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Er sollte eine andere lieben ... und dann kam alles ganz anders! Roman von Waidacher, Toni

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Der Zug hielt im Bahnhof der Kreisstadt. Unter den vielen Reisenden, die hier ausstiegen, war eine hübsche junge Frau, die als letzte das Abteil verlassen hatte und auf den Gang getreten war.

»Warten Sie, ich helfe Ihnen mit dem Koffer«, sagte eine Männerstimme hinter Johanna Kramer.

Sie drehte sich um und lächelte den Kavalier an.

»Vielen Dank. Sehr freundlich von Ihnen«, antwortete sie und stutzte plötzlich. »Hochwürden…«

Johanna hatte das silberne Kreuz am Revers des schlanken, hochgewachsenen Mannes gesehen, außerdem gewahrte sie im selben Augenblick den Priesterkragen, den der Geistliche trug.

Sebastian Trenker lächelte. Er kannte derartige Reaktionen, wenn er jemandem zum ersten Mal gegenüberstand. Wie ein Mann der Kirche sah er wirklich nicht aus. Mit seinem markanten, von vielen Aufenthalten im Freien stets gebräunten Gesicht und der durchtrainierten Figur konnte man ihn eher für einen prominenten Sportler oder Schauspieler halten.

»So, das hätten wir«, sagte der Bergpfarrer und stellte den schweren Koffer der jungen Frau auf dem Bahnsteig ab.

»Noch mal, vielen Dank«, nickte Johanna.

Sie sah auf die große Bahnhofsuhr.

»Herrje, ich muß mich ja beeilen, sonst fährt der Bus ohne mich ab.«

»Wohin wollen S’ denn?«

»Nach St. Johann«, antwortete sie.

»Na, dann fahren S’ doch einfach mit mir«, bot der Geistliche an. »Da will ich nämlich auch hin. Mein Wagen steht draußen auf dem Parkplatz. Ach, vorher sollte ich mich vielleicht vorstellen. Sebastian Trenker, ich bin Pfarrer in St. Johann.«

»Sehr erfreut. Johanna Kramer. Das Angebot nehme ich gern an, Hochwürden.«

Die meisten Reisenden hatten den Bahnsteig schon verlassen. Sebastian und seine Begleiterin durchquerten die Halle und traten ins Freie. Der Parkplatz lag gleich nebenan.

»Ich nehme an, Sie machen Urlaub bei uns«, sagte der Geistliche, als sie in seinem Wagen saßen.

»Ja«, nickte Johanna, »für zwei Wochen habe ich mich in einer Pension eingemietet. Bestimmt kennen Sie das Haus; es ist die Pension ›Edelweiß‹.«

»Freilich kenn’ ich sie«, schmunzelte Sebastian. »Sie gehört meinem Cousin.«

»Natürlich«, lachte auch Johanna. »Das hätte mich gleich stutzig machen müssen; es sind ja dieselben Namen.«

»Darf ich fragen, wo Sie zu Hause sind?«

»In Nürnberg. Ich arbeite dort in einer kleinen Firma, die Spielzeug herstellt. Allerdings ist es nur ein kleines Unternehmen, ein Familienbetrieb.«

Sie hatten die Stadt schnell verlassen und bogen auf die Landstraße ein. St. Johann lag kaum mehr als zwanzig Minuten entfernt. Johanna Kramer schaute während der Fahrt aus dem Fenster. Es war eine herrliche Landschaft, die sie zu sehen bekam, mit ihren schneebedeckten Gipfeln und grünen Almwiesen.

»Da wären wir.«

Der gute Hirte von St. Johann hatte vor der Pension gehalten. Wie selbstverständlich nahm er den Koffer der jungen Frau und trug ihn hinein. Im Flur kam ihnen Marion entgegen.

»Hallo! Betätigst du dich jetzt als Kofferträger?« lachte die Frau seines Cousins.

»Grüß dich, Marion«, sagte Sebastian, nachdem er den Koffer abgestellt hatte. »Das ist euer Pensionsgast, die Frau Kramer aus Nürnberg. Wir haben uns kennengelernt, als wir gemeinsam aus dem Zug gestiegen sind, und ich hab’ sie der Einfachheit halber gleich hergebracht.«

»Herzlich willkommen in St. Johann und in der Pension ›Edelweiß‹«, begrüßte Marion den Gast. »Ich hoffe, Sie werden sich bei uns wohl fühlen.«

Johanna nickte. »Ich denke, das werde ich.«

»Ich muß leider gleich wieder los«, verabschiedete sich der Geistliche. »Die Frau Tappert wartet sicher schon mit dem Nachmittagskaffee auf mich.«

Er reichte seiner neuen Bekannten die Hand.

»Ich wünsch’ Ihnen einen schönen Urlaub, Frau Kramer. Und wenn S’ mögen, dann schauen S’ mal in der Kirche vorbei. Ich führ’ Sie dann gern herum und zeige Ihnen alles.«

»Das mache ich gern, Hochwürden«, antwortete sie. »Und noch mal vielen Dank für alles.«

»Gern gescheh’n«, nickte der Bergpfarrer. »Also, pfüat euch zusammen, und, Marion, grüß mir den Andreas. Ich schau bei Gelegenheit vorbei.«

Und schon war er aus der Tür.

»So, dann zeige ich Ihnen erst einmal das Zimmer«, sagte Marion und nahm den Schlüssel vom Brett.

Die Einzelzimmer lagen im Erdgeschoß der alten Villa, die Andreas Trenker zu einer Pension umgebaut hatte. Es waren große, komfortabel eingerichtete Räume, jeder mit einem eigenen Bad. Johanna sah sich erstaunt um und freute sich. Sie hatte gar nicht damit gerechnet, daß das Zimmer so schön sein würde.

»Da möchte man am liebsten ja gar nicht wieder fort«, sagte sie.

»Schön, daß es Ihnen gefällt, Frau Kramer«, nickte Marion. »Frühstücken können Sie ab sieben Uhr, aber die meisten ziehen es vor, im Urlaub auszuschlafen. Jedenfalls brauchen Sie keine Sorge zu haben, wir servieren bis elf Uhr. Außer natürlich, Sie wollen eine Bergtour machen und stehen früh auf. Dann sollten Sie uns bitte am Abend vorher Bescheid geben, damit wir ein Frühstück für Sie vorbereiten können.«

»Ich habe nicht vor, eine Bergtour zu machen.« Sie schüttelte den Kopf.

»Na, wer weiß«, lachte Marion. »Da ist schon so mancher auf den Geschmack gekommen, wenn er erst einmal aus der Ferne gesehen hat, wie schön die Gipfel sind. Aber wie auch immer, es gibt noch viele andere Möglichkeiten, sich hier bei uns zu vergnügen. Und jetzt laß ich Sie erst einmal in Ruhe auspacken, und wenn Sie dann Lust auf einen Kaffee haben, dann kommen Sie einfach in den Garten.«

Johanna lächelte. So viel Fürsorge hatte sie gar nicht erwartet. Aber es war schön.

Nachdem die Pensionswirtin gegangen war, öffnete sie die Tür zum Bad. Johanna trat an das Waschbecken und ließ das kalte Wasser laufen.

Ah, tat das gut!

Mehrere Male schöpfte sie mit beiden Händen das kalte Naß und fuhr sich damit über das Gesicht. Dann schaute sie in den Spiegel. Die zur Schau gestellte Miene war abgefallen, ihr Antlitz glich nun einer Maske.

»Und jetzt?« murmelte sie. »Was fange ich jetzt an?«

*

Stefan Kreuzer fuhr die Auffahrt zur Villa hinauf. Rechts und links war sie von Bäumen gesäumt, dahinter breitete sich auf beiden Seiten ein gepflegter Rasen aus. Hinter dem Wagen war das schwere Tor, das den Zugang zum Anwesen versperrte, lautlos ins Schloß gefallen. Die auf der Mauer installierten Überwachungskameras schreckten jeden Eindringling ab, Besucher mußten es sich gefallen lassen, daß sie zuerst ins Visier genommen wurden, ehe man sie hereinließ.

Vor der großen weißen Villa kam der Sportwagen zum Stehen. Das Dach des Cabrios war geöffnet, und der junge Mann sprang mit einem sportlichen Satz hinaus.

Oben am Fenster im ersten Stock sah Stefan eine Bewegung hinter der Gardine. Er schmunzelte, als er sich das mißbilligende Kopfschütteln seines Vaters vorstellte, der am Fenster gestanden und die Ankunft des Sohnes beobachtet hatte.

Noch ehe er die Haustür erreicht hatte, wurde sie geöffnet, und Tante Grete trat heraus. Eigentlich hieß sie Margarete Hösch und war auch nicht mit der Familie verwandt. Die inzwischen über Sechzigjährige arbeitete aber seit mehr als vierzig Jahren als Haushälterin bei den Kreuzers, und Stefan hatte sie schon immer Tante genannt. Schließlich war sie mehr als nur eine Angestellte und hatte ihm so manchen Klaps gegeben, wenn er als kleiner Bub zu viel Unsinn angestellt hatte.

»Junge, du weißt doch, daß dein Vater auf Pünktlichkeit besteht«, tadelte sie seine Verspätung.

Stefan lachte und gab ihr einen Kuß auf die Wange.

»Ich kann nichts dafür«, erwiderte er. »Ehrlich, Tante Grete, auf der Autobahn war so viel los, ich konnte die meiste Zeit kaum mehr als Hundertsechzig fahren.«

Die alte Dame schüttelte den Kopf.

»Red’ doch nicht solchen Unsinn!« sagte sie. »Außerdem bist du wieder aus deinem Auto gesprungen wie ein Sportler über die Hürde. Das ärgert deinen Vater genauso wie unpünktliches Erscheinen.«

»Der beruhigt sich wieder«, winkte Stefan ab. »Wo ist Mutter?«

»Bei ihren Bridgedamen, wie jeden Montagnachmittag.«

»Stimmt ja. Hatte ich vergessen. Gut, ich sehe sie heute abend. Jetzt gehe ich erstmal hinauf.«

Er war schon an der Treppe, dort drehte er sich wieder um.

»Ach nee, erstmal einen Kaffee«, meinte er.

»Gibt’s noch welchen?«

Im Hause Kreuzer wurde jeden Nachmittag, pünktlich sechzehn Uhr, Kaffee serviert. Inzwischen war es aber schon eine halbe Stunde darüber.

»Ja, geh nur hinauf«, nickte die Haushälterin. »Das Mädchen bringt gleich frischen.«

Stefan seufzte.

»Du läßt mir aber auch überhaupt keine Chance, dem Strafgericht zu entgehen«, klagte er mit gespielter Büßermiene.

»So schlimm wird es schon nicht werden«, entgegnete Tante Grete. »Es sei denn, du läßt deinen Vater noch länger warten.«

»Bin schon oben«, rief er und sprang die Treppe hinauf.

Das Arbeitszimmer seines Vaters lag am Ende des Flures, von dem rechts und links Gästezimmer, Bäder und andere Räume abzweigten. Stefan schritt über den kostbaren Orientteppich, der jeden Schall schluckte, und drückte die Klinke herunter.

Kurt Kreuzer stand immer noch am Fenster und starrte hinaus. Dabei hatte er die Hände auf dem Rücken und wirkte im ersten Moment wie eine Statue.

»Hallo, da bin ich«, sagte Stefan und schloß die Tür hinter sich.

Sein Vater regte sich nicht. Erst nachdem ein paar Sekunden verstrichen waren, drehte er sich langsam um und sah ihn schweigend an.

»Ich hatte dich pünktlich um vier erwartet«, erwiderte er endlich.

»Es tut mir leid.«

Kurt Kreuzer schnitt seinem Sohn mit einer Handbewegung das Wort ab.

»Setz dich bitte. Ich habe was mit dir zu besprechen.«

Stefan zog die rechte Augenbraue in die Höhe. An sich war er einen anderen Ton gewöhnt, streng und unnachgiebig. Doch zu seinem Erstaunen hatte sein Vater tatsächlich einmal »bitte« gesagt.

Ganz abgesehen davon, daß er sich jeden Kommentar zur Verspätung seines Sohnes verkniffen hatte!

Kurt Kreuzer bewegte sich endlich vom Fenster fort. Er setzte sich in den Sessel hinter seinem Schreibtisch und sah Stefan merkwürdig an, als blicke er durch ihn hindurch. Der registrierte, daß sein Vater sich auf die Unterlippe biß und nach Worten zu suchen schien.

»Also, mach’s nicht so spannend«, bemerkte er.

»Tja, wie soll ich anfangen?«

Der Vater sah den Sohn direkt an.

»Stefan, es ist etwas eingetreten, das die Firma und dich betrifft«, sagte er endlich.

»Sind wir etwa pleite?«

»Laß diesen Unsinn.« Kurt Kreuzer schüttelte den Kopf. »Obwohl…, es könnte darauf hinauslaufen.«

Stefan riß die Augen auf.

»Wie bitte?«

»Du hast ganz richtig gehört«, nickte Kurt. »Das Unternehmen steckt in einer Krise.«

»Also, das mußt du mir genauer erklären.«

Die Firma Kreuzer stellte bereits seit hundert Jahren hochwertige Schreibgeräte her. Stefans Großvater hatte den Grundstein dazu gelegt, und er, der Jüngste aus der Familie, stellte die dritte Generation dar. Natürlich hatte es in der langjährigen Firmengeschichte immer wieder Krisen gegeben, aber das Gesicht, das sein Vater jetzt machte, verhieß nichts Gutes.

»Harald Schönauer hat mir ein Angebot gemacht«, erklärte Kurt Kreuzer. »Du weißt ja, daß vor einem halben Jahr das Geschäft mit den USA geplatzt ist. Wir haben viel Geld in das Projekt investiert, weil es für uns die Chance war, auf dem amerikanischen Markt Fuß zu fassen. Dieses Geld fehlt uns jetzt natürlich.«

»Aber unsere Hausbank würde die Kreditlinie jederzeit erhöhen«, warf Stefan ein. »Warum kommt jetzt ausgerechnet Schönauer ins Spiel?«

»Die Bank habe ich außen vor gelassen«, entgegnete sein Vater. »Es spricht sich schnell herum, wenn ein Unternehmen in einem finanziellen Engpaß steckt. Auch wenn es ein Bankgeheimnis gibt, eines Tages plaudert jemand was aus und ein anderer trägt es weiter. Ich wollte nicht, daß die Firma ins Gerede kommt, aus diesem Grund habe ich Schönauer kontaktiert, und er hat mir aus der Klemme geholfen.«

Der Sohn schluckte.

»Mit wieviel?« wollte er wissen.

»Eine halbe Million.«

»Um Gottes willen«, entfuhr es Stefan. »Und jetzt will er das Geld zurück?«

Sein Vater nickte.

»Innerhalb von sechs Wochen«, antwortete Kurt Kreuzer. »Ansonsten will er Anteile an dem Unternehmen in dieser Höhe erwerben.«

Es klopfte an der Tür, und das Hausmädchen brachte ein Tablett mit Kaffee und Tassen herein.

»Warum weiß ich nichts davon?« fragte Stefan, als sie wieder allein waren.

Sein sonst so gestrenger Vater machte ein bedrücktes Gesicht.

»Ich dachte, ich bekomme das alleine wieder hin«, gab er zu. »Ich wollte nicht unbedingt viel Aufhebens darum machen.«

Stefan Kreuzer trank einen Schluck. Seit er nach dem Studium in die Firma eingestiegen war, oblag es ihm, die Kontakte zu den Geschäftspartnern zu halten und neue zu knüpfen. Die meiste Zeit des Jahres war er unterwegs und reiste durch halb Europa. Es hatte ihm immer Spaß gemacht. Er haßte es, im Büro zu sitzen und dort irgendeine langweilige Arbeit zu verrichten. Doch jetzt fragte er sich, ob er nicht besser daran getan hätte, seinen Job einem anderen zu übertragen und sich mehr um die Firmeninterna zu kümmern.

»Ausgerechnet der Schönauer!« stöhnte er auf.

Harald Schönauer war der Chef eines Konkurrenzunternehmens. Das heißt, eine wirkliche Konkurrenz war er nicht, denn anders als die Firma Kreuzer stellte die Schönauer GmbH billige Dutzendware her, die im Ausland gefertigt und dann in Warenhäusern und Billigmärkten für wenige Cent verkauft wurde. Doch inzwischen liebäugelte er auch mit der Produktion hochwertiger Füllfederhalter und Kugelschreiber, und Anteile an der Firma Kreuzer würden ihm den Weg in dieses Segment ebnen.

»Du sagtest, er habe dir ein Angebot gemacht…«

Kurt Kreuzer räusperte sich laut und wich dem Blick seines Sohnes aus.

»Er hat gemeint, wir sollten uns zusammentun. Sowohl geschäftlich als auch familiär…«

Es dauerte einen Moment, ehe der Groschen fiel, dann sah der Sohn den Vater an, als habe der eben den Untergang der Welt angekündigt.

»Wie bitte?« hauchte Stefan tonlos.

Sein Vater hob beschwichtigend die Hand.

»Es ist ja erstmal nur ein Vorschlag«, sagte er.

Indes klang es recht lahm.

»Ich möchte dich bitten, in aller Ruhe darüber nachzudenken, bevor du eine Entscheidung triffst«, fügte Kurt Kreuzer hinzu.

Der Juniorchef stellte mit einer heftigen Bewegung seine Tasse zurück, daß es schepperte. Erregt sprang er auf.

»Schlag dir das aus dem Kopf, Vater«, rief er. »Das kommt überhaupt nicht in Frage!«

*

Johanna Kramer erwachte nach einem langen traumlosen Schlaf und fühlte sich viel besser als am Abend zuvor. So recht hatte sie sich kaum an den Schönheiten des Dorfes und an ihren Aufenthalt in St. Johann erfreuen können. Während ihres Spaziergangs am Nachmittag mußte sie immer wieder daran denken, daß dieser Urlaub eigentlich ganz anders hätte verlaufen sollen.

Zu zweit hatten sie fahren wollen, Jürgen und sie. Doch dann war von einem Tag auf den anderen alles anders gekommen.

Jürgen Berthold arbeitete in derselben Firma wie Johanna. Zuerst war es nur Sympathie, die sie füreinander empfanden, doch nachdem der Prokurist die attraktive Sekretärin mehrmals ausgeführt hatte, kam auch noch die Liebe ins Spiel. Zwar waren sie darauf bedacht, es nicht gleich an die große Glocke zu hängen, aber auf einer Betriebsfeier ließ es sich nicht mehr länger verheimlichen, daß sie ein Paar waren. Johanna machte es nichts aus, ihr war es egal, was die anderen dachten. Jürgen indes schien nicht davon begeistert. Den Grund dafür sollte sie schon bald erfahren.

Am nächsten Tag kam eine Kollegin und erzählte ihr brühwarm, daß sie und Jürgen Berthold bis vor kurzem zusammen gewesen wären und sie ihm den Laufpaß gegeben habe, weil er ein untreuer Casanova sei, der jeder Frau nachstieg.

Johanna war geschockt und wollte es nicht glauben. Doch die bittere Wahrheit ließ nicht lange auf sich warten. Am übernächsten Abend, es war ein Freitag, sagte Jürgen eine Verabredung mit ihr ab und gebrauchte dazu die eher fadenscheinige Begründung, er müsse zu seinen Eltern fahren.

Natürlich stellte sie die Frage, warum er sie nicht mitnehmen wolle. Schließlich hätten sie ja nichts zu verbergen. Aber davon wollte er nichts wissen. Daraufhin tat Johanna etwas, das sie besser unterlassen hätte. Sie postierte sich vor dem Haus, in dem Jürgen wohnte, und wartete. Vor zwanzig Minuten hatten sie noch telefoniert, jetzt, nachdem eine halbe Stunde vergangen war, kam er heraus, mit einer anderen Frau im Arm. Es war die Kollegin…

Johanna saß in ihrem Auto und kämpfte mit den Tränen. Sie sah die beiden in Jürgens Auto steigen und davonfahren. Einem ersten Impuls folgend, wollte sie hinterher. Doch dann zwang sie sich, nach Hause zu fahren.

Es wurde ein fürchterliches Wochenende!

Am Montag darauf stellte sie ihn zur Rede, und Jürgen gab zu, die beiden Tage mit seiner früheren Freundin verbracht zu haben. Er bat sie inständig um Verzeihung, doch für Johanna stand fest, daß diese Beziehung zu Ende war.

Ein kurzer Rausch von nicht mehr als vier Wochen, und zurück blieb ein bitteres Gefühl der Enttäuschung. Dabei hatten sie schon so viele Pläne gehabt, über einen gemeinsamen Urlaub gesprochen und konkret überlegt, wohin die Reise gehen sollte. Jürgen war ein begeisterter Surfer, und Johanna hätte es gern gelernt, auf einem Brett zu stehen und sich von dem Wind davontragen zu lassen. Ans Mittelmeer sollte es gehen, wo sie einen Kurs machen und den Surfschein erwerben sollte.

Statt dessen spazierte sie nun durch ein Alpendorf, ganz allein und den Kopf voller trüber Gedanken.

Zum Abendessen war sie in den Biergarten des Hotels gegangen, da es in der Pension nur Frühstück, sonst aber keine Speisen gab. Doch das Essen schmeckte ihr kaum, obwohl es sicher recht gut war. Früh kehrte Johanna in die Pension zurück und ging ins Bett. Mit einem Buch versuchte sie, sich von dem Gedanken an Jürgen Berthold abzulenken und in den Schlaf zu lesen. Aber das gelang ihr erst nach Mitternacht, doch dann glitt sie rasch hinüber.

Jetzt sprang sie aus dem Bett und öffnete den Vorhang vor dem Fenster. Strahlendblauer Himmel begrüßte sie. Johanna ging unter die Dusche, und als sie wenig später zum Frühstück kam, lachte Marion Trenker sie an.

»Guten Morgen, Frau Kramer«, sagte die Wirtin. »Haben Sie gut geschlafen?«

»Das habe ich«, nickte sie. »Ganz wunderbar sogar.«

»Das macht die gute Luft bei uns«, scherzte Marion. »Und die sorgt auch für einen gesunden Appetit. Ich habe im Garten gedeckt.«

Auf dem Rasen standen Tische und Stühle, hübsch eingedeckt. An manchen saßen schon andere Gäste und frühstückten in der warmen Morgensonne.

Johanna hatte einen Tisch für sich allein, der unter einer hohen Ulme stand. Marion Trenker erkundigte sich nach ihren Wünschen und brachte schon bald darauf den Kaffee, Brot und frische Semmeln, eine Aufschnittplatte, Honig und Marmelade. Das Ei wurde frisch gekocht, und wer wollte, konnte es auch gebraten bekommen.

»Das ist ja viel zuviel«, protestierte die Sekretärin.

