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Wenn das Herz begehrt … schweigt die Vernunft! Roman von Waidacher, Toni

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»Mensch, freu’ ich mich, dich zu sehen!«

Kathrin Raitmayr fiel Saskia um den Hals, kaum, daß das blonde Madl aus dem Auto gestiegen war.

»Hallo, Kathi, wie geht es dir?«

»Wie’s mir geht?« lachte die dunkelhaarige Bauerntochter. »Prima, jetzt wo du endlich da bist! Sieben Jahre kennen wir uns jetzt schon, aber nur vom Briefeschreiben und Telefonieren. Es wurde höchste Zeit, daß du mich mal besuchen kommst.«

Saskia Benthof schaute sich um. Die Brieffreundin wohnte auf einem schmucken Bauernhof, und es war alles genauso, wie die Studentin es sich vorgestellt hatte.

»Laß deine Sachen noch im Auto«, meinte Kathi. »Ich will dich erstmal meinen Eltern vorstellen. Der Kaffee ist auch schon fertig, und den Kuchen hab’ ich extra heut’ morgen für dich gebacken.«

Im selben Augenblick kam ein Hund herbeigelaufen, der Saskia freudig einen Ball vor die Füße legte.

»Der Rex mag dich auch«, lächelte Kathi. »Aber ich warn’ dich, wenn du erstmal angefangen hast, den Ball zu werfen, dann findet er kein Ende.«

Die Brieffreundin nahm das Spielzeug des Hundes trotzdem und warf es über den Hof. Sofort schoß Rex hinterher und suchte es irgendwo zwischen Scheune und Stall.

»Komm«, sagte die Bauerntochter und legte ihren Arm um die Freundin. »Vater und Mutter sind schon ganz gespannt darauf, dich kennenzulernen.«

Hinter dem Haus befand sich ein großer Garten. Auf der Wiese standen Tisch und Stühle. Franz Raitmayr und seine Frau saßen schon dort und sahen den Madln entgegen.

»Herzlich willkommen«, begrüßte Burgl die Studentin. »Schön, daß wir dich endlich mal persönlich kennenlernen.«

»Ja, und wir hoffen, daß du dich bei uns wohl fühlst«, setzte der Bauer hinzu.

»Erzähl’ mal, wie war die Fahrt?« erkundigte sich Kathi, nachdem sie Platz genommen hatten.

Saskia Benthof wohnte in Passau. Sie erzählte, daß es während der Fahrt keine Probleme gegeben hatte. Auch den Hof hatte sie schnell gefunden, Kathis Wegbeschreibung war kurz und präzise gewesen.

Zur Feier des Tages hatte die Bauerntochter einen Apfelkuchen gebacken. Saskia, die jeden weiteren Backversuch nach einigen Reinfällen aufgegeben hatte, lobte den Kuchen und mußte sich nicht nötigen lassen, ein zweites Stück zu essen.

Anschließend zeigte Kathi der Freundin das Zimmer, in dem Saskia die nächsten zwei Wochen wohnen sollte. Es lag gleich neben dem der Bauerntochter und hatte früher der älteren Schwester gehört, die aber längst verheiratet und in die Stadt gezogen war. Außerdem gehörte zu der Familie noch Thomas, der Bruder, der später einmal den Hof übernehmen würde.

»Den Thomas lernst heut’ abend kennen«, sagte Kathi. »Im Moment ist er grad droben im Holz.«

Sie räumten Saskias Koffer aus und verstauten die Sachen im Schrank. Natürlich hatte die Studentin ein kleines Gastgeschenk mitgebracht, und Kathi freute sich sehr über das gerahmte Foto, das die Brieffreundin gemeinsam mit ihren Eltern zeigte.

Dann wurde es Zeit, den Hof zu besichtigen. Saskia stammte aus einer Familie, die seit Generationen Ärzte hervorgebracht hatte, ihr Vater hatte eine Praxis in der Nähe von Passau, und eines Tages würde die Tochter dort mit einsteigen.

Allerdings stand davor noch der lange Weg des Medizinstudiums, das Saskia gerade erst vor einem halben Jahr begonnen hatte. Jetzt aber staunte sie über die riesige Scheune, in der Traktoren, Mähdrescher und andere landwirtschaftliche Geräte standen. Oben auf dem Boden lagerte das Heu für den Winter, und in der hintersten Ecke befand sich eine komplett eingerichtete Werkstatt.

»Vater und Thomas versuchen möglichst immer alles selbst zu reparieren«, erklärte Kathi.

Danach gingen sie in die Stallungen. Allerdings befanden sich die Kühe draußen auf der Alm.

»Wir haben noch zwanzig Stück auf unserer Alm steh’n«, erläuterte die Bauerntochter. »Da bleiben s’ und kommen erst im Herbst, zum Almabtrieb, wieder herunter.«

Im Melkstand herrschte peinliche Sauberkeit.

»Wir sind ein anerkannter Biobetrieb«, erzählte Kathi stolz. »Und bei Rohmilch muß man ohnehin auf Hygiene achten. Das ist sehr heikel, wegen der Bakterien.«

»Das ist wirklich beeindruckend«, meinte Saskia.

Dann standen sie auf dem Hof und sahen sich lachend an.

»Tja, da bist also«, sagte Kathi glücklich.

»Ja, da bin ich«, nickte Saskia. »Lang’ genug hat’s gedauert.«

Kennengelernt hatten sich die beiden vor Jahren, als sie noch Teenager waren. Sie schwärmten damals für denselben Popstar, und über einen Fanclub wurde der erste Kontakt geknüpft. Inzwischen waren sie hübsche, junge Frauen geworden, auch ihr Musikgeschmack hatte sich ein wenig geändert, aber ihre Brieffreundschaft hatte Bestand gehabt. Unzählige Male hatten sie sich gegenseitig das Herz ausgeschüttet und dabei kein Thema ausgelassen, egal, ob es sich um Probleme in der Schule handelte oder um Liebeskummer. Und wenn die eine konnte, dann stand sie der anderen mit Rat zur Seite.

Schon lange waren gegenseitige Einladungen ausgesprochen worden, doch immer hatte es irgendwie nie geklappt. Erst jetzt hatte sich Saskia einen Ruck gegeben.

»Ich komme zu euch«, versprach sie beim letzten Telefonat. »Und diesmal wird mich nichts davon abhalten!«

Und nun war sie angekommen, es war schön, und die Freundinnen standen da und freuten sich von ganzem Herzen.

*

Thomas Raitmayr begrüßte Saskia genauso freundlich, wie es schon seine Eltern getan hatten. Kathis Bruder war mit seinen Siebenundzwanzig vier Jahre älter als seine Schwester. Er war groß und schlank. Das dunkle Haar trug er kurz geschnitten, und wenn er lachte, dann saß ihm der Schalk in seinen braunen Augen. Thomas war mit Michaela Brendler verlobt, der Tochter eines Bauern aus Waldeck. In einem halben Jahr sollte Hochzeit sein, und die Braut würde dann hierher auf den Hof ziehen.

Der Bauernsohn verabschiedete sich gleich nach dem Abendessen, um ins Nachbardorf zu fahren. Saskia und Kathi halfen der Bäuerin den Tisch abzudecken, aber als sie sich an den Abwasch machen wollten, schüttelte Burgl Raitmayr den Kopf.

»Laßt nur«, sagte sie. »Unternehmt lieber was. Ihr habt euch doch bestimmt viel zu erzählen.«

Das hatten die zwei Madln zwar schon den ganzen Nachmittag getan, aber natürlich gingen die Themen nicht aus, wenn man sich nach all den Jahren jetzt erst persönlich kennengelernt hatte.

»Wir fahren nach St. Johann«, schlug Kathi vor.

Saskia war einverstanden. Sie war schon ganz neugierig auf das Dorf, von dem die Freundin in so vielen Briefen und Telefongesprächen schon geschwärmt hatte. Auf der Herfahrt war sie nicht durch den Ort gekommen, sondern daran vorbeigefahren.

»Was ist eigentlich mit deinem Freund?« erkundigte sie sich, als sie neben Kathi saß, die das Auto lenkte. »Er heißt doch Florian, oder? Ist er noch aktuell?«

Kathi schmunzelte.

»Aktueller als je zuvor«, antwortete sie. »Vielleicht treffen wir ihn nachher noch. Dann weißt du, warum.«

»Donnerwetter, das muß ja ein Prachtkerl sein«, lächelte Saskia. »Da wundert’s mich auch net, daß du mir bisher kein Foto von ihm geschickt hast.«

Die Bauerntochter lächelte ebenfalls. Sie drückte einen Knopf an dem Autoradio, und der eingebaute CD-Spieler ließ die ersten Takte eines Liedes hören, das die beiden nur zu gut kannten.

»Ist immer noch toll, was?« meinte Saskia, als die Stimme ihres einstigen Popidols erklang.

Kathi nickte.

»Vor allem ist es mein Lieblingslied, weil es gespielt wurde, als Florian mich das erste Mal geküßt hat«, erzählte sie und blickte träumerisch vor sich hin. »Ach, das waren noch Zeiten!«

»Na ja, so lang’ ist’s ja nun auch wieder net her«, lachte Saskia und deutete nach vorne. »Schau lieber auf die Straße. Träumen kannst nachher noch.«

Kathi konzentrierte sich wieder auf das Fahren. Die Bergstraße war kurvenreich und führte steil ins Tal hinunter.

Schließlich waren sie angekommen. Saskias erster Eindruck von St. Johann war der, daß es sich um ein kleines Dorf handelte, in dem die Zeit stehengeblieben zu sein schien. Die Häuser waren alt, aber schmuck herausgeputzt. An vielen Fassaden und Giebeln sah sie die für diese Gegend so typischen Lüftlmalereien. Die Kirche in der Mitte des Ortes war imposant.

»Da würd’ ich gern’ mal hineinschauen«, sagte die Studentin.

»Machen wir auch noch«, versprach Kathi. »Aber jetzt schauen wir uns erst einmal ein bissel um. Bist ja schließlich zwei Wochen da. Wir haben also Zeit und Gelegenheit genug, was zu unternehmen.«

»Mußt denn net auf dem Hof helfen?« fragte Saskia erstaunt.

Die Bauerntochter schüttelte den Kopf.

»Meine Eltern haben mir sozusagen Urlaub gegeben«, antwortete sie. »Extra, damit ich Zeit für dich hab’.«

»Das ist aber nett von ihnen.«

»Ich komm’ auch prima mit ihnen aus. Überhaupt sind wir eine Familie, in der alle zusammenhalten.«

Kathi stellte das Auto auf dem Parkplatz des kleinen Einkaufszentrums ab, in dem die Läden bereits geschlossen waren. Trotzdem bummelten sie durch die Passage und schauten in die Auslage der Boutique, die immer aktuelle Damenmode führte. Danach spazierten sie durch das Dorf, ein Fußmarsch, der von einem Ende bis zum anderen kaum mehr als eine Viertelstunde erforderte.

