tobias sah sie lächelnd an.

»Vielleicht weißt’ bloß nix davon«, meinte er.

»So ein Unsinn!« Die junge Frau schüttelte ärgerlich den Kopf. »Ich werd’ ja wohl wissen, ob ich verlobt bin oder net!«

Einen Moment herrschte Schweigen.

»Entschuldige, ich bin ein schlechter Gastgeber«, sagte Tobias dann. »Kann ich dir was anbieten?«

»Hattest du net gesagt, du wolltest einen Kuchen backen?«

»Der steht in der Küche.«

Tatsächlich hatte er sich am Morgen hingestellt und gebacken. Als er aufgewacht war und sich erinnerte, was am vergangenen Abend geschehen war, glaubte er nicht mehr daran, daß Kathi ihn tatsächlich besuchen würde. Aber trotzdem hatte er die Zutaten zusammengesucht und einen schönen Topfkuchen gebacken. Das Rezept hatte er von seiner Mutter, und jedesmal, wenn er ihn in Afrika gebacken hatte, erinnerte ihn der Kuchen an daheim.

Tobias stand auf und ging in die Küche. Kathi blieb sitzen und schaute sich um. Es war noch deutlich zu merken, daß gerade erst renoviert worden war. Es roch nach Farbe, und die Möbel waren neu. Sie bewunderte den Geschmack mit dem Tobias sie ausgesucht hatte.

An den Wänden hingen große Fotografien und seltsame Masken aus dunklem Holz. Offenbar Erinnerungen an seine Zeit in Afrika. Die Fotos sahen sehr schön aus und zeigten verschiedene Motive: einsame Landschaften im Sonnenuntergang, aber auch Menschen in bunten Gewändern, bei der Arbeit und beim Tanzen.

Während sie sich umblickte, grübelte sie darüber nach, wer sich da als ihr Verlobter ausgegeben hatte. Aber ganz schnell kam sie zu dem Schluß, daß es eigentlich nur Florian gewesen sein konnte.

Hatte der Bursche immer noch net begriffen, daß es endgültig aus war zwischen ihnen?

Sie nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit ein ernstes Wort mit ihm zu reden!

Aber dann wollte sie nicht mehr an ihn denken. Viel zu aufgeregt war sie, hier mit dem Mann alleine zu sein, der sie vom ersten Moment ihres Kennenlernens so fasziniert hatte. Ihr Herzklopfen war nicht schwächer geworden, und Kathi malte sich in Gedanken aus, wie Tobias sie in die Arme nehmen und küssen würde.

»Kannst du mal kommen?« rief er aus der Küche.

Sie eilte zu ihm.

»Der sieht aber toll aus!« sagte sie und deutete auf den Kuchen.

»Ich hoff’, er schmeckt dir«, erwiderte er und zeigte auf den Küchenschrank. »Da in der Schublade ist ein Messer. Könntest’ den Kuchen anschneiden?«

Sie nickte, während er Tassen, Untertassen und Teller aus dem Schrank holte. Der Kaffee lief durch die Maschine.

»Wir geh’n nach draußen«, schlug Tobias vor.

Sie brachten die Sachen auf die Terrasse und setzten sich.

»Na?« fragte er, nachdem sie den ersten Bissen gemacht hatte.

»Köstlich!« antwortete sie.

»Ehrlich?«

Kathi nickte.

»Freut mich«, sagte Tobias und sah sie lächelnd an.

»Du wolltest mir von Afrika erzählen...«

Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, streckte die Beine aus und hielt seine Tasse mit beiden Händen.

»Ja, Afrika«, nickte er und hatte dabei einen Blick, als schaue er in weite Ferne. »Sechs Jahre war ich dort. Es ist ein herrliches Land. Obwohl ich nur einen kleinen Teil davon gesehen hab’, kann ich das wohl behaupten.

Ich hab’ ja schon erzählt, daß ich dort eine Farm betrieben hab’, aber der Anfang war schon schwer...«

Kathi hörte gespannt zu, als er berichtete, wie er hier alles stehen und liegen gelassen hatte und fortgegangen war. Die Schilderung war so farbig, daß sie glaubte, dabei gewesen zu sein, so gut konnte sie sich in seine Erzählung hineinversetzen.

Und doch merkte sie, daß er ihr nicht alles sagte, was mit seinem Leben in der Fremde zu tun hatte. Es gab etwas, so hörte sie aus seinen Worten heraus, das er für sich behielt, und sie kam sich dabei, auf eine kränkende Art, ausgeschlossen vor.

Aber natürlich, überlegte sie dann, warum sollte er alles mit mir teilen? Wir kennen uns schließlich kaum, und was ich für ihn empfinde, ahnt er ja net.

Trotzdem machte es sie traurig.

Um sich abzulenken, stand sie auf und ging ein paar Schritte in den Garten.

»Hier ist längst net alles so, wie’s einmal aussehen soll«, sagte Tobias, der ihr gefolgt war. »Aber ich fang’ ja auch erst gerad’ wieder an.«

Sie standen bei den Obstbäumen, deren Früchte in der Sonne reiften. Ein, zwei Wochen noch, dann konnten Äpfel, Birnen und Zwetschgen gepflückt werden. Die Kirschen waren schon im Frühsommer von den Vögeln ›geerntet‹ worden, als Tobias noch nicht hier war.

»Du bist plötzlich so schweigsam«, bemerkte Tobias.

Kathi drehte sich zu ihm und sah ihn an.

»Gab es keine Frau in deinem Leben, drüben in Afrika?« fragte sie frei heraus.

Er sah sie erstaunt an. Mit dieser Frage hatte er wirklich nicht gerechnet. Aber eigentlich wußte er überhaupt nicht, womit er bei Kathi gerechnet hatte. Es freute ihn, daß sie sich für ihn interessierte. Sie war die einzige, außer Pfarrer Trenker und Max.

»Doch«, antwortete er leise, »die gab es. Sie ist auch der Grund, warum ich wieder hier bin. Aber das ist eine andere Geschichte...«

Kathi biß sich auf die Lippe. Ihr war bewußt geworden, daß sie diese Frage besser nicht gestellt hätte. Tobias’ Miene drückte es deutlich aus.

»Entschuldige«, bat sie. »Ich wollt’ net...«

»Schon gut!« Aber er schüttelte dabei den Kopf. »Du kannst’ net wissen, was geschehen ist. Aber vielleicht erzähl’ ich’s dir einmal.«

Sie gingen auf die Terrasse zurück.

»Möchtest’ noch einen Schluck?« fragte Tobias und deutete auf die Kaffeekanne.

Kathi schaute auf die Uhr und lehnte ab.

»Ich muß heim«, antwortete sie. »Sonst komm’ ich zu spät zum Melken.«

Er brachte sie zur Tür.

»Es war schön, daß du da warst«, sagte Tobias und lächelte sie wieder so besonders an, daß ihre Knie ganz schwach wurden.

»Vielleicht war’s ja net das letzte Mal«, entgegnete Kathi.

»Das würd’ mich freuen«, nickte er und hob die Hand, um ihr zum Abschied zu winken.

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuß auf die rechte Wange.

Überrascht sah er sie an. Kathi wandte sich schnell um und lief zu ihrem Auto.

*

Nachdem sie davongefahren war, kehrte Tobias auf die Terrasse zurück. Der Kaffee in seiner Tasse war inzwischen kalt geworden, er trank ihn trotzdem aus und schenkte sich dann nach.

Es waren kaum zwei Minuten vergangen, als es an der Haustür klingelte.

Nanu, dachte er, hat sie was vergessen?

Das konnte eigentlich nicht sein. Kathi hatte nicht einmal eine Handtasche dabei, als sie hergekommen war.

Tobias stand wieder auf und ging zur Tür. Es war Pfarrer Trenker, der geklingelt hatte.

»Grüß dich, Tobias«, sagte der Geistliche. »Darf ich einen Moment hereinkommen?«

»Freilich«, nickte er.

Der Besuch freute und verwunderte ihn gleichzeitig.

»Möchten S’ vielleicht einen Kaffee?« erkundigte er sich.

Sebastian schüttelte den Kopf und schaute auf den Tisch, auf dem immer noch zwei benutzte Kaffeetassen und die Teller standen.

»Vielen Dank«, antwortete der Bergpfarrer. »Es gab’ grad welchen im Pfarrhaus. Aber wie ich seh’, du hattest Besuch.«

Sie setzten sich, und Tobias erklärte, wer bei ihm gewesen war.

»So, die Kathi«, lächelte Sebastian. »Ein patentes Madl.«

Dann deutete er auf den blauen Fleck.

»Was ist dir denn da passiert?«

Der junge Bursche zuckte die Schultern.

»Da hat mir einer zu verstehen geben wollen, daß ich die Finger von seiner Verlobten lassen soll...«

Er erzählte, was sich zugetragen hatte. Pfarrer Trenker runzelte die Stirn.

»Ist die Kathi denn mit dem Florian verlobt?« fragte er.

»Nein. Das hat sie jedenfalls gesagt.«

Er schaute den Pfarrer fragend an.

»Gibt’s einen besond’ren Grund für Ihren Besuch, Hochwürden?«

»Ja, den gibt’s«, erwiderte der gute Hirte von St. Johann. »Heut’ mittag ist überraschend ein Termin abgesagt worden, den ich morgen eigentlich hätt’ wahrnehmen wollen, und da hab’ ich mich gefragt, ob wir zwei net gleich die Gelegenheit nutzen sollten und gemeinsam eine Bergtour machen.«

»Da bin ich gern’ dabei!« Tobias nickte sofort. »Vielen Dank. Da freu’ ich mich aber.«

»Dafür mußt’ dich net bedanken«, meinte der Geistliche mit einem Lächeln. »Ich freu’ mich ja auch darauf. Zu essen brauchst’ nix mitbringen. Du weißt ja, daß die Frau Tappert immer reichlich Proviant einpackt. Schön, dann will ich dich net länger aufhalten. Morgen früh um vier geht’s los.«

Tobias begleitete den Besucher zur Tür.

»Ach, eine Frage hätt’ ich noch«, sagte Sebastian, bevor er sich verabschiedete. »Wie kommst’ eigentlich mit den Nachbarn aus?«

Der Heimkehrer zuckte die Schultern.

»Ehrlich gesagt, weiß ich das net«, antwortete er. »Ich hab’ nämlich bislang mit niemandem gesprochen. Ab und zu seh’ ich sie zwar hinter der Gardine stehen, wenn ich fortgehe oder heimkommt, aber irgendwie hab’ ich das Gefühl, daß mir die Brunners genauso aus dem Weg gehen wie die Familie Hollacher.«

Er hob die Hände und ließ sie wieder fallen.

»Was soll’s, ich komm’ auch ohne sie aus«, setzte er hinzu.

Der Bergpfarrer reichte ihm die Hand und ging nachdenklich davon.

Sebastian hatte so etwas schon beinahe geahnt. Max erzählte beim Mittagessen, daß er Tobias Berghofer auf dem Tanzabend gesehen hatte. Der Polizist hatte auch die Szene am Tresen beobachtet und wollte schon eingreifen. Dann unterließ er es aber, weil er sah, daß der junge Bursche die Situation souverän meisterte.

Indes hatte der Bruder des Geistlichen offenbar nichts davon mitbekommen, was sich später vor dem Hotel abgespielt hatte, sonst hätte er das sicher auch erwähnt.

Daß die Nachbarn Tobias schnitten, rief bei ihm verständnisloses Kopfschütteln hervor, und Sebastian nahm sich vor, bei Gelegenheit mit den Herrschaften darüber zu reden.

Dann dachte er an die hübsche Bauerntochter. Kathi Steingruber dagegen benahm sich Tobias gegenüber völlig ungezwungen.

Sie hatte offenbar keine Scheu, sich mit Tobias abzugeben, und der Geistliche vermutete sogar, daß sie sich in den jungen Burschen verliebt hatte.

An sich freute er sich darüber, gleichzeitig sah der Seelsorger auch das Problem, das damit verbunden war. Er kannte schließlich nicht nur die Tochter, sondern auch deren Eltern. Vor allem den Vater und wußte um dessen Einstellung...