»Ach was.« Marion schüttelte den Kopf. »Essen Sie nur ordentlich. Dann können Sie sich das Mittagessen sparen.«

Johanna ließ sich viel Zeit. Zwischendurch kam Andreas Trenker und begrüßte sie. Den Cousin des Geistlichen hatte sie gestern noch nicht kennengelernt. Er wünschte ihr einen schönen Aufenthalt in der Pension und gab ihr Tips, was man in St. Johann und Umgebung alles unternehmen konnte.

Darüber, was sie hier eigentlich machen wollte, hatte Johanna noch gar nicht so richtig nachgedacht, als sie den Urlaub buchte. Sie hatte das erstbeste Angebot akzeptiert, das man ihr im Reisebüro unterbreitete.

»Ich möchte einfach nur meine Ruhe haben«, hatte sie gesagt.

In Gedanken fügte sie hinzu: Und vergessen!

Nach dem ausgiebigen Frühstück wollte sie die Kirche besichtigen. Sie holte ihren Fotoapparat aus dem Zimmer und spazierte langsam zur Dorfmitte. Die Pension Edelweiß lag außerhalb St. Johanns, und sie brauchte gut zehn Minuten. Doch diesmal sah sie alles mit anderen Augen als gestern. Die hübschen Häuser mit ihren Lüftlmalereien begeisterten sie, und Johanna ließ immer wieder den Verschluß ihrer Kamera klicken, um die Fassaden zu fotografieren.

Dann stieg sie den Kiesweg zur Kirche hinauf. Sie war nicht die einzige, die an diesem Morgen hergekommen war. Im Gotteshaus befand sich gleich eine ganze Schar von Besuchern, die sich von einem Fremdenführer all die Pracht zeigen und erklären ließen.

Johanna stand erst einmal stumm da und schaute sich um. Es war wirklich eine der schönsten Kirchen, die sie jemals von innen gesehen hatte, prächtig ausgestattet und so vielfältig verziert, daß man gar nicht wußte, wohin man zuerst schauen sollte.

Nachdem die anderen Besucher wieder hinausgegangen waren, hatte die junge Frau die Kirche ganz für sich allein. Langsam ging sie wieder zu dem Gemälde zurück, auf das sie zuvor schon einen flüchtigen Blick geworfen hatte. Jetzt nahm sie sich die Zeit, es genauer zu betrachten. Es war ein Porträt des Heilands. Der Künstler hatte es »Gethsemane« genannt, wie eine Tafel daneben verriet, und es zeigte den Gottessohn am Abend vor der Kreuzigung im Gebet vertieft.

Johanna war sehr ergriffen. Die Gewißheit um das Unabänderliche seines Schicksals stand Christus mit solch einer Intensität ins Gesicht geschrieben, daß sie beinahe greifbar war.

Die Sekretärin verweilte einige Minuten vor dem Bild und wandte sich dann der Madonna zu, die einige Schritte daneben auf einem Holzsockel stand.

»Ach, Sie schauen sich unser kostbarstes Stück an«, sagte plötzlich eine Stimme hinter ihr.

Sie drehte sich um und sah Pfarrer Trenker.

»Entschuldigen S’, ich wollt’ Sie net erschrecken«, setzte er hinzu.

Johanna schüttelte den Kopf.

»Das haben Sie auch nicht«, erwiderte sie. »Ich war nur so in den Anblick der Figur versunken und habe überhaupt nicht gehört, daß jemand hereingekommen ist.«

»Und wie gefällt es Ihnen?« wollte Sebastian wissen.

»Einfach wunderbar! Man kann sich gar nicht satt sehen an all der Herrlichkeit.«

*

Stefan Kreuzer atmete tief durch. Er hatte seinen Wagen an den Straßenrand gefahren, war ausgestiegen und streckte sich. Dann drehte er sich zum Auto um, legte die Arme auf das Dach und lehnte seinen Kopf darauf.

Einen Moment verharrte er so. Als er wieder aufblickte, hatte sich die Szenerie nicht verändert. Er befand sich immer noch auf der Straße, drüben auf der anderen Seite fiel die Landschaft tief ab, und ganz hinten ragten die Berge in die Höhe.

Nichts war anders geworden, obwohl er so sehr gehofft hatte, daß alles nur ein böser Traum sein möge.

Aber diese Hoffnung hatte er schon am Morgen gehabt, als er in seinem Bett aufgewacht war. Im selben Moment erkannte er jedoch, daß das, was er am Abend zuvor mit seinem Vater besprochen hatte, kein Hirngespinst war.

Er sollte tatsächlich heiraten, um die Firma zu retten!

Nach dem ersten Schock hatte er das Arbeitszimmer verlassen und einen Spaziergang gemacht. Der Park um die elterliche Villa war groß genug, daß es seine Zeit dauerte, bis man ihn umrundet hatte, aber selbst diese Zeit reichte nicht aus, um einen klaren Gedanken zu fassen.

Später hatte er seine Mutter begrüßt, die von ihrer Bridgerunde heimgekehrt war. Isolde Kreuzer, erfuhr Stefan, wußte schon von der Angelegenheit, und die Hilfe, die er sich von ihr erhofft hatte, war unmöglich zu bekommen.

»Denk an die Firma!« hatte seine Mutter beschwörend gesagt, als sich die Diskussion nach dem Abendessen fortsetzte, und ihm damit gezeigt, daß sie auf der Seite ihres Mannes stand. »Das, was dein Vater und dein Großvater geschaffen haben, muß erhalten bleiben!«

Es war eine nicht enden wollende Auseinandersetzung, in der Stefan ganz vergebens versuchte, seinen Standpunkt klarzumachen. Schließlich hatte er es geschafft, eine Bedenkzeit von einer Woche herauszuschinden.

»Und in die Firma komme ich vorläufig nicht!« erklärte er noch mit fester Stimme, bevor er den Salon verließ, in dem die Diskussion stattgefunden hatte.

Eine Woche, dachte er schließlich, das kann eine Ewigkeit sein, aber auch ein winziger Augenblick. Es kommt eben immer auf den Standpunkt des Betrachters an.

Und für ihn war es noch weniger!

Freilich kannte er die Tochter von Harald Schönauer. Sie waren sich einige Male über den Weg gelaufen, hatten sich auch bei ein, zwei Gelegenheiten nett unterhalten. Aber Stefan war sicher, daß sie nicht die Frau war, die er heiraten wollte. Diese Frau hatte er überhaupt noch nicht gefunden, obgleich es an Bewerberinnen nicht mangelte. Der attraktive Sohn des reichen Fabrikanten wurde in seinen Kreisen als begehrter Schwiegersohn gehandelt, und wenn er auf einer Gesellschaft auftauchte, belegte ihn die Damenwelt sofort mit Beschlag.

Was nicht wunderte, wenn man ihn betrachtete. Stefan war über einsachtzig groß, hatte kurzes blondes Haar und ein sympathisches Gesicht, in dem zwei dunkle Augen dominierten. Er konnte anziehen, was er wollte. Ob im schwarzen Anzug oder in legerer Freizeitkleidung, er machte immer eine gute Figur. Daß er bisher nicht geheiratet hatte, lag schlicht und einfach daran, daß ihm die Frau noch nicht begegnet war, die sein Herz zum Singen brachte. Er war sicher, sie eines Tages zu finden. Auch wenn er in geschäftlichen Verhandlungen knallhart war, so hatte er auch eine romantische Ader, und von der Liebe träumen, das konnte er immer wieder.

Aber es mußte die echte, große Liebe, die einzigartige sein!

Stefan war sich darüber im klaren, daß er einen Ort brauchte, an dem er über alles in Ruhe nachdenken mußte. Deshalb hatte er sich entschlossen, die Tage, die ihm noch blieben, bevor er sich entscheiden mußte, für einen Kurzurlaub in den Bergen zu nutzen. In der herrlichen Natur mochte es ihm vielleicht gelingen, einen Ausweg aus diesem Dilemma zu finden.

Nach einigen Minuten stieg er wieder ein und fuhr weiter. Es war gar nicht leicht gewesen, so kurzfristig noch ein Hotelzimmer zu bekommen. Seine Sekretärin, mit der er noch am Abend telefonierte, hatte ihm nicht nur den Ort ausgesucht, sondern sich auch gleich um die Unterkunft gekümmert. In diesem St. Johann gab es überhaupt nur ein Hotel, aber dort war bereits alles auf Wochen ausgebucht. Immerhin schaffte die Frau es, für ihren Chef ein Zimmer in einer Pension zu bekommen.

Sie hatte sich dafür tausendmal entschuldigt, aber Stefan war es egal gewesen.

»Machen Sie sich deswegen keine Gedanken«, sagte er. »Immer noch besser, als wenn ich unter freiem Himmel schlafen müßte.«

Als er die Pension nach einer Viertelstunde erreichte, war er angenehm überrascht. Daß er in einer alten, schön hergerichteten Villa wohnen würde, hatte Stefan nicht geahnt.

Er hatte die Gartenpforte geöffnet und war den Plattenweg zum Haus gegangen, als dort eine Frau heraustrat.

»Grüß Gott.« Sie nickte ihm freundlich lächelnd zu. »Herr Kreuzer?«

»Ganz recht«, erwiderte er.

»Marion Trenker«, stellte sie sich vor. »Mein Mann und ich führen die Pension.«

»Sie haben aber noch nicht lange geöffnet, oder irre ich mich?« fragte Stefan, nachdem sie hineingegangen waren. »Es sieht alles noch so neu aus.«

»Stimmt. Es ist erst ein paar Monate her.«

Er lächelte.

»Und Sie stammen nicht von hier«, meinte der junge Gast. »Lassen Sie mich raten… Hamburg?«

»Stimmt wieder«, lachte Marion.

»Und was hat Sie dann hierher verschlagen, ins tiefste Bayern, wenn ich fragen darf?«

Die Pensionsinhaberin nahm einen Schlüssel vom Brett.

»Die Liebe«, antwortete sie. »Aber kennengelernt haben mein Mann und ich uns in Kanada.«

»Wirklich?«

Stefan war erstaunt.

»Das müssen Sie mir bei Gelegenheit einmal genauer erzählen«, sagte er.

»Gern. Aber jetzt zeige ich Ihnen erst einmal Ihr Zimmer, Herr Kreuzer. Wenn Sie mir vorher Ihren Autoschlüssel geben, dann bringt mein Mann gleich das Gepäck hinterher.«

Stefan wurde noch einmal überrascht, als er das Zimmer sah. Es war groß und gemütlich eingerichtet, und es gab sogar Internetanschluß. Allerdings hatte er seinen Laptop zu Hause gelassen, und das Mobiltelefon war schon seit seiner Abfahrt ausgeschaltet. Er hatte nicht die Absicht, sich mit seinen Eltern in Verbindung zu setzen, und deshalb auch seine Sekretärin gebeten, niemandem zu verraten, wo er sich aufhielt.

Andreas Trenker war ein echter Bayer. Groß und schlank, mit einem markanten Gesicht ausgestattet, und einer tiefen, sympathischen Stimme.

»So, ich hoff’, daß Sie sich bei uns wohl fühlen werden«, sagte der Cousin des Bergpfarrers, als er die Reisetasche hereingebracht hatte.

»Vielen Dank.« Stefan Kreuzer nickte. »Das werde ich ganz bestimmt.«

Er machte sich ans Auspacken, und nachdem die Sachen im Schrank verstaut waren, öffnete er die große Glastür und trat ins Freie. Jedes Zimmer verfügte über eine kleine Terrasse, sie waren nur durch ein paar hohe Kübelpflanzen voneinander getrennt. Auf ihnen standen Tisch und Stuhl, ein Sonnenschirm und eine bequeme Liege. Stefan setzte sich und schaute in den Garten, der herrlich angelegt war. Im Moment grünte und blühte alles, die alten Obstbäume hingen voller Kirschen, Zwetschgen und Äpfel.

Das ist ja wirklich ein kleines Paradies, dachte er.

Aber lange würde er nicht bleiben.

Stefan sah auf die Uhr. Er war schon in aller Frühe losgefahren, ohne ein richtiges Frühstück einzunehmen. Inzwischen war es Mittag. Auf der Fahrt zur Pension war er an dem Hotel vorübergekommen und hatte das Hinweisschild auf den Kaffee- und Biergarten gesehen. Da es in der Unterkunft nur Frühstück gab, beschloß er, einen Spaziergang zu machen und dann im »Löwen« eine Kleinigkeit zu essen.

Zuvor ging er noch einmal ins Bad, wusch sich Gesicht und Hände und fuhr sich mit dem Kamm durch das Haar. Wenig später verließ er sein Zimmer und trat hinaus auf den Flur.

Auf ein Jackett konnte er gut und gern verzichten, es war so warm geworden, daß das leichte Polohemd, kombiniert mit einer Jeans und Slippern, ausreichte. Stefan schloß die Tür ab, drehte sich um und wäre beinahe mit einer jungen Frau zusammengestoßen, die um die Ecke kam.

»Entschuldigen Sie bitte«, sagte er lächelnd und schaute sie mit seinen dunklen Augen an.

»Es ist ja nichts passiert«, entgegnete sie mit einer sanften Stimme und lächelte ebenfalls.

Ein Lächeln, bei dem es ihm ganz warm ums Herz wurde.

In Sekundenschnelle hatte er sie angeschaut, sah die schlanke Gestalt, das fein gezeichnete Gesicht mit den blauen Augen, die in einem reizvollen Kontrast zu ihren dunklen Haaren standen. Die Linien ihres Mundes waren leicht geschwungen, und wenn sie lächelte, dann zeigten sich zwei Grübchen auf ihren Wangen.

Die junge Frau hielt einen Schlüssel in der Hand, mit dem sie jetzt die Tür des Zimmers neben ihm aufschloß. Stefan wurde bewußt, daß er sie länger angesehen hatte, als es gehörig war, und er nickte ihr hastig zu.

»Dann einen schönen Tag noch«, sagte er und ging mit weichen Knien weiter.

»Ihnen auch«, hörte Stefan sie noch sagen, dann klappte die Zimmertür, und es war still.

*

Johanna war immer noch begeistert von dem, was Pfarrer Trenker ihr gezeigt hatte. Es gab so viele Schätze in seiner Kirche, daß sie vermutlich Tage gebraucht hätte, um sie alle zu entdecken, wenn der Geistliche sie ihr nicht alle gezeigt hätte.

Sebastian tat es gern. Er freute sich immer über das Interesse der Besucher, und ganz besonders, wenn es sich um junge Leute handelte.

»Und haben S’ sich schon was vorgenommen, was Sie noch unternehmen wollen?« erkundigte er sich, als er Johanna Kramer wieder hinaus begleitete.

»Ach, da gibt es ja so viele Möglichkeiten«, erwiderte sie. »Heute will ich erst einmal im Dorf bleiben, und morgen geht es vielleicht zum Baden.«

»Der Achsteinsee ist ganz besonders schön«, nickte der gute Hirte von St. Johann. »Und mit dem Bus kommen S’ ganz bequem dorthin.«

Sie reichte ihm die Hand.

»Vielen Dank für die Führung, Hochwürden«, verabschiedete sie sich.

»Schauen S’ gern mal wieder vorbei«, antwortete Sebastian.

Beschwingt ging Johann den Kiesweg hinunter. Es war wirklich ein herrlicher Sommertag, und wenn sie morgen an den See fuhr, wollte sie solange wie möglich dort bleiben.

Sie kehrte in die Pension zurück. Noch ganz beschwingt von all den Kostbarkeiten, die sie gesehen hatte, bog Johanna um die Ecke des Flures und fuhr im letzten Moment zur Seite, als der Mann gegen sie zu stoßen drohte.

Nach der kurzen Unterhaltung schloß sie rasch auf und drückte die Tür hinter sich zu. Dann lehnte sie sich dagegen und lauschte auf das Klopfen ihres Herzens.

Meine Güte, sah der gut aus!

Doch sofort rief sie sich zur Vernunft.

Hatte sie nicht gerade erst eine große Enttäuschung erlebt?

Es tat immer noch weh, wenn sie an den Mann dachte, der sie so schändlich betrogen hatte. Auf keinen Fall sollte sich so etwas wiederholen.

Johanna atmete tief durch und löste sich von der Tür. Sie ging zum Fenster und schaute hinaus. Tränen standen in ihrem hübschen Gesicht, als sie daran dachte, daß dieser Urlaub nicht so war, wie sie es sich ausgemalt hatte.

Endlich, nach einer ganzen Weile, riß sie sich von den Erinnerungen los. Einer der Gründe, warum sie sich entschieden hatte, nicht zu Hause zu bleiben und trüben Gedanken nachzuhängen, war, daß sie Jürgen Berthold vergessen wollte, und das konnte ihr nicht gelingen, wenn sie ständig an ihn dachte. Freilich war das nicht so einfach, wie sie sich das vorgestellt hatte, und wenn sie zurück war, dann würden sie sich ohnehin jeden Tag über den Weg laufen. Aber bis dahin, hoffte Johanna Kramer, würde sie so gefestigt sein, daß ihr diese Begegnungen nichts mehr ausmachten.

Das Frühstück war so reichhaltig gewesen, daß sie immer noch keinen Hunger verspürte. Aber einen Kaffee hätte sie jetzt gern getrunken. Johanna ordnete ihr Haar und verließ das Zimmer. Marion Trenker war gerade damit beschäftigt, frische Blumen in die Vasen im Flur zu stellen.

»Sehen die nicht herrlich aus?« sagte sie, als Johanna hinzukam.

Die junge Frau betrachtete verwundert die kleinen Sträuße aus Margeriten, Röschen und grünen Blättern. Marion hatte die Blumen im Garten geschnitten und zusammengebunden.

»Haben Sie Lust auf einen Kaffee?« fragte sie, als der letzte Strauß in der Vase stand. »Ich habe gerade welchen gekocht.«

»Sieht man mir das an?« lachte Johanna. »Ich wollte tatsächlich gerade zum Hotel gehen.«

»Das brauchen Sie nicht.« Die Pensionswirtin winkte ab. »Setzen Sie sich doch schon mal nach draußen.«

Johanna trat in den Garten hinaus. Jetzt, wo die anderen Gäste alle unterwegs waren, herrschte eine angenehme Stille. Sie setzte sich an einen der Tische und streckte die Beine aus. Die Sonne hatte sich hinter ein paar Wolken verkrochen.

»Hoffentlich hält das gute Wetter an«, sagte sie, als die Wirtin mit dem Kaffee und einem Teller Keksen kam.

»Bestimmt«, entgegnete Marion zuversichtlich und deutete zum Himmel. »Die paar Wolken verziehen sich schon bald wieder.«

Sie setzte sich zu Johanna und schenkte ein. Die junge Frau erzählte von ihrem Besuch in der Kirche und wie begeistert sie immer noch von dem Gotteshaus war.

Marion Trenker beobachtete sie während der Unterhaltung immer wieder nachdenklich. Irgendwas war ihr an Johanna Kramer aufgefallen. Schon gestern hatte sie darüber nachgedacht, aber ihr wollte einfach nicht einfallen, was es war.

Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen.

Natürlich, darauf hätte sie auch schon eher kommen können!

Es war die sanfte, zurückhaltende Art, die so gar nicht dem aufgesetzt fröhlichen Wesen der jungen Frau entsprach. Marion kam es so vor, als sei es nur eine Fassade, auf die sie schaute, doch dahinter verbarg sich ein empfindsames und verletztes Wesen.

Und dann die Tatsache, daß so eine attraktive Frau ganz allein in den Urlaub gefahren war…

»Sagen Sie, Frau Kramer«, fragte sie vorsichtig, »Sie sind ganz allein hier…, gibt es niemanden, der hätte mitfahren wollen?«

Im nächsten Moment bereute sie ihre Frage. Das Antlitz versteinerte sich, und in die hübschen Augen trat ein trauriger Ausdruck.

»Bitte, entschuldigen Sie«, bat Marion und legte Johanna eine Hand auf den Arm. »Ich wollte nicht neugierig sein.«

Es währte nur einen winzigen Augenblick. Dann lächelte die Sekretärin.

»Schon gut.« Sie schüttelte den Kopf und sah die Wirtin an. »Es gab jemanden…, aber…, na ja, wie sich herausgestellt hat, war er nicht der Richtige.«

Marion schenkte nach.

»Möchten Sie darüber reden?« fragte sie. »Manchmal tut es ganz gut, wenn man jemandem sein Herz ausschütten kann.«

Johanna Kramer antwortete nicht sofort; das Angebot kam zu überraschend. Andererseits gab es wirklich niemanden, mit dem sie über ihr Problem ausführlich gesprochen hatte. Abgesehen davon, daß ihre Eltern in Augsburg lebten und die Tochter nicht sehr oft sahen, hätten sie ohnehin kein Verständnis für Johannas Problem gehabt. Franz Kramer schon gar nicht, der lebte nur für seinen Fußballverein, bei dem er Jugendtrainer war, und ihrer Mutter hatte sie noch nie irgendwelche Sachen anvertrauen können.

Freilich, mit ein paar Freundinnen hatte sie schon darüber gesprochen und bei ihnen auch Trost und Zuspruch gefunden. Aber vielleicht war es doch etwas anderes, wenn ein Außenstehender einen Rat geben konnte, und Marion Trenker machte durchaus den Eindruck, als könne sie Verständnis und Mitgefühl aufbringen.

»Es ist sehr lieb, daß Sie das sagen«, nickte Johanna. »Ich glaube, ich könnte wirklich jemanden gebrauchen, der mir zuhört und mir einen Rat gibt.«

Sie schaute unsicher zur Tür.

»Aber haben Sie überhaupt Zeit?« setzte sie hinzu. »Es wartet doch sicher viel Arbeit auf Sie.«

Marion schüttelte den Kopf.

»Das hat Zeit«, sagte sie. »Außerdem habe ich noch einen Vorschlag. Wollen wir uns nicht einfach duzen? Das macht es nämlich leichter, jemandem etwas anzuvertrauen.«

Johanna freute sich über das Angebot. Sie prosteten sich mit ihren Kaffeetassen zu, und dann erzählte sie leise und langsam davon, was sich zugetragen hatte.

*

Stefan Kreuzer war mit der Wahl, die seine Sekretärin für ihn getroffen hatte, zufrieden. St. Johann gefiel ihm außerordentlich gut. Es war ein nettes, beschauliches Dorf, in dem man seine Ruhe finden konnte.

Er hatte die Pension verlassen und spazierte die Straße hinunter. Es war unglaublich, wie viele Touristen hier ihren Urlaub verbrachten. Kein Wunder, daß Hotelzimmer so schwer zu bekommen waren, wahrscheinlich mußte man schon Wochen vorher buchen.