»Hier ist’s wirklich schön«, sagte Saskia, was sie ehrlich empfand. »Und alles ist genauso, wie du’s immer beschrieben hast.«

Kathi zog sie mit sich.

»Komm, wir geh’n in den Biergarten.«

Es war früher Abend, und viele der Tische waren besetzt. Die zahlreichen Touristen, die nach St. Johann kamen, wohnten meist in den billigeren Pensionen und nicht im teuren Hotel. Dort aber gab es außer dem Frühstück keine anderen Mahlzeiten, so daß die Urlauber gerne den Bier- und Kaffeegarten aufsuchten um hier, je nach Tageszeit, zu Mittag oder Abend zu essen. Indes waren es nicht nur auswärtige Besucher, die sich hier einfanden. Die Bauern tranken ihren Abendschoppen meist im Wirtshaus, das zu dem Hotel gehörte, wie Saskia erfuhr, die jungen Leute frequentierten hingegen lieber das Außenlokal. An einem der Tische saßen zwei Bekannte von Kathi Raitmayr, und die Freundinnen setzten sich dazu. Saskia wurde freudig begrüßt, und schnell war man im Gespräch vertieft. Dabei ging es vor allem darum, wer mit wem auf dem letzten Tanzabend was angefangen hatte, oder welche Beziehung genau dort auseinandergegangen war.

Nachdem die zwei Madln, es waren Mägde vom Sonnenbichlerhof, sich verabschiedet hatten, saßen Saskia und Kathi zunächst alleine an ihrem Tisch. Die Bauerntochter nahm ihr Handy und rief ihren Freund an.

»Wir sind im Biergarten«, sagte sie, nachdem sie sich erkundigt hatte, ob Florian Burger Zeit hatte, zu ihnen zu kommen.

Er versprach es, und Kathi steckte ihr Mobiltelefon zufrieden wieder in die Tasche.

»In zwanzig Minuten ist er da«, erklärte sie.

»Fein. Ich freu’ mich schon darauf, ihn kennenzulernen«, nickte Saskia und trank einen Schluck von ihrem Radler.

Sie unterhielten sich weiter und merkten gar nicht, wie schnell die Zeit verging. Und dann stand Flo­rian plötzlich vor ihnen, und Saskia schnappte nach Luft und wußte gar nicht, wie ihr geschah.

Donnerwetter, dachte Saskia, das ist also ihr Freund!

*

»Grüß euch«, sagte Florian Burger charmant.

Er beugte sich zu Kathi hinüber und gab ihr einen Kuß. Dann reichte er Saskia die Hand.

»Und du bist also Kathis langjährige Brieffreundin«, sagte er. »Freut mich, dich endlich kennenzulernen.«

Zu ihrer Überraschung beugte er sich auch zu Saskia rüber und gab ihr ebenfalls einen Kuß – auf die Wange.

Kathi schien das nicht zu stören.

»Hallo, Florian«, sagte die Studentin, um ihre Verlegenheit zu verbergen, »schön, daß du noch herkommen konntest.«

»Ach ja, es war ein langer Tag«, seufzte der Bauernsohn, während er sich setzte und nach der Kellnerin winkte.

Saskia betrachtete ihn verstohlen. Florian Burger war bestimmt über einen Meter achtzig groß und schlank. Er hatte gewelltes blondes Haar und blaue Augen. Sein markantes Gesicht war gebräunt, und unter dem Jeanshemd verbarg sich ein muskulöser Oberkörper. Lässig hatte er die Beine übereinandergeschlagen und bestellte eine Maß.

»Was darf ich denn den Damen spendieren?« erkundigte er sich.

Ihre Gläser waren noch voll, und sie lehnten dankend ab.

»Und habt ihr euch schon überlegt, was ihr alles so anstellen wollt, in den zwei Wochen?« erkundigte er sich.

Saskia war nicht ganz klar, an wen die Frage gerichtet war. Eigentlich hätte Florian sie Kathi stellen müssen, denn die war ja schließlich hier zu Hause. Der Bursche aber schaute sie dabei an – mit einem Blick, der Saskia unter die Haut ging.

Mensch, ist das ein Typ! dachte sie elektrisiert.

Gleichzeitig schlug eine Alarmglocke in ihrem Kopf an.

Finger weg, sagte sie sich, schließlich ist er Kathis Freund!

Die Bauerntochter erzählte, was sie sich alles überlegt hatte. Natürlich würden sie gleich morgen einen Ausflug in die nähere Umgebung machen, am Nachmittag vielleicht die Kirche besichtigen. Dann stand ein Badetag am Achsteinsee auf dem Programm, vielleicht sogar auch mehrere, je nachdem, wie das Wetter wurde. Außerdem wollte Kathi ihrer Freundin unbedingt das Jagdschloß »Hubertusbrunn« zeigen, das malerisch im Ainringer Wald gelegen war, und weil Saskia einmal hatte durchblicken lassen, daß sie hin und wieder gerne ausritt, wollte die Bauerntochter sie mit einem Besuch des Ferienhotels »Reiterhof« überraschen, wo man Pferde ausleihen konnte.

Von dieser Überraschung verriet sie allerdings noch nichts, als sie aufzählte, was alles geplant war. Florian nickte zustimmend.

»Das ist doch super«, meinte er. »Ich hab’ schon mit meinem alten Herrn gesprochen und ihm gesagt, daß ich in den nächsten Tagen ein bissel kürzer treten will auf dem Hof. Schließlich möcht’ ich so viel Zeit wie möglich mit euch verbringen. Dann muß halt der Georg ein bissel mehr schaffen.«

Georg war sein jüngerer Bruder, der ebenfalls auf dem Hof arbeitete.

»Ach, das ist schön«, freute sich Kathi und gab ihm einen Kuß.

Saskia bemerkte, halb amüsiert und halb entsetzt, daß Florian ihr dabei zuzwinkerte.

Ist das ein Frechling, ging es ihr durch den Kopf, da flirtet der doch mit mir, während er seine Freundin küßt!

Indes schien sich der Bursche darüber keine Gedanken zu machen. Er nahm seinen Bierkrug und prostete ihr zu.

»Also dann, auf schöne Ferien.«

Kathi und Saskia hoben ebenfalls ihre Gläser.

»Die Kirche ist wohl schon sehr alt, was?« fragte die Studentin, mehr um sich abzulenken.

»Das kannst meinen«, nickte Florian. »Bestimmt schon an die vierhundert Jahr’. Aber darüber kann dir unser Bergpfarrer mehr erzählen.«

»Bergpfarrer?« hakte Saskia stirnrunzelnd nach. »Wer ist das denn?«

»Eigentlich heißt er Pfarrer Trenker«, erklärte Kathi. »Aber die Leut’ nennen ihn halt so, weil er sich droben in den Bergen so gut auskennt. Bestimmt wirst Hochwürden noch kennenlernen, in den zwei Wochen, die du hier bist.«

»Hast eigentlich schon mal eine Bergtour gemacht?« wollte Florian wissen.

Die Studentin schüttelte den Kopf.

»Na, dann wird das aber gleich eingeplant«, rief Kathi sofort. »Vielleicht haben wir Glück und Pfarrer Trenker geht mit uns. Du, das ist ein einmaliges Erlebnis!«

»Mir soll’s recht sein«, sagte Saskia. »Ich bin zu jeder Schandtat bereit.«

Sie fühlte sich ausgesprochen wohl und wollte die zwei Wochen genießen.

Florian schaute auf die Uhr und trank sein Bier aus.

»So, seid mir net bös’«, sagte er, »aber ich muß los.«

Er stand auf und gab Kathi einen Kuß.

»Ich melde mich, und dann verabreden wir was. Und morgen nachmittag könntet ihr eigentlich auf einen Kaffee bei uns vorbeikommen«

»Einverstanden«, nickte Kathi.

Florian legte seinen Arm um Saskia, die genau wie die Freundin aufgestanden war, um den Bauernsohn zu verabschieden.

»Also«, sagte er, »schön, daß du da bist.«

Dabei schaute er ihr wieder tief in die Augen, daß Saskia unwillkürlich einen Schauer über ihren Rücken laufen spürte.

»Ja, find’ ich auch«, erwiderte sie mit belegter Stimme.

»Ich freu’ mich schon auf die Tage, die wir zusammen verbringen werden«, setzte er hinzu und strich ihr dabei bedeutungsvoll über das Haar.

Saskia schluckte und wollte sich eigentlich mit einer Bewegung davon befreien. Doch dann unterließ sie es und gab sich gelassen.

»Na, was sagst du?« fragte Kathi, als Florian gegangen war.

Die Studentin nickte.

»Fesch.«

Insgeheim fragte sie sich, ob ihre Brieffreundin etwas davon bemerkt hatte, wie Florian mit ihr geflirtet hatte.

»Sollten wir net auch aufbrechen?« fragte sie schließlich.

»Na ja, ich müßt’ schon ins Bett«, antwortete Kathi. »Zwar haben mir die Eltern zugestanden, die ganze Zeit mit dir zu verbringen, aber ich würd’ schon gern’ zumindest das Melken am Morgen übernehmen.«

»Das will ich auch«, erklärte Saskia. »Ich hab’ so was noch nie gemacht. Und den Stall ausmisten, das mußt mir auch beibringen.«

Kathi lachte.

»Du bist ja vor lauter Tatendrang net zu bremsen«, meinte sie. »Aber von mir aus. Mach’ dich bloß darauf gefaßt, daß der Wecker in aller Herrgottsfrühe klingelt!«

*

»Nanu, Hochwürden, Sie?« fragte Toni Wiesinger erstaunt, als der gute Hirte von St. Johann das Sprechzimmer des Arztes betrat. »Sind S’ etwa krank?«

Sebastian Trenker schüttelte den Kopf.

»Nein, mir geht’s bestens«, antwortete er und reichte Toni die Hand. »Ich will dich auch gar net lang aufhalten, das Wartezimmer ist ja voll. Bloß eine Frage. Hat sich der Moislinger-Karl mal wieder bei dir gemeldet, seit er so plötzlich ›abgereist‹ ist?«

Dr. Wiesinger schüttelte den Kopf.