Hinzu kam, daß Kathi eines Tages den Hof erben würde. Für Tobias konnte es ihn nur freuen, aber Sebastian war sicher, daß in dieser Hinsicht noch einige Probleme ins Haus standen.

Außerdem war ja noch weiterer Ärger in Sicht. Florian Waldner hatte sich offensichtlich nicht damit abgefunden, daß Kathi mit ihm Schluß gemacht hatte, und in Tobias sah er natürlich einen gefährlichen Konkurrenten. Auch hier stand wieder das Motiv der Erbschaft dahinter. Der Bauernsohn wollte eine gute Partie machen, und die sah er jetzt gefährdet.

Im Pfarrhaus angekommen, ging Sebastian in sein Arbeitszimmer. Er brauchte einen Moment Ruhe, um die Dinge zu sortierten und darüber nachzudenken, welche Probleme auf ihn zukamen, und wie er sie lösen konnte.

Indes ahnte er nicht, daß alles noch viel schlimmer kommen sollte, als er es sich ausmalte...

Während des Abendessens bat er seine Haushälterin, den Proviant für den nächsten Tag bereitzustellen, und erzählte, daß Tobias Berghofer ihn auf die Tour begleiten würde.

Sophie Tappert nickte und überschlug schon mal im Geiste, wieviel Brote zwei ausgewachsene Männer wohl essen würden.

*

Florian Waldner hatte einen fürchterlichen Sonntag. Nachdem er auf den Burschen losgegangen war, der ihm in Sachen Kathi Konkurrenz machen wollte, hatte er noch eine Weile auf der Bank gesessen und war erst später wieder hinein gegangen. Auf dem Saal hatte ihn Georg Heppner wieder mit Beschlag belegt.

»Ich dachte schon, du wärst heimgegangen«, grinste der Knecht und schlug Florian auf die Schulter. »Um so besser, daß du noch da bist. Komm, laß uns noch einen heben.«

Er zog den Bauernsohn zum Tresen und bestellte zwei Schnäpse. Sepp Reisinger bedachte die beiden mit prüfendem Blick. Dem Schorsch sah man nicht an, ob er betrunken war oder nicht. Er konnte eine ganze Menge vertragen und stand dabei immer noch kerzengrade. Außerdem war er bisher nie auffällig geworden und hatte sich nie an Raufereien beteiligt.

Bei Florian war das etwas anderes, aber der Wirt sah, daß der Bauernsohn wieder nüchtern war, und beschloß, ihm seinen ›Ausrutscher‹ von vorhin zu verzeihen.

»Aber, daß du dich anständig benimmst«, mahnte er, als er die beiden Gläser füllte.

Sie prosteten sich zu.

»Und, hast’ dir die Sache mal durch den Kopf gehen lassen?« fragte Heppner. »Wollen wir dem Kerl eins auswischen?«

»Das braucht’s net mehr«, erwiderte Florian und warf sich in die Brust. »Dem hab’ ich eine Watschen gegeben, daß ihm Hören und Sehen vergangen ist.«

»Wirklich?« staunte der Knecht. »Los, erzähl’!«

Das tat er, der Florian Waldner, und schmückte die Geschichte natürlich noch ein bißchen mehr aus. Der Knecht grinste in sich hinein. So, wie sich das anhörte, mußte der Rumtreiber ja halb totgeschlagen worden sein.

»Trotzdem wird er net die Finger von der Kathi lassen«, stänkerte er weiter. »Der muß kapieren, daß sie dein Madl ist!«

Da Sepp inzwischen an einen der Tische gegangen war und sich zu den Gästen gesetzt hatte, war es kein Problem, weitere Getränke zu bestellten.

»Laß uns mal überlegen, wie wir dem Burschen eins auswischen können«, meinte Georg nach dem dritten Obstler.

Florian spürte, wie der Alkohol sein Gehirn schon wieder umnebelte. Gleichzeitig fühlte er sich aber auch stark und spürte wieder diese Wut auf den Kerl im Bauch.

Nach und nach lichtete sich der Saal. Die meisten Gäste waren nach Hause gegangen, und nur ein paar Unentwegte hielt es noch an den Tischen und Tresen. Die beiden Männer schwankten nach draußen.

»Wir treffen uns morgen und bereden alles«, lallte Georg Heppner. »Wirst’ schon sehen, das dauert net lang’, dann ist der Rumtreiber wieder da, wo er hergekommen ist!«

Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, schlug er Florian auf die Schulter und wankte davon.

Wie er selbst nach Hause gekommen war, wußte der Bauernsohn am nächsten Morgen nicht zu sagen.

Er erfuhr es am Frühstückstisch...

Sein älterer Bruder hatte ihn umbarmherzig geweckt und aus dem Bett geholt.

»Wer saufen kann, der kann auch arbeiten«, grinste Thomas Waldner, als Florian mit zerknittertem Gesicht in die Küche kam.

Er hatte das Frühstück gemacht und dann den Bruder geweckt.

»Sei froh, daß die Eltern noch schlafen«, sagte er.

Florian schaute unwillkürlich in Richtung der Küchentür. Sonntags gestatteten sich die Eltern den Luxus, etwas länger im Bett zu bleiben als in der Woche. Vor allem die Mutter sah es nicht gerne, wenn sich ihre Söhne betranken. Allerdings kam es bei dem Älteren nur sehr selten vor.

»Hast du mich nach Haus’ gefahren?« fragte Florian, nachdem er den ersten Schluck heißen Kaffees getrunken hatte.

»Allerdings«, nickte Thomas. »Du konntest ja net mehr steh’n, so blau warst du.«

Er schüttelte den Kopf.

»Hoffentlich bist’ bis zum Kirchgang wieder einigermaßen fit«, meinte er.

»Ich glaub’, den laß ich heut’ ausfallen...«

»Von wegen! Da wird Mutter net mitspielen.«

Mit Ach und Krach brachte Florian die morgendliche Arbeit hinter sich, dann duschte er und zog sich um. In der Kirche saß er stumm auf seinem Platz, nur ab und zu blickte er zur anderen Seite hinüber, wo Kathi mit ihren Eltern saß.

Erst am späten Nachmittag ging es ihm einigermaßen besser. Und als Georg anrief und fragte, wo sie sich treffen wollten, hatte er die Strapazen der durchzechten Nacht wirklich überwunden.

»Ich rühr’ keinen Schnaps mehr an!« sagte er, als sie auf der Bergwiese hockten, auf der sie sich getroffen hatten. »Keinen Tropfen!«

»Schmarrn!« Schorsch schüttelte den Kopf. »Das hast’ schon hundertmal gesagt. Komm, hier trink’ erstmal einen Schluck, dann geht’s dir gleich viel besser.«

Er zog eine Flasche unter seiner Jacke hervor und hielt sie dem Bauernsohn hin. Der schob sie angewidert beiseite.

»Nix da. Bleib’ mir bloß damit vom Leib!«

»Dann eben net!« Der Knecht zuckte die Schultern und drehte den Verschluß auf.

Er setzte die Flasche an den Hals und nahm einen tiefen Schluck. Dann leckte er sich die Lippen und blinzelte Florian verschwörerisch zu.

»Paß auf«, sagte er, »ich hab’ mir da was überlegt...«

Natürlich sollte es nicht herauskommen, daß sie beide hinter der ganzen Sache steckten, deshalb würden sie im Dunkeln vorgehen müssen. Aber eigentlich war es, aus ihrer Sicht, ein genialer Plan.

Um diesen Rumtreiber, wie sie Tobias Berghofer immer nannten, aus St. Johann zu vertreiben, bedurfte es einer Reihe von Maßnahmen. Und die erste davon wollten sie noch in der kommenden Nacht ergreifen. Ihr Ziel mußte es sein, daß der Kerl das Dorf verließ und nie wieder hier auftauchte. Das konnte am besten gelingen, wenn sie ihn in Mißkredit brachten. Ohnehin gab es eine Reihe von Dörflern, die dem Heimkehrer mit Argwohn begegneten.

Niemand wußte, was er tat, wovon er eigentlich lebte, und daß er nicht arbeitete, war ihnen ein Dorn im Auge.

Ein ordentlicher Mensch ging einer geregelten Arbeit nach, und wenn das nicht so war, dann mußte es sich um einen Halunken handeln, so einfach war das.

Und für Halunken war in so einem friedlichen Ort wie St. Johann kein Platz!

Wenn der Rumtreiber erst einmal vertrieben war, würde auch Kathi einsehen, daß es falsch gewesen war, mit Florian Schluß gemacht zu haben.

»Und du bist sicher, daß das klappt?« fragte Florian, der irgendwie Zweifel hatte.

»Hundertprozentig!« behauptete Georg Heppner.

»Also gut«, nickte der Bauernsohn. »Dann machen wir es.«

*

Es war das Grau des anbrechenden Morgens, in das Tobias Berghofer hinaustrat. Die Nacht war gerade dabei, sich zurückzuziehen und die Sonne noch nicht aufgegangen.

Er zog die Haustür hinter sich ins Schloß und drehte den Schlüssel herum. Eine richtige Wanderausrüstung hatte er zwar nicht, aber seine Stiefel waren bergtüchtig, Hose und Jacke würden Wind und Wetter standhalten, und auf seinem Kopf saß der alte Lederhut, den er schon in Afrika immer gegen die Strahlen der Sonne getragen hatte.

Da Tobias nicht vor dem Haus auf Pfarrer Trenker warten wollte, ging er dem Geistlichen ein Stück weit entgegen. An den Nachbarhäusern vorbei schlenderte er die Straße hinauf. Bei den Brunners brannte schon Licht. Offenbar mußte der Mann früh aufstehen und zur Arbeit fahren. Eben öffnete sich die Haustür, und der Nachbar kam heraus. Er betrachtete Tobias, der gerade durch den Lichtschein der Leuchte vor dem Haus ging, mit einem seltsamen Blick, erwiderte aber nicht seinen Gruß.

»Dann eben net«, zuckte der junge Bursche die Schultern und ging weiter.

Am Ende der Straße traf er auf den Bergpfarrer.

»Grüß dich«, sagte Sebastian und reichte Tobias einen von zwei Rucksäcken. »Dann wollen wir gleich weiter.«

Sie verließen das Dorf und erreichten nach einer Weile den Höllenbruch. Das kleine Wäldchen war schnell durchquert, und die beiden Wanderer kamen zur Hohen Riest, die sich bis zum Ainringer Wald erstreckte.

»Viel hat sich ja net verändert«, meinte Tobias, während sie forsch ausschritten. »Man könnt’ meinen, in St. Johann sei die Zeit stehengeblieben.«

»Was leider net das Verdienst unsres Bürgermeisters ist«, schmunzelte Sebastian. »Wenn’s nach dem Bruckner gegangen wäre, dann gäb’s bei uns schon längst mehrere Großhotels, einen Golfplatz, von einer Diskothek ganz zu schweigen, und natürlich würd’ eine Gondelbahn zum Gletscher hinaufführen.«

»Um Himmels willen«, rief Tobias aus, »das hat er wirklich schon alles geplant?«

»Manche seiner Pläne hatte er auch schon in die Tat umsetzen wollen, der Markus«, nickte der Bergpfarrer. »Gott sei Dank ist’s mir immer wieder gelungen, es in letzter Sekunde zu verhindern.«

»Da kann man ja wirklich froh sein, daß es Sie gibt, Hochwürden.«

»Na ja, ich bin’s net ganz allein’. Es gibt noch andere besonnene Köpfe bei uns, bei denen Tradition und das Festhalten am Alten und Bewährten höher im Kurs stehen als Profitdenken, das auch noch zu Lasten der Umwelt geht.«

»In Afrika hab’ ich in dieser Beziehung einige schlimme Sachen gesehen«, erzählte Tobias. »Leider gibt’s eben immer wieder Menschen, die net so denken, wie Sie und ich.«

Nachdem sie die Hohe Riest hinter sich gelassen hatten, kamen die beiden Wanderer zu einer Almwiese, von der aus die Wege zu den verschiedenen Hütten abzweigten. Wegweiser gaben an, wie viele Kilometer sie entfernt waren, und jeder konnte selbst entscheiden, welche Route er sich zumuten wollte.