Indes, so recht konnte er sich nicht auf das Geschehen um ihn herum konzentrieren. Eher ging er wie ein Schlafwandler mit offenen Augen durch den Ort, und auch wenn er die schönen Lüftlmalereien wahrnahm, wirklich sehen tat er sie nicht, denn mit seinen Gedanken war er ganz woanders. Die kurze Begegnung eben auf dem Flur der Pension hatte einen tiefen Eindruck bei Stefan hinterlassen. Die junge Frau hatte genau das geschafft, was keiner anderen bisher gelungen war – er hörte sein Herz sprechen.

Mein Gott, dachte er plötzlich, da kommst du her mit einem Sack voller Probleme, und anstatt dich darum zu kümmern, daß du sie löst, verliebst du dich Hals über Kopf in eine schöne Unbekannte!

Er schmunzelte über sich selbst.

So ist das Leben eben, setzte er in Gedanken hinzu, und aus der Unbekannten könnte ja ganz schnell eine Bekannte werden. Wozu wohnt man denn Tür an Tür?

Stefan riß sich zusammen und besann sich auf seine ursprüngliche Absicht, einen Kaffee zu trinken. Im Garten des Hotels herrschte großer Andrang. Die meisten Tische waren besetzt, aber er hatte Glück und durfte sich zu einem älteren Ehepaar setzen, das ohnehin bezahlen und gehen wollte. Als die Bedienung kam, bestellte er Kaffee und ein Stück Apfeltorte, die hausgemacht war und sehr lecker, wie das Ehepaar erzählt hatte.

Die Bestellung kam rasch, und Stefan lehnte sich behaglich zurück, nachdem er den wirklich herrlichen Kuchen verspeist hatte. Er beobachtete die anderen Gäste, aber immer wieder schweiften seine Gedanken zu der jungen Frau ab. Er war neugierig, ob es ihm gelingen würde, sie näher kennenzulernen. Offenbar reiste sie allein, denn schließlich bewohnte sie wie er ein Einzelzimmer in der Pension.

Allerdings mußte das nicht zwangsläufig heißen, daß sie ungebunden war. Er stellte sich vor, wie er hier mit ihr saß, vielleicht an einem lauen Abend, sie schauten sich an, dann faßten sie sich an den Händen und…

Mensch, komm zurück auf den Teppich!

Dieser Gedanke durchzuckte ihn wie ein Blitz, und da war sie wieder, die Realität. Er war nicht in Urlaub gefahren, um eine Frau kennenzulernen, sondern um zu überlegen, wie er es verhindern konnte zwangsverheiratet zu werden. Silvia Schönauer mochte noch so attraktiv sein und die Erbin eines Millionenvermögens, Stefan wollte weder sie noch das Geld. Letzteres hatte er ohnehin selbst, und die Frau, die er einmal heiraten würde, wollte er sich allein aussuchen.

Wäre da nicht das große Problem, das Geld hieß!

Seit sein Vater ihm von dem Kredit Schönauers erzählt hatte, grübelte Stefan darüber nach, wieso es so weit hatte kommen können. Immer wieder ärgerte er sich darüber, sich so wenig um diese Dinge gekümmert zu haben. Aber das würde er ändern, nahm er sich vor. Einmal abgesehen von dem Problem mit der Hochzeit, die finanziellen Dinge mußten sich doch regeln lassen. Immerhin stand die Firma Kreuzer in dem Ruf, ein solides Unternehmen zu sein. Jede Bank, besonders die, mit der sie seit Jahrzehnten zusammenarbeiteten, würde ihnen einen größeren Kreditrahmen einräumen.

Warum um alles in der Welt hatte sich sein Vater nur mit diesem Schönauer eingelassen?

Je mehr er darüber nachdachte, um so klarer wurde Stefan, daß er, um Antwort auf alle seine Fragen zu bekommen, mit seinem Vater reden mußte. Er wollte mehr Einblick in die internen Dinge der Firma nehmen und selbst Entscheidungen treffen. Aber solche, die nicht den Fortbestand des Familienunternehmens gefährdeten.

Seufzend trank er seinen Kaffee aus, zahlte und verließ den Garten. Nach ihm drängten schon die nächsten Gäste an den freigewordenen Tisch. Stefan stand einen Moment lang auf der Straße, schaute zu der Kirche hinüber und ging dann langsam zur Pension zurück. Sicher würde er sich bei Gelegenheit das Gotteshaus einmal ansehen. Aber jetzt mußte er erst einmal überlegen, mit welchen Argumenten er seinen Vater davon abbringen konnte, auf dieser unsinnigen Hochzeit zu bestehen.

Als er durch die Pforte trat und um das Haus herumging, sah er sie im Garten sitzen. Sein Herz klopfte schneller, und sein Mund wurde ganz trocken.

»Ach, Herr Kreuzer«, sagte Marion Trenker, die mit der Unbekannten am Tisch saß, »möchten Sie vielleicht auch einen Kaffee mittrinken?«

Er nickte automatisch, auch wenn er gerade erst welchen getrunken hatte.

Diese Gelegenheit, die Bekanntschaft der Zimmernachbarin zu machen, würde er sich gewiß nicht entgehen lassen!

»Darf ich bekannt machen«, bemerkte die Wirtin, »Herr Kreuzer. Er wohnt in der Zwölf.«

Sie deutete auf die junge Frau.

»Das ist Frau Kramer«, stellte sie sie ihm vor.

»Zimmer Nummer elf.« Er nickte schmunzelnd. »Wir sind uns vorhin begegnet. Entschuldigen Sie noch einmal meine Ungeschicklichkeit.«

Johanna lächelte. Als sie ihn um die Ecke hatte kommen sehen, schoß es ihr wie ein heißer Blutstrom direkt zum Herzen. Doch sie rief sich gleich wieder zur Ordnung.

Kein Flirt!

Marion war hineingegangen, um eine Tasse zu holen. Stefan setzte sich Johanna gegenüber.

»Haben Sie sich ein wenig umgesehen?« erkundigte sie sich.

Er nickte.

»Ja, es ist nett hier, nicht wahr?«

»Besonders die Kirche«, erwiderte die Sekretärin. »Die sollten Sie sich unbedingt anschauen. Ich bin ganz begeistert.«

Stefan sah sie einen Moment an, dann lächelte er.

»Würden Sie mir die Kirche zeigen?« fragte er dann.

»Ich…?« entgegnete Johanna und spürte ein seltsames flaues Gefühl im Magen. »Ja, gern.«

»Fein«, freute sich Stefan und strahlte sie an.

*

Die junge Frau wand sich aus den Armen des jungen Mannes, die sie umschlungen hielten.

»Was ist?« fragte Martin Herweg irritiert.

Silvia Schönauer zuckte die Schultern.

»Nichts«, antwortete sie.

»Komm, mach mir nichts vor.« Er schüttelte den Kopf und sah sie durchdringend an. »Du hast doch was. Ich merke es schon die ganze Zeit. Was ist los?«

Die junge Frau richtete sich seufzend auf und griff nach dem Weinglas, das auf dem Wohnzimmertisch stand. Sie trank einen Schluck und stellte das Glas zurück.

Martin, in dessen Wohnung sie sich befanden, strich ihr über den Arm. Es war halbdunkel in dem Raum, aus der Anlage erklang leise Musik, neben der Weinflasche und den Gläsern stand eine Silberplatte auf dem Tisch, auf der Käsehäppchen angerichtet waren.

»Willst du es mir nicht sagen?« hakte er nach. »Ich sehe dir doch an, daß etwas nicht in Ordnung ist.«

Sie drehte den Kopf zu ihm und sah ihn mit ihren blauen Augen an.

»Du hast recht«, nickte Silvia. »Ich hatte heute mittag einen heftigen Streit mit Vater.«

»Und worum ging es dabei?« wollte er wissen.

Sie seufzte erneut und kuschelte sich wieder in seine Arme.

»Um eine völlig blödsinnige Idee, die er hat«, sagte sie. »Weißt du, was mein Vater von mir verlangt? Ich soll Stefan Kreuzer heiraten.«

Martin Herweg ruckte hoch.

»Was?« rief er völlig konsterniert.

»Du hast richtig gehört«, fuhr Silvia fort und erzählte, wie ihr Vater sie mittags in sein Büro gerufen hatte.

*

»Eigentlich wollte ich schon heute morgen mit dir darüber sprechen«, begann der Chef eines Unternehmens, das im Jahr mehrere Millionen Euro umsetzte.

Harald Schönauer saß hinter seinem Schreibtisch in dem elegant eingerichteten Büro. Es lag im achten Stock eines Hochhauses, und die Firma hatte gleich die ganze Ebene angemietet. Zwölf Angestellte sorgten dafür, daß der Handel mit den billigen Kugelschreibern, Füllfederhaltern und Buntstiften funktionierte. Schönauer war nicht der erste, der auf die Idee gekommen war, im Ausland produzieren zu lassen, aber er verdiente mehr damit als andere Unternehmen. Seine Ware kostete im Vergleich zu anderen Gütern einen lächerlichen Preis. Er war so gering, daß die Stifte, selbst wenn sie unter einem Euro kosteten, immer noch einen Gewinn von dreihundert Prozent einbrachten.

»Was ist denn los?« erkundigte sich Silvia.

Sie war eine attraktive Frau mit einer Figur, die Männer zum Träumen brachte. Ihr langes Haar fiel sanft auf die Schultern, die dunklen Augen zogen die Blicke anderer magisch an.

»Setz dich erstmal«, verlangte ihr Vater und deutete auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. »Möchtest du einen Kaffee?«

Die Tochter schüttelte den Kopf.

»Danke. Ich habe vorhin in der Besprechung schon welchen getrunken. Also, schieß los.«

»Du kennst doch Stefan Kreuzer?« begann Schönauer.

»Ja«, bestätigte Silvia.

»Wie gut kennst du ihn?« wollte ihr Vater wissen.

Sie zuckte die Schultern.

»Wir sind uns einige Male begegnet. Aber warum fragst du?«

Harald Schönauer schürzte die Lippen.

»Weißt du, daß der alte Kreuzer bei mir Schulden hat?« wich er einer direkten Antwort aus.

»Wie bitte?«

Silvia schaute konsterniert.

»Kurt Kreuzer hat…«

Sie brach ab.

»Du willst mich auf den Arm nehmen, oder?« setzte sie dann hinzu.

»Keineswegs.« Ihr Vater schüttelte den Kopf. »Vor einem halben Jahr habe ich ihm einen Kredit gewährt. Wie er sagte, brauchte er das Geld, um irgendwelche Geschäfte abzudecken. Aber das spielt ja auch keine Rolle. Jedenfalls rief er vor einem Monat an und wollte sich mit mir verabreden. Wir trafen uns im ›Fürstenhof‹ zum Mittagessen, und dabei ließ er durchblicken, daß er nicht in der Lage sein würde, das Geld fristgemäß zurückzuzahlen. Er bat mich um einen Aufschub. Natürlich habe ich ihm den gewährt, allerdings mußte er mir einen Wechsel unterschreiben.«

Silvia nickte. Sie kannte die Ambitionen ihres Vaters, in die »Oberliga« der Schreibgerätehersteller aufsteigen zu wollen.

»Raffiniert«, sagte sie. »Und damit hast du ihn in der Hand.«

»So ist es«, grinste Harald Schönauer. »Wenn er vor vier Wochen nicht in der Lage war zu zahlen, dann weiß ich nicht, wie er es in dieser kurzen Zeit schaffen will. Jedenfalls ist in der nächsten Woche der Wechsel fällig, und er hat schon angedeutet, daß es da gewisse Schwierigkeiten geben könnte.«

»Und was passiert dann?«

Ihr Vater hob die Hände und ließ sie wieder sinken.

»Das weißt du doch. Entweder das Geld ist da oder der Wechsel platzt, und das ist für einen Mann in Kurt Kreuzers Position der Todesstoß.«

»Aber was hat das mit seinem Sohn zu tun?« fragte Silvia Schönauer.

»Ich habe Kreuzer vorgeschlagen, die Sache mit dem Wechsel aus der Welt zu schaffen, indem wir unsere beiden Unternehmen vereinigen«, ließ Harald Schönauer die Katze aus dem Sack.

»Mensch, das ist ja genau das, wovon du immer geträumt hast«, freute sich seine Tochter.

»Gratuliere, Papa.«

»Das ist aber noch nicht alles«, setzte er hinzu. »Um die ganze Sache abzurunden und damit Kreuzer keinen Rückzieher macht, habe ich ihm vorgeschlagen, das Ganze auch noch familiär zu verbinden…«

Der Blick, mit dem ihr Vater sie ansah, ließ Silvia stutzen. Doch dann ging ihr ein Licht auf.

»Du… du meinst, ich soll Stefan Kreuzer heiraten?« platzte sie lachend heraus. »Wie kommst du denn auf so einen Gedanken?«

»Na, überlege doch mal. Ihr beide seid einfach das ideale Paar, um das Unternehmen weiterzuführen, wenn wir Alten uns einmal zur Ruhe setzen.«

Bisher hatte sie es noch für einen dummen Scherz gehalten, aber nun sah die junge Frau, daß der Vorschlag absolut ernst gemeint war.

»Das kommt überhaupt nicht in Frage!« rief sie und sprang ärgerlich auf. »Was denkst du dir eigentlich?«

Harald Schönauer seufzte tief auf. Er hatte geahnt, daß Silvia nicht sofort von seiner Idee begeistert sein würde. Sie war wie ihre verstorbene Mutter, impulsiv, aber auch empfindsam. An ihrer Miene konnte er erkennen, daß Silvia nicht so leicht von der Notwendigkeit dieser Heirat überzeugt werden konnte.

»Denk erstmal in aller Ruhe darüber nach«, sagte er einlenkend.

»Da brauche ich nicht drüber nachzudenken«, fauchte sie zurück und verließ das Büro.

Auf dem Gang holte sie tief Luft. Es war weniger die Absicht ihres Vaters, sie zu verheiraten, die sie so ärgerte. Väter träumten wahrscheinlich immer noch davon, für ihre Töchter den Mann auszusuchen. Vielmehr war es die Art, wie er sie vor vollendete Tatsachen gestellt hatte.

Aber das konnte er nicht mit ihr machen!

Abgesehen davon, daß sie Stefan Kreuzer zwar sympathisch fand, aber mehr nicht, gab es längst einen anderen Mann in ihrem Leben.

Martin Herweg, ein Angestellter ihres Vaters…

*

»Und nun?« fragte Martin, nachdem er die Geschichte gehört hatte.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Silvia.

»Wir sollten mit Stefan Kreuzer reden«, schlug Martin schließlich vor. »Wer weiß, was er von der ganzen Sache hält.«

»Daran habe ich auch schon gedacht«, erwiderte die junge Frau. »Deshalb habe ich ihn anrufen wollen, aber in seinem Büro sagte man mir, daß er verreist sei und erst in der nächsten Woche zurückerwartet würde.«

»Und wohin ist er?«

Silvia zuckte die Schultern.

»Das wollte seine Sekretärin mir nicht sagen.«

Martin holte tief Luft. Dann stand er auf und wanderte im Wohnzimmer hin und her.

»Ich kriege es raus!« sagte er. »Irgendwie erfahre ich, wo Stefan Kreuzer steckt, und dann werde ich zu ihm fahren, und wenn’s am Ende der Welt sein sollte!«

*

Nach dem Kaffeetrinken gingen sie zur Kirche hinüber. Stefan schaute Johanna immer wieder bewundernd an, wenn er glaubte, daß sie es nicht bemerkte.

Doch da hatte er sich getäuscht. Die hübsche junge Frau sah sehr wohl die Blicke, mit denen er sie ansah, und sie fragte sich nicht, was sie davon halten sollte.

Das wußte sie nämlich sehr genau!

Sie atmete tief durch, während sie den Kiesweg hinaufgingen. Indes war es nicht die Anstrengung des Gehens, sondern die Tatsache, daß Johanna spürte, wie sie dabei war, ihre Vorsätze einfach über Bord zu werfen. Schon wie Stefan sie bei ihrem Beinahezusammenstoß angesehen hatte, war ihr durch Mark und Bein gefahren.

Im Garten der Pension Edelweiß hatten sie sich wunderbar unterhalten. Marion Trenker verabschiedete sich schon bald mit dem Hinweis, es warte noch Büroarbeit auf sie, und die beiden jungen Leute blieben allein zurück.

Die Unterhaltung blieb weiterhin in Fluß. Johanna erzählte von ihrer Arbeit in der Spielzeugfabrik, und Stefan erwähnte, in welcher Branche er arbeitete. Allerdings ohne seine Position zu nennen. Das hielt er immer so, wenn er jemanden kennenlernte.

»Wie lange bleiben Sie?« erkundigte er sich.

»Zwei Wochen.«

»Schön.« Er nickte. »Ich kann leider nur eine bleiben. Aber die möchte ich wirklich auskosten. Ich habe in einem der Prospekte gelesen, daß man hier herrlich reiten kann.«

»Oje, das ist nichts für mich«, lachte Johanna und erzählte, daß sie einmal als kleines Kind von ihrem Vater auf ein Pferd gesetzt worden war, das sie prompt abgeworfen hatte.

»Man muß seine Angst überwinden«, behauptete Stefan. »Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, daß es ein Pferd gibt, das Sie abwirft…«

Johanna sah das Lächeln, das seine Worte begleitete, und spürte, wie sie vor Verlegenheit rot wurde.

Stefan schien es nicht zu bemerken oder er sah galant darüber hinweg. Jedenfalls beugte er sich vor und sah sie fragend an.

»Würden Sie mir die Freude machen, morgen zum Reiterhof mitzukommen?«

Johanna erschrak. Er schien es tatsächlich ernst zu meinen.

»Und mich auf ein Pferd setzen?« fragte sie entsetzt zurück.

»Natürlich«, nickte er.

»Nie im Leben!« rief sie und hob abwehrend die Hände. »Das werde ich niemals tun.«

Jetzt schaute er sie bittend an.

»Auch nicht, wenn ich Sie ganz lieb darum bitte, Johanna?«

Sie registrierte, daß er sie zum ersten Mal beim Vornamen nannte, und ein herrliches Gefühl der Vertrautheit durchfuhr sie.

Dennoch schüttelte die Sekretärin den Kopf.

»Ich habe auch gar keine Zeit«, meinte sie. »Morgen früh will ich nämlich zum Baden fahren.«

»Och, da komm ich mit«, sagte er einfach. »Und dann geht’s hinterher zum Reiten.«

Lachend gab sie sich geschlagen. Daß er mitkommen wollte, freute sie, ob sie jedoch tatsächlich ein Pferd besteigen würde, das stand noch in den Sternen.

In der Kirche blieb Stefan an der Tür stehen und schaute sich überrascht um. Es war eine einzige Pracht, die er sah. Die herrlichen Glasfenster zeigten Szenen aus der Bibel, Heiligenfiguren, die teilweise mit Blattgold belegt waren, blitzten im Schein der hereinfallenden Sonne, und überhaupt waren Gold, Rot und Blau die vorherrschenden Farben – die der Könige.

»So etwas Schönes habe ich noch nie gesehen«, flüsterte er. »Dabei gibt es bei uns auch wunderschöne Kirchen. Aber diese hier übertrifft sie alle.«

Langsam schritten sie durch den Mittelgang.

Johanna freute sich, daß gerade jetzt außer ihnen keine anderen Besucher da waren. So fühlte sie sich auf eine ganz wunderbarer Art mit Stefan verbunden, als gehörte das Gotteshaus ihnen allein.

Herrlich fand sie es, ihm all das zeigen zu können, was sie zuvor von Pfarrer Trenker gezeigt bekommen hatte. Stefan staunte über das, was Johanna alles von der Kirche wußte, und schmunzelnd klärte sie ihn auf.

»Trenker«, sagte er nachdenklich, »ist der mit unseren Wirtsleuten verwandt?«

»Andreas Trenker ist sein Cousin«, erklärte Johanna.

Sie deutete auf das Gemälde, das sie schon so bewundert hatte, und auch Stefan verweilte einen Moment in stiller Andacht davor. Dann erzählte sie ihm von der Madonnenstatue, die vor Jahren einmal das Opfer eines Kirchenraubes geworden war und die Hochwürden, zusammen mit seinem Bruder, aus den Händen der Diebe befreit hatte.

»Das muß ja ein interessanter Mann sein«, sagte Stefan. »Pfarrer und Kriminalist, eine tolle Mischung.«

»Ich glaube nicht, daß die Kriminalistik eine große Rolle für ihn spielte«, entgegnete Johanna. »Marion hat mir nämlich von seiner großen Leidenschaft, dem Wandern und Bergsteigen erzählt. Das macht Hochwürden schon seit vielen Jahren. Sogar das Studium hat er sich mit der Arbeit als Bergführer verdient.«

Ihr Begleiter nickte.

»Um so mehr ein Grund, ihn kennenzulernen«, sagte er. »Ich würde nämlich furchtbar gern eine Bergtour machen, und wenn man dann so einen kompetenten Führer hat, ist es gewiß ein doppelter Genuß.«

Er sah sie an.

»Hättest du auch Lust dazu?« fragte er und zuckte zusammen, als er bemerkte, daß er Johanna geduzt hatte. »Entschuldigung…«

»Macht doch nichts«, antwortete sie. »Ich finde es in Ordnung, wenn wir uns duzen.«

»Prima«, lachte er, »dann bleiben wir dabei.«

*

»Hoffentlich macht der Junge keine Dummheiten«, sagte Kurt Kreuzer besorgt.

Er saß zusammen mit seiner Frau auf der Terrasse der Villa. Das Hausmädchen hatte Kaffee und Kuchen serviert, aber so recht wollte es ihm nicht schmecken.

»Stefan weiß, was von ihm erwartet wird«, erwiderte Isolde Kreuzer. »Er wird nichts tun, was die Firma gefährden würde.«

Ihr Mann seufzte. Seit Wochen hatte er sich schon mit dem Gedanken, dem Salon reinen Wein einschenken zu müssen, dahingeschleppt. Ihm war klar, daß er es tun mußte, aber irgendwie hatte er immer noch auf ein Wunder gehofft, das ihm das fehlende Geld noch einbringen würde. Inzwischen schalt er sich selbst einen Narren, sich überhaupt an Harald Schönauer gewandt zu haben. Aber das Schlimmste war, daß dieser ihm einen Wechsel abgerungen hatte.

Den zu unterschreiben, war ein Fehler, den ein Geschäftsmann niemals begehen sollte. Konnte er ihn nicht einlösen, würde der Wechsel unweigerlich zu Protest gehen, und Kurt Kreuzer war seine Reputation für alle Zeiten los.

»Wo er wohl stecken mag«, sagte Isolde nachdenklich.

Ihr Mann horchte auf. Trotz ihrer Zuversicht, Stefan würde schon keine Dummheiten machen, klang sie doch besorgt.