»Merkwürdig«, sagte er, »genau an den hab’ ich heut’ morgen auch gedacht. Ist ja ein seltsamer Zufall, daß Sie jetzt herkommen und nach ihm fragen.«

Karl Moislinger war ein Obdachloser, der sich in der Erntezeit hin und wieder bei einem Bauern verdingte. Beim letzten Mal war er unglücklicherweise bei der Arbeit vom Heuboden gefallen und hatte sich ein Bein und mehrere Rippen verletzt. Nachdem er wieder aus dem Krankenhaus entlassen werden konnte, nahm Pfarrer Trenker Karl bei sich auf, wo er unter der Pflege der Haushälterin wieder ganz gesund werden sollte. Zunächst lief auch alles ganz harmonisch ab. Der Obdachlose wohnte in einem der Gästezimmer des Pfarrhauses, und Sophie Tappert verwöhnte ihn mit Speis und Trank. Gerne hätte sich Karl ein bissel nützlich gemacht, aber da er sich noch schonen sollte, achtete Sebastian darauf, daß sein Gast keine schweren Arbeiten verrichtete.

Dann eines Tages, es war Samstagmittag, verschwand Karl Moislinger aus dem Pfarrhaus und wurde seither nicht wieder gesehen.

Es dauerte eine Weile, bis der Bergpfarrer dahinterkam, was geschehen war. Karl hatte bei seinen Spaziergängen die Bekanntschaft von Maria Erbling gemacht. Die Witwe des früheren Poststellenleiters von St. Johann und gefürchtete Klatschtante des Dorfes hatte ein Auge auf den Obdachlosen geworfen, der jetzt, wo er im Pfarrhaus logierte, nicht nur manierlich ausschaute, sondern sogar einen recht feschen Eindruck machte.

Zunächst war es nur die Bitte, etwas in ihrem Haus zu richten, mit der Maria an ihn herantrat, doch schon bald wurde Karl klar, welche Absicht dahintersteckte, und er ergriff die Flucht.

»Ich hatte wirklich gehofft, daß er sich bei dir melden würd’«, sagte Sebastian. »Schließlich sollte ein Arzt ja danach schauen, was sein Bein macht, und ob die Rippen wieder zusammengewachsen sind.«

»Vielleicht hat er ja irgendwo einen Kollegen aufgesucht«, meinte Toni Wiesinger. »In Garmisch gibt’s zum Beispiel eine Sozialstation, wo Dr. Jäger jeden Mittwochnachmittag eine kostenlose Sprechstunde abhält.«

»Ich weiß«, nickte der Geistliche, »und ich hab’ Claudia auch schon gebeten, sich bei ihm nach Karl zu erkundigen. Aber dein Kollege sagte, daß er ihn noch nie dort gesehen hat.«

»Vermutlich sind unsre Sorgen unbegründet«, sagte der Arzt und nahm eine dunkelbraune Flasche von seinem Schreibtisch. »Jedenfalls solang’ der Karl net an solches Zeug hier gerät.«

Bei diesen Worten machte Dr. Wiesinger eine finstere Miene.

»Was ist denn das?« erkundigte sich Sebastian.

»Sie haben vorhin richtig bemerkt, daß das Wartezimmer voller Patienten ist«, sagte Toni. »Die Sommergrippe geht um, und die Leut’ greifen nach allen Mitteln, um wieder gesund zu werden.«

Er hielt das Fläschchen hoch.

»Aber anstatt zum Doktor zu geh’n, schlucken s’ lieber dieses Zeugs hier«, setzte der Arzt ärgerlich hinzu. »Die Flasche hab’ ich dem Stranninger weggenommen. Kommt der Kerl doch tatsächlich damit her und erzählt, er habe diese ›Medizin‹ beim Brandhuber gekauft, und ob ich ihm das net nachträglich verschreiben könnt’. Weil’s ja so teuer war, wollt’ er gern das Geld von seiner Krankenkasse erstattet haben. Na, dem hab’ ich aber was erzählt!«

»Vom Brandhuber?«

Sebastian schüttelte den Kopf.

»Ja, werden die Leut’ denn nie gescheit!«

Alois Brandhuber war der selbsternannte Wunderheiler von St. Johann. In Vollmondnächten trieb er sich in der Gegend herum, um nach Kräutern und Wurzeln zu suchen, aus denen er seine obskuren Mixturen braute. Die Tees, Salben und Tropfen verkaufte er dann für viel Geld an seine gutgläubigen Mitmenschen, die hofften, dadurch von ihren Zipperlein geheilt zu werden.

Es war ein ewiger Kampf, den der Bergpfarrer gegen den Brandhuber-Loisl führte, und ganz besonders verdächtig wurde es, wenn man von dem Scharlatan lange nichts hörte, wie es in der letzten Zeit gewesen war. Denn dann konnte man sicher sein, daß Loisl seine Geschäfte im Geheimen machte.

»Gerade jetzt ist ja die beste Zeit, um dieses Zeug an den Mann zu bringen«, sagte der Arzt. »Die Leut’ wollen verständlicherweise gesund werden, und das schnell. Aber eine Grippe braucht nun mal ihre Zeit, bis man sie überstanden hat, da ist’s ein Irrtum, wenn man glaubt, mit den Brandhuberschen ›Medikamenten‹ nachhelfen zu können. Das ist nur rausgeschmissenes Geld!«

»Ich werd’ mir den Burschen bei Gelegenheit vorknöpfen«, versprach Pfarrer Trenker. »Und diesmal wird er’s sich hoffentlich hinter die Ohren schreiben.«

Er deutete auf das braune Fläschchen.

»Was mag da wohl alles drin sein?«

»Keine Ahnung«, erwiderte Dr. Wiesinger. »Aber ich schick’s gleich heut’ nachmittag und laß es analysieren.«

»Gib mir Bescheid, wenn du das Ergebnis hast«, bat der Geistliche.

»Mach’ ich«, nickte Toni und geleitete Sebastian zur Tür.

Der gute Hirte von St. Johann ging nicht gleich zum Pfarrhaus zurück, sondern schlug den Weg zu der halbverfallenen Hütte ein, die Alois Brandhuber am Rande des Dorfes bewohnte. Der Alte sah genauso vernächlässigt aus wie seine Behausung. Das Haar war grau und verfilzt, die Kleidung alt und zerschlissen und vermutlich vor Jahren das letzte Mal gewaschen worden. Eigentlich hätte jeder, der dem Brandhuber-Loisl begegnete, gleich Reißaus nehmen müssen, doch leider fielen seine Heilsversprechen immer wieder auf fruchtbaren Boden, und die Geschäfte bescherten ihm ein lukratives Einkommen.

Sebastian klopfte an der Tür, die schief aus den Angeln hing. Indes schien er sich den Weg hierher umsonst gemacht zu haben. Der »Wunderheiler« war nicht zu Hause.

*

»Ach, ist das schön hier!«

Die Freundinnen hatten eine steile Bergwiese erklommen und sich ins Gras gesetzt. Neben ihnen lag der Rucksack, der ein wenig Proviant enthielt. Über zwei Stunden waren sie schon unterwegs, und Kathi hatte Saskia einige der schönsten Ecken ihrer Heimat gezeigt.

Gestern abend waren sie zwar zeitig nach Hause gefahren, dennoch konnten sie nicht gleich schlafen gehen. Sie saßen in Kathis Zimmer, hörten die Musik ihres einstigen Idols und unterhielten sich über tausend Dinge.

»Hast du eigentlich wieder einen Freund?« wollte die Bauerntochter beispielsweise wissen.

Saskia hatte ihr vor geraumer Zeit geschrieben, daß sie die Beziehung zu ihrem damaligen Freund beendet hatte. Der Schuft, so hatte sich herausgestellt, war nämlich ein Casanova, der gerne mehrere Eisen gleichzeitig im Feuer hatte.

Die Studentin schüttelte den Kopf.

»Das Thema ist vorläufig abgehakt«, antwortete sie. »Mal ganz abgesehen davon, daß mir die Uni kaum Zeit für private Vergnügungen läßt, hab’ ich erstmal die Nase voll von Beziehungsstreß.«

Seltsamerweise mußte sie bei diesen Worten an einen ganz bestimmten Burschen denken...

»Wie steht’s denn mit dir und Florian?« fragte Saskia. »Werdet ihr heiraten?«

Kathi zuckte die Schultern.

»Gesprochen haben wir darüber noch net«, sagte sie. »Aber ich denk’ schon.«

Sie lächelte.

»Wir sind jetzt fast ein Jahr zusammen, und auf dem Burgerhof werd ich schon fast wie die zukünftige Schwiegertochter empfangen«, fuhr sie fort. »Mit Richard und Margret, das sind Floris Eltern, komm’ ich gut aus, und wenn wir heiraten, dann zahlen meine Eltern eine gute Mitgift. Freilich möcht’ ich mal als Bäuerin auf dem Hof einheiraten. Hier würd’ ich ja nur als Magd vom Thomas arbeiten können, wenn er unsren Hof mal übernimmt.«

Saskia verstand, wie das alles zusammenhing. Eine Braut, die Geld mitbrachte, wurde gerne genommen. Andererseits stand Kathis Bruder als Erstgeborenem der Hof zu. Freilich würde er die Schwester auszahlen müssen, wenn sie einmal heiratete, aber bis dahin wäre sie darauf angewiesen, sich bei ihm als Magd zu verdingen.

»Wenn ich irgendwann mal mit dem Studium fertig bin, steig’ ich bei meinem Vater in die Praxis ein«, erzählte Saskia. »Schon mein Urgroßvater war Arzt, dann der Großvater und schließlich Papa.«

Sie schmunzelte.

»Alle hatten sie Söhne«, setzte sie hinzu, »bloß ich hab’ die Tradi­tion unterbrochen und bin ein Madl geworden.«

»Ich wette, deine Eltern hat’s trotzdem gefreut«, lachte Kathi.

Sie schauten auf die Uhr und gähnten gleichzeitig.

»Um Gottes willen«, stieß die Bauerntochter hervor, »in drei Stunden klingelt der Wecker. Laß uns bloß noch ’ne Mütze voll Schlaf nehmen.«

Saskia nickte und ging in ihr Zimmer. Es waren heute so viele neue Eindrücke auf sie eingestürzt, daß sie eigentlich viel zu aufgekratzt war, um rasch einschlafen zu können, doch dann schloß sie die Augen und wachte erst wieder auf, als das unbarmherzige Klingeln des Weckers sie wieder aus dem Schlaf riß.

Kurze Zeit später klopfte Kathi an die Tür.

»Ich hab’ dir ein paar Sachen mitgebracht«, sagte sie nach dem Morgengruß.

Beide lachten, als Saskia die derbe Hose und die blaue Arbeitsjacke angezogen hatte.