Für Sebastian und Tobias kam natürlich nur die in Frage, die auf die Kandereralm hinaufführte. Und dabei wählten sie noch eine, die länger war und Umwege machte, als die offizielle Strecke, denn der gute Hirte von St. Johann war schon immer der Meinung gewesen, daß sich ein wenig Mühe lohnte, wenn man dafür mit der schöneren Aussicht ins Tal hinunter belohnt wurde.

Während sie ihren Aufstieg begannen, ahnten sie nicht, was sich unterdessen im Dorf abspielte.

*

Max Trenker rieb sich verschlafen die Augen.

Hatte er geträumt, oder klingelte da tatsächlich jemand?

Er tastete nach dem Wecker und unterdrückte ein Stöhnen.

Viertel vor vier!

Mindestens zwei Stunden könnte er noch im Bett liegen, wenn nicht jemand beharrlich darauf bedacht wäre, ihn aus den Federn zu klingeln.

Der Bruder des Bergpfarrers schaute zur Seite. Claudia lag in die Decke eingewickelt und schlief noch. Der Lärm schien sie offenbar nicht zu stören. Max schwang sich aus dem Bett und schlüpfte in seinen Morgenmantel.

»Himmelnochmal, jetzt hör’ schon auf mit dem Radau«, rief er mit unterdrückter Stimme, während er die Treppe hinunterstieg. »Ich komm’ ja schon!«

Immer noch halb verschlafen, drehte er den Schlüssel und öffnete. Vor ihm stand Alois Brunner und sah ihn wutentbrannt an.

»Mensch, was ist denn los?« fragte Max. »Brennt’s, oder warum weckst’ mich zu nachtschlafender Zeit?«

»Du mußt mitkommen!« sagte der Mann. »Verhaften mußt’ den Kerl, den windigen!«

Der junge Polizist unterdrückte ein Gähnen.

»Von wem redest’ denn überhaupt?«

»Von dem Rumtreiber natürlich«, erwiderte Brunner, wie aus der Pistole geschossen. »Einen anderen Verbrecher gibt’s hier ja net.«

»Also, nun mal langsam. Was ist denn eigentlich passiert?« wollte Max wissen.

»Der Kerl hat mein Auto demoliert!« polterte Alois los. »Grad’ eben, als ich zur Arbeit fahren wollt’, hab’ ich’s entdeckt.«

»Und wieso glaubst’, daß es dein Nachbar war?«

»Weil’s niemand sonst gewesen sein kann. Vierzig Jahr steht mein Auto vor der Tür, und nie ist was gewesen. Kaum ist der Rumtreiber wieder da, geht’s auch schon los mit dem Ärger.«

»Jetzt paß mal auf«, sagte Max. »Der Mann hat einen Namen. Wie du sehr gut weißt, heißt er Tobias Berghofer. Und mit deinen Anschuldigungen solltest’ sehr vorsichtig sein. Das könnt’ nämlich ganz schnell nach hinten losgehen, und dann hast’ eine Anzeige wegen falscher Anschuldigung am Hals.«

Warum bloß, dachte er dabei, kommt mir das so bekannt vor? Ach ja, die Maria... die wollt’ ja auch gesehen haben, daß der Tobias ein Verbrechen begangen hat...

Er schüttelte den Kopf und unterdrückte ein Grinsen.

In seinem eigenen Haus!

Alois Brunner deutete das Grinsen falsch.

»Ich find’s überhaupt net lächerlich«, schimpfte er. »Möcht’ dich mal an meiner Stelle seh’n. Also, was ist jetzt?«

»Ich komm’ gleich und schau’s mir an«, nickte der Polizist ergeben.

Er schloß die Tür und ging wieder nach oben. Claudia schlief doch nicht mehr. Sie saß im Bett und schaute ihn fragend an.

»Was ist denn passiert?« fragte die Journalistin.

Max erzählte es ihr.

»Der Tobias soll das gewesen sein?« rief seine Frau. »Das glaub’ ich nie und nimmer!«

»Ich auch net«, erwiderte der Polizist und zog seine Uniform an. »Aber ich muß der Sache halt nachgehen.«

Als er zu dem Haus kam, standen Brunner und dessen Frau davor. Das Auto parkte am Straßenrand, obgleich es eine Garage gab. Aber Alois war wohl zu bequem, um hineinzufahren.

Da es noch recht dunkel war, hatte Max seine Taschenlampe mitgebracht, in deren Schein er sich den Schaden anschaute. Brunner hatte mit der Behauptung, sein Wagen sei demoliert worden, reichlich übertrieben. Allerdings waren sämtliche Reifen platt. Durchstochen, wie der Beamte schnell feststellte, und das war natürlich schon ein Ärgernis.

»Na schön«, nickte Max, »die Luft ist gewiß net von allein rausgegangen, wie man ja auch sieht. Aber wieso soll’s ausgerechnet der Tobias Berghofer gewesen sein?«

»Ich hab’ ihn doch selbst gesehen!« fuhr der Mann auf. »Grad’ vor kurzem ist er hier vorbeimarschiert.«

»Tatsächlich?«

Max blickte zum Nachbarhaus. Dort war alles dunkel.

»Ich schau’ mal«, sagte er und ging zur Tür. Mehrere Male drückte er den Klingelknopf, ohne daß sich etwas rührte.

Also entweder hat er einen gesunden Schlaf, oder er ist wirklich net daheim, dachte der Bruder des Bergpfarrers, als er zu dem Auto und dessen Besitzer zurückging.

Resl Brunner war von ihrem aufgeregten Mann geweckt worden. Mit zerzaustem Haar, nur mit dem Morgenmantel über dem Nachthemd, stand sie fröstelnd auf der Straße.

»Ich hab’ dem Loisl gleich gesagt, das gibt nur Ärger«, schimpfte sie. »Da kann ja nix Gutes bei rauskommen, wenn man sich jahrelang in der Weltgeschichte herumtreibt und sich net um sein Haus kümmert. Das sagt doch schon alles über den Rumtreiber!«

»Zum Donnerwetter«, entfuhr es Max, der sonst nie fluchte, »ich hab’ schon deinem Mann gesagt, euer Nachbar heißt Tobias Berghofer!«

Resl wich unwillkürlich einen Schritt zurück und zog es vor, den Mund zu halten.

»Und was passiert jetzt?« wollte Brunner wissen.

»Ich nehm’ den Schaden auf, und heut’ nachmittag kommst’ rüber und machst eine Anzeige gegen Unbekannt. Die brauchst’ nämlich für die Versicherung.«

»Aber wie komm’ ich denn jetzt zur Arbeit?«

Max schaute auf die Uhr.

»In einer Stunde fährt der erste Bus in die Stadt«, erwiderte er. »Ruf’ an und sag’, daß du später kommst.«

»Ich... ich bin noch nie zu spät gekommen«, ereiferte sich Alois.

Seine Frau nickte empört, wagte aber nicht, etwas zu sagen. Max’ Rüffel hatte sie eingeschüchtert.

Der Polizeibeamte zuckte die Schultern.

»Was soll’s? Ich kann dich net fahren, und einmal ist immer das erste Mal. Auch für dich. Also, pfüat euch, ihr beiden. Ich leg’ mich wieder ins Bett.«

Damit ließ er das Ehepaar stehen und ging zum Revier zurück.

Nachdem er sich wieder hingelegt hatte, konnte er aber nicht mehr schlafen. Zuviel ging Max durch den Kopf, als er die Angelegenheit noch einmal überdachte.

Daß Tobias für das Zerstechen der Reifen verantwortlich war, glaubte er keinen Moment.

Aber wer war dann der Täter?

Fälle von Vandalismus gab es so gut wie nie in St. Johann. Freilich kam es schon mal vor, daß ein paar Betrunkene sich eine Gaudi daraus machten, Gartenpforten auszuhängen oder nachts irgendwo klingelten. Das waren zwar Streiche, und für die Betreffenden ärgerlich, aber mutwillige Beschädigungen fremden Eigentums hatte der Polizist in dem friedlichen Dorf noch nie erlebt.

Hoffentlich muß ich jetzt net jede Nacht auf Streife gehen, dachte er.

Aber wenn es zu weiteren Fällen kam, würde ihm nichts anderes übrig bleiben.

Außerdem beschäftigte ihn die Frage, wo Tobias Berghofer hinwollte, als Alois Brunner ihn gesehen hatte. Es war schon ungewöhnlich, daß er so früh unterwegs war.

Aber alles Nachgrübeln half nichts. Max drehte sich noch einmal auf die Seite, schlang den Arm um seine Frau, die wieder eingeschlafen war, und schloß die Augen.

Leider nicht für lange, denn schon bald darauf klingelte der Wecker, gerade, als er ein bissel eingeschlummert war.

*

»Wie hab’ ich das vermißt!«

Tobias stand am Rand der eindrucksvollen Schlucht und schaute in die Tiefe. Sein Ausruf kam aus tiefstem Herzen. Er breitete die Arme aus und holte tief Luft. Dann drehte er sich zu Sebastian um und lachte.

»Ich hab’s nie so deutlich empfunden, daß mir die Heimat gefehlt hat wie in diesem Augenblick«, sagte er.

Der gute Hirte von St. Johann lächelte ihm zu.

»Das glaub’ ich dir gern’«, meinte Sebastian. »Oft merkt man erst, wenn man wieder daheim ist, was das Wort Heimat wirklich bedeutet.«

Der Geistliche öffnete den Rucksack, den Tobias getragen hatte, und holte den Proviant heraus. Bald duftete der Kaffee in ihren Bechern, und die belegten Brote schmeckten köstlich an der frischen Luft, nach der ersten Etappe ihres Aufstiegs.

»Jetzt bist’ ja schon eine Weile wieder hier«, sagte Sebastian. »Hast’ dir denn schon darüber Gedanken gemacht, was du nun anfangen willst?«

Tobias trank einen Schluck.

»Net so richtig«, gestand er. »Bisher war ich damit beschäftigt, das Haus wieder in einen bewohnbaren Zustand zu versetzen.«

»Natürlich«, nickte der Bergpfarrer. »Aber hin und wieder wirst’ schon daran gedacht haben, oder?«

»Doch. Aber ich weiß noch net so recht. Mir spuken viele Ideen im Kopf herum.«

Er lachte plötzlich auf.

»Wenn gar nix geht, dann zieh ich zum Franz auf die Alm und beerb’ ihn eines Tags«, setzte er hinzu.

»Gar keine schlechte Idee«, nickte Sebastian. »Auch wenn ich dem Franz ein langes Leben wünsch’, so muß er sich doch beizeiten nach einem Nachfolger umschauen, an den er sein Wissen weitergeben kann.

Allerdings ist’s ein sehr einsames Leben auf einer Almhütte, darüber mußt’ dir im klaren sein. Da wär’s gut, wenn du eine Frau hättest...«

»Eine Frau?«

Tobias blickte ernst vor sich hin.

»Ich weiß net, ob ich jemals wieder eine Frau lieben kann«, erwiderte er düster.

»Ich versteh’ und akzeptier’ deine Gefühle«, sagte der Geistliche. »Aber bei all der Trauer, die noch in deinem Herzen ist, darfst’ dich net vor der Welt verschließen, Tobias. Ich bin sicher, daß die Patricia das net gewollt hätt’. Oder würdest du von ihr verlangt haben, sie solle den Rest ihres Lebens allem entsagen, wenn sie an deiner Stelle wär’?

Gewiß net! Und auch wenn du jetzt net recht daran glauben magst, so hält das Schicksal auch für dich noch Schönes bereit. Ich weiß, er klingt abgedroschen, der Satz: Das Leben geht weiter. Aber bei aller Banalität, die in diesem Spruch steckt – es ist so!

Und sei ehrlich, kannst’ dein Herz vor so einem Madl wie die Kathi eines ist, wirklich verschließen?«

Tobias sah schweigend vor sich hin. Vor seinem geistigen Auge erschien wieder Patricias Bild. Er sah ihr Lachen, die strahlenden Augen, das wunderschöne Gesicht. Er mußte die Zähne aufeinander beißen, um nicht in Tränen auszubrechen. Sebastian, der ihn beobachtete, brach schließlich das Schweigen.