»Ich habe Frau Trautmann gefragt«, antwortete er. »Angeblich weiß sie es nicht. Stefan, erklärte sie, habe sie angerufen und gesagt, daß er bis zur nächsten Woche nicht in die Firma kommen und auch nicht erreichbar sein würde.«

Isolde Kreuzer trank einen Schluck Kaffee, setzte die Tasse ab und schüttelte den Kopf.

»Das glaube ich nicht«, sagte sie. »Stefan muß doch wenigstens einem Menschen gesagt haben, wohin er will. Ich verstehe diese Geheimniskrämerei von ihm gar nicht.«

»Du mußt ihn verstehen«, erwiderte Kurt. »Ich habe den Jungen da mit etwas überfallen, das er erst einmal verdauen muß. Wahrscheinlich hätte ich in seiner Situation nicht anders gehandelt.«

Er sah auf die Uhr und erhob sich.

»Ich muß noch mal ins Büro«, erklärte er, beugte sich zu seiner Frau und gab ihr einen Kuß.

»Komm aber nicht zu spät nach Hause«, rief sie ihm hinterher. »Du weißt, daß wir bei den Reuters eingeladen sind.«

»Ich denke dran«, antwortete er und ging ins Haus.

Er nahm sein Jackett von der Garderobe und zog die Autoschlüssel aus der Tasche. Während er vom Grundstück fuhr, dachte er wieder an das Dilemma, in das er sich hineinmanövriert hatte.

Nicht nur sich, den Sohn und die Firma gleich mit dazu!

Hätte es damals geklappt mit dem USA-Geschäft, wäre alles gar kein Problem gewesen. Das Geld wäre hundertfach zurückgeflossen.

Doch leider…

Und jetzt war eine weitere Sorge dazugekommen. Stefans Vater war nämlich keineswegs der Meinung, daß der Sohn sich so verhalten würde, wie es erwartet wurde. Er kannte ihn besser als Isolde und wußte, daß Stefan durchaus seinen eigenen Kopf hatte, was seine privaten Dinge betraf. Als Harald Schönauer ihm seinerzeit den Vorschlag machte, seine Tochter mit Kurts Sohn zu verheiraten, hatte Kreuzer im ersten Moment gelacht.

»Das wird nie was«, hatte er gesagt.

Allerdings war er da noch sicher gewesen, das Geld aufzutreiben und Schönauer wieder los zu werden. Dummerweise hatte er einen weiteren Fehler gemacht, von dem weder Isolde noch Stefan etwas wußten. Als sich abzeichnete, daß das Amerikageschäft platzen würde, hatte Kurt Kreuzer bei seiner Bank ein Darlehen aufgenommen und mit dem Geld in einen asiatischen Fond investiert. Er hoffte, mit dem Gewinn den Verlust wieder ausgleichen zu können. Leider mußte er feststellen, daß er sich verspekuliert hatte. Ein Börsenkrach in Shanghai war der Auslöser gewesen, der wie ein fallender Dominostein weitere Banken in Südostasien mit sich riß. Die Aktien und Fonds gingen rasant in den Keller, und Kreuzer konnte froh sein, wenn er eines Tages wenigstens seine Einlage wiederbekam.

Doch wann das sein würde, das stand in den Sternen!

Diese Pleite war der wahre Grund, warum er nicht noch einmal mit seiner Hausbank sprach, bei der schon sein Vater Kunde gewesen war. Der Kreditrahmen war eindeutig erschöpft, und keine Bank auf der Welt würde seinem Unternehmen noch ein weiteres Darlehen gewähren.

Aus diesem Grund mußte er wissen, wo sich Stefan aufhielt. Kurt Kreuzer wußte nicht, wie er auf den Gedanken gekommen war, aber er hatte eine fürchterliche Angst, sein Sohn könne sich gegen die Hochzeit entscheiden, und darum mußte er mit ihm sprechen. Ihn eindringlich auf die Konsequenzen hinweisen, die eine Ablehnung nach sich ziehen würde.

Kein Geld, Wechselprotest, die Blamage…

O Gott, er durfte gar nicht daran denken, sich nicht ausmalen, was das für alle bedeutete.

In der Firma angekommen, ging Kurt Kreuzer in das Büro seines Sohnes. Christel Trautmann, Stefans Sekretärin, eine vierzigjährige Brünette, die seit drei Jahren hier arbeitete, sah den Seniorchef überrascht an. Es geschah nicht sehr oft, daß sie ihn hier drinnen zu Gesicht bekam. Er mischte sich nur sehr selten in die Arbeit seines Sohnes ein.

Indes ahnte sie, warum er gekommen war.

Kurt kam auch gleich zur Sache.

»Hören Sie, Frau Trautmann, ich muß unbedingt meinen Sohn erreichen«, sagte er in einem dringlichen Tonfall. »Haben Sie wirklich keine Ahnung, wo er steckt?«

Die Sekretärin lief rot an. Natürlich war es ihr peinlich, den obersten Chef anlügen zu müssen.

»Ich sagte doch schon, Herr Direktor…«, begann sie.

Doch er schnitt ihr mit einer Handbewegung das Wort ab.

»Lassen Sie’s gut sein.« Er schüttelte den Kopf. »Überlegen Sie es sich besser, ob es sich wirklich lohnt, mich anzulügen. Stefan muß jemandem gesagt haben, was er vorhat. Ich habe schon in seinem Freundes- und Bekanntenkreis herumtelefoniert. Aber von denen weiß niemand was, also bleiben nur Sie übrig.«

Er schaute sie eindringlich an.

»Verstehen Sie doch, Frau Trautmann«, setzte er hinzu. »Es geht um die Firma. Mit Ihrem Schweigen gefährden Sie nicht nur unsere Existenz, sondern auch Ihre eigene.«

Christel Trautmann schluckte.

Daß es so stand, hatte sie nicht geahnt. Indes war ihr schon bewußt gewesen, daß da etwas im Busch war. Es war noch nie vorgekommen, daß der Junior so Hals über Kopf verschwunden war und niemand etwas über seinen Verbleib wissen sollte.

»Also gut«, sagte sie. »Aber ich möchte hinterher nicht als Prügelknabe dastehen…«

»Keine Angst«, beruhigte Kurt Kreuzer sie, »ich werde mich vor Sie stellen, wenn mein Sohn irgend etwas sagen sollte. Also bitte, geben Sie mir seine gegenwärtige Anschrift.«

Fünf Minuten später fuhr er gutgelaunt nach Hause. In der rechten Außentasche seines Jacketts steckte der Zettel mit der Anschrift einer Pension.

*

Johanna war aufgeregt wie ein Kind am Weihnachtsabend, als sie zum Frühstück ging. Sie hatte sich besonders hübsch angezogen und das Haar mit einem bunten Band im Nacken zusammengebunden.

»Du strahlst ja so«, meinte Marion Trenker augenzwinkernd, als sie sich im Flur begegneten. »Hattest du einen schönen Abend?«

Johanna nickte.

Ja, es war wirklich ein sehr schöner Abend gewesen, den sie und Stefan Kreuzer im Biergarten des Hotels verbracht hatten. Nach der Besichtigung der Kirche überlegten sie, ob sie in die Pension zurückkehren oder einen Spaziergang machen sollten, und entschieden sich dafür, ein Stück aus dem Dorf hinauszuwandern. Beinahe eine ganze Stunde waren sie gegangen und hatten sich die Gegend angeschaut. Dann setzten sie sich auf eine Bank am Wegesrand und unterhielten sich herrlich. Johanna hatte sich schon lange nicht mehr so glücklich gefühlt. Dabei spielte es überhaupt keine Rolle, daß sie sich im Stillen fragte, ob sie vielleicht in Stefan Kreuzer verliebt war. Nein, es war einfach die ganze Atmosphäre, die sie ihren Kummer vergessen ließ. Es war schön, neben ihm zu sitzen und zu plaudern, seiner angenehmen Stimme zu lauschen und sein lachendes Gesicht zu beobachten.

Aber sie ahnte nicht, wie es wirklich in ihm aussah. Auch wenn er erzählte oder einen Witz machte, in seinen Gedanken war Stefan bei dem, was sein Vater von ihm verlangte. Und er suchte verzweifelt nach einem Ausweg.

Natürlich wollte er die Firma nicht gefährden, aber durfte man dieses Opfer von ihm verlangen?

Und dann saß er hier auch noch mit einem bezaubernden Madl, das ihn mehr ansprach, als es je eine Frau zuvor getan hatte!

»Wie ist eigentlich das Essen im Gasthof?« erkundigte er sich.

Zum einen, weil er sich von den trüben Gedanken ablenken wollte, aber auch, weil er tatsächlich Hunger verspürte.

»Sehr gut«, antwortete Johanna.

»Prima, dann lade ich dich jetzt ein.«

Und so verbrachten sie den ganzen Abend unter einem wunderschönen Himmel. Das Essen war wirklich ganz ausgezeichnet, das Bier schmeckte lecker, und ihre Stimmung konnte nicht besser sein. Es war schon sehr spät, als sie beschwingt zur Pension zurückgingen. Vor ihren Zimmern verabschiedeten sie sich.

»Also, bis morgen früh«, sagte Johanna.

»Schlaf gut«, erwiderte Stefan. »Ich freue mich schon. Erst fahren wir zum Baden an den See und nachmittags zum Reiterhof.«

Dabei zwinkerte er ihr schelmisch zu.

»Er sitzt schon draußen«, meinte Marion und lächelte, als sie sah, daß die Sekretärin unwillkürlich verlegen wurde.

Johanna ging hinaus. Stefan erhob sich von seinem Stuhl, als er sie sah, und begrüßte sie mit einem warmen Lächeln.

»Guten Morgen. Hast du gut geschlafen?« erkundigte er sich.

»Danke«, nickte sie und setzte sich. »Du auch?«

»Wie ein Bär in seiner Höhle«, grinste er und nahm wieder Platz. »Und jetzt habe ich Hunger wie Meister Pelz, wenn er aus dem Winterschlaf erwacht.«

»Dann laß dich mal überraschen«, antwortete Johanna.

Marion brachte das Frühstück, und Stefan gingen tatsächlich die Augen über.

»Bleibt es bei deinem Plan, an den Achsteinsee zu fahren?« fragte die Wirtin.

Johanna nickte.

»Wir fahren zusammen«, erklärte sie.

»Dann bringe ich euch nachher noch Papier«, fuhr Marion fort. »Macht euch Brote, die ihr mitnehmt.«

»Das ist aber lieb«, sagte Stefan.

Marion lächelte.

»Das gehört zum Service«, erklärte sie. »Wir wollen, daß unsere Gäste zufrieden sind.«

»Guten Morgen allerseits«, ließ sich eine Stimme vernehmen. »Ich wünsche einen guten Appetit.«

Es war Pfarrer Trenker, der in den Garten gekommen war. Er nickte grüßend zu allen Tischen. Einige der Pensionsgäste kannte er. Sie wohnten schon länger hier und kamen regelmäßig zur Messe in die Kirche.

»Grüß dich, Sebastian«, sagte Marion und umarmte ihn. »Magst einen Kaffee mittrinken?«

»Dank’ schön.« Der gute Hirte von St. Johann schüttelte den Kopf. »Ich hab’ grad gefrühstückt. Ich bin eigentlich nur mal hergekommen, um zu schauen, wie’s euch so geht.«

Er schaute Johanna an.

»Und wie gefällt’s Ihnen?«

»Prima«, antwortete die Sekretärin. »Es ist wunderschön hier, aber das hab’ ich Ihnen ja schon gesagt. Gestern war ich übrigens noch mal in der Kirche und habe dem Herrn Kreuzer hier alles gezeigt.«

»Dann hab’ ich mich also doch net getäuscht.« Sebastian nickte. »Ich war net ganz sicher, als ich aus dem Fenster geschaut hab’, ob Sie’s wirklich sind.«

Er reichte Stefan die Hand, und der junge Mann stellte sich ihm vor.

»Ich habe gehört, daß Sie öfters mal eine Bergtour unternehmen«, sagte er. »Dürfte man Sie dabei mal begleiten?«

»Aber freilich«, erwiderte der Bergpfarrer. »Ich freu’ mich immer, wenn ich jemandem die Schönheiten meiner Heimat zeigen kann. Kommen S’ doch morgen nachmittag zum Kaffee ins Pfarrhaus, dann können wir einen Termin machen.«

»Vielen Dank. Das ist sehr nett«, freute sich Stefan und sah Johanna an. »Du kommst doch mit?«

»Freilich kommt sie mit«, schmunzelte der Geistliche.

Marion hatte ihm gestern am Telefon anvertraut, warum Johanna Kramer in die Stille des Bergdorfes geflüchtet war. Um so mehr freute er sich für sie, daß sie so einen sympathischen jungen Mann kennengelernt hatte.

»Oder sollte ich mich da täuschen?« hakte er nach. »Sie werden staunen, wie schön es da droben ist.«

»Das glaube ich gern«, antwortete sie. »Und natürlich komme ich mit auf Bergtour.«

*

»Du meine Güte, ist das voll hier!« sagte Stefan, als er auf den Parkplatz einbog. »Dabei ist es noch nicht einmal elf.«

Er suchte und fand eine Lücke, in die sein Auto paßte. Sie nahmen ihre Badesachen und den Korb mit dem Proviant aus dem Kofferraum und gingen zum Eingang.

Der Achsteinsee lag vor einer zauberhaften Bergkulisse. Sein Wasser war tiefblau und bildete einen reizvollen Kontrast zum strahlenden Himmel, an dem sich kein Wölkchen zeigte. Der See war ein beliebtes Ausflugsziel für Einheimische und Touristen. Es gab einen Campingplatz, auf dem man zelten oder seinen Wohnwagen abstellen konnte, nicht weit entfernt stand ein Hotel, und in den umliegenden Häusern wurden Zimmer und Ferienwohnungen vermietet. Die Uferpromenade war von zahlreichen kleinen Geschäften und Lokalen gesäumt, Cafés und Eisdielen lockten zum Verweilen.

Auf der großen Liegewiese hatten schon zahlreiche Badehungrige ihre Decken und Handtücher ausgebreitet, aber Johanna und Stefan fanden einen Platz in der Nähe eines hohen Schilfmattenzaunes, der die Wiese zum Parkplatz hin abgrenzte.

Stefan schaute bewundernd auf Johannas Figur, als sie aus der Umkleidekabine kam. Sie trug einen gelben Badeanzug mit roten Streifen, den sie noch kurz vor Urlaubsantritt gekauft hatte.

»Bis zur Insel?« schlug er vor.

Sie nickte und lief los. Das Wasser war nicht so kühl, wie man es von einem Bergsee erwartet hätte. Aber es erfrischte herrlich. Nachdem sie sich einen Weg durch den Nichtschwimmerbereich gebahnt hatten, schwammen sie zu der künstlichen Insel. Es waren gut fünfzig Meter, die sie zurücklegen mußten.

»Es ist himmlisch!« rief Johanna begeistert, als sie sich hinaufgezogen hatte und neben Stefan saß.

»Ja.« Er nickte. »Ich bin froh, daß wir hergefahren sind.«

Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander und schauten auf das Wasser. Johanna überlegte, ob sie ihm die Frage stellen durfte, die ihr schon seit gestern auf der Zunge lag.

Zu gern hätte sie gewußt, warum Stefan Kreuzer allein im Urlaub war.

Gab es wirklich keine Frau, die ihn hätte begleiten wollen?

So manches hatten sie sich erzählt, aber über dieses Thema hatten sie nicht gesprochen. Johanna konnte sich nicht vorstellen, daß so ein gutaussehender Mann keine Freundin haben sollte. Aber irgendwie scheute sie davor, ihn zu fragen.

Indes mußte er ähnliche Gedanken gehabt haben, denn plötzlich wandte er sich ihr zu und schaute sie nachdenklich an.

»Sag mal, wie kommt es eigentlich, daß du ganz allein hier bist?« fragte er.

Johanna zuckte die Schultern.

»Weil es niemanden gibt, der hätte mitfahren wollen«, antwortete sie.

»Tatsächlich? Das kann ich gar nicht glauben.«

»Es ist aber so.«

Sie nagte an der Unterlippe.

»Es gab jemanden«, erzählte sie schließlich. »Aber die Beziehung ist zerbrochen.«

»Das tut mir leid«, sagte Stefan.

»Ist nicht weiter tragisch.« Johanna schüttelte den Kopf.

»Es war ohnehin ein Irrtum.«

»Leider weiß man das erst immer hinterher«, meinte er nachdenklich.

Er schaute sie lächelnd an, während er darüber nachdachte, ob er Johanna gestehen durfte, was er für sie empfand. Daß er sie sehr mochte, stand fest, und ein wenig hatte ihn diese Erkenntnis erschreckt. Eigentlich war es unmöglich, es ihr zu sagen. Noch war er nicht so frei, wie er gern sein wollte, denn immer noch gab es das Problem mit der Ehe, die er eingehen sollte, um das Unglück von der Firma abzuwenden.

»Wie ist es denn bei dir?« wollte Johanna wissen.

Stefan überlegte kurz, ehe er antwortete.

»Nein«, schüttelte er dann den Kopf, »ich bin nicht gebunden.«

Diese Antwort freute sie, aber irgendwie machte sein Tonfall Johanna stutzig.

Sagte er die Wahrheit oder schwindelte er?

»Ich habe Hunger«, sagte Stefan und rutschte ins Wasser.

Johanna zögerte einen Moment, ehe sie ihm folgte.

War das jetzt als Ausweichmanöver zu verstehen? Wollte er nicht weiter darüber sprechen?

Daß er ungebunden war, mochte stimmen, aber irgendwas in seiner Stimme ließ sie an dieser Aussage zweifeln.

Auf der Wiese angekommen, trockneten sie sich ab und setzten sich in die Sonne. Stefan kramte die belegten Brote hervor und reichte Johanna ein Päckchen. Sie nickte dankbar, als sie es entgegennahm.

Schweigend aßen sie und tranken hin und wieder einen Schluck Wasser. Marion Trenker hatte ihnen zwei große Flaschen davon mitgegeben.

»Warum ist eure Beziehung denn zerbrochen?« fragte Stefan plötzlich.

Gleichzeitig hob er abwehrend die Hände.

»Du mußt es mir nicht sagen, wenn du nicht willst.«

»Schon gut«, erwiderte Johanna. »Ich bin darüber hinweg.«

Sie erzählte von der Enttäuschung, die sie erlitten hatte, ohne Bitterkeit in ihren Worten. Es klang so, als habe sie es überwunden.

»Er muß ein ziemlicher Dummkopf sein«, meinte Stefan.

Johanna sah ihn an und zuckte nicht zurück, als er nach ihrer Hand griff und sie festhielt.

»Ich habe übrigens vorhin gelogen«, fuhr er fort. »Es tut mir nicht leid, daß ihr auseinander seid.«

Sie schluckte und sah auf seine Hand. Die Berührung brannte wie Feuer.

Aber es war ein herrliches Feuer!

»Es tut mir nicht leid, weil wir uns sonst nämlich niemals begegnet wären«, sagte Stefan. »Und ich eine wunderbare Frau niemals kennengelernt hätte…«

Johanna spürte ihr Herz bis zum Hals hinauf klopfen, und warme Schauer liefen über ihren Rücken, als er sie an sich zog. Sie sah seine Augen, seinen Mund, der sich dem ihren näherte, und fühlte seine Finger durch ihr Haar streichen.

»Weißt du, daß ich mich ganz fürchterlich in dich verliebt habe?« sagte Stefan mit rauher Stimme. »Liebe auf den ersten Blick, ich hätte nie geglaubt, daß es sie wirklich gibt. Aber jetzt habe ich sie am eigenen Leib erfahren.«

Ein leises Stöhnen entrang sich ihren Lippen, als er seinen Mund auf ihre Lippen preßte, die sich leicht öffneten.

Hätte es überhaupt einen Widerstand gegeben, jetzt wäre er dahingeschmolzen. Johanna dachte nicht mehr an ihren Vorsatz, sich nie wieder zu verlieben. Sie umarmte ihn, erwiderte seinen Kuß und lachte glücklich, als er sie fest an sich gepreßt hielt, als wollte er sie nie wieder loslassen.

»Ich liebe dich auch, Stefan«, flüsterte sie und ließ den Glückstränen freien Lauf.

*

Martin Herweg saß in seinem Auto. Es stand gegenüber der Einfahrt zu den Kreuzerwerken, und der junge Mann schaute ungeduldig zu der Tür hinüber, durch die die Angestellten das Gebäude verließen. Endlich erschien die Frau, auf die er schon seit einer Stunde wartete. Er wußte nicht, wann Christel Trautmann Feierabend machte, und weil er sie auf keinen Fall verpassen wollte, hatte sich Martin rechtzeitig postiert. In den Händen hielt er einen Prospekt der Firma Kreuzer. Silvia hatte ihn besorgt, und darin wurden die Angestellten und Inhaber mit Foto und Namen vorgestellt. Der Prospekt war vor einem halben Jahr anläßlich des Firmenjubiläums gedruckt worden.

Martin hatte zuerst das Foto des Juniorchefs angesehen und war im selben Moment sicher gewesen, Stefan Kreuzer umbringen zu können. Der Kerl sah nicht nur verdammt gut aus, im Gegensatz zu Martin Herweg war er auch vermögend. Immerhin war es tröstend, daß er sicher sein konnte, daß Silvia ihn, den Angestellten ihres Vaters, liebte und nicht den reichen Mann, mit dem sie verheiratet werden sollte.

Nach und nach verebbte der Strom der Angestellten. Martin hatte genau aufgepaßt und war sicher, daß die Sekretärin von Stefan Kreuzer noch nicht herausgekommen war. Indes blieb das Problem, wie er es anfangen sollte, ihr den Aufenthaltsort seines Konkurrenten zu entlocken.

Während er immer noch hinübersah, warf er rasch einen Blick auf die Uhr. Silvia ließ auch immer noch auf sich warten. Dabei hatte sie schon vor einer Viertelstunde da sein wollen.

Er atmete erleichtert auf, als die Wagentür geöffnet wurde und Silvia neben ihn auf den Beifahrersitz schlüpfte.

»Endlich!«

»Warum gehst du nicht an dein Handy?« fragte die ausgesprochen hübsche Tochter seines Chefs. »Ich stand im Stau.«

Martin zog das Mobiltelefon aus der Tasche und schlug sich vor die Stirn.

»Der Akku ist leer!« stöhnte er. »Ich habe vergessen, ihn aufzuladen. So was Blödes!«

»Egal, jetzt bin ich ja da«, sagte Silvia. »Und Frau Trautmann scheint noch in der Firma zu sein.«

»Bis jetzt habe ich niemanden gesehen, der so aussah wie sie hier auf dem Foto.«

Silvia Schönauer überlegte einen Moment. Dann öffnete sie die Tür.

»Komm.«

»Was hast du vor?« fragte Martin.