»Mensch, wenn meine Eltern mich so sehen könnten – die würd’ glatt der Schlag treffen«, rief die Studentin.

»Kein Problem!« meinte Kathi und nahm Saskias Fotoapparat, der auf dem Tisch lag. »Das halten wir doch gleich mal im Bild fest.«

Am Melkstand wurde weiter fotografiert. Kathi zeigte der Freundin, wie die Schläuche angelegt wurden, und knipste Saskia, als diese so tat, als würde sie die Kuh mit der Hand melken.

»Was ist denn hier los?« rief Thomas und bog sich vor Lachen, als er die beiden Madln sah. »Ihr seid aber früh auf. Wolltet ihr net ausschlafen?«

»Nö!« Seine Schwester schüttelte den Kopf. »Saskia wollte unbedingt lernen, wie gemolken und der Stall ausgemistet wird.«

»Na, dann viel Spaß«, grinste Thomas und verschwand wieder.

Beim Ausmisten ahnte Saskia, warum Kathis Bruder so unverschämt gegrinst hatte – es war ein sehr strenger Geruch, der im Stall herrschte...

»Du gewöhnst dich dran«, tröstete Kathi sie. »Und wenn du wieder daheim bist, dann wirst den Geruch richtig vermissen.«

»Na, ich weiß ja net«, prustete Saskia und stieß die Mistgabel in den Mist.

*

Beim Frühstück herrschte ausgesprochen gute Laune. Die Eltern wunderten sich zwar, daß ihre Tochter und deren Besuch schon so früh auf den Beinen waren, aber gegen eine helfende Hand hatte niemand etwas einzuwenden.

Anschließend wurde geduscht und sich umgezogen. Gegen acht Uhr verließen die beiden Madln den Hof und wanderten ein Stück die Bergstraße hinauf. Hoch über ihnen ragten die Gipfel in den wolkenlosen Himmel, und die Sonne strahlte mit den Freundinnen um die Wette.

»Das ist der ›Himmelsspitz‹ und gleich daneben die ›Wintermaid‹«, erklärte Kathi die Namen des Zwillingsgipfels, dessen schneebedeckte Spitzen scheinbar in den Himmel stießen. »Und irgendwo dazwischen ist die Kandereralm. Aber das kannst von hier aus freilich net sehen. Auf der Alm steh’n unsre an­deren Kühe. Mal sehen, wenn wir keine Gelegenheit für eine Wanderung haben, fahren wir eben mit dem Auto über den Wirtschaftsweg und besuchen den Franz mal da droben. Aber schöner wär’s schon, wenn wir richtig aufsteigen täten.«

Saskia hatte ihren Fotoapparat mitgenommen und machte fleißig Bilder. Dann fotografierten sie sich gegenseitig, und zwischendurch aßen sie vom Proviant und tranken von dem mitgebrachten Tee.

Das Mittagessen wollten sie ausfallen lassen und erst am Abend warm essen. Sie hatten genügend belegte Brote mitgenommen, und wenn der Tee ausgetrunken war, würden sie unterwegs an Bachläufe kommen, aus denen sie trinken konnten, hatte Kathi versichert.

Jetzt lagen sie faul auf der Bergwiese und schaute ins Tal hinunter.

»Komisch«, meinte Saskia, »obwohl es gestern ja wirklich spät geworden ist, bin ich kein bissel müd’.«

»Geht mir genauso«, nickte die Freundin. »Aber das kommt noch. Wenn wir wieder auf dem Hof sind, legen wir uns am besten erstmal ein bissel hin, bevor wir ins Dorf fahren, um die Kirche zu besichtigen.«

Am frühen Mittag machten sie sich wieder auf den Rückweg. Jetzt spürte Saskia tatsächlich die Anstrengungen der Wanderung und den fehlenden Schlaf. Erschöpft sank sie auf ihr Bett und schlief ein.

Erst gegen drei Uhr weckte Burgl Raitmayr ihre Tochter und Saskia.

»Wenn ihr weiterschlaft, dann braucht ihr erst gar net aufstehen«, meinte die Bäuerin.

Es waren nur knapp zwei Stunden gewesen, aber die hatten gereicht, um die beiden zu erfrischen. Nach einer Tasse Kaffee fuhren sie ins Dorf hinunter.

»Mal schauen, ob Hochwürden daheim ist«, meinte Kathi, als sie ihr Auto an der Straße vor der Kirche abgestellt hatte.

Gespannt ging Saskia neben ihr den Kiesweg hinauf. Sie betraten den kleinen Vorraum, und die Studentin hielt unwillkürlich den Atem an.

»Da staunst, was?« flüsterte die Freundin.

Saskia nickte. Langsam gingen sie durch das Kirchenschiff und schauten sich um. Überall gab es etwas zu sehen. Die Fensterbilder zeigten Szenen aus der Bibel, in Ecken und Nischen standen geschnitzte Heiligenfiguren, die zum Teil mit Blattgold verziert waren, und auf dem Altar blitzte ein goldener Kelch neben dem Kreuz.

»Herrlich«, sagte Saskia leise. »Ob man hier fotografieren darf?«

»Freilich«, nickte Kathi und deutete auf die anderen Besucher, die alleine oder in Gruppen standen, »die tun’s doch auch.«

An der Wand neben der Tür zur Sakristei, hing ein großes Bild. Es hieß »Gethsemane« und zeigte den Erlöser, am Abend vor der Kreuzigung, im Gebet versunken. Andächtig standen die Madln davor und betrachteten es. Auch wenn Kathi es schon oft gesehen hatte, war sie doch immer wieder von dem Gemälde angetan.

Gleich daneben war das wertvollste Stück der Kirche zu besichtigen. Eine Madonnenfigur aus Holz geschnitzt und ohne goldene Verzierung. Aber gerade die einfache Anmutigkeit machte sie so prachtvoll. Der unbekannte Schnitzer mußte all seine Liebe und seinen Glauben in das Werk gelegt haben, um so etwas Herrliches zu schaffen.

Kathi erzählte der Freundin, daß die Madonna schon einmal Opfer einer Bande von Kirchenräubern geworden war. Pfarrer Trenker und seinem Bruder, der Polizist in St. Johann sei, war es aber gelungen, die Täter überführen und die Mutter Gottes wiederzubeschaffen.

»Bergsteiger, Detektiv«, schmun­zelte Saskia, »euer Pfarrer muß ja wirklich vielseitige Talente haben.«

»Vor allem ist er unser guter Hirte, der für seine Schäfchen immer ein offenes Ohr hat«, sagte die Bauerntochter ernst. »Für unsren Herrn Pfarrer gibt’s kein Problem, das er net lösen könnt’.«

»Das ist aber schön, daß du so eine gute Meinung von mir hast«, hörten die beiden Madln plötzlich eine Stimme hinter sich.

Sie schauten sich um und sahen Sebastian, der unbemerkt hinter sie getreten war.

»Aber manchmal steh’ auch ich vor einem Rätsel, und es will mir net gelingen, es zu lösen.«

Kathi war vor Verlegenheit rot geworden. Aber der Geistliche ging darüber hinweg.

»Das ist also deine Brieffreundin, von der du mir erzählt hast«, sagte er.

»Ja, das ist Saskia Benthof«, stellte Kathi die Studentin vor. »Endlich hat’s mal geklappt, daß sie mich besuchen kann.«

»Grüß dich, Saskia«, nickte der Bergpfarrer ihr zu und reichte der Studentin die Hand. »Herzlich willkommen in St. Johann. Ich wünsch’ dir eine schöne Zeit hier.«

»Dank’ schön, Hochwürden«, antwortete sie. »Es ist wunderschön hier, und Ihre Kirche ist einmalig.«

»Ja«, lächelte Sebastian, »das sagen alle, die sie zum ersten Mal betreten.«

»Sie haben net zufällig eine Bergtour geplant?« fragte Kathi. »Wissen S’, die Saskia ist nämlich noch nie aufgestiegen.«

Saskia hatte ja schon von der Freundin gehört, daß dieser Geistliche etwas ganz Besonderes war. Aber das traf wohl nicht nur für sein Amt zu. Hätte er nicht seine Soutane getragen, würde sie diesen Mann niemals für einen Pfarrer gehalten haben. Mit seinem von vielen Aufenthalten im Freien leicht gebräunten, markanten Gesicht und der durchtrainierten Figur hatte man eher den Eindruck, vor einem prominenten Sportler oder Schauspieler zu stehen.

Die Studentin war von der Erscheinung sehr beeindruckt.

»Was? Das müssen wir aber schleunigst nachholen«, sagte Pfarrer Trenker. »Freilich finden wir einen Termin. Wißt ihr was? Kommt morgen nachmittag ins Pfarrhaus, bis dahin hab’ ich schon nachgeschaut, wann’s am besten paßt.«

»Okay, das machen wir«, nickte die Bauerntochter. »Vielen Dank.«

»Dafür net. Du weißt doch, daß es mir immer eine Freud’ ist, wenn ich jemandem die Schönheiten unsrer Heimat zeigen kann.«

Sie sprachen noch ein paar Worte, dann verabschiedeten die Madln sich. Vor ihnen lag noch der Besuch auf dem Burgerhof, und vor allem Saskia konnte es irgendwie gar nicht erwarten, dorthin zu kommen...

*

Margret Burger kochte Kaffee und schnitt einen Topfkuchen an. Florians Mutter hatte Kathi und Saskia herzlich begrüßt.

»Die Männer sind noch unterwegs«, erklärte die Bäuerin. »Aber es dürft’ net mehr lang’ dauern, bis sie heimkommen. Bis dahin machen wir’s uns gemütlich.«

Sie setzten sich vor das Haus, wo eine Bank, zwei Stühle und ein Tisch standen.

Alles aus schönem Holz gezimmert. Saskia beantwortete die Fragen, die Margret Burger ihr stellte, und Kathi erzählte, wie die beiden sich seinerzeit kennengelernt hatten.

»Ich hatte auch mal eine Brieffreundin«, sagte die Bäuerin. »Lange Jahre haben wir uns geschrieben. Aber dann hat die Christel nach England geheiratet, und ich hab’ nix mehr von ihr gehört.«

»Na, das wird bei uns net so werden«, meinte die Bauerntochter. »Ich bleib’ ohnehin im Wachnertal, und Saskia in Passau, wenn sie erstmal Ärztin ist.«

»Bloß, daß es bis dahin noch ein langer Weg ist«, seufzte die Studentin.

Nach einer Weile kam ein Traktor herangefahren. Schon von weitem hörten sie das Tuckern des Motors.