»Ich betrachte es als meine seelsorgerische Pflicht, dieses Thema anzuschneiden«, sagte er. »Freilich hätten wir das Gespräch auch bei dir führen können, oder im Pfarrhaus. Aber ich hab’ mir gedacht, hier, in der schönen Natur, wo wir unsrem Herrgott ungleich näher sind als drunten im Tal, da würd’s uns beiden leichter fallen.«

»Unsrem Herrgott?« fragte Tobias zweifelnd. »Seit Patricias Tod bin ich in keiner Kirche mehr gewesen. Ich hab’ den Glauben verloren.«

Der Geistliche schüttelte den Kopf.

»Nein«, sagte er sanft, »das hast du net, Tobias. Zweifel, ja, die mögen da sein. Aber tief in deinem Innern weißt du, daß es nicht Gottes Wille war, daß Patricia sterben mußte. Du gibst ihm net die Schuld daran.

Ich weiß, daß du eines Tags wieder unbefangen zu mir in die Kirche kommen wirst, und bestimmt net allein’. So, wie du unsrem Herrgott wieder Glauben schenkst, so wirst du auch wieder lernen, zu lieben. Ich wünsch’ dir und Kathi, daß ihr zusammen glücklich werdet.«

Der junge Bursche sah ihn erstaunt an.

»Aber wieso?« fragte er. »Ich meine – zwischen Kathi und mir, da ist überhaupt nix.«

Der Bergpfarrer lächelte hintergründig.

»Noch net«, sagte er. »Aber das kommt noch. Und jetzt laß uns zusammenpacken und weitergehen, bevor wir den ganzen Tag verplaudern.«

Während sie weiter hinaufstiegen, gingen Tobias die Worte des Geistlichen nicht aus dem Kopf.

Hatte Pfarrer Trenker am Ende recht? War das doch mehr als nur Sympathie, was er für Kathi Steingruber empfand?

Vielleicht, warum sonst mußte er seit gestern ganz besonders viel an die hübsche Bauerntochter denken...

Tobias atmete tief durch und zwang sich, an etwas anderes zu denken. Hochwürden hatte ihm, seit sie unterwegs waren, viele schöne Dinge gezeigt, und er wollte diesen Ausflug genießen.

Aber Kathi wollte ihm einfach nicht aus dem Kopf gehen!

*

Resl Brunner konnte ihre Empörung einfach nicht für sich behalten, und so dauerte es nicht lange, bis das Gerücht, der Rumtreiber habe die Reifen des Brunnerschen Autos zerstochen, im Dorf die Runde machte.

Wahrscheinlich war es Maria

Erbling, die es dankbar aufgriff und emsig weitertrug. Beim Herrnbacher hatte sie davon gehört, als sie in der Schlange vor der Kasse stand, und schon bald wußte jedermann Bescheid, was sich in der Nacht zugetragen hatte.

Kathi Steingruber hörte ebenfalls davon, als sie zum Einkaufen nach St. Johann kam. Zwei Frauen standen auf dem Parkplatz und unterhielten sich darüber.

»Daß so einer überhaupt noch frei herumläuft!« empörte sich die eine. »Jahrelang ist er verschwunden und dann taucht er plötzlich wieder auf. Da kann doch nix Gutes dahinterstecken!«

Die Bauerntochter hatte zuerst nur mit halbem Ohr zugehört, als sie den Einkaufswagen aus dem Unterstand zog. Aber die Worte deuteten auf Tobias hin, und so wandte sie sich an die beiden Klatschtanten.

»Was ist passiert?« fragte sie.

Die Frauen waren hoch erfreut, jemanden gefunden zu haben, der die Neuigkeit noch nicht gehört hatte, und erzählten brühwarm, was sie auch nur aufgeschnappt hatten.

»Würd’ mich net wundern, wenn der Kerl auch noch mit Rauschgift handelt!« sagte die eine.

Die andere nickte sofort.

»Wahrscheinlich wird er von der Polizei gesucht und versteckt sich hier«, vermutete sie.

Kathi blickte sie an und schüttelte den Kopf.

»Merkt ihr eigentlich net, was für einen Blödsinn ihr da redet?« fuhr sie die Frau erbost an. »Von der Polizei gesucht – so ein Schwachsinn! Der Max Trenker weiß genau, daß der Tobias wieder da ist. Wenn’s so wär’, wie ihr behauptet, hätt’ der Max ihn längst festgenommen.«

»Was regst’ dich eigentlich so auf?« fragte die ältere Frau.

»Du, laß mal«, ging die Jüngere dazwischen und sah Kathi durchdringend an. »Sag’ mal, hast’ was mit dem Rumtreiber? Ihr habt doch am Samstag die ganze Zeit zusammen getanzt. Wissen deine Eltern überhaupt davon?«

Die Bauerntochter schnappte nach Luft.

»Ich wüßt’ net, was euch das angeht«, entgegnete sie. »Mit wem ich was hab’, ist ganz allein meine Angelegenheit.«

Die beiden lachten spöttisch. Kathi war kurz davor, auf die beiden loszugehen, doch dann beherrschte sie sich.

»Wißt ihr was«, sagte sie und schaute die Frauen von oben herab an, »erstickt an eurem gehässigen Getratsche!«

Damit drehte sie sich um und schob den Einkaufswagen in die Passage.

»Schönes Liebchen hat er sich da angelacht, der Rumtreiber«, hörte sie noch eine der beiden Klatschtanten sagen.

So schnell wie möglich brachte sie den Einkauf hinter sich. Auch im Laden standen Leute zusammen und unterhielten sich über die zerstochenen Reifen.

Kathi war froh, als sie wieder draußen war. Die zwei Frauen, die über Tobias hergezogen waren, standen nicht mehr auf dem Parkplatz. Sie verstaute ihren Einkauf und schob den Wagen zurück. Dann stieg sie ins Auto und fuhr los. Als sie in die Straße einbog, in der Tobias wohnte, sah sie seinen Jeep vor dem Haus stehen. Kathi atmete erleichtert auf, er schien zu Hause zu sein. Sie war gespannt darauf, zu hören, was Tobias zu dem Gerede über ihn zu sagen hatte.

Als er auch nach dem zweiten Klingeln nicht öffnete, ging sie durch die Gartenpforte und schaute hinter dem Haus nach. Aber er war auch nicht auf der Terrasse oder im Garten. Kathi machte kehrt und stand einen Moment unschlüssig da. Brunners Auto stand immer noch vor dem Haus. Sie ging hin und schaute sich die Reifen an. Tatsächlich, alle vier waren platt.

Die Frau hinter der Gardine bemerkte sie nicht, als sie sich hinunterbeugte. Erst als die Haustür aufging, schaute Kathi auf. Resl Brunner kam wie eine Dampfwalze anmarschiert.

»Ja, schau nur!« rief sie, noch ehe sie ganz vor der Bauerntochter stand. »Das hat er angerichtet, der windige Rumtreiber!«

Kathi kannte die Frau gerade mal vom Sehen. Und sie wußte nicht, warum sie sich von ihr duzen lassen sollte.

»Vielleicht haben S’ es noch net mitbekommen«, sagte sie. »Aber Ihr Nachbar heißt Berghofer.«

Sie deutete auf das Auto.

»Außerdem muß erst einmal bewiesen werden, daß er das getan hat«, setzte sie hinzu.

Resl Brunner funkelte sie an.

»Kann mir schon vorstellen, daß du mit ihm unter einer Decke steckst«, bemerkte sie spitz. »Warst’ ja gestern erst bei ihm. Möcht’ net wissen, was ihr da getrieben habt...«

Kathi schwankte zwischen Empörung und Belustigung.

»Erstens, Frau Brunner, möcht’ ich net, daß Sie mich duzen«, stellte sie klar. »Und dann geht es Sie überhaupt nix an, was und mit wem ich irgendwas treibe, merken S’ sich das!«

Sie ließ die Frau stehen und ging zu ihrem Auto. Als sie vorüber fuhr, stand Resl Brunner immer noch am Straßenrand und schaute ihr hinterher.

»Sind die denn alle verrückt geworden?« sagte Kathi und schüttelte den Kopf. »Was haben die denn bloß gegen ihn?«

Sie mußte unbedingt Tobias sprechen. Ihr war nicht wohl bei dem Gedanken, daß sich alle Welt gegen ihn verschworen hatte. Nachbarschaftsstreit hin und her, aber was die Brunners da taten, war ja schon üble Nachrede, und jetzt wurde sie da auch noch hineingezogen.

Aber das war noch nicht alles, was sie erschütterte. Als Kathi auf den Hof fuhr, wartete ihre Mutter schon auf sie.

»Sag’ mal, was fällt dir ein, dich mit so einem einzulassen?« fragte die Bäuerin. »Bist’ denn von allen guten Geistern verlassen?«

Sie hatte schon auf die Tochter eingeredet, noch ehe Kathi ausgestiegen war.

»Wovon redest’ überhaupt?« erwiderte sie.

»Tu’ net so scheinheilig!« rief ihre Mutter verärgert. »Du weißt genau, wovon ich red’. Im ganzen Dorf ist’s ja schon herum. Daß du dich net schämst!«

»Spinnt ihr jetzt alle?« fuhr Kathi empört auf. »Davon ist doch kein Wort wahr!«

»So? Hast’ net mit dem Herumtreiber getanzt, am Samstagabend?« hielt Traudel ihrer Tochter vor. »Und gestern, bist’ da net bei ihm zu Haus’ gewesen? Du brauchst es gar net abstreiten. Ich weiß Bescheid!«

Sie schlug die Hände zusammen.

»Oh, Gott, wenn das dein Vater erfährt!« jammerte sie.

»Ich streit überhaupt nix ab«, sagte Kathi, während sie den Korb mit den Einkäufen aus dem Kofferraum holte. »Und Vater kann’s ruhig wissen. Du scheinst zu vergessen, daß ich volljährig bin und tun und lassen kann, was ich will.«

Die Bäuerin rang verzweifelt die Hände.

»So nimm doch Vernunft an, Kathi«, flehte sie. »Du kannst doch net mit so einem...!«

»Er heißt Tobias!« rief die Tochter ärgerlich und stellte den Korb, den sie eigentlich ins Haus hatte bringen wollen, mitten auf den Hof. »Und damit du’s weißt, ich liebe ihn!«

Aus dem Gesicht ihrer Mutter war alle Farbe gewichen. Entsetzen stand in ihren Augen.

»Das... das werden wir net zulassen«, kam es über ihre Lippen.

Kathi sah sie an, dann schüttelte sie den Kopf und stieg wieder ins Auto.

»Wo willst’ denn jetzt hin?« rief Traudel Steingruber.

»Dorthin, wo ich net unter Verrückten bin«, antwortete ihre Tochter und brauste davon.

»Das gibt ein Unglück«, flüsterte die Bäuerin hilflos. »Ein Unglück!«

*

Müde und ein wenig erschöpft kamen Sebastian und Tobias wieder in St. Johann an. Ein langer Tag lag hinter ihnen, aber er war wunderschön und erlebnisreich gewesen.

Auf der Hütte hatten sie herrlich gegessen und sich lange mit dem alten Senn unterhalten. Franz Thurecker freute sich aufrichtig, Tobias, den er von früher her kannte, wiederzusehen. Der hatte sich ausgiebig umgesehen und freute sich, als Franz ihnen sein Käselager zeigte und schließlich ein großes Stück für jeden einpackte.

»Vielen Dank, Hochwürden«, sagte Tobias zum Abschied. »Es war seit langem wieder ein schöner Tag für mich.«

»Das freut mich!« Der Bergpfarrer nickte beifällig. »Und gewiß wird’s net der letzte gewesen sein...«

Er wollte noch etwas hinzufügen, als sein Bruder um die Ecke kam.

»Da seid ihr ja!«

Sebastian sah ihn fragend an. Er ahnte, daß etwas vorgefallen sein mußte, als er Max’ ernstes Gesicht sah.

»Was gibt’s?«

»Ärger«, antwortete der Polizist. »Ich muß mit euch sprechen.«

Tobias sah ihn verdutzt an.