»Wir gehen rein«, antwortete sie.

»Einfach so? Kennt man dich da denn nicht? Was ist, wenn der Pförtner…«

Sie winkte ab.

»So bekannt bin ich nicht«, erwiderte sie. »Außerdem ist mir der Pförtner herzlich egal. Er kann ruhig wissen, wer ich bin. Wahrscheinlich kommen wir sogar besser hinein, als wenn jemand vor ihm steht und Frau Trautmann sprechen will.«

Martin Herweg zuckte die Schultern und folgte ihr. Als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt, ging Silvia zu dem Pförtnerhäuschen und klopfte an die Scheibe.

»Sie wünschen?« fragte der Mann, der dahinter saß.

»Mein Name ist Schönauer«, antwortete sie. »Silvia Schönauer. Ist Frau Trautmann noch im Haus?«

»Da muß ich schauen. Einen Moment bitte.«

Der Pförtner drückte eine Taste, und auf seinem Monitor erschienen die Namen der Angestellten, die sich noch in der Firma befanden.

»Frau Trautmann ist noch im Büro.« Er nickte.

Silvia lächelte ihr schönstes Lächeln.

»Dann hätten wir sie gern gesprochen.«

»Äh, ja…, sind Sie denn angemeldet?«

»Nein. Aber ich bin sicher, daß Frau Trautmann einen Moment ihrer Zeit für uns opfern kann, wenn Sie ihr meinen Namen sagen.«

»Ja, ich werd’s versuchen. Schönauer, nicht wahr?«

Plötzlich schien dem Pförtner ein Licht aufzugehen, und er wußte, wer da vor ihm stand.

»Natürlich, ja«, sagte er hastig und drückte auf den Knopf, der die Schranke hochfahren ließ. »Gehen Sie nur schon durch. Ich melde Sie inzwischen an. Gebäude drei, im Erdgeschoß.«

»Na also«, grinste sie, als sie über den Firmenhof ging. »Hat doch bestens geklappt.«

»Deine Nerven möchte ich haben«, stöhnte Martin Herweg.

»Wieso?« gab Silvia zurück. »Wir wollen doch nur eine Auskunft und nicht den Tresor ausräumen.«

Sie hielt inne und mußte einen Lachkrampf unterdrücken.

»Allerdings, wenn ich mir überlege, wie leicht das eigentlich ist…«

»Darf man im Gefängnis eigentlich heiraten?« fragte Martin amüsiert.

»Ich glaube schon«, nickte sie. »Bloß mit der Hochzeitsnacht stelle ich mir das ein bißchen schwierig vor.«

Martin griff nach ihrer Hand.

»Ich liebe dich«, sagte er.

Silvia erwiderte seinen zärtlichen Blick mit einem Kuß.

»Ich dich auch«, sagte sie und öffnete die Tür zu Gebäude Nummer drei.

Ein langer Gang lag vor ihnen. Die dritte Tür, die davon abzweigte, trug ein gerahmtes Schild, das das Zimmer dahinter als das Büro von Christel Trautmann auswies, Sekretariat von Stefan Kreuzer. Silvia klopfte an und trat ein.

Christel Trautmann saß hinter ihrem Schreibtisch und schaute die Eintretenden erstaunt an. Dann stand sie auf und kam um den Tisch herum.

»Grüß Gott, Frau Schönauer«, sagte sie. »Sind Sie sicher, daß Sie zu mir wollen?«

Natürlich wußte sie, wer die attraktive Frau war. Silvia deutete auf ihren Begleiter.

»Herr Herweg«, stellte sie ihn vor.

»Sehr erfreut.« Die Sekretärin bot Platz an. »Was kann ich für Sie tun?«

Silvia hatte sich auf einen lederbezogenen Stuhl gesetzt. Sie lächelte.

»Sind Sie sicher, daß Sie die Antwort nicht längst wissen, Frau Trautmann?« entgegnete sie.

Die Sekretärin seufzte und hob hilflos die Hände.

»Es tut mir leid«, bedauerte sie. »Aber ich darf den gegenwärtigen Aufenthaltsort von Herrn Kreuzer nicht herausgeben. Ich habe es Ihnen doch schon am Telefon gesagt.«

Freilich hatte sie, gleich als der Pförtner die Besucherin ankündigte, gewußt, warum Silvia Schönauer sie sprechen wollte. Und es verwunderte sie, daß plötzlich jeder wissen wollte, wo sich ihr Chef aufhielt. Erst hatte die Besucherin angerufen und nachgefragt, jetzt war sie persönlich hergekommen, und zwischendurch war auch noch der Senior aufgetaucht und hatte ihr quasi die Pistole auf die Brust gesetzt.

Was sollte sie denn bloß machen?

Stefan Kreuzer würde ihr den Kopf abreißen, wenn er wieder da war!

»Bitte, Frau Trautmann«, sagte Silvia eindringlich, »hören Sie mir einen Moment zu. Ich erkläre Ihnen alles.«

Die Sekretärin riß die Augen auf, als die junge Frau erzählte, worum es eigentlich ging, und sie begriff auch, daß Stefan Kreuzer praktisch ausgerissen war. Deshalb war sein Vater so besorgt gewesen.

»Verstehen Sie jetzt, warum wir wissen müssen, wie und wo wir Ihren Chef erreichen können?« fragte Martin Herweg, der bis jetzt geschwiegen hatte. »Es hängt so viel davon ab, daß wir mit Stefan Kreuzer sprechen!«

Christel Trautmann seufzte.

Sie war unverheiratet und hatte eine romantische Ader. Freilich träumte sie auch von ihrem Traumprinzen, der eines Tages auf seinem weißen Pferd kommen und sie auf sein Schloß holen würde. Und das konnte sie am besten, wenn sie sich in einen schönen Liebesroman vertiefte.

Und war das jetzt hier nicht genauso eine Geschichte, wie sie sie immer wieder gern las? Nur, daß das hier das wahre Leben war. Durfte sie sich jetzt der Liebe zweier Menschen entgegenstellen, indem sie schwieg?

»Also gut«, gab sie nach kurzem Nachdenken nach. »Auch wenn es mich meinen Job kostet…«

Sie schrieb die Anschrift auf einen Zettel und reichte ihn Silvia. Die nahm ihn entgegen und umarmte die nun völlig überraschte Frau.

»Vielen Dank«, sagte sie. »Das werden wir Ihnen niemals vergessen.«

*

Das Ferienhotel Reiterhof lag idyllisch gelegen am Waldrand. Davor breiteten sich Wiesen und Felder aus.

Viele Urlauber brachten ihre eigenen Pferde mit, andere suchten sich eines unter den Tieren aus, die zum Hof gehörten. Insgesamt standen zwölf Pferde und acht Ponys bereit.

Johanna hatte ein mulmiges Gefühl, als sie hinter Stefan und der jungen Frau, die sich ihnen als Conny Beerlach vorgestellt hatte, in den Stall ging.

Nachdem sie vom Achsteinsee zurückgekehrt waren, hatten sie sich umgezogen und waren gleich wieder losgefahren.

»Du wirst sehen, es macht einen riesigen Spaß«, versprach Stefan. »Und natürlich werden wir es ganz langsam angehen lassen. Wir müssen ja nicht gleich durch Wald und Flur reiten. Wenn du erstmal auf dem Pferd sitzt, vergeht die Angst von ganz allein.«

So richtig überzeugt war Johanna allerdings nicht. In einer Kammer des Stalles suchten sie nach passenden Stiefeln und einem Helm für die Sekretärin. Stefan trug schon seine Reiterkleidung, die er von zu Hause mitgebracht hatte.

»Sie sind wirklich noch nie geritten?« fragte Conny, als sie zu der Weide gingen, auf der die Pferde standen.

»Ein einziges Mal draufgesessen und gleich wieder runtergefallen«, antwortete Johanna und machte ein ängstliches Gesicht, als sich ihr ein großer dunkler Hengst näherte.

Conny streichelte den Hals des Tieres.

»Das ist Fender«, erklärte sie. »Auf den würd’ ich Sie net lassen, auf dem kann nur ein erfahrener Reiter sitzen. Aber dahinten…«

Sie deutete auf eine Stute, die auf der anderen Seite des Weidezauns stand.

»… das ist Lilly«, fuhr sie fort und stieß einen Pfiff aus. »Die ist wirklich lammfromm und für eine Anfängerin bestens geeignet.«

»Außerdem bin ich bei dir«, sagte Stefan beruhigend, der bewundernd den Hengst anschaute.

Lilly kam herangetrabt und streckte ihren Kopf vor. Johanna traute sich, sie anzufassen, und die Stute schnaubte leise.

»Na also, sie mag Sie«, lächelte die junge Pferdewirtin.

Sie sah Stefan fragend an.

»Sie möchten Fender reiten?«

»Ja«, nickte er. »Ein prächtiges Tier.«

Sie hatten zwei Halfter mitgenommen, an denen die beiden Pferde zum Hof geführt wurden. Stefan bedankte sich und erklärte, daß sie nun allein zurecht kämen.

»Dann viel Spaß.« Conny verabschiedete sich.

»So, zuerst müssen wir sie tüchtig bürsten«, sagte Stefan, an Johanna gewandt, nahm zwei Bürsten aus dem Holzkasten und reichte eine davon an sie weiter. »Immer schön nach unten, nicht gegen den Strich.«

Es war ganz einfach. Johanna brauchte zwar einen Moment, bis sie sich traute, die Stute noch mal zu berühren, doch als Lilly den Kopf wandte und mit ihren großen braunen Augen Johanna vertrauensvoll anschaute, verlor sie jegliche Scheu.

Anschließend wurden die Hufe ausgekratzt und die Sättel aufgelegt.

Dann war der große Moment gekommen.

Stefan ließ Johanna aufsteigen und führte Lilly am Zügel in die Reithalle. Dann lief er rasch zurück und holte den Hengst. Die junge Frau saß währenddessen mit klopfendem Herzen auf der Stute und wagte kaum zu atmen. Doch das wirklich liebe Tier rührte sich nicht von der Stelle.

»Am besten wird es sein, wenn ich dich erst einmal führe«, meinte Stefan und erklärte ihr, wie sie im Sattel sitzen mußte.

Gerade, das Kreuz durchgedrückt, die Schenkel eng angelegt.

Zuerst ging er langsam, dann begann er zu laufen. Johanna hielt sich am Sattelhorn fest.

»Nicht so verkrampft«, ermahnte Stefan.

Allmählich wurde sie lockerer, nahm die Zügel richtig in die Hand und paßte sich dem Rhythmus an. Und dann, noch ehe Johanna es richtig bemerkte, hatte Stefan losgelassen, und Lilly trabte durch die Halle.

Zuerst wollte Johanna entsetzt aufschreien, doch dann wurde sie immer sicherer.

Nur, wie brachte man ein Pferd wieder zum Stehen?

»Nicht am Zügel reißen«, rief Stefan. »Das tut ihr weh, wenn die Trense ins Maul schneidet.«

Johanna ließ wieder locker, und die Stute verlangsamte ihren Schritt. Stefan sprang hinzu und hielt sie fest.

»Bravo!« sagte er begeistert. »Das war doch schon ganz toll!«

»Wirklich?« fragte sie ungläubig.

»Fürs erste Mal war’s klasse«, nickte er und half ihr aus dem Sattel. »Und wie war es für dich?«

»Schön«, antwortete Johanna und freute sich über die Begeisterung in seinem Gesicht.

»Ja?«

Sie nickte, und Stefan beugte sich zu ihr und gab ihr einen Kuß.

»Wart’s nur ab«, sagte er, »aus dir wird noch eine richtige Amazone.«

Dann stieg er selbst in den Sattel und ritt einige Runden. Johanna bewunderte die sichere Art, wie er auf dem Hengst saß, das Tier zum Galopp anspornte und schließlich parierte, um im Trab weiterzureiten.

»Hast du eigentlich ein eigenes Pferd?« fragte sie, als sie wieder auf dem Weg nach St. Johann waren.

»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Ich habe mal mit dem Gedanken gespielt, mir eines anzuschaffen. Aber es fehlt mir die Zeit, mich wirklich darum kümmern zu können.«

Sicher der Beruf, vermutete sie, und dabei fiel ihr ein, daß sie gar nicht genau wußte, was er eigentlich arbeitete. Aber das war im Moment auch gar nicht weiter wichtig. Sie genoß es, neben ihm zu sitzen und an nichts anderes denken zu müssen, als daß sie diesen Mann von Herzen liebte.

*

»Es wird am besten sein, wenn wir getrennt fahren«, hatte Silvia Schönauer vorgeschlagen. »Stefan Kreuzer muß uns ja nicht gleich zusammen sehen.«

Dieser Satz hatte Martin Herweg ein wenig mißtrauisch gemacht.

Wieso sollte man sie nicht zusammen sehen?

Wenn sie mit dem Mann gesprochen hatten, wollten sie ohnehin Silvias Vater aufsuchen und ihm erklären, daß sie beide ein Paar waren.

»Versteh doch«, hatte sie argumentiert, »wir müssen erst einmal herausfinden, wie mein ›Bräutigam‹ überhaupt zu der ganzen Angelegenheit steht. Vielleicht ist er ja genauso empört darüber wie ich.«

Diese Empörung hatte sie ihrem Vater gegenüber noch einmal zum Ausdruck gebracht. Harald Schönauer wollte von seiner Tochter wissen, ob sie sich nicht doch mit dem Gedanken anfreunden konnte, in die Kreuzerfamilie einzuheiraten.

»Niemals!« hatte sie geantwortet und damit eine lange Diskussion heraufbeschworen.

Aber es nützte nichts, ihr Vater wollte einfach nicht einsehen, daß man in dieser Zeit nicht mehr den Mann für seine Tochter aussuchte, sondern sie selbst darüber entschied, wen sie heiraten wollte.

Silvia hatte schließlich die Auseinandersetzung beendet, indem sie das Haus verlassen hatte und zu Martin gefahren war.

Sie beratschlagten, wie sie es am besten anfangen sollten, und ihr Vorschlag traf nur auf wenig Zustimmung. Silvia selbst wollte zuerst mit Stefan Kreuzer allein sprechen, bevor sie Martin ins Spiel brachte. Woraufhin dieser sich eines eifersüchtigen Gedankens nicht erwehren konnte. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie ihn endlich überzeugt hatte.

»Glaubst du wirklich, ich nehme das alles auf mich, um dich mit ihm zu betrügen?« fragte Silvia. »Das könnte ich viel einfacher haben. Ich brauche ihn ja nur zu heiraten.«

Martin hatte tief aufgeseufzt und sie in die Arme geschlossen.

»Verzeih mir«, bat er. »Aber seit ich von den Plänen deines Vaters weiß, habe ich eine fürchterliche Angst, dich zu verlieren.«

Silvia lächelte versöhnlich und gab ihm einen Kuß.

»Ich liebe dich, Martin«, sagte sie zärtlich. »Und für mich wird es keinen anderen Mann geben!«

Am Morgen war sie dann zuerst losgefahren. Glücklicherweise war es ihnen gelungen, zwei Einzelzimmer in einer Pension zu bekommen. Die befand sich zwar außerhalb des Dorfes, aber das konnte unter Umständen auch von Vorteil sein.

Martin arbeitete bis zum Mittag. In der Firma Schönauer war er für die Abwicklung der Geschäfte mit den Kaufhäusern und Supermarktketten beschäftigt, die sie belieferten. In dieser Eigenschaft kam es hin und wieder vor, daß er für ein paar Tage nicht an seinem Schreibtisch saß, sondern Kunden besuchte. Diesen Grund hatte er auch vorgeschoben, als er im Büro verlauten ließ, daß er für die nächste Zeit unterwegs sein würde. In dringenden Fällen sollte man ihn auf seinem Handy anrufen.

Inzwischen war er von der Autobahn abgebogen und fuhr eine kurvige Landstraße entlang. Martin war noch nie in den Bergen gewesen, für seine Urlaubsreisen bevorzugte er südliche Gefilde. Spanien oder Portugal hatte er schon öfters bereist, und den letzten Urlaub hatte er, zusammen mit Silvia, auf Teneriffa verbracht.

Er lächelte, als er sich daran erinnerte, wie sie zueinander gefunden hatten. Martin Herweg war seit zwei Jahren in Firma Schönauer beschäftigt, und von Anfang an hatte er auf die hübsche Tochter seines Chefs ein Auge geworfen. Aber nie hatte er es gewagt, Silvia gegenüber eine Andeutung zu machen, geschweige denn, sich ihr zu nähern. Für ihn schien sie so unerreichbar wie der Mond.

Das glaubte er zumindest. Auch wenn er attraktiv aussah und nicht schlecht verdiente, ein Leben, wie seine Angebetete es führte, würde er ihr niemals bieten können.

Um so überraschender war es, als beide feststellten, daß es zwischen ihnen gefunkt hatte. Es war an einem Freitagabend gewesen. Mit einer Lieferung aus Fernost hatte es Probleme gegeben. Silvia, die die Importabteilung leitete, hatte sich an Martin gewandt und ihn um Hilfe gebeten. In Asien war es noch nicht Morgen, und das Büro des dortigen Geschäftspartners noch nicht besetzt. Es dauerte bis nach Mitternacht deutscher Zeit, ehe sie jemanden ans Telefon bekamen, und dann verging noch eine weitere Stunde, bis das Problem geklärt war.

»Gott sei Dank!« stöhnte Silvia, als sie den Hörer wieder auflegte.

Sie lächelte Martin an.

»Vielen Dank, daß Sie so lange mit mir ausgeharrt haben«, sagte sie dann.

»Hab’ ich doch gern gemacht«, erwiderte er. »Gehört ja quasi zu meinem Job.«

»Na ja, ein bißchen ging das jetzt über Ihre Pflichten doch hinaus«, bemerkte sie. »Darf ich Sie zum Dank noch auf einen Drink einladen?«

Da konnte er natürlich nicht widerstehen. Sie fuhren in ein Lokal, das bis in die frühen Morgenstunden geöffnet hatte, und als sie es wieder verließen, war geschehen, was geschehen mußte…

Noch immer lächelte Martin Herweg in der Erinnerung. Dabei achtete er kaum auf die Stimme seines Navigationsgerätes, das ihm den Weg wies, und hätte beinahe die falsche Straße genommen. Im letzten Moment änderte er den Kurs und kam nach einer knappen Stunde an seinem Ziel an.

Silvia war schon am Mittag angekommen. Sie saß auf der Veranda des Hauses und trank einen Kaffee, den die Pensionswirtin ihr gekocht hatte. Als Martin vorfuhr, sprang sie auf und lief ihm entgegen.

»Da bist du ja«, freute sie sich. »Dann kann es ja losgehen.«

*

Pfarrer Trenker öffnete ihnen die Tür und begrüßte sie mit einem herzlichen Lächeln.

»Nur herein mit Ihnen«, sagte er. »Der Tisch im Garten ist schon gedeckt, und meine Haushälterin schneidet gerade den Kuchen an.«

Mit einem Blick bemerkte Sebastian, daß das junge Paar, das vor dem Pfarrhaus stand, sich an den Händen hielt.

Er führte die beiden Besucher durch den Flur und das Wohnzimmer auf die Terrasse hinaus und bat sie, Platz zu nehmen. Sophie Tappert erschien und brachte Kuchen und Kaffee heraus.

»Lassen S’ sich schmecken.« Der Geistliche nickte ihnen zu.

»Der Kuchen schaut herrlich aus«, sagte Stefan und ließ sich nicht lange bitten. »Genauso wie bei unserer Tante Grete.«

»Du hast eine Tante?« fragte Johanna.

»Sie ist nicht wirklich meine Tante«, lachte er und erzählte, daß Margarete Hösch die Haushälterin sei.

Sebastian sah den Blick, den die junge Frau Stefan Kreuzer zuwarf, als der von der Haushälterin sprach. Offenbar war sich Johanna Kramer nicht darüber im klaren, daß der junge Mann aus einem begüterten Haus kam.

Ob das irgendeine Bedeutung für sie hatte?

Freilich konnte er jetzt schlecht fragen, und so brachte der Bergpfarrer das Gespräch auf die geplante Tour.

»Wenn ihr damit einverstanden seid, dann könnten wir gleich morgen früh losgehen«, schlug er vor.

Johanna und Stefan nickten zustimmend. Nach dem gestrigen Tag mit Baden und Reiten hatten sie es heute ruhig angehen lassen und waren nur ein wenig in der Gegend spaziert.

Sebastian nahm die Wanderkarte, die er bereitgelegt hatte, und schlug sie auf. Mit dem Finger fuhr er darauf herum und zeigte den beiden, welche Route sie nehmen wollten.

»Seid ihr gut zu Fuß?« fragte er.

Johanna und Stefan bejahten. Auch die Tatsache, daß die Bergtour den ganzen Tag dauern würde und sie in aller Herrgottsfrühe aufstehen mußten, schreckte sie nicht.

»Und wie steht’s mit der Kleidung?« wollte Sebastian weiter wissen. »Seid ihr ausgerüstet?«

Wie sich herausstellte, hatte Stefan tatsächlich Stiefel und Anorak dabei. Johanna schüttelte indes bedauernd den Kopf.

»Ich wußte ja nicht, daß ich eine Bergtour machen würde«, entschuldigte sie sich.

»Kein Problem.« Der Geistliche schüttelte den Kopf. »Wir haben genug Sachen da, die mal liegengeblieben sind. Frau Tappert wird nachher was Passendes raussuchen.«

Dann erzählte er ihnen von der Sennerei, die sie besuchen wollten, und dem alten Thurecker-Franz, der den besten Bergkäse weit und breit machte.

»Den gibt es in der Pension«, nickte Stefan. »Toll, wie der schmeckt, und daß wir sehen können, wie er gemacht wird.«

»Der Franz wird euch sicher auch ein schönes Stück einpacken«, schmunzelte Sebastian.

Bevor sie sich wieder verabschiedeten, erinnerte er sie daran, früh schlafen zu gehen, weil sie am nächsten Morgen zeitig aufstehen mußten.

Außerdem sollten sie keinen Proviant mitbringen, für den würde seine Haushälterin sorgen.

Mit dem Kleiderbündel unter dem Arm verließen sie das Pfarrhaus und freuten sich auf den nächsten Tag.

»Ein bemerkenswerter Mann«, sagte Stefan, während sie zur Pension gingen. »Wenn man es nicht besser wüßte, würde man gar nicht glauben, daß er ein Geistlicher ist.«

Johanna nickte zustimmend. Pfarrer Trenker war wirklich ein besonderer Mensch, das hatte sie schon geahnt, als sie ihn im Zug kennenlernte.

»Und was fangen wir mit dem angebrochenen Tag an?« fragte Stefan und schaute auf die Uhr. »Es ist ja schon fast Abend.«

»Du hast doch gehört, was Hochwürden gesagt hat. Wir sollen zeitig schlafen gehen«, erwiderte sie.