»Ah, da sind s’ ja«, sagte die Bäuerin und stand auf, um noch zwei Tassen und Kuchenteller zu holen.

Florian sprang vom Traktor herab und kam an den Tisch. Sein Vater stellte das Gefährt erst einmal in die Scheune.

»Grüß dich, Spatzl«, sagte der Bauernsohn und gab Kathi einen Kuß.

Dann lächelte er Saskia an.

»Grüß dich. Na, wie war euer erster Tag?«

»Herrlich«, antwortete die Studentin. »Man könnt’ glatt in Versuchung geraten, den Urlaub zu verlängern. Aber leider geht’s net.«

Richard Burger begrüßte seine zukünftige Schwiegertochter mit einer herzlichen Umarmung und einem Kuß auf die Wange. Dann streckte er Saskia die Hand hin.

»Nett, dich kennenzulernen«, sagte der Bauer. »Ich hoff’, es gefällt dir bei uns.«

»Ich hab’ grad zum Florian gesagt, daß ich am liebsten länger bleiben möcht’.«

Während die beiden Männer Kaffee tranken und dem Kuchen zusprachen, erzählten die Madln davon, was sie den ganzen Tag über gemacht hatten.

»Respekt!« nickte der Bauernsohn, als er hörte, daß Saskia an diesem Morgen zum ersten Mal gemolken und ausgemistet hatte. »Vielleicht überlegst du es dir ja noch mal mit dem Studium und suchst dir einen Bauern hier im Tal.«

Freilich hatte er es im Spaß gesagt, dennoch fragte sich Saskia, warum Florian sie dabei wieder so bedeutungsvoll angeschaut hatte...

»Morgen nachmittag besprechen wir mit Pfarrer Trenker, wann wir zusammen eine Bergtour machen«, berichtete Kathi.

»Dann sagt bloß rechtzeitig Bescheid«, rief Florian. »Da komm’ ich nämlich mit. Es ist eine Ewigkeit her, daß ich aufgestiegen bin.«

»Ihr bleibt doch zum Abendessen?« fragte die Bäuerin zwischendurch.

Die Einladung war verlockend, doch auf dem Raitmayrhof wartete man mit dem Essen. Da es mittags nichts Warmes gegeben hatte, wollte Kathis Mutter zum Abendessen etwas kochen.

»Aber dann müßt ihr auf jeden Fall am Wochenend’ herkommen«, sagte Richard Burger, nachdem Kathi erklärt hatte, daß sie nicht bleiben konnten. »Am besten bringst deine Eltern und den Thomas gleich mit.«

»Mama und Papa kommen bestimmt«, meinte die Bauerntochter. »Aber Thomas wird bestimmt nach Waldeck fahren.«

Der Bauer nickte verstehend und stand auf.

»So, für heut’ mach’ ich Feierabend«, erklärte er. »Ich geh’ mich umziehen.«

»Wart’«, sagte seine Frau, »ich leg’ dir die Sachen hin.«

In der Tür drehte sich Margret noch einmal um.

»Ach, Kathi, kommst auch mal«, rief sie. »Ich hab’ da noch was gefunden, das ich dir zeigen wollt’. Vielleicht hast ja Verwendung dafür.«

Kathi nickte und stand auf, Flo­rian und Saskia blieben alleine zurück.

Einen Moment lang war es still, dann grinste er sie an.

»Tanzt du eigentlich gern’?« wollte der Bauernsohn wissen.

Saskia zuckte die Schultern.

»Freilich«, erwiderte sie. »Wenn ich Gelegenheit dazu hab’.«

»Die bekommst du«, versprach er. »Am Samstag ist nämlich Tanzabend im ›Löwen‹. Wir Wachnertaler geh’n sowieso hin, aber für unsre Gäste ist’s geradezu Pflicht, daran teilzunehmen.«

Die Studentin hatte schon mehrmals von Kathi gehört, wie es an diesem Abend zuging. Natürlich würde sie sich diese Gaudi nicht entgehen lassen.

»Hoffentlich gibt’s genügend Tanzpartner«, meinte sie.

Florian grinste wieder.

»Daran wird’s net mangeln«, entgegnete er. »Und dafür werd’ ich schon sorgen, daß du net wie ein Mauerblümchen am Tisch hocken mußt.«

Wieder dieser bedeutungsvolle Blick. Saskia spürte, wie sich ein seltsames Gefühl ihrer bemächtigte.

Warum schaut er mich bloß so an?

Plötzlich langte Florian über den Tisch und hielt ihre Hand fest.

»Ich freu’ mich schon drauf...«

Vielleicht hatte er noch mehr sagen wollen, aber die Haustür ging, und der junge Mann zog rasch seine Hand zurück.

Kathi kam freudestrahlend aus dem Haus.

»Schaut nur, was die Margret mir geschenkt hat«, rief sie und präsentierte eine prachtvolle Silberkette, an der viele kleine Anhänger waren.

Der perfekte Schmuck für ein hübsches Trachtenkleid.

»Die Kette ist ja von der Großmutter«, sagte Florian erstaunt. »Davon hat sich die Mama getrennt?«

Kathi trat hinter ihn und legte ihre Arme um seinen Hals.

»Für ihre zukünftige Schwiegertochter ist ihr eben nix zu schad’«, meinte sie.

Plötzlich war es Saskia unangenehm, zu sehen, wie die beiden jetzt miteinander turtelten, während Florian eben noch ihre Hand gehalten hatte.

»Sollten wir net langsam aufbrechen?« fragte sie. »Bestimmt warten deine Eltern schon mit dem Essen.«

»Du hast recht«, nickte die Freundin und löste sich von dem Bauernsohn. »Flori, hast morgen Zeit? Wir wollen zum Achsteinsee fahren.«

»Prima«, sagte er sofort. »Da bin ich dabei.«

»Schön, dann kannst uns ja abholen. Aber net vor zehn. Gestern ist’s schon so spät geworden, und wir müssen unbedingt unseren Schönheitsschlaf nachholen.«

Sie verabschiedeten sich von den Eltern, und Florian brachte sie zu Kathis Auto. Saskia nickte ihm kurz zu und stieg schnell ein.

Täuschte sie sich, oder hatte er darauf recht enttäuscht dreingeschaut?

Jedenfalls kam der Bauernsohn auf die rechte Seite, öffnete die Beifahrertür und streckte seinen Kopf herein.

»Bis morgen. Ich freu’ mich«, sagte er lächelnd.

»Ich mich auch«, kam es ihr spröde über die Lippen.

Kathi stieg ein und startete den Motor.

»Jetzt aber schnell nach Hause«, meinte sie.

Saskia nickte nur und schaute nicht zurück, als die Freundin wendete und vom Hof fuhr.

*

»Grüß Gott. Sie sind der Herr Anderer, net wahr?«

»Ja, der bin ich. Grüß Gott, Frau Stubler.«

»Hatten S’ eine gute Fahrt?« erkundigte sich die Pensionswirtin.

»Dank’ schön, ja. Von München her ist’s ja net so weit.«

»Dann zeig’ ich Ihnen gleich mal Ihr Zimmer«, sagte Ria, die den Schlüssel schon in der Hand hatte.

Tobias Anderer folgte ihr die Treppe hinauf. Das Zimmer lag im ersten Stock, es hatte ein eigenes Bad, und durch eine Glastür konnte man auf den umlaufenden Balkon hinausgehen.

»Ich hoff’, daß Sie sich bei mir wohl fühlen werden«, meinte die Wirtin. »Frühstücken können S’ ab sieben Uhr, und wenn S’ mal eine Bergtour machen wollen, dann sagen S’ mir am Abend vorher Bescheid, ich richt’ Ihnen dann was her.«

»Vielen Dank«, nickte der Student.

Nachdem Ria Stubler gegangen war, öffnete Tobias die Balkontür und trat hinaus. Er atmete tief durch und nahm den würzigen Duft wahr, der von der nahen Wiese herüberwehte.

»Herrlich«, sagte er zu sich selbst und reckte die Arme. »Endlich Urlaub!«

Nachdem er eine Weile draußen gestanden hatte, ging er ins Zimmer zurück und packte die Reisetasche aus. Viel hatte er nicht dabei, nur knapp zwei Wochen würde er bleiben können, dann fing das neue Semester an, und er mußte nach München zurückkehren.

Aber daran wollte er jetzt noch gar nicht denken. Er war ja gerade erst angekommen und freute sich auf ein paar unbeschwerte Tage.

Als die Sachen im Kleiderschrank verstaut waren, setzte Tobias sich auf den Sessel am Fenster, nahm sein Handy und drückte ein paar Tasten.

»Hallo«, sagte er, nachdem seine Mutter sich gemeldet hatte, »ich bin angekommen, und es ist herrlich!«

»Ach, das freut mich, Bub«, erwiderte Hanna Anderer. »Ich wünsch’ dir eine schöne Zeit, und dank’ schön, daß du gleich angerufen hast.«

»Ich meld’ mich wieder«, versprach er. »Und grüß den Papa, wenn er heut’ abend heimkommt.«

Er legte das Mobiltelefon auf den Tisch und streckte die Beine aus.

»So«, überlegte er halblaut, »dann wollen wir mal schauen.«

Tobias griff nach den Prospekten, die auf dem Tisch lagen, und schlug einen davon auf. St. Johann und Umgebung waren darin verzeichnet. Die Sehenswürdigkeiten wurden in Stichworten vorgestellt, und es gab ein paar kleine Fotografien. Es gab unter anderem die Möglichkeit zu reiten, an einen Badesee zu fahren oder sich für eine Bergtour anzumelden. Schließlich zeigte eine kleine Karte, welche Wanderwege es gab und wohin sie führten.

Der Student runzelte nachdenklich die Stirn, als er den Hinweis bemerkte, daß es ratsam sei, sich für eine Bergtour rechtzeitig anzumelden, weil die Bergführer gerade in der Saison schon Wochen im voraus ausgebucht waren und nur eine bestimmte Anzahl Bergwanderer mitnehmen konnten.

»Mist«, murmelte er, »das hätt’ mir der Typ im Reisebüro ja auch schon sagen können!«

Immerhin hatte er den Urlaub bereits vor sechs Wochen gebucht und dabei auch das Zimmer reservieren lassen. Alles hatte hervorragend geklappt, bloß das jetzt nicht.

Ein wenig verstimmt warf der Student den Prospekt auf den Tisch zurück und beschloß, gleich zur Touristeninformation zu gehen, wo man sich für eine Tour anmelden konnte.

Vielleicht hab’ ich ja Glück, überlegte er.

Leider hatte Tobias Anderer kein Glück. Die freundliche Frau hinter dem Tresen des Infocenters bedauerte außerordentlich.