»Mich auch?«

Der Polizist nickte.

»Dich in erster Linie«, sagte er. »Es betrifft dich nämlich ganz besonders.«

»Erzähl’!« forderte Sebastian ihn auf.

»Net hier auf der Straße!« Sein Bruder schüttelte den Kopf. »Laß uns zum Pfarrhaus gehen.«

Schulterzuckend folgten sie ihm.

»Nun mach’s net so spannend«, sagte der Geistliche, als sie angekommen waren.

Sie saßen auf der Terrasse. Die Haushälterin servierte kalten Saft, den sie aus Äpfeln selbst gepreßt hatte.

Max erzählte, was inzwischen vorgefallen war, und je länger er redete, um so größer wurde das Erstaunen auf den Gesichtern seiner beiden Zuhörer.

»Was soll ich getan haben?« fragte Tobias kopfschüttelnd. »Wie kommt der Brunner darauf, daß ich ihm die Reifen zerstochen hätt’? Und warum sollte ich so etwas tun?«

»Tobias war mit mir verabredet«, erklärte Sebastian Trenker. »Deshalb war er so früh unterwegs.«

»Das weiß ich ja inzwischen«, nickte Max. »Die Frau Tappert hat mir erzählt, daß ihr auf Bergtour seid. Bloß heut’ morgen hab’ ich’s noch net gewußt. Aber das spielt ja auch keine Rolle. Ich glaub’ ja auch net, daß Tobias der Täter ist.«

»Bloß, wer war’s dann?«

Der Geistliche stellte diese Frage.

»Keine Ahnung«, erwiderte sein Bruder. »Ich bin am Vormittag noch mal bei der Resl Brunner gewesen und hab’ mich auch mit den andren Nachbarn, den Hollachers, unterhalten. Ich wollt’ wissen, ob der Loisl oder seine Frau vielleicht mit irgendwem Streit hatten, daß derjenige ihnen eins auswischen wollte und deshalb das Auto beschädigt hat. Aber das ist wohl net der Fall.«

»Dann muß was ganz anderes dahinterstecken«, vermutete der Bergpfarrer und sah Tobias nachdenklich an. »Vielleicht will dir jemand was Böses und schiebt dir die Schuld in die Schuhe...«

»Wieso? Ich hab doch mit niemandem Kontakt«, erwiderte der junge Bursche. »Das kann ich mir net vorstellen.«

»Vergiß net den Florian Waldner«, erinnerte ihn Sebastian an den Vorfall vom Samstagabend.

»Ich weiß net recht...« Tobias zuckte die Schultern.

»Leider sind’s der schlechten Nachrichten noch net alle«, bemerkte Max.

»Ist noch mehr passiert?« fragte sein Bruder bestürzt.

»Passiert net, vorerst jedenfalls«, sagte der Polizeibeamte. »Aber es könnt’ was passieren. Im Dorf sind böse Gerüchte über Tobias im Umlauf. Anscheinend gibt’s einige Leute, denen es net paßt, daß er wieder da ist. Außerdem mokieren s’ sich über seine Kleidung und sein ganzes Aussehen. Sie halten dich, tut mir leid, Tobias, für einen gesuchten Rauschgifthändler, der sich auf der Flucht vor der Polizei hier versteckt.«

Tobias Berghofer sah ihn ungläubig an.

»Was?« rief er. »Das darf doch net wahr sein!«

»Ist es aber«, sagte Max. »Du weißt ja, wie schnell sich Gerüchte verbreiten, und jeder, der eines hört, dichtet beim Weitererzählen noch was dazu.«

»Gütiger Himmel! Kann man denn net einmal einen Tag fort sein, ohne daß gleich so etwas geschieht?« schimpfte der gute Hirte von St. Johann. »Was ist denn bloß in die Leute gefahren? Und was kommt als nächstes?«

Er trank einen Schluck Saft. Dann schaute er Tobias und Max an.

»Ich fürcht’, da kommt noch einiges auf uns zu«, prophezeite er.

»Und ich fürcht’, du könntest recht haben«, sagte sein Bruder.

Tobias stand auf.

»Egal«, sagte er, »soll’n die Leute reden. Ich bin mir keiner Schuld bewußt.«

»Und wir wissen, daß du ein reines Gewissen hast«, versicherte Sebastian.

Max nickte.

»Ich hab’ versucht, denen klar zu machen, daß du unschuldig bist«, erklärte er. »Aber ich bin net sicher, daß sie es wirklich glauben. Also mach’ dich auf was gefaßt.«

»Was immer geschieht, du stehst net alleine!« sagte Pfarrer Trenker. »Wenn du Hilfe brauchst, dann ruf’ mich an. Das gilt bei Tag und bei Nacht!«

Tobias nickte und verabschiedete sich. Während Sebastian und Max beratschlagten, was sie in dieser Angelegenheit unternehmen konnten, ging er nach Hause. Dort erwartete ihn eine weitere Überraschung.

Allerdings eine angenehme.

*

Kathi umarmte ihn stürmisch.

»Tobias, wie können die Leute nur so etwas über dich sagen?« rief sie.

Es verwirrte ihn, sie so plötzlich im Arm zu halten, und unwillkürlich rückte er etwas ab.

»Keine Ahnung, was in die Deppen gefahren ist«, antwortete er.

Er kramte nach seinem Hausschlüssel.

»Was machst du eigentlich hier?« fragte Tobias, während er aufschloß.

Kathi verzog das Gesicht.

»Ich hab’ mich mit meiner Mutter gestritten«, erzählte sie, »und dann bin ich weggefahren. Ich wart’ schon eine ganze Weile. Wo warst du denn?«

»Auf Bergtour. Aber komm erstmal herein.«

Sie folgte ihm ins Haus.

»Möchtest’ was trinken?« erkundigte Tobias sich.

»Gern’«, nickte sie.

Ganze vier Stunden hatte sie vor dem Haus gehockt und auf ihn gewartet. Nachdem sie vom Hof gefahren war, hatte Kathi gleich den Gedanken gehabt, herzukommen. Sie hoffte, daß Tobias inzwischen nach Hause zurückgekehrt sei. Aber als sie klingelte, hatte er nicht geöffnet. Kathi ging immer wieder die Straße auf und ab, ohne sich um die neugierigen Blicke hinter der Gardine des Brunnerschen Hauses zu kümmern. Schließlich ging sie in den Kaffeegarten des Hotels und bestellte sich was zu trinken. Aber lange hielt sie sich dort nicht auf, und wartete wieder beim Haus auf seine Rückkehr. Und jetzt, nach langen Stunden des Wartens, war Tobias heimgekommen.

Nun saßen sie auf der Terrasse und tranken kühles Mineralwasser. Kathi machte ein ernstes Gesicht.

»An deiner Stelle würd’ ich die Leute wegen übler Nachrede anzeigen«, sagte sie.

Tobias zuckte die Schultern.

»Dann müßt’ ich das halbe Dorf anzeigen«, entgegnete er. »Ich glaub’ net, daß mir das viel bringt. Wenn die Leute über mich reden wollen, dann reden s’ auch. Aber eigentlich interessiert’s mich gar net.«

Kathi sah ihn mit großen Augen an.

»Es interessiert dich net?« sagte sie. »Willst du dir das wirklich gefallen lassen, daß sie behaupten, du seiest ein Rauschgifthändler, und daß du die Reifen von dem Wagen zerstochen hast?«

Er lächelte.

»Soll’n sie doch reden, was sie wollen.«

Sie sprang auf und ging zu ihm.

»Tobias, mir ist’s aber net egal«, rief sie aus. »Und ich halt’ zu dir!«

Die Vehemenz, mit der sie das sagte, irritierte ihn. Tobias dachte an das, was Pfarrer Trenker auf dem Berg zu ihm gesagt hatte. Und Hochwürden schien tatsächlich recht zu haben.

Kathi ist in mich verliebt!

Diese Erkenntnis stürzte auf ihn ein. Er schluckte, um den dicken Kloß hinunterzubekommen, der plötzlich in seinem Hals steckte.

Sie stand immer noch vor ihm und sah ihn mit einem Blick an, der verriet, was in ihr vorging. Und dann nahm sie plötzlich seine Hand und hielt sie fest.

»Merkst’ du denn net, was mit mir los ist?« fragte Kathi leise. »Du... du mußt es doch spüren!«

»Doch«, nickte er, »ich hab’s gemerkt. Aber...«

Sie sah ihn enttäuscht an.

»Aber du magst mich net!«

»Um Himmels willen nein, Kathi«, rief er, »das stimmt net. Ich mag dich wirklich. Es... es ist nur...«

»Eine andere Frau?«

Er biß sich auf die Lippe. Wieder mußte er an Hochwürdens Worte denken.

»Sie ist tot«, antwortete er mit rauher Stimme. »Patricia starb bei einem Autounfall. Das ist der Grund, warum ich überhaupt zurückgekommen bin.«

»Und du liebst sie noch immer. Über ihren Tod hinaus.«

Keine Frage, eine Feststellung.

Tobias hob den Kopf und sah sie an.

»Ja, ich liebe sie noch immer«, nickte er. »Weißt du, wir wollten heiraten. Aber dann meinte es das Schicksal anders.«

Noch immer hielt sie seine Hand, doch dann ließ sie los.

»Ich weiß net, wer sie war«, sagte Kathi. »Aber vielleicht... vielleicht kannst du ja uns beide lieben...«

Er stand auf und zog sie an sich.

»So ähnlich hat Pfarrer Trenker auch gesprochen, als wir auf dem Bergsteig waren«, sagte Tobias leise. »Und vielleicht ist’s wirklich möglich. Aber du solltest es dir überlegen, Kathi, ob du dein Herz an einen wie mich verschenkst. Du siehst doch selbst, daß mich die Leute net mögen, und ich glaub’ net, daß sich daran was ändern wird.«

Die Bauerntochter schüttelte hastig den Kopf.

»Die Leute sind mir egal«, erwiderte sie, »so wie dir. Sollen sie ihre Lügen verbreiten, ich stehe zu dir, Tobias. Mit all meiner Liebe!«

Wieder war er überwältigt. Mit einem unterdrückten Schrei riß er sie in seine Arme, und dann trafen sich ihre Lippen zum ersehnten Kuß.

»Ich bin so glücklich!« murmelte Kathi.

Zärtlich strich er ihr über das Haar.

»Ich bin es auch«, erwiderte Tobias.

»Du wirst sehen, wir stehen das zusammen durch«, fuhr sie eifrig fort. »Die dummen Gerüchte werden verstummen, und Max wird den wahren Täter finden. Irgendwann haben sich die Gemüter wieder beruhigt, und dann geht alles seinen gewohnten Gang.«

»Warum hast’ dich eigentlich mit deiner Mutter gestritten?« fragte er plötzlich.

Kathi nagte an der Unterlippe.

Sollte sie ihm die Wahrheit sagen?

Natürlich, sie mußte es sogar.

»Deinetwegen. Sie hatte schon von den Gerüchten gehört. Wahrscheinlich hat die Brunner sie angerufen.«

Tobias nickte.

»Ich hab’s mir schon gedacht.«

Er sah sie fragend an.

»Und was wirst’ jetzt anfangen?«

Kathi zuckte die Schultern.

»Ich werd’ schon mit ihnen zurechtkommen«, sagte sie leichthin. »Schließlich bin ich volljährig und kann machen, was ich will.«

Tobias Berghofer antwortete nicht. Überhaupt grenzte er das Thema aus, solange Kathi da war. Als er später alleine in der Wohnstube saß und über alles nachdachte, da kam es ihm auch in den Sinn, daß Kathis Eltern bestimmt nicht davon erbaut waren, ihn als Freund ihrer Tochter kennenzulernen.

Und wieder fragte er sich, ob es nicht ein Fehler gewesen, nach St. Johann zurückzukehren. Wie es schien, brachte er den Leuten, die mit ihm zu tun hatten, kein Glück – und sich selbst schon gar nicht.

*

»Na, hat doch prima hingehauen, oder net?«

Georg Heppner sah Florian beifallheischend an.