»Schon«, nickte er. »Aber vorher gehen wir essen, und zum Plaudern bleibt auch noch Zeit.«

Sie gingen früh in den Biergarten und aßen eine Kleinigkeit, saßen dann noch eine Weile und unterhielten sich. Johanna hätte gern das Gespräch auf die Tante Grete gebracht, aber sie war nicht sicher, ob sie es wirklich tun sollte. Dennoch fragte sie sich die ganze Zeit, was für eine Familie das wohl war, aus der Stefan kam. Immerhin mußte sie so viel Geld besitzen, daß sie sich eine Angestellte leisten konnte.

Irgendwie kam sie sich in diesem Moment ganz klein vor. Ihre Eltern waren nicht vermögend. Solange sie sich erinnern konnte, hatte es gerade immer so mit dem Geld geklappt. Erst nachdem Johanna ihre Ausbildung beendet hatte und etwas zum Haushalt beisteuern konnte, änderte sich dieser Zustand.

Und jetzt sah sie Stefan auch mit anderen Augen, bemerkte, was ihr zuvor nicht aufgefallen war.

Die elegante Kleidung, die er trug, die teure Uhr an seinem Handgelenk, sein Auto, das wahrscheinlich mehr kostete, als sie in einem Jahr verdiente.

Wer bist du, fragte sie sich in Gedanken, und war es ein Fehler, mich in dich zu verlieben?

Stefan fiel es nicht auf, daß sie so nachdenklich war. Er legte seinen Arm um sie, als sie zur Pension gingen, und beim Abschied vor ihrem Zimmer küßte er sie liebevoll.

»Ich bin sehr glücklich, daß wir uns begegnet sind«, flüsterte er ihr ins Ohr.

Johanna schloß die Augen und wollte die argwöhnischen Gedanken verdrängen. Doch so recht gelang es ihr nicht. Noch lange lag sie wach und dachte über den geliebten Mann nach, der ihr plötzlich ein Rätsel geworden war.

*

Isolde Kreuzer hielt überhaupt nichts davon, daß ihr Mann dem Sohn nachfahren wollte.

»Wozu soll das gut sein?« fragte sie kopfschüttelnd. »Stefan wird sich bestimmt nicht darüber freuen.«

Kurt Kreuzer verdrehte die Augen. Isolde hatte ja keine Ahnung, was auf dem Spiel stand, aber er konnte es ihr auch nicht sagen. Bisher glaubte sie immer noch, daß es einzig um das geplatzte Geschäft in den Vereinigten Staaten ging, von der anderen Geschichte ahnte sie nichts.

»Es ist mir ziemlich egal, was unser Sohn davon hält«, erwiderte er gereizt. »Ich werde jedenfalls in dieses St. Johann fahren und ein ernstes Wort mit ihm reden. Überhaupt war es eine Schnapsidee von ihm, sich eine Woche Zeit zum Nachdenken auszubedingen. Da gibt es nämlich nichts zum Nachdenken. Die Tatsachen liegen auf dem Tisch, und auch unser Herr Sohn muß sich ihnen stellen. Ob er nun will oder nicht, und genau das werde ich ihm klarmachen!«

Inzwischen hatte Kurt Kreuzer auch nicht nur die Befürchtung, Stefan würde sich nicht in seinem und damit im Sinne der Firma entscheiden. Er hatte auch Angst, der Sohn könnte in seinem Urlaubsort eine andere Frau kennenlernen und sich ernsthaft verlieben.

Eine größere Katastrophe konnte es gar nicht geben.

Daß Stefan wählerisch war, was seine Frauenbekanntschaften anging, wußte der Vater. Aber jedem Mann lief eines Tages gerade die über den Weg, von der er immer geträumt hatte, und warum sollte es bei seinem Sohn anders sein?

»Jedenfalls fahre ich morgen mittag«, entschied er. »Du kannst dir ja überlegen, ob du mitkommen willst.«

Isolde antwortete nichts darauf. Sie saß in ihrem Sessel und blätterte weiter in einer Zeitschrift. Allerdings war sie nicht so recht konzentriert. Seit sie von ihrem Mann erfahren hatte, was der mit Harald Schönauer abgemacht hatte, dachte Isolde Kreuzer nur daran, wie sich diese Verbindung wohl auf ihr gesellschaftliches Leben auswirken würde. Zwischen der Familie Kreuzer und den Schönauers lagen Welten. Und wenn jetzt so ein Emporkömmling und neureicher Geschäftemacher dazugehörte, konnte es geschehen, daß man an Ansehen verlor.

Freilich wurde auch Harald Schönauer zu allen möglichen Gelegenheiten eingeladen, irgendwie gehörte er ja dazu. Aber hinter vorgehaltener Hand redete man über ihn und seine Firma, als betreibe er eine Abfallentsorgung.

Und aus diesem Grund war Isolde alles andere als glücklich darüber, daß ihr Stefan ausgerechnet Silvia Schönauer heiraten sollte.

»Hörst du mir überhaupt zu?« unterbrach ihr Mann ihren Gedankengang.

Sie schaute irritiert auf.

»Wie bitte?«

»Ich habe gefragt, ob ich nun ein Doppelzimmer bestellen soll oder nicht«, sagte Kurt gereizt.

»Na schön«, seufzte sie, »von mir aus.«

Kopfschüttelnd wandte er sich dem Telefon zu und wählte die Nummer der Auskunft. Dann bat er, mit dem oberbayerischen Tourismusverband verbunden zu werden.

Normalerweise hätte Kurt Kreuzer solche Sachen seiner Sekretärin überlassen, aber die brauchte nicht unbedingt zu wissen, was er und seine Frau vorhatten. Morgen war Freitag, in der Firma würde er sich am nächsten Tag abmelden, und dann kam ohnehin das Wochenende, und Kurt hoffte, in den zwei Tagen das Problem aus der Welt geschafft zu haben.

Allerdings erwies sich die Zimmersuche schwieriger als gedacht. Wie sich herausstellte, gab es in St. Johann nämlich nur ein Hotel, und das war bis unters Dach ausgebucht. Auch die Bemühungen der freundlichen Angestellten, mit der Kurt sprach, zumindest eine Pension ausfindig zu machen, in der es noch freie Zimmer gab, fruchteten nichts.

Enttäuscht legte Stefans Vater den Hörer wieder auf.

Und nun?

Das war ja zum Auswachsen. Alle Welt schien in diesem Dorf Ferien zu machen.

Plötzlich hatte Kurt Kreuzer eine Idee. Er erinnerte, daß einer seiner Geschäftspartner einmal erzählt hatte, in der Nähe von St. Johann ein Wochenendhaus zu besitzen. Eigentlich war es eine Almhütte, die der Bekannte hatte wieder herrichten lassen und mit der er seine Frau zur Hochzeit überrascht hatte.

Hastig suchte er die Telefonnummer von Richard Anzinger, dem Mann der bekannten Sängerin Maria Dewey, heraus. Anzinger, ein Münchener Kaufmann, bestellte jedes Jahr einige wertvolle Füllfederhalter bei der Firma Kreuzer, die er an Geschäftsfreunde zu Weihnachten verschenkte. Er war nach kurzem Klingeln am Telefon.

»Kreuzer hier«, sagte Stefans Vater. »Wie geht es Ihnen, Richard?«

»Kurt, guten Abend. Danke, gut geht’s. Ich hoffe, Ihnen auch?«

»Schon. Allerdings gibt es da ein kleines Problem, bei dessen Lösung Sie mir vielleicht behilflich sein können.«

»Gern! Schießen Sie los!«

Kurt Kreuzer schilderte ihm sein Problem, und Richard Anzinger war sofort bereit zu helfen.

»Freilich können Sie dort wohnen«, sagte er. »Die Hütte liegt auf der Jenneralm, mit dem Auto sind es knapp zwanzig Minuten bis ins Dorf. Wenn Sie morgen ankommen, fahren Sie zuerst nach St. Johann und melden sich bei Pfarrer Trenker. Er ist ein guter Freund von uns und bewahrt den Zweitschlüssel zur Hütte auf. Ich rufe ihn gleich an, damit er Bescheid weiß.«

»Sie haben mir wirklich sehr geholfen«, bedankte sich Kurt. »Ich hoffe, ich kann mich mal revanchieren.«

»Schon in Ordnung.«

»Dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Abend, und grüßen Sie bitte Ihre Frau.«

»Das mache ich«, antwortete der Münchener Kaufmann. »Leider ist sie im Moment mal wieder auf Tournee. Aber ich fliege in der nächsten Woche hinterher. Also dann, viel Erfolg in St. Johann.«

Erleichtert legte Kurt Kreuzer auf.

Glück im Unglück mußte man eben haben, dachte er und nahm es als gutes Omen, doch noch eine Unterkunft gefunden zu haben.

*

Als Sebastian Trenker am nächsten Morgen in aller Frühe das Pfarrhaus verließ, war er immer noch mit dem Gedanken an den Anruf gestern abend beschäftigt. Er hatte sich gefreut, mal wieder etwas von Richard Anzinger zu hören. Maria, dessen Frau, war Sebastians einstiges Pfarrkind. Schon früh hatte sie die Heimat verlassen und war in die Welt hinausgezogen. Als Sängerin machte sie eine einzigartige Karriere. Nach vielen Jahren erst kehrte sie nach St. Johann zurück, und der Bergpfarrer freute sich, dazu beitragen zu können, daß Maria auch ihr persönliches Glück fand.

Doch dies alles war nur eine kurze Erinnerung gewesen. Viel mehr beschäftigte den Geistlichen die Frage, ob es zwischen dem Mann, der heute im Laufe des Tages den Schlüssel zur Almhütte abholen wollte, und Stefan Kreuzer eine Verbindung bestand.

Oder war es nur die Namensgleichheit, die ihn irritierte?

Richard Anzinger hatte kurz erklärt, bei wem es sich um Kurt Kreuzer handelte. Sebastian kannte natürlich die Firma vom Namen her, besaß sogar einen Federhalter, den Bischof Meerbauer ihm vor Jahren einmal zum Geburtstag geschenkt hatte. Aber er wußte nicht, ob Stefan möglicherweise der Sohn des Mannes war.

Und vor allem fragte er sich, ob da nicht ein Problem auf den netten jungen Burschen zukam, wenn es zutraf.

Der gute Hirte von St. Johann nahm sich vor, Stefan bei einer günstigen Gelegenheit darauf anzusprechen.

Wie immer hatte Sophie Tappert für reichlichen Proviant gesorgt. Ihre Angst, Hochwürden könnte sich bei einer seiner Touren verirren oder gar abstürzen und sich schwer verletzen, hatte auch in all den Jahren, die sie nun schon als seine Haushälterin arbeitete, nicht abgenommen.

Dabei war diese Angst völlig unbegründet, denn nicht umsonst nannten seine Schäfchen Sebastian Trenker den »Bergpfarrer«, kaum ein anderer kannte sich da droben so gut aus wie er!

Als er die Pension erreichte, traten Johanna Kramer und Stefan Kreuzer gerade vor die Tür.

»Grüß euch«, nickte er ihnen zu. »Habt ihr ausgeschlafen?«

»Eher abgebrochen«, schmunzelte der Bursche.

»Spätestens nach der ersten Stunde seid ihr wach«, versprach Sebastian und reichte Stefan einen der beiden Rucksäcke. »Also, auf geht’s!«

Sie verließen das noch schlafende Dorf und wanderten in Richtung des Höllenbruchs.

»Der Name hört sich grauslicher an, als es hier ist«, erklärte der Geistliche. »Eigentlich ist das Wäldchen nämlich ein sehr schöner Ort, an dem sie die jungen Leute treffen, wenn sie mal für sich sein wollen…«

Dabei warf er seinen Begleitern einen augenzwinkernden Blick zu.

Von dem kleinen Bergwald ging es weiter die Hohe Riest hinauf. Von dort oben zweigten die einzelnen Wege zu den verschiedenen Almen ab. Hölzerne Wegweiser zeigten an, welche Richtung man nehmen mußte, um zu ihnen zu gelangen.

Indes folgte Sebastian nicht diesen Empfehlungen. Er hatte sich schon seit Jahren eine eigene Tour zusammengestellt, die zur Kandereralm hinaufführte. Sie war bedeutend länger, dafür aber auch sehr viel schöner.

Johanna und Stefan hatten ihre Fotoapparate umgehängt und ließen die Verschlüsse fleißig klicken. Der Geistliche wies sie immer wieder auf Besonderheiten hin, die lohnten, im Bild festgehalten zu werden.

Die beiden jungen Leute waren erstaunt, als ihr Bergführer das Zeichen zur ersten Rast gab.

»Jetzt schon?« fragte Johanna.

Sebastian schmunzelte.

»Schau mal auf die Uhr«, meinte er.

Es waren tatsächlich schon drei Stunden vergangen, stellte die junge Frau verwundert fest.

Sie befanden sich an einer Stelle, von der aus sie einen herrlichen Blick hinunter ins Tal hatten. Die Sonne war aufgegangen, und ihre Strahlen wärmten in dieser Höhe schon so sehr, daß sie getrost ihre Jacken ausziehen und als Unterlage beim Sitzen benutzen konnten. Sebastian öffnete den Proviantrucksack und überließ es Johanna, die heißen Getränke auszuteilen. Und dann saßen sie, ließen sich die belegten Brote schmecken und schauten dabei ins Tal hinunter, wo das Dorf lag und sich ausnahm wie ein Spielzeug in einer Modelleisenbahn.

»Ach, wie ist das herrlich!« schwärmten Johanna und Stefan.

Sie saßen nebeneinander, sahen sich an und erfreuten sich ganz offensichtlich an diesem schönen Erlebnis.

Marion Trenker hatte ihnen ein kleines Frühstück bereitgestellt, damit sie nicht mit leerem Magen losgehen mußten. Aber das war nun schon einige Stunden her, und es schmeckte einfach köstlich in der freien Natur. Dazu lauschten sie den Worten des Bergpfarrers, der von früheren Touren erzählte und davon, was sie auf der Alm erwartete.

Johanna war aufgestanden und ging ein Stück auf die andere Seite, um ein paar Fotos zu machen. Sebastian nutzte die Gelegenheit, sich an Stefan zu wenden. Schon als er gestern abend darüber nachgedacht hatte, war ihm die Erwähnung der Haushälterin in den Sinn gekommen, und eigentlich hatte er keinen Zweifel, daß es sich bei Kurt Kreuzer um Stefans Vater handelte.

Blieb die Frage, was gab es für ein Problem in der Familie, daß der Mann seinem Sohn hinterherfuhr?

Der junge Bursche blickte überrascht auf, als der Geistliche ihn fragte, ob er einen Kurt Kreuzer kenne.

»Ja«, antwortete er mit belegter Stimme, »das ist mein Vater. Warum fragen Sie?«

»Weil er heute nach St. Johann kommt«, antwortete Sebastian.

»Was?«

Stefan warf einen hastigen Blick zu Johanna hinüber, die immer noch mit Fotografieren beschäftigt war.

»Aber wieso? Und was wissen Sie überhaupt von meinem Vater?«

Der gute Hirte von St. Johann erklärte ihm, wie alles zusammenhing. Stefan blickte wieder zu der jungen Frau hinüber.

»Möchtest du mir sagen, was los ist?« fragte Sebastian.

»Ja…, eine vertrackte Angelegenheit«, erwiderte Stefan. »Aber Johanna…, sie darf nichts davon wissen. Vorerst jedenfalls nicht.«

»Dann sollten wir unser Gespräch lieber verschieben«, sagte der Bergpfarrer. »Sie kommt nämlich grad wieder zurück.«

*

Silvia Schönauer war nervös, als sie vor der Pension Edelweiß aus dem Auto stieg. Martin war in der Unterkunft geblieben. Widerstrebend allerdings, denn er wäre nur zu gern mitgefahren. Doch schließlich hatte sie ihn überzeugen können, daß es besser war, wenn sie erst einmal allein mit Stefan Kreuzer sprach.

Die junge Frau öffnete die Gartenpforte und ging über den Plattenweg zum Haus. Sie klingelte und wartete ab. Nach kurzer Zeit öffnete ihr ein schlanker, hochgewachsener Mann.

»Trenker, grüß Gott«, begrüßte er sie. »Was kann ich für Sie tun?«

»Mein Name ist Schönauer«, antwortete sie. »Ich würde gern Herrn Kreuzer sprechen. Er wohnt doch bei Ihnen?«

»Freilich«, nickte Andreas. »Allerdings ist er net da. Aber kommen S’ doch bitt’ schön herein. Ich frag’ grad mal meine Frau.«

Marion Trenker saß in dem kleinen Büro hinter der Rezeption und überprüfte die Buchungen der nächsten Woche. Als Andreas sie rief, kam sie nach vorn.

»Das ist die Frau Schönauer«, erklärte er. »Sie möcht’ zum Herrn Kreuzer, aber der ist, glaub’ ich, gar net da. Weißt du da was?«

Marion reichte Silvia die Hand.

»Ja, das tut mir leid«, sagte sie nach der Begrüßung. »Herr Kreuzer unternimmt eine Bergtour. Vor dem späten Nachmittag wird er kaum zurück sein. Eher am Abend.«

Die junge Frau biß sich auf die Lippe und zuckte die Schultern.

»Na ja, da kann man nichts machen«, sagte sie. »Muß ich wohl noch mal wiederkommen.«

Sie nickte Marion und Andreas zu und wollte gehen.

»Soll ich dem Herrn Kreuzer was ausrichten?« fragte die Wirtin. »Kann er Sie vielleicht zurückrufen?«

Silvia Schönauer überlegte kurz, dann schüttelte sie den Kopf.

»Vielen Dank«, verabschiedete sie sich, »nein, das ist zu persönlich, was ich mit ihm zu besprechen habe.«

Marion sah Andreas nachdenklich an.

»Seltsam«, bemerkte sie.

»Was ist seltsam?« wollte er wissen.

»Na, diese Frau Schönauer…«

Der Cousin des Bergpfarrers schüttelte den Kopf.

»Was ist denn mit ihr?« fragte er ahnungslos.

»Na, überleg’ doch mal. Der Stefan und die Johanna – sie sind ein Paar. Und jetzt kommt diese Frau her und will ihn in einer persönlichen Angelegenheit sprechen. Klingelt’s da nicht bei dir?«

»Du meinst…, sie und Stefan…?«

»Das weiß ich eben nicht«, sagte Marion. »Und genau deswegen bin ich beunruhigt. Johanna hat mir erzählt, welche große Enttäuschung sie hinter sich hat, und ich möchte nicht, daß sie schon wieder auf einen rücksichtslosen Mann hereinfällt.«

Andreas Trenker runzelte die Stirn.

»Ich glaub’ net, daß der Stefan so ein Hallodri ist, der hier eine Frau hat und da eine andere.«

Marion zog eine Augenbraue in die Höhe.

»Hoffen wir mal, daß du recht hast«, sagte sie.

Silvia Schönauer war unterdessen ins Dorf gefahren und hatte ihr Auto in einer Seitenstraße abgestellt. Sie holte ihr Handy heraus und rief Martin an. Der mußte schon ungeduldig auf den Anruf gewartet haben, denn gleich nach dem ersten Klingeln nahm er ab.

»Und?« fragte er.

»Nichts und. Stefan Kreuzer ist nicht in der Unterkunft«, antwortete sie. »Er macht eine Bergtour.«

»Hm, das ist ja blöd. Wo bist du denn jetzt?«

»Im Dorf. Wir treffen uns am Hotel. Du kannst es gar nicht verfehlen.«

»Hübsch«, meinte Martin, als er eine Viertelstunde später eingetroffen war. »Hätte ich gar nicht gedacht. Hier können wir glatt unsere Flitterwochen verbringen.«

Sie spazierten durch St. Johann und schauten sich alles an. Selbst Silvia, die lieber ans Meer fuhr anstatt in die Berge, mußte zugeben, daß der Ort etwas Anheimelndes hatte. Man konnte meinen, hier sei die Zeit stehengeblieben.

»Wollen wir mal die Kirche anschauen?« schlug Martin vor.

»Später«, antwortete sie. »Jetzt würde ich lieber etwas essen, heute morgen hatte ich noch keinen rechten Appetit.«

Sie gingen zum Hotel zurück und setzten sich dort in den Garten. Während sie auf das Essen warteten, unterhielten sie sich über das andere, was ihnen noch bevorstand – das Gespräch mit Silvias Vater. Martin Herweg war deutlich anzusehen, daß ihm nicht wohl bei dem Gedanken war, bei seinem Arbeitgeber um die Hand der Tochter anzuhalten.

Silvia hielt seine Hand und lächelte ihn an.

»Keine Angst«, sagte sie. »Er wird dir schon nicht den Kopf abreißen. Außerdem habe ich ihn bisher immer noch um den Finger wickeln können.«

Indes verschwieg sie, daß es ihr in diesem speziellen Fall nicht gelungen war. Was immer sie wollte, was immer sie sich wünschte, Harald Schönauer gab immer nach, nur jetzt hatte er auf stur geschaltet. Ein sicheres Zeichen für Silvia, wie ernst es ihm damit war, sie mit Stefan Kreuzer zu verheiraten.

Das Essen war ausgezeichnet, und für eine Zeitlang vergaßen sie den Grund, warum sie hergekommen waren. Nach dem Essen bestellten sie noch Espresso und machten sich dann auf den Weg zur Kirche. Als sie um die Ecke bogen und den Kiesweg hinaufgehen wollten, stockten plötzlich Silvias Schritte. Sie zupfte Martin am Ärmel und hielt ihn zurück.

»Was ist denn?« fragte er verwundert.

»Da!« Sie deutete den Weg hinauf.

Vor ihnen ging ein älteres Paar. Der Mann hatte sich flüchtig umgeschaut, und Silvia erkannte ihn sofort.

»Das sind der alte Kreuzer und seine Frau.«

»Was?«

Martin Herweg glaubte, nicht richtig zu hören.

»Die gehen zum Pfarrhaus«, sagte er. »Was wollen die denn da? Etwa die Hochzeit mit dem Pfarrer besprechen?«

Silvias Herz schlug bis zum Hals hinauf. Plötzlich bekam alles einen Sinn. Jetzt war klar, warum Stefan Kreuzer nach St. Johann gekommen war und wieso seine Eltern hier auftauchten. Bestimmt hatten sie beschlossen, hier die Hochzeit zu feiern, und wollten tatsächlich den Pfarrer deswegen aufsuchen.

Fehlte nur noch, daß ihr Vater auch noch herkam!