»Es tut mir wirklich leid«, sagte sie. »Aber da ist nichts mehr zu machen.«

Immer noch verstimmt schlenderte Tobias durch das Dorf, das ihm, trotz der eben erlittenen Enttäuschung, gut gefiel. Es hatte etwas Anheimelndes, man fühlte sich sofort wohl in St. Johann.

Da er schon am frühen Morgen aufgebrochen war, in München war noch nicht einmal die Sonne aufgegangen, hatte er es geschafft, noch am Vormittag anzukommen. Zwischendurch hatte er einmal gerastet und die belegten Brote, die seine Mutter ihm mitgegeben hatte, verzehrt. Inzwischen spürte Tobias, daß er schon wieder Hunger hatte. Auf dem Weg zur Touristeninformation war ihm das Schild des Kaffeegartens aufgefallen. Jetzt kehrte er dort ein und suchte sich einen freien Tisch.

Die Speisekarte versprach preiswerte und deftige Genüsse. Tobias bestellte einen gebratenen Leberkäs’ und eine Apfelschorle. Genüßlich aß er sein Essen und ließ sich dabei Zeit. Als er fertig war, trank er einen Kaffee und fühlte sich beinahe wieder zufrieden.

Nur die verpaßte Bergtour trübte ein wenig seine Stimmung.

»Na, mal schauen«, murmelte er, »vielleicht klappt’s ja doch noch irgendwie.«

Nachdem er noch einen weiteren Spaziergang gemacht und sich alles angesehen hatte, kehrte der Student in die Pension zurück. Inzwischen war es zwei Uhr, und er überlegte, wie er den Tag noch nutzen konnte. Tobias Anderer war ein aktiver Mensch, der nicht einfach so die Hände in den Schoß legen konnte. Immer mußte er sich irgendwie beschäftigen und am liebsten machte er einen Waldlauf oder ging ins Schwimmbad.

Klar, schoß es ihm durch den Kopf, als er darüber nachdachte, was er an diesem Nachmittag anfangen sollte, da stand doch was von einem Badesee.

Also packte er rasch seine Sachen zusammen und machte sich auf den Weg. Offenbar hatten Tausende anderer dieselbe Idee gehabt, denn auf dem Parkplatz stand ungefähr jede Menge Autos. Tobias brauchte lange, bis er einen freien Platz gefunden und seinen Wagen abgestellt hatte. Dann aber gab es kein Halten mehr für ihn. Auf der Liegewiese war noch ein Stückchen unbelegt. Eingequetscht zwischen einer Familie mit zwei Kindern auf der einen, und drei jungen Leuten auf der anderen Seite, setzte sich Tobias auf ein großes Badelaken und schaute sich um.

Ja, genauso hatte er es sich vorgestellt. Das Wasser des Sees war blau, an der Uferpromenade standen kleine Häuschen mit Geschäften, Restaurants und Eisdielen, und über allem ragten die Berge in die Höhe und verliehen dem ganzen ein einzigartiges Panorama.

*

Am frühen Vormittag waren sie aufgebrochen. Florian hatte die beiden Madln zeitig abgeholt, damit sie noch einen guten Platz auf der Liegewiese erwischten und nicht erst ankamen, wenn alles überfüllt war.

Am Morgen hatte Kathi die Freundin eigentlich schlafen lassen wollen, aber Saskia hatte natürlich ihren Wecker gestellt und war schon aufgestanden, als die Bauerntochter gerade ins Bad wollte.

»Du willst es aber wissen«, schmunzelte Kathi.

»Gesagt ist gesagt«, zuckte die Studentin die Schultern. »Schließlich hab’ ich ja versprochen, dir zu helfen.«

Sie machten sich wieder gemeinsam an die Arbeit, und diesmal fiel es Saskia schon gar nicht mehr so schwer wie beim ersten Mal.

Gegen halb elf traf auch Florian ein. Sie luden den Korb mit Proviant und Getränken in das Auto, und Saskia nahm im Fond Platz. Es fiel ihr schwer, nicht immer zu Florian zu schauen, der, wie sie schnell merkte, sie immer wieder im Rückspiegel beobachtete. Wenn er feststellte, daß sie seinen Blick erwiderte, lächelte er sie an.

Schlag’s dir aus dem Kopf, sagte sie zu sich, der Freund deiner Freundin ist tabu!

Es war nicht das erste Mal, daß sie sich ermahnte. Schon gestern auf der Heimfahrt vom Burgerhof hatte sie sich daran erinnert, daß Florian und Kathi ein Paar waren. Nicht nur befreundet, nein, die Beziehung ging tiefer. Die zwei würden irgendwann heiraten. Da hatte sie kein Recht, sich zwischen sie zu drängen, so sehr der Bauernsohn sie auch reizte. Den ganzen Abend hatte sie daran denken müssen und sich ausgemalt, was alles auf dem Spiel stünde, würde sie auf seine Flirtversuche eingehen.

Nachdem die beiden Madln aus der Umkleidekabine kamen, schaute Florian sie prüfend an, wobei sein Blick mehr Saskia galt als Kathi. Seine Augen huschten über ihren Körper, der in einem gelben Badeanzug mit roten Streifen steckte. Der Studentin war es beinahe peinlich, denn der Anzug stellte ihre perfekten Formen zur Schau.

Jedenfalls hatte sie jetzt den Eindruck, früher war es ihr egal gewesen...

Sie setzte sich auf die Decke, die sie ausgebreitet hatten, und legte sich ihr Handtuch über die Schulter.

Doch Florian schüttelte den Kopf.

»Ihr seid doch net hergekommen, um in der Sonne zu liegen«, sagte er und griff nach den Händen der beiden. »Ab ins Wasser!«

Er zog sie hoch, und Saskia mußte wohl oder übel mitlaufen. Doch kaum untergetaucht, fühlte sie sich schon wohler. Das Wasser war erstaunlich angenehm warm, nicht so eiskalt, wie sie es von einem Berg­see erwartet hatte.

»Schwimm mal weiter raus, da wirst schon merken, daß es kalt ist«, meinte Kathi und deutete zu der Schwimminsel, die weiter hinten im See lag. »Los, wer zuerst da ist!«

Sie schwammen um die Wette. Kathi Brandmayr war eine begeisterte Schwimmerin, die früher bei den Schulmeisterschaften immer einen der ersten Plätze belegt hatte. Sie war den beiden anderen weit voraus und erreichte die Insel zuerst.

Indes argwöhnte Saskia, daß Florian absichtlich langsamer schwamm, um in ihrer Nähe bleiben zu können...

»Steht dir toll, der Badeanzug«, sagte er, als Kathi schon längst auf der Schwimminsel saß und die Beine ins Wasser baumeln ließ.

Saskia blickte ihn an und schüttelte den Kopf.

»Du solltest das net sagen.«

»Warum?« fragte Florian, der so dicht neben ihr schwamm, daß sich ihre Arme und Beine berührten.

Die Studentin unterbrach ihre Schwimmbewegungen und trat auf der Stelle.

»Weil Kathi meine Freundin ist, darum«, antwortete sie. »Und ich möcht’ net, daß sie einen falschen Eindruck von mir bekommt.«

Florian strampelte ebenfalls mit den Beinen. Er grinste sie an.

»Ach, die Kathi sieht das net so eng«, meinte er. »Außerdem sind wir ja net verheiratet.«

»Hör’ trotzdem damit auf«, bat Saskia.

Rasch schwamm sie zur Insel und zog sich daran hoch. Florian kam gemächlich hinterher. Doch dann, kurz bevor er am Ziel war, machte er plötzlich kehrt und kehrte zum Ufer zurück.

Kathi sah die Freundin an.

»Herrlich hier, was?« fragte sie.

Warum ihr Freund nicht nachgekommen war, schien sie nicht zu interessieren.

»Ganz wunderbar«, erwiderte die Studentin. »Aber du mußt mich auch mal besuchen kommen. Vielleicht paßt es im Herbst ja mal.«

Die Bauerntochter nickte.

»Mal sehen«, meinte sie, »es könnt’ gut sein, daß wir unsre Hochzeitsreise in den Bayerischen Wald machen. Das wär’ doch toll.«

Saskia schluckte insgeheim. Kathi dachte schon an die Hochzeitsreise...

Irgendwie machte sie dieser Gedanke traurig. Natürlich respektierte sie, daß die beiden ein Paar waren, aber sie spürte, wie gerne sie an Kathis Stelle gewesen wäre.

»Komm, laß uns zurückschwimmen«, schlug sie vor.

Sie sprangen ins Wasser und waren wenig später bei Florian angekommen, der auf der Decke lag und sich die Sonne auf seinen muskulösen Körper scheinen ließ. Kathi warf sich, klitschnaß wie sie war, auf ihn, und die beiden tollten ausgelassen herum. Saskia trocknete sich ab und schlüpfte in die leichte Bluse.

»Jetzt hab’ ich Hunger«, rief der Bauernsohn, nachdem er und Kathi sich ausgetobt hatten.

Burgl Brandmayr hatte ihnen reichlich zu essen mitgegeben. Sie unterhielten sich über den anstehenden Besuch im Pfarrhaus und freuten sich schon jetzt auf die Bergtour. Später faulenzten sie. Florian hatte sich eine Zeitung gekauft, Kathi widmete sich ihrem Strickzeug, und Saskia vertiefte sich in ein Buch.

Inzwischen war es immer voller geworden, und die drei bemerkten es kaum, wenn die ersten Badegäste wieder gingen und andere kamen. Deshalb fiel ihnen auch nicht der junge Bursche auf, der sich keine zwei Meter neben ihnen niedergelassen hatte und zu ihnen her­überschaute.

Besonders das Madl im gelben Badeanzug hatte es Tobias Anderer angetan...

*

»Ihr braucht wohl net noch einen vierten Mann zum Skat?« fragte der Student.

Die beiden Madln sahen sich stirnrunzelnd an. Florian Burger hingegen blickte Tobias eher verärgert an.

»Skat spielt man zu dritt, falls das noch net gewußt haben solltest«, gab der Bauernsohn in einem groben Tonfall zurück.

So grob, daß Kathi ihn erstaunt anschaute.

Der Student hingegen überhörte es.

»Dann vielleicht eine Runde Schafkopf?« schlug er vor.

Florian richtete sich auf.

»Vielen Dank, der Herr, kein Interesse«, erwiderte er. »Such dir jemand andren.«

Dann drehte er sich zu Kathi und Saskia und schüttelte ärgerlich den Kopf.

»Selber Schafkopf«, setzte er hinzu.