»Na ja, schon«, nickte der Bauernsohn. »Aber ich weiß immer noch net, was das bringen soll.«

»Wart’s ab«, grinste Schorsch. »Das war erst der Anfang.«

Er deutete zu seinem Auto, das am Waldrand stand.

»Komm mal mit.«

Florian folgte gehorsam. Als der Knecht ihn vor einer halben Stunde angerufen hatte, um sich mit ihm zu verabreden, hatte es auf dem Waldnerhof gerade Abendessen gegeben. Dabei hatte die Familie über die Ereignisse im Dorf gesprochen, und von Kathi Steingruber war auch die Rede gewesen. Es war nicht nur bei dem Gerücht geblieben, der Heimkehrer sei ein Tunichtgut, der Reifen zersteche und mit Rauschgift handele, er habe sich auch ein Madl angelacht, das ihm hörig sei, und dann war der Name gefallen.

Florian beteiligte sich nicht an der Unterhaltung. Er wußte ja am besten, was sich wirklich ereignet hatte. Zusammen mit Georg war er in der vergangenen Nacht ins Dorf gefahren und hatte zugeschaut, wie der Knecht das Auto der Brunners beschädigte.

»Was willst’ denn damit?« fragte er jetzt mit großen Augen, als sein Spezi den Kofferraum öffnete und ihm das Jagdgewehr zeigte, das darin, in eine Wolldecke gehüllt, lag.

»Was wohl?« Georg schüttelte den Kopf. »Du stellst vielleicht Fragen!«

Florian erschrak.

»Du... du willst doch net etwa auf ihn schießen...?«

Über soviel Dummheit konnte der Knecht wieder nur den Kopf schütteln.

»Bin ich deppert?« entgegnet er. »Natürlich will ich net auf den Rumtreiber schießen. Aber auf einen kapitalen Bock, und den jubeln wir dem Burschen dann unter. Sollst’ mal seh’n, was dann los ist. Ein Anruf beim Förster, natürlich anonym, und er sitzt schneller hinter Gittern, als er bis drei zählen kann.«

Der Gedanke gefiel Florian. Kathi würde einsehen müssen, daß der Kerl nix für sie war. Und bestimmt kam sie wieder zu ihm zurück.

»Wann soll’s denn losgeh’n?« fragte er.

»Nachher, wenn’s dunkel genug ist«, antwortete Schorsch. »Schließlich soll uns niemand dabei beobachten. Und schon gar net, wenn wir die Jagdbeute dem Rumtreiber unterschieben.«

Während sie sich weiter über ihren Plan unterhielten, trafen zwei Männer aufeinander, die unterschiedlicher nicht sein konnten.

Der eine war weit über siebzig Jahre alt. Er war wie ein Obdachloser gekleidet, und hatte grauweißes Haar, das genauso ungepflegt wirkte wie der Rest des Mannes.

Der andere hatte die Statur eines Bären. Das dunkle Haar war länger als die Mode vorsah, und er sprach ein eher gebrochenes Deutsch, mit einem deutlichen Dialekt. Im Gegensatz zu dem Alten wirkte er äußerst gepflegt, dennoch reichte er dem anderen ohne Scheu die Hand.

»Grüß dich, Loisl«, sagte er. »Schön, daß es geklappt hat. Ich bin schon ganz gespannt.«

Alois Brandhuber, der selbsternannte Wunderheiler von St. Johann, grinste breit.

»Freut mich, daß sich endlich mal jemand für meine Kräutertees und Salben interessiert«, erwiderte er. »Die Leut’ sind sonst eher skeptisch, was meine Medizin angeht.«

»Ich habe dir ja schon erzählt, was ich in Kanada erlebt habe, als ich beim Baumfällen um ein Haar tödlich verunglückt wäre«, meinte Richard Carpenter. »Die Indianerin, die mich damals gepflegt hat, war eine der Medizinfrauen des Stammes, die ihr Wissen von Generation zu Generation an ihre Nachfolgerinnen weitergeben.«

Der Kanadier war ein Bekannter Andreas Trenkers, der nach über zwanzig Jahren in der Fremde wieder nach St. Johann zurückgekehrt war. Richard, der zuerst für Andreas gearbeitet hatte und dann dessen Freund geworden war, wollte den Cousin des Bergpfarrers eigentlich nur für ein paar Wochen besuchen, doch dann verliebte er sich. Zuerst in das Wachnertal und die Berge, und dann in eine Frau. Also war er geblieben.

Der breitschultrige Mann und der kauzige Wunderheiler hatten sich schon öfter unterhalten, und je mehr Interesse Richard gezeigt hatte, um so mehr taute der Brandhuber auf. Für diesen Abend hatten sie verabredet, sich zu treffen und gemeinsam nach einer bestimmten Pflanze zu suchen, die nur hier oben wachsen sollte. Nach Loisls Worten mußte sie unbedingt bei Vollmond ausgegraben und dann behutsam nach Hause getragen werden, wo man sie in einen Topf mit reinem Quellwasser setzen mußte, damit sie ihre heilende Wirkung entfalten konnte. Erst nachdem es wieder Vollmond geworden war, durften die Blütenblätter getrocknet werden, um daraus einen Tee herzustellen, der wahre Wunder vollbringen sollte.

So stand es zumindest in dem geheimnisvollen Buch, aus dem der Brandhuber sein ›Wissen‹ bezog.

»Also dann los«, sagte Richard und folgte dem Alten, der trotz der Jahre, die er auf dem Buckel hatte, noch rüstig ausschritt.

*

Wolfgang Steingruber sah seine Tochter mit verkniffener Miene an.

»Darf man erfahren, wo du jetzt herkommst?« fragte er, und sein Ton ließ keinen Zweifel daran, daß er eine Antwort haben wollte.

Kathi begegnete seinem Blick indes kühl.

»Muß ich jetzt über jeden meiner Schritte Rechenschaft ablegen?« entgegnete sie.

Ihr Vater holte tief Luft.

»Ich verbiete dir, dich mit diesem Haderlumpen herumzutreiben!« brüllte er so laut, daß seine Frau, die neben ihm stand, zusammenzuckte. »Die Leut’ reden schon über dich. Wie steh’n wir denn da? Mit einer Tochter, die mit einem Verbrecher verbandelt ist!«

Kathi fühlte wieder, wie Wut über die Ungerechtigkeit, mit der Tobias behandelt wurde, in ihr aufstieg.

»Ihr kennt ihn doch überhaupt net!« rief sie, außer sich. »Es ist doch kein Wort von dem wahr, was über Tobias behauptet wird.«

»So? Willst du etwa behaupten, daß die Leut’ lügen?« ereiferte sich ihr Vater.

»Ja, genau das will ich«, bestätigte sie. »Und damit ihr es genau wißt, Tobias und ich, wir lieben uns, und keiner, auch ihr net, wird es schaffen, uns wieder auseinander zu bringen!«

Ihre Mutter machte ein entsetztes Gesicht. Wolfgang Steingruber wußte überhaupt nicht, was er sagen wollte. Auf seiner Stirn bildete sich eine dicke Zornesfalte.

»Das werden wir noch sehen«, drohte er. »Du kannst wählen. Entweder den Rumtreiber oder deine Familie. Wenn du net die Finger von ihm läßt, dann enterb’ ich dich!«

Kathi lächelte. Auf dem Heimweg hatte sie sich ganz genau vorgestellt, was sie erwartete. Natürlich würde es eine Auseinandersetzung mit den Eltern geben. Aber davor fürchtete sie sich nicht. Auch die Drohung, sie zu enterben, hatte sie erwartet.

»Dann verkauf’ doch den Hof und werd’ mit dem Geld selig«, stieß sie schroff hervor. »Ich brauch’ ihn net, um glücklich sein.«

Ihre Eltern sahen sich sprachlos an. Als Wolfgang Steingruber nach Hause gekommen war, hatte er schon alles gewußt. An diesem späten Nachmittag wollte er sich eigentlich eine Feierabendmaß im Wirtshaus gönnen. Kaum, daß er die Gaststube betreten hatte, waren die anderen Bauern auch schon auf ihn losgestürmt und hatten ihm brühwarm vom Verhältnis seiner Tochter mit dem Rumtreiber erzählt, das im Dorf das Tagesgespräch war.

Auf die Maß hatte der Bauer verzichtet und war auf dem schnellsten Wege zu seinem Hof zurück gefahren. Traudel fiel aus allen Wolken, als sie erfuhr, wie eng Kathi und Tobias Berghofer schon zusammen waren. Sie beratschlagten, was sie unternehmen konnten, damit dieser Kelch doch noch an ihnen vorüberginge. Indes war das nicht so einfach. Ihnen war schon bewußt, daß sie der Tochter im Grunde gar nichts mehr verbieten konnten.

»Wenn sie gar net hören will, dann werd’ ich ihr sagen, daß ich sie enterbe«, hatte Wolfgang schließlich gemeint.

Aber selbst diese Drohung fruchtete nicht, wie sich jetzt zeigte. Kathi ließ ihre Eltern stehen und ging in ihre Kammer.

Doch so leicht wollte sich der Bauer nicht damit abfinden. Er folgte ihr und riß die Tür zu Kathis Kammer auf.

Etwas, was er noch nie getan hatte. Er kam nie herein, ohne vorher anzuklopfen.

»Ich erwarte net nur, daß du das tust, was deine Mutter und ich von dir erwarten«, sagte er mit schneidender Stimme. »Solang’ du kein Einsehen hast, werd’ ich dir auch den Lohn kürzen!«

Kathi stand am Schrank und suchte nach frischen Arbeitssachen. Als sie ihren Vater das sagen hörte, fuhr sie herum.

»Das wirst du net wagen«, entgegnete sie. »Aber ich werd’ was tun. Nämlich ab sofort die Arbeit verweigern. Dann seht mal zu, wie ihr alleine zurechtkommt. Auf die Burgl könnt ihr net zählen, die wird noch lang’ net wieder schaffen können. Außerdem verlang’ ich eine Nachzahlung für die letzten fünf Jahre. Du weißt sehr genau, daß mein Lohn unter dem Tarif liegt, ganz zu schweigen von dem, was andere Bauern freiwillig zahlen. Und wenn ich net bekomm’, was mir zusteht, dann verklag’ ich dich!«

Ihrem Vater verschlug es die Sprache. So kannte er seine Tochter gar nicht. Bisher war es in der Familie immer recht harmonisch abgelaufen. Abgesehen freilich von den kleinen Ärgernissen, die überall mal vorkommen. Aber immer hatte man sich wieder zusammengerauft, und der Streit war schnell vergessen.

Doch danach sah es jetzt nicht aus. Wolfgang Steingruber sah an Kathis Gesicht, wie ernst es ihr war. Wortlos schlug er die Tür zu und stapfte über den Flur.

Die Bauerntochter ließ sich auf das Bett sinken und schlug die Hände vor das Gesicht. So harte Worte hatte sie gar nicht sagen wollen, und natürlich würde sie ihren Vater auch niemals verklagen. Den Lohn, den sie jeden Monat bekam, sah sie ohnehin nicht als solchen an, sondern eher als ein großzügiges Taschengeld. Sie hatte ja sonst alles auf dem Hof, was sie brauchte, und für Kathi war es selbstverständlich, daß sie mitarbeitete. Schließlich war ihr Schaffen ja auch eine Investition in die Zukunft, wenn sie selber einmal die Bäuerin war.

Allerdings sah es im Moment nicht so aus, als würde sie es eines Tages auch wirklich werden...

*

Richard und Loisl stiegen den Felsen hinauf. Hier oben war es schon empfindlich kalt. Die Sonne war untergegangen, und am Himmel zeigten sich Mond und Sterne. Der Kanadier hatte vorsorglich eine Taschenlampe mitgebracht, mit der er den Weg ausleuchtete.

»Gleich haben wir’s geschafft«, keuchte der Brandhuber, dem die Kletterei doch ein wenig zu schaffen machte.

Unter ihnen lag der Bergwald wie ein schwarzes Gebilde, schön und furchterregend zugleich. Langsam tasteten sich die beiden Männer weiter, dann hatten sie ihr Ziel erreicht.