*

Die Kandererhütte lag romantisch zwischen den sanften Hügeln der Bergwiesen eingebettet. Sie war schon sehr alt, ihr Holz grau und verwittert. Darüber ragten die Zwillingsgipfel mit ihren schneebedeckten Kappen in den Himmel. Ziegen und Kühe labten sich an dem fetten Gras und den würzigen Wildkräutern, bewacht von zwei Hütehunden, und auf der Aussichtsterrasse waren Tische und Bänke von Wanderern besetzt. Zwischen ihnen eilte ein alter Mann geschäftig hin und her. Als er die kleine Gruppe sah, die den Hügel herunterkam, hob er winkend die Hand.

»Grüß dich, Franz«, sagte Sebastian Trenker und streckte dem Senner die Hand hin.

»Hochwürden, schön, daß Sie mal wieder heraufschauen«, erwiderte Franz Thurecker.

Der Bergpfarrer stellte seine beiden Begleiter vor und erkundigte sich, was der Senner heute gekocht hatte. Trotz seines Alters lebte Franz fast das ganze Jahr über hier oben alleine, nur mit seinen Tieren. Erst im Herbst, zum Almabtrieb, kam er ins Dorf hinunter, wo er den Winter über bei seiner Schwester wohnte. Doch kaum brachten die ersten Sonnenstrahlen den Schnee zum Schmelzen, zog es ihn wieder hinauf auf die Hütte. Hier arbeitete er nicht nur als Senner und machte den besten Käse weit und breit. Er kochte auch und bewirtete die Wanderer, die in den Sommermonaten heraufkamen.

Wie immer war das Speisenangebot klein, und wie immer schlug Sebastian vor, daß sie von allem etwas kosten sollten. Auf der Terrasse suchten sie sich Plätze, und nach einigen Minuten kam Franz und brachte einen großen Krug mit kalter Milch.

Er kannte Hochwürdens Vorliebe dafür…

Die Kochkünste des Senners konnten Johanna und Stefan nur bewundern. Es gab eine Gerstelsuppe, die mit Bergkäse überbacken war, dann geschnetzeltes Fleisch in einer cremigen Sauce, wozu Röstkartoffeln gereicht wurden.

»Das schmeckt einfach herrlich!« sagten die beiden begeistert.

Nach dem Essen tranken sie Kaffee. Beim Frühstück hatten die jungen Leute nicht glauben wollen, daß der Proviant aufgegessen würde, doch dann wurden sie eines Besseren belehrt. Am frühen Vormittag hatten sie eine zweite Rast eingelegt und die restlichen Brote verzehrt. Und da war es schon erstaunlich, daß sie jetzt schon wieder mit solch einem guten Appetit gegessen hatten.

»Das kommt vom Aufstieg und der guten Luft hier oben«, meinte Sebastian. »Die macht hungrig.«

»Ich möchte noch ein paar Fotos machen«, sagte Johanna, als sie ausgetrunken hatte. »Es ist ja wunderschön hier.«

Sie ging zuerst zu den Tieren hinüber, wo sie von den beiden Hunden schwanzwedelnd begrüßt wurde. Besonders die Kälbchen, die im Frühjahr geboren worden waren, hatten es ihr angetan, und Johanna schoß ein paar reizende Aufnahmen, an denen sie sich später noch erfreuen wollte.

Schließlich wanderte sie zu der anderen Seite der Hütte und genoß die prachtvolle Aussicht hinunter ins Tal.

Sebastian unterhielt sich unterdessen mit Stefan Kreuzer. Der junge Mann berichtete ihm von der unsinnigen Abmachung, die sein Vater mit Harald Schönauer getroffen hatte. Der Geistliche hörte zu und nickte nur ab und an.

»Ich kann verstehen, daß du dich net darauf einlassen willst«, sagte er dann. »Vor allem net, wo du jetzt die Johanna kennen- und liebengelernt hast. Aber wie willst du das deinem Vater beibringen?«

»Das weiß ich auch noch nicht«, erwiderte Stefan. »Ehrlich gesagt, die Nachricht, daß er herkommt, hat mich ziemlich umgehauen.«

»Das glaube ich dir.«

»Ich verstehe nur nicht, was er hier will.«

»Vielleicht befürchtet er genau das, was jetzt eingetreten ist«, vermutete der Bergpfarrer. »Daß du dein Herz an eine andere Frau verloren hast.«

Stefan warf einen Blick in die Richtung, in der Johanna verschwunden war.

»Da werde ich wohl mit ihr reden müssen«, sagte er.

»Das wirst du«, nickte Sebastian. »Aber ich bin sicher, daß sie versteht, warum du bisher nichts davon gesagt hast. Und was die Angelegenheit mit deinem Vater angeht, da steh’ ich dir gern zur Seite, wenn du das möchtest.«

Stefan Kreuzer lächelte dankbar.

»Das wäre mir wirklich eine große Hilfe«, antwortete er.

Mittlerweile hatten die anderen Gäste die Alm verlassen und waren schon wieder auf dem Heimweg. Franz Thurecker setzte sich zu ihnen, und sie plauderten darüber, was sich seit Sebastians letztem Besuch im Dorf ereignet hatte. Stefan war aufgestanden und suchte Johanna. Er fand sie hinter der Hütte, wo sie im Gras hockte und mit einer Blume spielte.

»Hier bist du«, sagte er und setzte sich neben sie.

Stefan gab ihr einen Kuß und legte seinen Arm um sie.

»Wunderschön hier, nicht?« bemerkte Johanna. »Alles so still und friedlich, und ich bin so glücklich.«

Während sie allein gesessen hatte, dachte sie an das, was hinter ihr lag. All ihr Kummer über die verlorengegangene Liebe war verflogen, seit sie wußte, daß Stefan sie liebte. Sie wollte die Vergangenheit vergessen und nur noch nach vorn schauen.

»Besonders schön ist es, weil du da bist«, sagte er leise und drückte sie an sich.

Johanna legte ihren Kopf an seine Schulter und schloß für einen Moment die Augen. Zuerst hatte sie Angst, sie wieder zu öffnen, weil sich dann vielleicht herausstellte, daß alles nur ein schöner Traum war.

Aber nein, sie spürte ihn, fühlte seine Gegenwart und wußte, daß es kein Traum war.

»Ich glaube, wir sollten langsam zurückgehen«, sagte Stefan nach einer Weile. »Der Franz will uns noch die Käserei zeigen.«

Hand in Hand schlenderten sie zurück. Einen Moment bedauerte er, Johanna nicht gleich gesagt zu haben, was ihm auf der Seele lastete. Doch dann wollte er den Zauber des Augenblicks nicht zerstören und das Gespräch lieber auf den Abend verschieben, wenn sie wieder im Tal waren.

In der Käserei standen zwei Kupferkessel in einem peinlich sauberen Raum, der bis unter die Decke gefliest war. Unter einem der Kessel brannte ein leises Feuer und erhitzte langsam die Milch, die sich darin befand. Franz erklärte seinen Zuschauern, welche Handgriffe bei der Käseherstellung nötig waren. Er zeigte ihnen das Lab, das dafür sorgte, daß die Milch dick wurde.

»Das hab’ ich schon heut’ morgen hineingetan«, sagte er und griff zu einem Gerät an der Wand.

Es hatte einen langen Stiel, und vorn war eine Art Drahtgitter befestigt, wie bei einem überdimensionalen Eierschneider. Franz nannte das Werkzeug Käseharfe und fuhr damit durch die dickgelegte Milch.

»Je feiner der Bruch ist, um so fester wird nachher der fertige Käse.«

Allerdings war es bis dahin noch lange nicht so weit. Der Senner nahm ein schneeweißes Tuch und klemmte zwei Enden davon zwischen die Zähne. Die beiden anderen hielt er mit den Händen fest und tauchte tief in den Kessel ein. Langsam zog er das gefüllte Tuch heraus und wartete, bis die Flüssigkeit ein wenig abgelaufen war.

So wie es aussah, mußte es eine schwere Arbeit sein, und Johanna und Stefan bekamen eine Ahnung davon, was für ein Aufwand für einen guten Bergkäse betrieben werden mußte.

Franz ließ das Tuch in eine runde Form gleiten, die auf der Unterseite Löcher hatte. Er schlug die Enden sorgfältig darüber und legte einen Deckel darauf. Dann wurde die Form mit einem Gewicht beschwert, das die restliche Molke herauspreßte.

»So«, sagte er, nachdem er einen zweiten Käse herausgefischt und sich den Schweiß von der Stirn gewischt hatte, »das bleibt jetzt erst einmal stehen, und morgen früh kommen die Laibe für vierundzwanzig Stunden in ein Salzbad.«

Der Senner wusch sich sorgfältig die Hände und führte die Besucher in den Reiferaum. Hier herrschte eine immer gleichbleibende Temperatur. Die Käse lagen in Regalen, die bis unter die Decke reichten. Regelmäßig wurden sie herausgenommen, abgebürstet und mit Salzlake eingerieben. So blieben sie bis zu zwölf Monaten hier liegen und hatten ausreichend Zeit, um zu reifen.

*

»Seltsam«, sagte Marion Trenker zu ihrem Mann, »da hat schon wieder jemand nach Stefan Kreuzer gefragt.«

Andreas sah sie erstaunt an.

»Das ist wirklich merkwürdig«, nickte er. »Scheint ja ein gefragter Mann zu sein, unser Gast.«

Nachdem sie den Schlüssel zu der Hütte aus dem Pfarrhaus abgeholt hatten, waren Stefans Eltern zur Jenneralm hinaufgefahren. Kurt war froh, daß er Isolde doch noch hatte überreden können, ihn zu begleiten. Sicher war es einfacher für ihn, mit seinem Sohn zu reden, wenn er Verstärkung von seiner Frau bekam.

Sie richteten sich in der Hütte ein und kehrten anschließend ins Dorf zurück. Ihr erster Weg führte gleich in die Pension Edelweiß. Dort mußten sie erstaunt zur Kenntnis nehmen, daß ihr Sohn schon am frühen Morgen zu einer Bergtour aufgebrochen war und erst am Abend zurückkehren würde.

»Ärgerlich«, knurrte Kurt Kreuzer, als sie wieder ins Auto stiegen.

Liebend gern hätte er die Sache hinter sich gebracht, um dann mit Isolde noch zwei schöne Tage auf der Hütte zu verbringen, die ihnen außerordentlich gefiel. Besonders seine Frau war begeistert gewesen.

»Laß gut sein«, beruhigte sie ihn. »Laß uns lieber da vorn im Hotel etwas essen.«

Kurt steuerte seinen Wagen durch die Straßen. Seine Frau schaute sich ausgiebig um und bewunderte die Lüftlmalereien an den Häusern. Es waren herrliche Bilder, oft schon hundert Jahre und mehr alt, die immer wieder restauriert worden waren, um ihre ursprünglichen Motive zu bewahren.

Im Kaffeegarten des Hotels fanden sie einen freien Tisch unter hohen Bäumen und bestellten von der Tageskarte. Eigentlich hatte Kurt Kreuzer auch Appetit verspürt, aber als dann das Essen vor ihm stand, stocherte er nur lustlos darin herum.

»Schmeckt es dir nicht?« fragte Isolde.

»Doch, schon«, erwiderte er. »Mich beschäftigt bloß was.«

»Und das wäre?«

»Erinnerst du dich, was die Frau in der Pension gesagt hat?«

»Was genau meinst du?«

»Sie sagt, sie wären gegen Abend zurück«, erklärte Kurt. »Das heißt, Stefan ist nicht allein auf Bergtour, und ich würde gern wissen, wer bei ihm ist.«

»Denkst du…, es könnte eine Frau sein?«

»Male lieber nicht den Teufel an die Wand«, seufzte er. »Das fehlte gerade noch, daß sich unser Sohn hier in eine Frau verliebt hat.«

»Ach, ich denke, da siehst du zu schwarz«, meinte Isolde und widmete sich wieder ihrem Salatteller.

Ihr Mann blickte weiterhin nachdenklich vor sich hin.

»Ist noch was?« fragte sie.

»Ja, als wir vorhin zum Pfarrhaus hinaufgegangen sind, da habe ich mich einmal kurz umgedreht, und da war mir, als wenn ich Silvia Schönauer gesehen hätte…«

»Silvia? Was sollte die hier wollen?«

»Das weiß ich nicht«, zuckte Kurt die Schultern. »Und wahrscheinlich habe ich mich sowieso geirrt. Aber wenn, dann hatte die junge Frau eine fatale Ähnlichkeit mit ihr.«

»Na, wenn sie wirklich hier wäre, das wäre schon ein Ding«, sagte Isolde. »Stell dir mal vor, die beiden sind sich längst einig, und wir machen uns unnötig Gedanken.«

»Wenn sich dann alles friedlich auflöst, soll’s mir auch recht sein«, meinte Stefans Vater und schob sich endlich die erste Gabel in den Mund.

Zur selben Zeit waren Silvia und Martin in der Pension. Sie saßen draußen im Garten und stellten Vermutungen darüber an, was das Ehepaar Kreuzer in St. Johann wollte.

»Es kann nur was mit dieser vermaledeiten Hochzeit zu tun haben«, schimpfte Martin Herweg. »Es gibt überhaupt keinen anderen Grund.«

»Ich verstehe es auch nicht«, sagte Silvia.

Sie nagte an der Unterlippe. Es war wirklich mysteriös, daß Stefans Eltern hergekommen waren. Christel Trautmann hatte bei ihrem ersten Telefonat behauptet, daß nicht einmal Kreuzers wüßten, wo sich ihr Sohn aufhielt, und nun waren sie genau hier.

Unruhig schaute sie auf die Uhr. Es war kurz nach drei.

Wie lange mochte es wohl noch dauern, bis Stefan von seiner Bergtour zurück war?

Sie machten einen langen Spaziergang, um auf andere Gedanken zu kommen, doch immer wieder mußten beide an diesen merkwürdigen Umstand denken. Gegen sechs kehrten sie zur Pension zurück, und Silvia verabschiedete sich von Martin. Sie bestand immer noch darauf, erst einmal allein mit Stefan Kreuzer zu reden. Ihre größte Sorge war, daß Martin vielleicht irgendeine Dummheit begehen konnte, wenn er seinem vermeintlichen Konkurrenten begegnete.

Mit klopfendem Herzen fuhr sie nach St. Johann und hielt vor der Pension. Sie atmete tief durch und ging dann schon wie am Mittag durch die Pforte. Marion Trenker erkannte sie sofort wieder.

»Vor einer halben Stunde sind sie zurückgekommen«, sagte die Wirtin. »Nehmen Sie doch einen Moment Platz, ich sage dem Herrn Kreuzer Bescheid, daß Sie ihn sprechen möchten, Frau Schönauer.«

*

»Bist du sicher?« fragte Stefan überrascht. »Silvia Schönauer will mich sprechen?«

Marion nickte.

»Ja, sie wartet draußen im Garten.«

»Na gut«, sagte er. »Ich komme gleich.«

Jetzt war Stefan total verwirrt. Daß seine Eltern hergekommen waren, hatte ihn überrascht. Er vermutete, daß sie Christel Trautmann seine Urlaubsanschrift abgerungen hatten.

Aber nun auch noch Silvia!

Er ging noch einmal ins Bad und kämmte sich das Haar. Sie waren erst vor einer halben Stunde von ihrer Bergtour zurückgekommen. Auf der Hütte hatte Franz ihnen, wie Pfarrer Trenker vorhergesagt hatte, drei große Stücke Käse eingepackt und mit auf den Weg gegeben. Zwei davon lagen nun im Kühlschrank der Pension, das dritte war fürs Pfarrhaus bestimmt gewesen.

Unterwegs hatte Stefan Johanna gesagt, daß seine Eltern überraschend nach St. Johann gekommen waren und er mit ihnen sprechen müsse. Aber später wollten sie sich treffen und den Abend bei einem Glas ausklingen lassen.

Jetzt ging er ziemlich nervös in den Garten hinaus. Silvia Schönauer saß auf einem Stuhl und wandte ihm den Rücken zu.

Was mochte der Grund dafür sein, daß sie hergekommen war? Was bedeutete die Anwesenheit seiner Eltern?

Stefan hoffte, rasche Antworten auf seine Fragen zu erhalten, und räusperte sich. Die junge Frau drehte sich um und blickte ihn an.

»Guten Abend«, sagte er mit belegter Stimme. »Sie wollten mich sprechen?«

»Ja.« Sie nickte und erhob sich. »Guten Abend, Herr Kreuzer.«

Sie streckte die Hand aus, und Stefan schüttelte sie.

»Warum so förmlich?« fragte er mit einem ironischen Unterton. »Wir sind doch so gut wie verlobt. Wäre es da nicht angebracht, uns zu duzen und mit Vornamen anzureden?«

In ihren Augen blitzte es auf.

»Schlagen Sie sich diese Hochzeit aus dem Kopf«, sagte sie scharf. »Die Idee dazu ist auf dem Mist meines Vaters gewachsen. Ich habe nichts damit zu tun. Eigentlich bin ich nur hergekommen, um Ihnen das mitzuteilen, Herr Kreuzer.«

Sie standen sich kaum zwei Schritte entfernt gegenüber und sahen sich versteinert an. Zuerst begriff Stefan den Sinn ihrer Worte nicht, erst dann wurde ihm klar, was Silvia gesagt hatte.

»Moment mal, soll das heißen, daß Sie gar nicht die Absicht haben, mich zu heiraten?« fragte er verdutzt.

»Genau das soll es heißen«, entgegnete Silvia und wunderte sich, warum Stefan Kreuzer plötzlich über das ganze Gesicht strahlte.

»Das ist ja herrlich!« rief er. »Ganz wunderbar ist das!«

Jetzt war sie es, die irritiert schaute.

Hatte er tatsächlich begriffen, was sie gesagt hatte?

»Hören Sie«, begann sie erneut, »nur damit Sie es auch kapieren. Ich liebe einen anderen Mann und gedenke ihn zu heiraten. Sie sind aus dem Rennen!«

»Ja, ja«, nickte er, »ich habe Sie schon richtig verstanden. Das ist es ja, was mich so entzückt.«

Er packte sie bei den Schultern, sie sah ihn entsetzt an.

»Wenn Sie mich jetzt küssen, schreie ich!« drohte sie.

Stefan lachte aus vollem Hals.

»Keine Sorge, Silvia, ich küsse nur die Frau, die ich liebe«, sagte er.

Jetzt begriff auch sie.

»Wollen Sie mir damit sagen, daß Sie eine Freundin haben?« fragte sie aufgeregt.

»Genau. Aber laß doch das dumme Sie weg. Ich heiße Stefan, und wenn man uns schon gegen unseren Willen unter die Haube bringen will, wir beide aber in dieser Sache derselben Meinung sind, dann, finde ich, sollten wir uns duzen.«

»Ja, gut«, nickte sie und lächelte. »Dann war meine ganze Aufregung ja umsonst.«

»Stimmt«, sagte er. »Es wäre wahrscheinlich klüger gewesen, wenn wir einfach mal miteinander telefoniert hätten.«

Er schloß sie in seine Arme und drückte ihr einen Kuß auf die Wange.

»Mensch, Silvia, bin ich froh!« rief Stefan aus.

Im selben Moment trat Johanna durch die Terrassentür und blieb wie erstarrt stehen. Sie glaubte ihren Augen nicht zu trauen, als sie sah, wie Stefan diese Frau in die Arme nahm, sie küßte und ausrief, wie froh er sei.

Worüber? Wer war diese Frau? Seine Freundin, die er ihr verschwiegen hatte?

In Bruchteilen von Sekunden tauchten die alten Bilder wieder vor ihr auf. Wie sie vor dem Haus von Jürgen Berthold gestanden hatte, wie sie unzählige Tränen weinte. Johanna war sicher, daß sich nun alles wiederholte, und sie mußte schwer kämpfen, um jetzt nicht in Tränen auszubrechen.

Hastig zog sie sich zurück und ging leise in ihr Zimmer.

Weder Silvia Schönauer noch Stefan Kreuzer hatten die junge Frau bemerkt. Sie standen sich gegenüber und hielten sich lachend an den Händen fest.

»O Gott, wenn das unsere Väter sehen könnten«, sagte sie.

»Apropos, meine Eltern sind hier«, fiel es Stefan ein.

»Stimmt, wir haben sie heute mittag zum Pfarrhaus gehen sehen. Was wollten sie wohl dort?«

»Den Schlüssel zu einer Almhütte abholen, den Pfarrer Trenker verwahrt«, antwortete er. »Aber wieso sie überhaupt hier sind, weiß ich allerdings nicht.«

»Ach so, Martin befürchtete schon, um mit dem Geistlichen über unsere Hochzeit zu sprechen.«

»Wer ist Martin?«

Silvia lächelte.

»Mein Freund. Er arbeitet bei uns in der Firma, es weiß nur niemand, daß wir zusammen sind.«

»Verstehe«, nickte Stefan. »Du, dann müssen wir uns mal zusammensetzen. Ich bringe Johanna mit, und dann überlegen wir, wie wir unsere Väter davon überzeugen können, daß wir alt genug sind, uns unsere Ehepartner selber aussuchen zu können.«

»Prima Idee«, stimmte Silvia zu. »Dann werde ich gleich mal meinen Vater anrufen und ihn herlocken.«

Sie schaute auf die Uhr.

»Jetzt muß ich aber los. Martin wird schon ungeduldig warten.«

»Und ich muß zu meinen Eltern«, sagte Stefan. »Aber jetzt wird die Unterhaltung anders verlaufen, als ich es mir vorgestellt habe. Kein Wort werde ich ihnen davon sagen, daß wir zwei schon über alles gesprochen haben. Also sehen wir uns morgen vormittag?«

»Gut«, nickte sie, »wir können ja telefonieren.«

Sie tauschten ihre Handynummern aus, dann winkte Silvia ihm zu und ging. Stefan überlegte einen Moment, ob er rasch Johanna Bescheid sagen sollte, aber es war schon spät, und sie waren ohnehin noch verabredet. Er setzte sich in seinen Wagen und fuhr zum Pfarrhaus.

*

»Meine Eltern waren schon in der Pension und haben nach mir gefragt«, berichtete Stefan, als er zusammen mit Pfarrer Trenker unterwegs zur Jenneralm war.

»Sie haben am Mittag den Schlüssel abgeholt, sagt Frau Tappert«, nickte Sebastian.

»Jedenfalls werde ich sie noch überraschen.«

Der Geistliche sah Stefan verwundert an.

»Du sagst das so, als ob du da noch was in petto hast.«

»Habe ich auch«, grinste er. »Silvia Schönauer ist nämlich ebenfalls in St. Johann.«

»Wirklich? Hast du mit ihr gesprochen?«

»Ja, gerade bevor ich zu Ihnen gekommen bin«, nickte Stefan und erzählte, was geschehen war.

»Na, das ist ja ein schönes Durcheinander.« Der Bergpfarrer konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.