»Warum bist denn so unausstehlich?« fragte die Bauerntochter. »Er hat uns doch gar nix getan.«

»Ach..., der...!«

Florian verschluckte, was ihm eigentlich noch auf der Zunge gelegen hatte. Er konnte seiner Freundin ja schlecht sagen, wie sehr es ihn störte, daß dieser Typ Saskia praktisch mit den Augen verschlang...

»Wir müssen sowieso gleich los«, rief Kathi hinüber.

Es war auch als Entschuldigung für Florians Benehmen gedacht.

»Schon gut«, antwortete der Bursche lächelnd.

Er schaute ihnen zu, wie sie ihre Sachen einpackten und zu den Umkleidekabinen gingen.

Schade, dachte Tobias, die Blonde hätt’ ich gern schon ein bissel näher kennengelernt.

Saskia war von Florians Auftreten genauso berührt wie ihre Freundin. Sie konnte gar nicht verstehen, daß der Bauernsohn sich so gegeben hatte. Der andere hatte doch gar nichts getan, und schon gar nicht ihm.

Während der Rückfahrt nach St. Johann herrschte eine leichte Mißstimmung. Florian saß hinter dem Lenkrad und schaute stur geradeaus, Kathi schwieg und Saskia sah aus dem Fenster.

Ob es was mit mir zu tun hat? fragte sie sich plötzlich.

Freilich waren ihr die Blicke, mit denen der Bursche sie gemustert hatte, aufgefallen. Allerdings hatte sie sich nichts weiter dabei gedacht. Ein hübsches Madl mußte sich nicht wundern, wenn es die Blicke auf sich zog. Und so übel hatte er auch nicht ausgesehen.

Saskias Blicke suchten Florians Augen im Rückspiegel, doch er schien es nicht zu bemerken.

Erst als er sie auf dem Hof absetzte, hatte sich Florians Laune gebessert.

»Also, viel Spaß bei Pfarrer Trenker«, wünschte er ihnen. »Und sagt Bescheid, wann’s auf den Berg geh’n soll.«

Kathi gab ihm einen Kuß, aber für Saskia sah es nicht so liebevoll aus wie sonst.

»Ich hab’ keine Ahnung, was das vorhin am See sollte«, sagte die Freundin, als sie ins Dorf hinunterfuhren. »So blöd’ hat sich Florian noch nie benommen.«

»Vielleicht ist er eifersüchtig«, meinte Saskia.

»Der?«

Kathi lachte auf.

»Da hätt’ ich mehr Grund zur Eifersucht«, entgegnete sie. »Schon so manchmal hätt’ ich einem Madl die Augen auskratzen können, weil Florian...«

Sie brach ab und warf Saskia einen Blick zu.

»Na ja«, setzte sie dann hinzu, »die Madln können ja gar nix dafür, wenn er mit ihnen anbandelt. Ich bin bloß froh, daß er’s noch net bei dir versucht hat.«

Die Studentin schwieg entsetzt.

Wenn du wüßtest! dachte sie nur.

So einer war er also, der fesche Florian. Offenbar nahm er es mit der Treue nicht ganz so ernst wie Kathi.

Aber warum blieb sie dann noch bei ihm?

Unwillkürlich mußte Saskia an ihren letzten Freund denken, dem sie rasch den Laufpaß gegeben hatte, nachdem er seine Eskapaden nicht mehr hatte vor ihr verbergen können.

»Wir sind da«, verkündete die Bauerntochter. »Willst net aussteigen?«

Die Studentin sah auf.

»Was? Ich hab’ gar net darauf geachtet«, entschuldigte sie sich.

Nein, sie hatte an Florian Burger gedacht und das sehr intensiv. Er hatte nun mal was, das ihn sehr anziehend machte, und vielleicht lag darin auch das Geheimnis, warum Kathi ihm immer wieder verzieh.

Sie stiegen aus und gingen zum Pfarrhaus hinauf. Der Geistliche öffnete ihnen und begrüßte sie.

»Kommt nur herein«, sagte Sebastian. »Der Kaffee ist gleich fertig.«

*

Tobias Anderer kehrte am frühen Nachmittag nach St. Johann zurück. Es hatte ihm sehr gut am Badesee gefallen. Noch besser wäre es gewesen, wenn er die Bekanntschaft der Blonden gemacht hätte. Leider hatte ja dieser seltsame Typ dazwischengefunkt. Dabei schien der doch mit der Dunkelhaarigen zusammenzusein. Die hieß Kathi, erinnerte Tobias sich. Leider war der Name seiner »Favoritin« nicht gefallen, oder er hatte es nicht gehört. Immerhin hoffte er, daß das Madl aus dem Ort kam, in dem er Urlaub machte, dann würden sie sich vielleicht wiedersehen.

Zum Mittagessen war der Medizinstudent in eines der zahlreichen Lokale gegangen. Tobias beschloß, das Abendessen ausfallen zu lassen; die Portion war riesig gewesen. Dafür wollte er lieber im Dorf noch mal in den Kaffeegarten gehen und sich einen Eisbecher gönnen.

Nachdem er die nassen Badesachen zum Trocknen über die Balkonbrüstung gehängt, sich geduscht und umgezogen hatte, ging er los.

Das Wetter war prächtig, und Tobias ärgerte sich immer noch über die verpatzte Gelegenheit zu einer Bergtour. Aber er mußte sich wohl damit abfinden, daß daraus nichts wurde.

In dem Gartenlokal herrschte zur Nachmittagszeit ein großer An­drang. Da es in St. Johann keine weitere Eisdiele oder ein anderes Lokal gab, war es für die Urlauber die einzige Möglichkeit, Kaffee zu trinken oder mal ein Eis zu essen. Ein älteres Ehepaar lud ihn ein, sich zu ihnen zu setzen, und Tobias nahm dankbar das Angebot an. Die beiden Leute erzählten, daß sie schon seit Jahren hier Urlaub machten und immer wieder gerne herkamen.

»Vor allem sollten S’ unbedingt eine Bergtour machen, junger Mann«, sagte die Frau. »Früher haben wir’s jedesmal getan, wenn wir hier waren, aber jetzt sind wir leider zu alt und können net mehr so wie wir gern’ möchten.«

»Da rühren Sie ein Thema an«, sagte Tobias und verzog bedauernd das Gesicht. »Leider hat mir niemand gesagt, daß man sich rechtzeitig zu einer Tour anmelden muß. Am besten schon vor Antritt der Reise. Jetzt ist’s zu spät dafür. Die Bergführer sind alle ausgebucht.«

»Ja, das ist wirklich schade«, nickte der ältere Herr. »Dabei ist’s so herrlich, morgens, in aller Herrgottsfrühe, loszuziehen und die erwachende Natur zu entdecken.«

»Haben S’ denn schon mal den Herrn Pfarrer gefragt?« erkundigte sich seine Frau.

»Den Pfarrer?« fragte der Student verblüfft. »Nein. Was hat der denn mit Bergtouren zu tun?«

Die beiden lächelten.

»Das ist so«, erklärte der Mann, »Hochwürden ist ein begeisterter Kletterer und Wanderer. Früher sind wir oft mit ihm aufgestiegen, und manchmal waren noch ein paar andre Leut’ dabei. Also, wenn S’ interessiert sind, dann sollten S’ das wirklich mal versuchen.«

Seine Frau beugte sich vor.

»Man nennt ihn übrigens den Bergpfarrer«, erzählte sie. »Weil sich niemand in den Bergen so gut auskennt wie Hochwürden.«

»Aha, das ist ja wirklich interessant«, nickte Tobias. »Vielen Dank für den Tip. Ich werd’s wirklich mal probieren. Vielleicht hab’ ich ja Glück.«

Der Mann winkte der Bedienung und zahlte.

»Wir drücken Ihnen die Daumen, daß es klappt«, verabschiedeten sich die netten Leute.

»Hat mich gefreut, Sie kennengelernt zu haben«, nickte Tobias. »Noch mal vielen Dank!«

Der Eisbecher war lecker gewesen, und eigentlich hätte er jetzt auch zahlen wollen. Doch dann überlegte er es sich anders und bestellte noch einen Cappuccino. Während er ihn trank, mußte Tobias wieder an das blonde Madl denken, das ihm schon die ganze Zeit nicht aus dem Kopf gehen wollte. Schade, daß er den Namen nicht wußte, dann hätte er nicht immer nur »sie« in Gedanken sagen müssen.

Ob die beiden Schwestern waren?

Wohl eher nicht. Eine Ähnlichkeit hatte er jedenfalls nicht feststellen können. Aber auf jeden Fall kannten sie sich schon eine Weile, und wenn er die eine nicht traf, begegnete ihm vielleicht die andere, die er dann nach der Freundin fragen konnte. Er wußte zwar noch nicht wie, aber tun würde er es.

Probleme, Kontakt zu schließen, hatte Tobias Anderer noch nie gehabt. Sonst hätte er am See die drei Leute auch nicht direkt angesprochen. Leider hatte dieser Typ die ganze Sache vermasselt. Fühlte sich wohl wie ein Pascha, mit den beiden Madln, und sah in ihm einen Rivalen.

Idiot!

Tobias beschloß, sich nicht weiter über den Burschen zu ärgern. Viel lieber wollte er an etwas Schönes denken, und sich vorstellen, daß er diese Traumfrau wiedersehen würde...

Plötzlich riß er die Augen auf.

Narrte ihn sein Verstand, oder waren das wirklich die beiden?

Sie gingen suchend zwischen den Tischen und schauten nach freien Plätzen. Dann entdeckte die Dunkelhaarige ihn und sah, daß an seinem Tisch nur ein Stuhl besetzt war. Tobias’ Herz hämmerte in der Brust, als die Madln direkt auf ihn zukamen.

»Ist hier noch was frei?« fragte die mit den braunen Haaren.

»Äh..., ja, klar«, nickte Tobias hastig. »Setzt euch.«

Sein Blick blieb an der Blonden hängen.

Es gibt noch Zeichen und Wunder, schoß es ihm durch den Kopf.

Saskia sah ihn fragend an und schien ihn zu erkennen.

»Warst du heut’ net auch am See?«

Er lächelte.

»Stimmt«, antwortete Tobias. »Ich hab’ direkt neben euch gelegen.«

»Du kamst mir auch gleich bekannt vor«, sagte die Bauerntochter. »Ich heiße Kathi, und das ist Saskia.«

»Hallo, Tobias«, stellte er sich vor und blickte suchend in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Und euer... Beschützer?«

Kathi Raitmayr sah ihn verlegen an.