»Ist sie net wunderschön?« sagte der Wunderheiler und deutete mit verklärtem Blick auf eine Blume, die aus dem Fels herauszuwachsen schien. »Man sieht ihr die heilenden Kräfte förmlich an.«

Richard Carpenter schaute hin und runzelte die Stirn.

Dieses unscheinbare Gewächs sollte Heilkräfte besitzen? Gut, hübsch anzuschauen war die rote Blüte schon, aber steckte wirklich das darin, was der Brandhuber versprach?

Indes war Richard mit vielen Indianerstämmen zusammengetroffen und hatte immer wieder über die Medizinfrauen und -männer gestaunt, die es verstanden, aus Pflanzen die heilsamsten Elixiere herzustellen, deren Wirkungskraft er am eigenen Leibe erfahren hatte.

Er sah zu, wie Loisl mit einem Messer die Wurzel aus der Felsspalte grub und die Blume behutsam in seine Hand nahm. Richard mußte dem Alten beim Abstieg behilflich sein.

Hoffentlich ist Christel nicht böse, weil es so lange dauert, dachte der Kanadier.

Knapp zwei Stunden würden sie für den Rückweg brauchen, und dann mußte die geheimnisvolle Blume auch noch in Brandhubers Hütte gebracht werden. Unterwegs wollten sie noch einen Abstecher zu der Quelle eines Gebirgsbaches machen, um das notwendige Wasser zu holen. Richard hatte extra eine Flasche dafür mitgebracht.

Die beiden Männer hatten knapp die Hälfte der Strecke zurückgelegt, als Richard plötzlich lauschend den Kopf hob. Loisl entging die Bewegung nicht.

»Was ist los?« fragte der Alte.

»Da kommen Leute«, wisperte der Kanadier.

Jetzt lauschte der Brandhuber auch. Er nickte, als er das Knacken von Zweigen hörte.

»Wer kann das sein?«

»Keine Ahnung«, antwortete Richard. »Wilderer vielleicht.«

Sie drückten sich leise in die Büsche und spähten durch das Blattwerk. Wenig später kamen zwei Männer in ihr Blickfeld, einer von ihnen hatte ein Gewehr in der Hand. Es dauerte keine zwei Minuten, dann waren die beiden wieder verschwunden.

»Hoffentlich erwischt sie der Förster«, sagte Richard Carpenter.

Er war froh, daß sie sich versteckt hatten. Man konnte nicht wissen, was vielleicht passiert wäre, wenn die Wilderer sie entdeckt hätten. Es wäre gewiß nicht das erste Mal, daß man unliebsame Zeugen beseitigte.

Sie warteten noch eine Weile ab, ehe sie ihren Heimweg fortsetzten. Als sie aus dem Wald heraus waren, hörten Richard und Loisl mehrere Schüsse in der Ferne fallen.

Sie sahen sich an.

»Ich hab’ nix geseh’n und nix gehört«, meinte der Wunderheiler und ging weiter.

Der Kanadier folgte ihm achselzuckend.

Florian und Georg schleppten den jungen Hirschbock zum Auto und legten das Tier in den Kofferraum. Es hatte seine Zeit gedauert, bis sie endlich zum Schuß gekommen waren. Dann hatte Heppner das Wild fachmännisch ausgeweidet und seinem Spezi bedeutet, daß er gefälligst mit anpacken sollte.

Der Bauernsohn war sich schon darüber im klaren, daß es eine Straftat war, die sie hier begingen. Aber er war schon zu tief in die Sache verstrickt, um jetzt noch einen Rückzieher machen zu können.

»Und jetzt?« fragte er, als sie ins Dorf fuhren.

»Jetzt suchen wir ein schönes Plätzchen, wo wir den Bock verstecken können und geben dem Ruland einen Tip«, antwortete Schorsch. »Und dann sollst mal sehen, wie schnell der Rumtreiber Besuch von der Polizei bekommt.«

St. Johann schlief. Es war schon weit nach Mitternacht, und im Dorf war es dunkel; die Straßenlaternen wurden gegen elf ausgeschaltet. Die beiden Männer fuhren in die Straße, in der Tobias Berghofer wohnte. Georg wendete den Wagen und fuhr zur Ecke zurück, wo er anhielt. Leise bewegten sich die beiden zum Haus hinunter. Zwischen ihnen baumelte der leblose Tierkörper. Sie blieben stehen und vergewisserten sich, daß in den Häusern alles dunkel war. Auch im Berghoferhaus brannte nirgendwo ein Licht. Nur der Mond beschien die Szene. Der Knecht öffnete die Gartenpforte. Sie schlichen zur Rückseite.

»Wo denn?« wisperte Florian, der vor Aufregung zitterte.

»Dort«, erwiderte Georg und deutete auf das Gartenhaus am anderen Ende.

Die Tür knarrte, als sie geöffnet wurde. Im Halbdunkel konnten sie einen Rasenmäher und andere Gartengeräte sehen.

»Los, rein damit!« kommandierte der Knecht.

Sie legten den Hirschbock auf den Boden und warfen einen alten Sack darüber, den sie im Gartenhaus gefunden hatten. Dann schlossen sie die Tür und schlichen den Weg zurück.

Florian Waldner gähnte, als sie aus dem Dorf fuhren. In den letzten Nächten hatte er kaum geschlafen, und diese war auch schon fast wieder vorüber. In ein paar Stunden mußte er auf dem Hof pünktlich zum Melken und Ausmisten antreten. Immerhin – ein wenig würde er sich noch hinlegen können.

Georg setzte ihn ab.

»Jetzt noch der Anruf beim Förster«, grinste der Knecht, »und dann geht alles seinen Weg.«

Er winkte dem Bauernsohn zu und fuhr weiter. Das Grinsen auf seinem Gesicht verbreiterte sich noch, und es waren keine freundschaftlichen Gedanken, die der dabei für Florian hegte. Wenn die Sache schiefging, dann würde er es schon so einrichten, daß ihn die Schuld traf...

*

»Kind, willst’ es dir net noch mal überlegen?« fragte Traudel mit bittendem Unterton. »Du mußt doch einsehen, daß der Mann net gut für dich ist.«

Kathi biß sich auf die Lippe. Immerhin sagte ihre Mutter jetzt ›Mann‹ zu Tobias und nannte ihn nicht mehr den Rumtreiber. Sie sah kurz auf und schüttelte den Kopf.

»Ich brauch’ mir nix überlegen«, erwiderte sie. »Und ich weiß am besten, was für mich gut ist.«

Mutter und Tochter waren in der Küche. Kathi hatte ihre Drohung, die Arbeit niederzulegen, wahrgemacht und war heute deutlich später aufgestanden als sonst. Ihr Vater hatte alleine das Melken und Ausmisten bewältigen und die vollen Kannen an die Straße bringen müssen. Inzwischen war er draußen auf dem Feld, um nach dem Getreide zu sehen. Kathi trank einen Schluck Kaffee und stellte die leere Tasse in das Spülbecken.

Die Bäuerin sah sie völlig ratlos an. Traudel Steingruber wußte nicht, was sie machen sollte. Natürlich liebte sie ihre Tochter, wie jede Mutter ihr Kind liebt, und sie wollte nur das beste für Kathi. Bisher hatte es nie solch eine Auseinandersetzung in der Familie gegeben, und das Herz tat ihr weh, wenn sie sich vorstellte, daß nun alles zusammenbrechen sollte.

Doch sie konnte nichts dagegen unternehmen. Hilflos sah sie zu, wie Kathi in ihre Kammer zurückging und nach kurzer Zeit wieder herauskam, sie trug eine Tasche in der Hand. Das Madl verließ das Haus ohne ein Wort.

Traudel lief hinterher.

»Was hast du vor?« fragte sie ahnungsvoll, den Blick auf die Tasche geheftet. »Wo willst du hin?«

»Ich fahre zu Tobias«, erwiderte Kathi. »Und da bleib’ ich. Vielleicht kommt ihr ja noch zur Vernunft, dann wißt ihr, wo ihr mich finden könnt.«

Die Bäuerin rang die Hände.

»Bitte«, flehte sie, »tu’ uns das net an!«

»Ach, Mama«, antwortete Kathi, »versteh’ mich doch. Ich liebe Tobias nun einmal. Warum stellt ihr euch nur so gegen ihn? Ihr kennt ihn doch gar net. Ist’s wegen der Leute? Sie sind genauso verbohrt wie ihr. Frag’ Pfarrer Trenker. Er und sein Bruder glauben net einen Moment an diese dummen Gerüchte. Ich wünschte, ihr würdet es auch net.«

Einen Moment zögerte sie, dann umarmte Kathi ihre Mutter und stieg ins Auto. Die Bäuerin sah ihr weinend hinterher.

Ob ich jemals hierher zurückkehren werd’? fragte sich die Bauerntochter, als sie vom Hof fuhr.

Sie blickte nicht in den Rückspiegel. Es war schon schwer genug gewesen, der Mutter so weh tun zu müssen. Den Anblick, wie sie ihr hinterher schaute, würde Kathi nicht ertragen können.

Sie verdrängte den Gedanken und wollte sich auf Tobias freuen. Zusammen würden sie das Komplott gegen ihn durchstehen, und dann...

Dann konnten sie doch nur noch glücklich werden!

Ihr Herz jubelte, als sie das Dorf sah. Kathi spürte mit jeder Sekunde, die sie sich näherte, wie sehr sie Tobias liebte. Mehr als jemals einen anderen Mann zuvor. Auch die Tatsache, daß sie seine Liebe mit einer Toten würde teilen müssen, trübte ihr Glück nicht.

Patricia kann mir net wirklich gefährlich werden, hatte sie gedacht, als sie in der vergangenen Nacht nicht schlafen konnte und an das denken mußte, was Tobias ihr über seine verstorbene Verlobte erzählt hatte. Gewiß, noch trauerte er. Aber Zeit heilte nun mal alle Wunden, und sie würde alles tun, damit der Mann ihres Herzens glücklich wurde.

In der Straße hielt sie hinter seinem Jeep. Kathi nahm die Tasche, in die sie eilig ein paar Sachen gesteckt hatte, und lief zum Haus. Sie klingelte Sturm und warf sich Tobias an den Hals.

»Hoppla«, schmunzelte er, »bist’ immer so stürmisch?«

»Nur wenn ich’s vor Sehnsucht net mehr aushalt’«, antwortete sie.

Er gab ihr einen Kuß.

»Komm herein.«

Dann zeigte er auf die Tasche.

»Bedeutet das, was ich denk’, daß es das bedeutet?«

Kathi nickte.

»Ich hab’ mich mit meinen Eltern endgültig verkracht«, erklärte sie. »Kann ich... kann ich bleiben?«

Tobias nahm sie in die Arme.

»Freilich kannst’ bleiben«, erwiderte er. »Aber du weißt schon, was das auslösen kann, wenn die Leut’ erstmal spitzgekriegt haben, daß du mit einem Ganoven unter einem Dach lebst?«

»Sag’ net so was!« Kathi schüttelte den Kopf. »Du bist kein Ganove, und was die Leut’ reden... na ja, du weißt ja, wie ich darüber denk’.«

»Ich hab’ grad Kaffee gekocht«, sagte er. »Wir können frühstücken.«

»Prima Idee«, nickte sie. »Gegessen hab’ ich noch nix.«

Sie deckten gemeinsam den Tisch auf der Terrasse und setzten sich. Tobias goß gerade Kaffee in die Tassen, als es klingelte.

»Erwartest du Besuch?« fragte Kathi.

»Eigentlich net«, schüttelte er den Kopf und ging zur Tür.

»Grüß dich, Tobias«, sagte der Bruder des Bergpfarrers.

»Max, was führt dich zu mir?« erkundigte sich Tobias. »Komm rein.«

Ihm fiel auf, daß der Polizist ein ernstes Gesicht machte.

»Ist was geschehen?«

»Ich fürcht’ ja.«

»Kathi ist da. Wir sitzen draußen.«

Max begrüßte die Bauerntochter und setzte sich zu ihnen.

»Ich nehm’ an, daß du in der letzten Nacht friedlich in deinem Bett geschlafen hast?« fragte der Beamte, nachdem er das Angebot zu einem Kaffee dankend abgelehnt hatte.