»Mir gefällt’s«, meinte Stefan. »Jedenfalls sind Silvia und ich uns einig. Morgen lerne ich ihren Freund kennen, und ich werde ihr Johanna vorstellen, und dann überlegen wir uns, wie wir unsere Väter einfach vor vollendete Tatsachen stellen.«

»Dann schlage ich vor, ihr kommt zum Mittagessen ins Pfarrhaus«, sagte Sebastian. »Vielleicht kann ich ja dazu beitragen, deine Eltern und den Herrn Schönauer zu überraschen.«

Die Almhütte lag im Schein der untergehenden Sonne. Die umliegenden Wiesen schienen geradezu zu glühen, so wie sie in das goldene Licht getaucht waren. Stefan hielt an, und die beiden Männer stiegen aus. Auf ihr Klopfen hin wurde die Tür geöffnet, und Kurt Kreuzer schaute fragend heraus.

»Stefan!« sagte er. »Mutter und ich wollten gerade losfahren und dich in der Pension aufsuchen.«

»Nicht nötig, jetzt bin ich ja da.«

Der junge Bursche deutete auf seinen Begleiter.

»Das ist Pfarrer Trenker«, stellte er ihn vor. »Hochwürden, mein Vater.«

»Sehr erfreut«, sagte Sebastian und schüttelte die dargebotene Hand.

»Kommt doch herein«, lud Stefans Vater sie ein und rief nach seiner Frau.

»Ach, da bist du ja, mein Junge«, rief Isolde Kreuzer und umarmte ihn. »Wir wollten uns gerade auf den Weg machen.«

»Ich weiß«, nickte er und machte sie mit dem Bergpfarrer bekannt.

»Sagt mal, wieso seid ihr eigentlich hergekommen?« wollte der Sohn wissen, als sie in dem gemütlich eingerichteten Wohnzimmer saßen.

Seine Eltern schauten sich an.

»Na ja«, antwortete Kurt Kreuzer und blickte zu dem Geistlichen hinüber, »ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob das jetzt der richtige Augenblick ist, das zu besprechen…«

»Selbstverständlich bin ich gern bereit hinauszugehen«, sagte Sebastian sofort. »Allerdings hat mich Ihr Sohn gebeten, bei diesem Gespräch dabeizusein.«

»Ich habe mit Pfarrer Trenker über die Angelegenheit gesprochen«, erklärte Stefan. »Und ich möchte jetzt auch gar nicht darüber diskutieren. Das würde ich viel lieber morgen mit euch machen, zusammen mit Silvia Schönauer und ihrem Vater.«

»Dann war sie es also doch!« stellte Isolde fest.

»Ich habe sie heute mittag bei der Kirche gesehen«, sagte Kurt Kreuzer, »war mir aber nicht sicher, ob sie es wirklich ist.«

»Doch, Silvia ist hier«, nickte Stefan. »Ich habe vor einer Viertelstunde erst mit ihr gesprochen, und wir haben beschlossen, daß sie ihren Vater für morgen herbestellt und wir alle uns dann zusammensetzen, um über die Hochzeit zu sprechen.«

Stefan sah, wie sein Vater aufatmete.

»Dann seid ihr euch also einig?« fragte Kurt.

»Ja, ja«, nickte sein Sohn, »wir sind uns voll und ganz einig.«

»Mir fällt ein Stein vom Herzen«, freute sich sein Vater.

»Ich würde Sie alle gern morgen abend zum Essen ins Pfarrhaus einladen«, mischte sich Sebastian in das Gespräch. »Es ist Samstag, und da findet im Hotel immer ein Tanzabend statt. Man könnte also hinterher rübergehen und das Ereignis gebührend feiern.«

»Eine herrliche Idee!« rief Kurt Kreuzer, und auch seine Frau nickte begeistert.

»Dann ist ja soweit alles geklärt«, sagte Stefan und stand auf.

»Willst du schon wieder gehen?« fragte seine Mutter.

Er nickte.

»Ja, ich habe noch eine Verabredung.«

»Verstehe«, schmunzelte sein Vater, »grüß Silvia Schönauer schön von uns.«

»Ja, das werde ich tun, wenn ich sie sehe«, gab der Sohn zurück und konnte sich ein Lachen kaum verkneifen.

Sebastian verabschiedete sich und stieg zu Stefan ins Auto.

»Die werden Augen machen!« prophezeite der junge Bursche und lachte aus vollem Halse, als sie ins Dorf zurückfuhren.

Er setzte den Bergpfarrer vor der Kirche ab und fuhr weiter zur Pension. Gutgelaunt sprang er aus dem Wagen und lief beschwingt den Plattenweg entlang. Stefan klopfte an Johannas Tür. Es dauerte eine Weile, bis sie öffnete und ihn mit seltsamer Miene ansah.

»Was ist geschehen?« fragte er verwirrt. »Hast du geweint?«

Eine überflüssige Frage, denn die Tränenspuren in dem hübschen Gesicht waren noch deutlich zu sehen.

Stefan trat ein, und Johanna schloß die Tür wieder. Mit schweren Schritten ging sie zum Tisch und setzte sich. Er folgte ihr ratlos.

»Warum sagst du denn nichts?« fragte er.

Johanna hielt den Kopf gesenkt, erst nach einigen Augenblicken hob sie ihn und sah Stefan an.

»Wer ist sie?« fragte sie mit tonloser Stimme.

»Wer ist wer?« fragte er verständnislos zurück.

»Die Frau, die du vorhin im Garten geküßt hast…«

»Ach, du lieber Himmel«, stieß Stefan hervor. »Du hast uns gesehen, was?«

Er hockte sich vor sie und nahm ihre Hand. Sie fühlte sich kalt an, und Stefan rieb sie zwischen seinen Händen.

»Es tut mir leid«, sagte er. »Ich hatte noch überlegt, ob ich zu dir gehen und dir die Neuigkeit erzählen soll. Aber es war schon so spät, und ich wollte doch das Gespräch mit meinen Eltern hinter mich bringen.«

Johanna Kramer sah ihn wortlos an. Die letzte Stunde war für sie die Hölle gewesen, ein Auf und Ab ihrer Gefühle. Sie hatte geweint und geschimpft, sich bemitleidet und darüber geärgert, daß sie schon wieder auf einen Tunichtgut von Mann hereingefallen war. Und dann war sie entschlossen gewesen, die Beziehung sofort zu beenden, sie wollte nur noch wissen, mit wem Stefan sie hinterging.

»Ich hatte dir eine Frage gestellt«, sagte sie und zog ihre Hand aus der seinen heraus.

Stefan richtete sich auf, nahm ihren Kopf in beide Hände und sah sie eindringlich an.

»Bitte«, sagte er, »höre mir jetzt ganz genau zu!«

Und dann erzählte er ihr gleich alles, was er bisher noch für sich behalten hatte. Von der Hochzeit, von den Schulden seines Vaters, von Silvia und warum er sie geküßt hatte.

»Aber nur auf die Wange!« betonte er.

Johanna schaute immer noch ungläubig.

»Ich verstehe das alles nicht«, sagte sie.

Ihre Gefühle fuhren Achterbahn. Noch vor wenigen Minuten war sie fest entschlossen gewesen, Stefan den Laufpaß zu geben, und jetzt schaute alles schon wieder ganz anders aus

»Du lernst Silvia und ihren Freund morgen kennen«, versprach Stefan. »Pfarrer Trenker hat uns alle zum Mittag ins Pfarrhaus eingeladen. Dort werden wir gemeinsam überlegen, wie wir meinen Eltern und Silvias Vater klarmachen, daß sie sich ihre Verabredung an den Hut stecken können, und das werden sie dann morgen abend erfahren.«

Er zog sie hoch und schaute ihr ganz tief in die Augen.

»Ich bin doch so glücklich, daß ich dich gefunden habe«, sagte er zärtlich. »Niemals könnte ich dich betrügen, Liebes, du bist alles, was ich mir je von einer Frau erträumt habe. Ich liebe dich, Johanna, mehr als alles andere auf der Welt.«

Jetzt endlich glaubte sie ihm und hob ihm ihren Mund entgegen. Stefan küßte sie, und die dunklen Gedanken waren verschwunden.

*

»Was soll ich denn in St. Johann?« hatte Harald Schönauer am Telefon geraunzt. »Wo liegt dieses Kaff überhaupt?«

Seine Tochter hatte es ihm erklärt und betont, daß es dringend notwendig sei, zu ihr zu kommen, wenn eine Katastrophe verhindert werden sollte.

Schönauer hatte sich fluchend auf den Weg gemacht. Eigentlich war er zum Golfen verabredet. In den nächsten Wochen standen die Vereinsmeisterschaften an, und er mußte unbedingt noch an seinem Handicap arbeiten. Aber die merkwürdige Andeutung seiner Tochter hatte ihn doch umdisponieren lassen.

Jetzt saß Silvia vor dem Haus und wartete auf ihn. Martin hielt sich in seinem Zimmer auf. Vor dem Abend sollte ihr Vater nicht wissen, daß sein Angestellter in dieser Geschichte überhaupt mitspielte.

Beim Mittagessen im Pfarrhaus hatten sie besprochen, wie der Abend verlaufen sollte. Pfarrer Trenker würde die Gäste begrüßen und zu Tisch bitten. Dabei sollten erst einmal nur Stefan und seine Eltern anwesend sein sowie Silvia und ihr Vater. Erst kurz bevor aufgetischt wurde, sollten Johanna Kramer und Martin Herweg hinzukommen.

»Und dann platzt die Bombe!« hatte die junge Frau gesagt.

Martin hielt ihre Hand und drückte sie fest.

»Was immer geschieht, ich bin bei dir«, versprach er.

Auch wenn ihm ein wenig mulmig war, wenn er daran dachte, daß er am Abend seinem Chef gegenüberstehen würde.

Johanna fühlte sich nicht viel besser.

»Hoffentlich gibt es nicht wirklich eine Katastrophe«, sagte sie.

»Keine Sorge«, schmunzelte Stefan, »meine Eltern werden dich in ihr Herz schließen.«

»Ist er schon da?« fragte Martin jetzt, als Silvia auf ihren Vater wartete.

Sie blickte sich um und sah seinen Kopf aus einem der Fenster schauen.

»Noch nicht. Kann aber nicht mehr lange dauern.«

Sekunden später hörten sie den Motor eines Autos, und Martin zog sich schnell zurück. Silvia ging ihrem Vater entgegen.

»Da bin ich«, sagte Harald Schönauer und schlug die Wagentür hinter sich zu. »Was ist es denn für eine Katastrophe, deretwegen ich mein Golftraining habe platzen lassen?«

»Guten Tag, Papa«, entgegnete sie und gab ihm einen Kuß auf die Wange. »Schön, daß du da bist. Wie geht es dir?«

»Was ist los?« fragte er verständnislos.

»Ich dachte, wir würden uns erst einmal begrüßen.« Sie zuckte die Schultern.

»Wie? Ach so, ja. Grüß dich, mein Schatz, wie geht’s dir?«

»Danke, sehr gut.«

Er schaute sich um.

»Nett«, meinte er. »Hast du ein Zimmer für mich reserviert?«

»Ging nicht«, sie schüttelte den Kopf, »es ist alles ausgebucht.«

»Und wo, bitte schön, soll ich schlafen?« wollte Harald Schönauer wissen.

»Drunten im Dorf«, antwortete Silvia. »Genauer gesagt, im Pfarrhaus.«

»Ihr Vater kann hier wohnen, in einem der Gästezimmer«, hatte Sebastian Trenker angeboten, als Silvia erzählte, daß sie kein Zimmer mehr bekommen konnte.

Jetzt schmunzelte sie, als sie seine aufgerissenen Augen sah.

»Im Pfarrhaus?« ächzte Harald Schönauer.

»Genau«, erwiderte sie ungerührt. »Da werden wir heute abend auch zusammen essen, wir und die Kreuzers.«

»Kreuzers? Wieso sind die denn hier?«

»Aus demselben Grund wie du, um die Verlobung ihres Sohnes zu feiern, und ich hoffe, daß du dich nicht weigerst, an meiner Verlobungsfeier teilzunehmen.«

Ein Strahlen lief über das Gesicht ihres Vaters, als er vermeintlich verstand, wovon die Rede war.

»Dann seid ihr euch also einig? Wunderbar«, sagte er und drückte seine Tochter an sich.

»Du kannst dich hier in meinem Zimmer frisch machen und umziehen«, erklärte Silvia. »In einer Stunde müssen wir los.«

Während Harald Schönauer seinen Koffer aus dem Auto holte und in Silvias Zimmer ging, eilte sie zu Martin. Der wartete schon ungeduldig.

»Und?«

»Alles bestens«, sagte sie. »Paps hat gute Laune. Also, es geschieht alles so, wie wir es verabredet haben. Pfarrer Trenker gibt Johanna und dir ein Zeichen, wenn es soweit ist.«

Sie küßte ihn noch einmal ganz liebevoll und nickte Martin aufmunternd zu.

»Fahr jetzt gleich los, damit er dich nicht schon vorher sieht. Bis später.«

*

Im Pfarrhaus war Sophie Tappert schon seit dem Morgen mit den Vorbereitungen für das Abendessen beschäftigt. Mittags hatte es einen leckeren Gemüseeintopf gegeben, für abends war ein mehrgängiges Menü geplant.

Sebastian war in den Keller hinuntergegangen und hatte die passenden Weine ausgesucht. Max und Claudia saßen im Wohnzimmer und unterhielten sich mit Johanna und Martin, die vor wenigen Augenblicken angekommen waren.

»Ich glaube, es wird langsam Zeit«, sagte der Bergpfarrer, als er sich wieder zu ihnen gesellte. »In meinem Arbeitszimmer seid ihr sicher, und lang’ werdet ihr sowieso net ausharren müssen.«

Johanna und Martin nickten und folgten ihm. Sebastian hatte kaum die Tür hinter ihnen geschlossen, als es auch schon an der Haustür klingelte. Es waren Stefan und seine Eltern. Der Geistliche begrüßte die Gäste herzlich und bat sie ins Wohnzimmer, wo er ihnen seinen Bruder und die Schwägerin vorstellte. Max hatte die Aufgabe übernommen, die Gläser mit dem Aperitif zu verteilen. Kurze Zeit später trafen auch Harald Schönauer und seine Tochter ein.

»Na, wer hätte das gedacht, was?« lachte Silvias Vater dröhnend und schlug Kurt Kreuzer auf die Schulter. »Unser kleiner Deal läuft genauso ab, wie wir es uns vorgestellt haben.«

Stefans Vater nickte, schwieg sonst aber. Eine Weile standen sie herum und machten Konversation, dann hob Harald Schönauer die Hand und bat um Ruhe.

»Tja, meine Lieben.« Er wollte eine kleine Ansprache beginnen. »Das ist ja nun eine schöne Überraschung, die uns unsere Kinder da bereitet haben…«

»Entschuldigen S’, wenn ich Sie unterbreche«, bat Sebastian und lächelte in die Runde. »Aber wir sind noch net ganz vollzählig. Zwei Gäste, sehr wichtige Gäste, fehlen noch. Einen Moment, ich hole sie eben.«

Er ging hinaus und kehrte wenig später wieder zurück. Hinter ihm traten Johanna und Martin ins Wohnzimmer.

»So, jetzt kann’s losgehen«, meinte der Bergpfarrer.

Harald Schönauer erblickte seinen Angestellten und wußte im ersten Moment nicht, ob er richtig sah.

»Herweg, was machen Sie denn hier?« fragte er überrascht.

Martin räusperte sich und machte einen Schritt nach vorn.

»Herr Direktor…«

»Das kann ich erklären.« Silvia trat dazwischen und legte ihren Arm um Martins Hüfte. »Wir sind nämlich zusammen hier.«

Kurt Kreuzer und seine Frau sahen sich nicht weniger ratlos an, als Harald Schönauer die anderen. Erst recht, als Stefan die junge Frau in den Arm nahm, die wie ein scheues Reh an der Tür stand.

»Kann mir mal einer erklären, was hier eigentlich los ist?« polterte Silvias Vater. »Was hat das zu bedeuten? Silvia, was hat das zu bedeuten?«

Angespannte Stille herrschte im Raum, so still, daß das plötzliche Scheppern in der Küche wie ein Donnerschlag hallte.

»Ich schau’ mal schnell nach, was passiert ist«, sagte Claudia und lief nach draußen.

»Ich denk’, was Sie sehen, spricht für sich«, wandte sich Sebastian

an Stefans Eltern und Harald Schönauer. »Ihre Kinder sind sich einig, daß sie sich verloben wollen. Allerdings mit den Menschen, die sie von Herzen lieben, nicht mit denen, die Sie für sie ausgesucht haben.«

Silvias Vater sah seine Tochter und Martin Herweg schnaubend an.

»Das kommt überhaupt nicht in Frage!« rief er. »Was… was wird dann aus der Abmachung?«

»Die interessiert mich nicht«, erwiderte sie gelassen. »Ich habe dir gleich gesagt, was ich von deiner Idee halte, nämlich gar nichts. Und damit du’s weißt, Martin und ich, wir sind schon lange ein Paar, es wußte nur bisher niemand, und wir werden heiraten, ob es dir nun paßt oder nicht!«

»Das gleiche gilt für mich«, wandte sich Stefan an seine Eltern.

Er nahm Johanna bei der Hand und zog sie mit sich.

»Das ist Johanna Kramer«, stellte er sie vor. »Wir haben uns hier kennengelernt. Sie ist die Frau, auf die ich immer gewartet habe, und nichts und niemand kann verhindern, daß wir zusammen glücklich werden.«

Kurt Kreuzer und Harald Schönauer sahen sich ratlos an.

»Und was wird aus dem Wechsel?« fragte Stefans Vater mit blassem Gesicht. »Ich habe das Geld nicht, um es zurückzuzahlen, wenn der Wechsel fällig wird.«

»Erst einmal eins nach dem anderen«, mischte sich Sebastian ein. »Sonst gibt es ein noch größeres Durcheinander als ohnehin schon.

Also, Herr Schönauer, Sie haben gehört, was Ihre Tochter gesagt hat. Nun sind Sie an der Reihe.«

Silvias Vater zuckte hilflos die Schultern.

»Was soll man da noch sagen, wenn man so vor vollendete Tatsachen gestellt wird?« fragte er. »Ich gebe zu, daß ich mir das alles doch ein wenig anders vorgestellt habe.«

Er sah wieder Kurt Kreuzer an, dann kehrte sein Blick zu Silvia zurück.

»Bist du sicher, daß er der Richtige ist?« wollte er wissen.

Seine Tochter lächelte.

»Ja, Papa, ganz sicher!« antwortete sie und schaute Martin zärtlich an.

»Na schön«, brummte ihr Vater, »dann bleibt mir ja nichts anderes übrig, als meinen Segen dazuzugeben.«

Silvia fiel ihm mit einem Freudenschrei um den Hals, und Martin fiel ein Stein vom Herzen, als sein Chef ihn ansah und ihm die Hand reichte.

»Mach sie glücklich«, sagte Harald Schönauer, »und zwar für alle Zeiten, sonst bekommst du es mit mir zu tun!«

»Ja, jawohl, Herr Direktor.« Martin nickte.

»Quatsch, Herr Direktor«, grinste sein zukünftiger Schwiegervater, »jetzt, wo wir eine Familie sind!«

»Und nun zu Ihnen«, wandte sich Sebastian an Stefans Eltern. »Da aus den ursprünglichen Plänen ja nichts mehr wird, gibt es eigentlich keinen Grund, Ihre Zustimmung zu verweigern.«

»Sonst steige ich aus der Firma aus und gründe eine eigene«, drohte Stefan spaßeshalber.

Noch immer hielt er Johanna an der Hand und wich keinen Millimeter von ihrer Seite.

»Ja, was können wir da schon ausrichten?« sagte Kurt Kreuzer.

Isolde quetschte sich eine Träne aus dem Auge.

»Ach, mein Junge«, schluchzte sie, »die Hauptsache ist, daß du glücklich wirst.«

»Das werde ich, Mama«, nickte Stefan. »Ganz sicher.«

Er schaute Johanna an und küßte sie. Seine Mutter zog beide in ihre Arme.

»Und der Wechsel?« fragte Kurt Kreuzer.

»Da werden wir schon eine Lösung finden«, beruhigte Harald Schönauer ihn. »Jetzt schaut euch bloß einmal unsere glücklichen Brautpaare an!«

»Das müßt’ man im Bild festhalten«, schmunzelte Sebastian.

Sein Bruder hatte hingegen andere Sorgen. Das Scheppern vorhin in der Küche beschäftigte ihn noch.

»Hoffentlich fällt das Abendessen net aus«, sagte Max und blickte besorgt zur Küchentür.

Seine Frau konnte ihn indes beruhigen, als sie zurückkehrte.

»Es ist nur eine Silberplatte vom Tisch gerutscht«, erklärte Claudia, »aber keine Angst – sie war leer. Im übrigen bittet Frau Tappert zu Tisch.«

Nach dem ausgezeichneten Essen gingen sie zum Hotel hinüber. Sebastian hatte zusätzliche Plätze am Honoratiorentisch reservieren lassen. Es herrschte wie jeden Samstagabend ein riesiger Andrang, denn der Tanzabend war das einzige Vergnügen, das die Bauern hatten. Die ganze Woche freuten sie sich schon darauf.

An diesem Abend wurde die gute Laune, die auf dem Saal herrschte, von dem Glück vierer junger Menschen noch übertroffen. Weder Silvia noch Stefan hätten noch vor wenigen Tagen an diesen guten Ausgang geglaubt.

Nachdem sie ausgiebig getanzt hatten, schlenderten Johanna und Stefan nach draußen, um ein wenig frische Luft zu schnappen. Hand in Hand gingen sie ein Stück die Straße hinunter und blieben an einem dichten Busch stehen, der vor dem Rathaus gepflanzt war.

»Bist du nun glücklich?« fragte er.

»Ja, Liebster«, antwortete sie, »unendlich glücklich!«

»Ich auch. Und jetzt kann es eigentlich nur noch schöner werden, wenn wir heiraten.«

»Du hast es aber eilig«, sagte sie lächelnd.

»Es kann mir gar nicht schnell genug gehen«, erwiderte Stefan und drückte sie ganz fest an sich. »Am liebsten würde ich hier in St. Johann heiraten und Hochwürden traut uns.«

»Das wäre bestimmt wunderschön«, nickte Johanna.

»Dann sollten wir ihn gleich mal fragen«, sagte er.

»Eine gute Idee«, hörten sie plötzlich eine Stimme, und dann lugten Silvia und Martin hinter dem Busch hervor. »Die hatten wir nämlich auch schon.«

Lachend fielen sich die vier jungen Leute in die Arme. Eine Doppelhochzeit sollte es werden, und eine lebenslange Freundschaft.

Der Bergpfarrer Paket 4 – Heimatroman

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