»Richtig. Warum fragst du?« wollte Tobias wissen.

Max schaute Kathi an.

»Kann das jemand bezeugen?«

»Nein. Wieso? Kathi ist grad erst gekommen. Ich schlaf’ alleine«, sagte Tobias und lächelte.

»Ich fürcht’, dann hast’ ein Problem...«

Kathi und Tobias schauten sich fragend an.

»Was ist denn eigentlich los?« wollte der Heimkehrer wissen.

Max sah auf die Uhr.

»Es wird gleich noch mal an der Tür klingeln«, erklärte er. »Das ist dann Christian Ruland, unser Förster. Gegen dich liegt eine anonyme Anzeige vor, Tobias. Du sollst gewildert haben...!«

*

Sie fanden den toten Hirschbock genau dort, wo sie ihn finden sollten. Tobias Berghofer war überrascht und geschockt zugleich, als der Förster und der Polizist schnurstracks zu dem alten Gartenhaus gingen, die Tür öffneten und das Tier herauszogen.

»Ehrlich, Max«, beteuerte er, »ich hab’ keine Ahnung, wie das dort hinkommt.«

Der Bruder des Bergpfarrers und Christian Ruland sahen sich stumm an.

»Trotzdem werd’ ich dich jetzt aufs Revier mitnehmen müssen«, erwiderte Max.

Kathi stieß einen Schrei aus, Tobias schüttelte den Kopf.

»Du glaubst mir net?« fragte er erschüttert.

»Freilich glaub’ ich dir, aber was sein muß, muß sein.«

»Aber was soll das denn? Ich hab’ nix damit zu tun. Ich hab’ noch nie in meinem Leben gewildert!«

»Das weiß ich doch«, schmunzelte Max. »Beruhige dich wieder. Auch der Christian ist von deiner Unschuld überzeugt, aber das Ganze muß echt ausschauen, für den Fall, daß wir beobachtet werden.«

Der Förster nickte. Tobias indes verstand überhaupt nichts – Kathi ebenso wenig.

»Wer soll uns denn beobachten?«

»Überleg’ doch mal«, erwiderte der Polizist. »Erst die zerstochenen Reifen bei deinem Nachbarn, jetzt der Hirsch, den man dir untergeschoben hat. Jemand will dir ans Leder, das liegt doch auf der Hand. Heut’ früh hat jemand im Forsthaus angerufen und mit verstellter Stimme behauptet, daß du gewildert hättest. Sogar wo du deine Beute versteckt hast, wußte der Anrufer. Ich hoff’, du hältst mich net für so dumm, net gemerkt zu haben, was dahintersteckt.«

Endlich begriff Tobias.

»Und jetzt?« fragte er.

Max machte ein wichtiges Gesicht und griff an seinen Gürtel.

»Jetzt werd’ ich dich festnehmen und abführen«, grinste er – und legte dem Verdutzten Handschellen an.

»Oh, Gott«, stöhnte Tobias, »warum bin ich bloß net in Afrika geblieben!«

Er sah Kathi an.

»Wart’ auf mich«, sagte er. »Ich hoff’, ich komm bald wieder zurück.«

»Darauf würd’ ich net setzen«, foppte Max ihn. »Auf Wilddieberei steht Gefängnis.«

Die Bauerntochter wußte nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Sie gab Tobias einen Kuß und sah Max Trenker drohend an.

»Wenn du ihm auch nur ein Haar krümmst, dann sollst mich kennenlernen!« sagte sie.

»Keine Angst«, lachte der Polizist. »Du bekommst ihn wohlbehalten und im Ganzen wieder zurück.«

Wenig später saßen sie auf dem Revier. Es war schon ein wenig wie ein Spießrutenlauf gewesen, als Max seinen ›Gefangenen‹ durch die Straßen geführt hatte.

Christian Ruland war wieder auf dem Weg ins Forsthaus. Er hatte den toten Hirschbock beschlagnahmt und in den Kofferraum seines Autos gelegt.

Max griff als nächstes zum Telefon und rief im Pfarrhaus an. Sebastian war zwei Minuten später da.

»Jetzt wird’s kriminell!« stellte der Bergpfarrer fest. »Wer könnt’ ein Interesse haben, dem Tobias so zu schaden?«

»Das überleg’ ich schon die ganze Zeit«, erwiderte der Heimkehrer. »Es kann eigentlich nur der Bursche sein, mit dem ich Samstagnacht aneinander geraten bin.«

»Florian Waldner!«

Sebastian nickte. Er war entsetzt über das was geschehen war, aber es erschütterte ihn auch, was Tobias über Kathi und deren Eltern erzählte.

»Darum werd’ ich mich später kümmern«, sagte der Geistliche. »Jetzt geht’s erstmal darum, die Sache mit dem Wild aufzuklären. Der Florian also. Das paßt, er war mit der Kathi befreundet und hat allen Grund, auf Tobias böse zu sein.«

»Aber wir haben keine Beweise«, stellte Max klar.

»Leider«, sagte sein Bruder. »Trotzdem werd’ ich mir den Burschen mal vorknöpfen.«

Doch dazu sollte es nicht mehr kommen. Die Tür zur Revierstube öffnete sich, und Alois Brandhuber trat ein.

»Was willst’ du denn hier?« fragte Max.

Der selbsternannte Wunderheiler von St. Johann sah die drei Männer schweigend an. Daß der Geistliche auch da war, störte ihn ein wenig. Wenn es ihm möglich war, ging Loisl ihm lieber aus dem Weg.

Er räusperte sich und deutete auf Tobias, der auf einem Stuhl saß.

»Der da war’s net«, sagte der Alte.

Die drei sahen ihn überrascht an.

»Was war er net?« hakte der Polizeibeamte nach.

»Na, das mit der Wilderei. Wir haben sie gesehen, die geschossen haben.«

»Wer ist wir?« fragte Sebastian. »Und wer hat geschossen?«

»Wir... also der Richard und ich...«

»Richard Carpenter?« unterbrach der Geistliche ihn.

»Sag’ ich doch«, nickte Loisl ungehalten. »Also der Richard und ich waren in der Nacht los, die Heilblume zu pflücken. Das geht nämlich nur bei Vollmond, sonst entfaltet sie ihre Wirkung net...«

»Also was ist geschehen?« rief Max ungeduldig.

Der Wunderheiler erzählte. Nicht nur, daß er die beiden Männer genau beschreiben konnte, er wußte auch den Namen des einen – er lautete Georg Heppner.

Sebastian sah Loisl an.

»Du ahnst vielleicht net, wie wertvoll deine Aussage ist«, sagte er. »Aber du hast uns sehr geholfen.«

Er nickte Max und Tobias zu.

»Dann mal los!«

Während Tobias nach Hause ging, fuhr Max los, um den Knecht festzunehmen. Sebastian schlug den Weg zum Steingruberhof ein.

*

Kathi fiel ihrem Liebsten um den Hals, als er durch die Tür kam.

»Der Heppner war’s?« sagte sie erstaunt. »Der war mir noch nie ganz geheuer.«

»Aber es war noch einer beteiligt«, bemerkte Tobias. »Ich kann mir nur vorstellen, daß es der Waldner ist.«

»Florian?«

Kathi war noch erstaunter.

»Der kann doch keiner Fliege was zuleide tun.«

»Trotzdem steht er unter Verdacht. Max meint, er würd’ sehr oft mit dem Heppner zusammenhocken, und Hochwürden ist auch der Meinung.«

Tobias winkte ab.

»Aber das ist mir alles wurscht«, meinte er. »Die Hauptsache ist, daß der Ärger jetzt vorüber ist.«

»Das freut mich auch am meisten«, nickte Kathi und gab ihm noch einen Kuß. »Und jetzt?«

Tobias deutete auf den Terrassentisch.

»Jetzt kochen wir frischen Kaffee, und dann wird endlich gefrühstückt!«

Max Trenker fuhr auf den Brandnerhof und stieg aus. Eine Magd kam aus dem Haus und schaute ihn neugierig an.

»Grüß dich. Ist was gescheh’n?« fragte sie.

»Euer Knecht, ist er da?«

»Der Schorsch?«

Die Magd nickte.

»Der muß drüben in der Scheune sein.«

Der Polizist nickte dankend und ging zu dem langgezogenen Gebäude.

»Heppner, bist da drin?« rief er.

Er bekam keine Antwort, aber oben auf dem Heuboden raschelte es. Max stieg die Leiter hinauf. Der Knecht lugte hinter den Strohballen hervor.

»Komm, mach’ keinen Ärger!« sagte der Bruder des Bergpfarrers. »Ich weiß, was du gemacht hast.«

»Ich hab’ net geschossen«, behauptete Heppner, als er die Leiter heruntergestiegen war. »Der Florian war’s.«

»Das wird sich alles herausstellen«, meinte Max nur und führte ihn zum Streifenwagen.

Die Magd stand immer noch da und schaute neugierig hinterher.

»Sag’ dem Bauern, daß er sich nach einem neuen Knecht umschauen soll«, rief der Polizist zurück. »Ich schätze mal, der hier kommt so schnell net wieder.«

Dann stieg er ein und brauste davon.

*

Der Bergpfarrer war unterdessen auf dem Steingruberhof angekommen. Der Bauer und seine Frau saßen in der Küche und schwiegen sich an.

»Vielleicht ist er ja gar kein schlechter Kerl«, hatte Traudel kurz zuvor gesagt.

Ihr Mann sah sie nur böse an. Viel mehr machte ihm der Kummer mit seiner Tochter zu schaffen. Er liebte Kathi von ganzem Herzen, wenn er es vielleicht auch nicht immer so zeigte.

»Ich muß mit euch reden«, sagte Sebastian und setzte sich zu ihnen. »Ihr wißt, daß die Kathi beim Tobias ist, und da wird sie auch bleiben, solang’ ihr net einseht, daß ihr euch dem Glück eurer Tochter net in den Weg stellen dürft.«

»Aber... warum ausgerechnet der?« fragte Wolfgang.

»Weil sie ihn liebt«, antwortete der Bergpfarrer. »Überleg’ doch mal. Wie war’s bei Traudel und dir? Hättest’ dir da auch von jemandem dreinreden lassen? Und was den Tobias angeht, kann ich euch beruhigen. Er ist ein braver, tüchtiger Bursche und kein Herumtreiber, wie behauptet wird. In Afrika hat er eine Farm besessen und hart gearbeitet. Zurückgekommen ist er net, weil er da nix geworden wär’, sondern aus einem ganz anderen, persönlichen Grund.

Aber das wird er euch selbst mal erzählen. Jedenfalls liebt eure Tochter ihn und wird net von ihm lassen, und dann solltet ihr bedenken, was eines Tags hier geschehen soll, wenn ihr Kathi verloren habt...«

Diese Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Wolfgang und Traudel sahen sich an, und dann nickte die Bäuerin.

»Komm«, sagte sie zu ihrem Mann, »laß uns zu ihnen fahren.«

Ein wenig linkisch standen sie dann vor ihrer Tochter und wußten nicht so recht, was sie sagen sollten. Es war Tobias, der das Wort ergriff. Er reichte erst Kathis Mutter die Hand, dann dem Vater.

»Also, ich bin der Bösewicht, der eure Tochter heiraten will«, sagte er grinsend. »Und ich gäb’ was drum, wenn ihr damit einverstanden sein würdet.«

Die beiden sahen ihn an, und schließlich nickte Traudel.

»Mach’ sie glücklich«, bat sie und gab ihrem Mann einen Stoß.

»Ja, das möcht’ ich auch«, nickte der Bauer.

Kathi fiel ihnen um den Hals, und Sebastian stand schmunzelnd dabei.

Dann nahm Tobias ihre Hand.

»Ich weiß ja, daß du eine gute Partie bist«, sagte er. »Aber ich steh’ auch net mit leeren Händen da. Ich hab’ ein bissel was gespart, und durch den Verkauf der Farm ist noch was dazugekommen. Vielleicht reicht das ja als Mitgift.«

Kathi lachte hell auf.

»Als ob das wichtig wär’«, rief sie glücklich. »Viel wichtiger ist doch unsre Liebe!«

Der Bergpfarrer Paket 4 – Heimatroman

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