»Tut mir leid«, sagte sie. »Er hat’s net so gemeint.«

»Schon gut«, erwiderte Tobias Anderer. »Ich hab’s ja vielleicht auch falsch angepackt, eure Bekanntschaft machen zu wollen. Seid ihr auf Urlaub hier?«

»Ich besuch meine Freundin«, erklärte Saskia. »Kathis Eltern haben hier einen Hof. Wir kennen uns schon seit einigen Jahren, aber erst jetzt hat’s geklappt, daß wir uns persönlich sehen.«

»Aha, Brieffreundinnen also.«

Die Madln nickten.

»Und du machst auch Urlaub«, sagte Kathi.

»Ja, ich bin heut’ morgen erst angekommen«, erklärte er.

»Und wie lang’ bleibst?«

»Leider nur bis Ende nächster Woche. Dann muß ich zurück zur Uni.«

»Was studierst du denn?« fragte Saskia.

»Medizin.«

»Ach, das ist ja ein Zufall, ich auch.«

»Nein!«

»Doch«, lachte Kathi, und die beiden stimmten ein.

»Aber ich hab’ erst angefangen«, erklärte Saskia.

»Na ja, ich bin schon eine Weile dabei. Aber es wird noch dauern, bis ich’s hinter mir habe.«

»Was soll ich da sagen?« meinte die Studentin.

Inzwischen kam die Bedienung. Im Pfarrhaus waren sie mit Kaffee und Kuchen bewirtet worden. Aber als sie sich verabschiedet hatten, stand ihnen der Sinn danach, etwas Kaltes zu trinken. Sie bestellten Apfelschorle, und Tobias schloß sich an.

Diese Gelegenheit würde er sich doch nicht entgehen lassen!

*

Sie verstanden sich auf Anhieb. Tobias und die beiden Madln blieben bis zum späten Abend in dem Gartenlokal, und als sie sich voneinander verabschiedeten, stand fest, daß der Student sie auf die Bergtour begleiten würde. Im Verlauf der Unterhaltung hatte er von seinem Pech erzählt und von dem Rat des älteren Ehepaares, sich an den hiesigen Pfarrer zu wenden. Kathi und Saskia hatten sich angeschaut und laut losgelacht.

Tobias war ein wenig irritiert.

Hatten die alten Leute ihm einen Bären aufgebunden, und lachten die Madln ihn jetzt aus, weil er darauf hereingefallen war?

»Nein«, schüttelte Kathi den Kopf, »Pfarrer Trenker ist wirklich ein begeisterter Bergwanderer. Früher bin ich oft mit ihm aufgestiegen, als ich noch in der Jugendgruppe war. Und als Saskia jetzt herkam, da hatte ich gleich die Idee, Hochwürden zu fragen.«

»Dann stimmt es also, was ich gehört hab’.«

»Ja«, erklärte die Studentin. »Wir kommen grad aus dem Pfarrhaus, wo wir die Tour mit ihm besprochen haben. Am Donnerstag wollen wir zur Kandereralm hinauf.«

Sie schaute die Freundin an.

»Da könnt’ Tobias doch eigentlich mitkommen«, fuhr Saskia fort. »Oder glaubst, daß Hochwürden was dagegen hätt’?«

»Bestimmt net«, antwortete die Bauerntochter. »Je mehr Leut’ dabei sind, um so schöner ist’s für ihn.«

»Meint ihr wirklich?« fragte Tobias ein wenig zweifelnd.

»Na klar«, nickte Kathi. »Wir müssen es ihm bloß noch sagen.«

»Also, das würd’ ich selbst machen«, erklärte der Student. »Die Kirche wollt’ ich mir ohnehin anschauen.«

»Dann ist doch alles klar«, meinte Kathi. »Wo wohnst du eigentlich?«

»In der Pension Stubler.«

»Ach, bei der Ria. Ich hab’ bloß wegen eines Treffpunkts gefragt. Wir haben mit Hochwürden verabredet, daß wir zeitig ins Dorf herunterkommen. Wenn er nix andres sagt, treffen wir uns also übermorgen am Pfarrhaus.«

»Mensch, das ist prima«, freute Tobias sich und lächelte die beiden an. »Super, daß ich euch kennengelernt hab’.«

Daß bei diesen Worten sein Blick eher auf Saskia als auf Kathi ruhte, bemerkte die Bauerntochter mit einem Lächeln.

»Hast gemerkt, wie er dich immer angeschaut hat?« fragte sie, als sie zum Hof fuhren.

»Tobias?«

»Na ja, Mensch, wer denn sonst!«

Die Studentin zuckte die Schultern.

»Ist mir net aufgefallen.«

»Aber wie findest du ihn denn?« wollte die Freundin wissen.

»Nett.«

»Nett? Bloß nett?«

Kathi schüttelte den Kopf.

»Also, ich find’, daß der Tobias ein Supertyp ist. Er paßt übrigens zu dir.«

Saskia lachte.

»Warum? Weil er auch Medizin studiert?«

»Ja, genau deshalb. Stell dir mal vor, wie es wäre, wenn ihr zusammen eine Praxis eröffnet.«

»Hoppla, jetzt mal langsam«, schmunzelte die Studentin. »Mal ganz abgesehen davon, daß ich ihn ja kaum kenne, gehört wohl ein bissel mehr dazu.«

Sie machte ein nachdenkliches Gesicht.

»Sag’ mal, was wird eigentlich Florian dazu sagen, wenn er erfährt, daß Tobias die Bergtour mitmacht? Am See hat er ihm jedenfalls sehr deutlich die kalte Schulter gezeigt.«

»Keine Ahnung, was er dazu sagen wird. Aber es ist ja Pfarrer Trenker, der bestimmt, wer mitgeht. Also wird Florian sich damit abfinden müssen. Und wer weiß, vielleicht verstehen die beiden sich ja prächtig, wenn sie sich erst einmal kennengelernt haben.«

Saskia hatte da so ihre Zweifel, aber sie sagte nichts dazu.

An diesem Abend gingen sie früher schlafen als an den beiden vorherigen. Das frühe Aufstehen war ungewohnt für die Studentin, aber sie wollte unbedingt mithelfen, wenn die Freundin ihre morgendlichen Arbeiten verrichtete, und so stand sie am nächste Morgen wieder pünktlich mit Kathi im Stall.

»Und was machen wir heut?« fragte sie, als sie zum Frühstücken ins Haus gingen.

»Wart’s ab«, antwortete die Freundin und lächelte geheimnisvoll. »Jedenfalls hat’s was mit einem Märchen zu tun. Soviel kann ich schon mal verraten.«

Saskia wußte nicht, was sie mit dieser rätselhaften Andeutung anfangen sollte. Aber sie war gerne bereit, sich überraschen zu lassen.

*

Tobias hatte lange und tief geschlafen. Zu Hause in München war er immer sehr früh auf den Beinen. Seit Jahren schon wachte er stets zur selben Zeit auf, um vor dem Frühstück ein paar Kilometer zu laufen. Seine Mutter brauchte ihn nie wecken. Als er jetzt die Augen aufschlug und feststellte, daß es schon nach acht Uhr war, konnte er es zuerst gar nicht glauben.

»Muß wohl an der guten Bergluft liegen«, murmelte er, als er sich aus dem Bett schälte.

Nachdem er sich angezogen hatte, ging der Student die Treppe hinunter. Ria Stubler begrüßte ihn mit einem freundlichen Lächeln, als sie sich vor dem Frühstücksraum begegneten.

»Grüß Gott, Herr Anderer. Haben S’ gut geschlafen?«

»Grüß Gott, Frau Stubler. Ja, das hab’ ich. Viel länger als sonst.«

»Na ja, schließlich sind S’ ja auch im Urlaub«, meinte die Wirtin und deutete zur Terrasse hinaus. »Ich hab’ draußen gedeckt. Bei dem herrlichen Wetter wär’s ja gradzu eine Sünd’, drinnen zu frühstücken. Was hätten S’ denn lieber, Kaffee oder Tee?«

»Kaffee, bitte.«

»Und das Ei? Hart- oder weichgekocht.«

»Na ja, so mittel.«

»Schön, dann geh’n S’ nur hinaus. Gleich der erste Tisch rechts. Ich bring Ihnen alles.«

Tobias trat auf die Terrasse, wo noch andere Gäste beim Frühstücken saßen. Er grüßte und nahm Platz. Eigentlich hatte er mit einem einfachen Frühstück gerechnet. Meistens war es ja so, daß man sich an einem Büfett mit abgepackten Portionen bedienen mußte. Nicht aber so in der Pension Stubler, hier wurde jeder einzelne Gast individuell bedient, und Ria ging auf besondere Wünsche ein.

Tobias staunte nicht schlecht, als er den Korb mit den Semmeln und verschiedenen Brotsorten sah, den die Wirtin auf den Tisch stellte. Dazu kam eine Platte mit herzhafter Wurst und einigen Scheiben Käse. Außerdem standen Schälchen mit hausgemachter Marmelade und Honig auf dem Tisch, frische Butter von der Alm, und das Ei war tatsächlich eben erst gekocht worden.

»Meine Güte, wer soll denn das alles essen?« fragte er.

»Langen S’ nur tüchtig zu«, lachte Ria. »Und machen S’ sich auch was für später. Ich geb’ Ihnen gern’ Papier zum Einpacken. Dann brauchen S’ net so viel Geld fürs Essen ausgeben.«

»Das ist ja sehr freundlich«, bedankte sich der Student. »Ich wollt’ tatsächlich nachher eine kleine Wanderung machen.«

»Sehen S’, dann paßt es ja grad. Wohin soll’s denn geh’n?«

»Ich hab’ da in einem Prospekt was von einem alten Jagdschloß gelesen.«

»Hubertusbrunn, ja, das steht im Ainringerwald«, nickte die Wirtin. »Das sollen S’ sich anschauen. Und es ist ein schöner Spaziergang dorthin. Ich geb’ Ihnen nachher eine Wanderkarte und was zu Trinken. Haben S’ einen Rucksack?«

»Ja, den hab’ ich«, erwiderte Tobias und lachte. »Sie verwöhnen mich ja geradezu.«

»Sie sollen sich ja auch bei mir wohl fühlen«, lächelte Ria. »Sagen S’ nur Bescheid, wann Sie loswollen.«

»Ach, ich dachte, in einer Stunde oder so. Vorher wollt’ ich noch zur Kirche und schau’n, ob ich den Herrn Pfarrer antreff’. Wissen S’, Frau Stubler, ich hab’ da nämlich gestern zwei Madln kennengelernt, und die haben mir erzählt, daß sie mit dem Pfarrer eine Bergtour machen werden, und ich wollt’ ihn jetzt mal fragen, ob ich da mitgehen kann.«

»Ach, da wird Hochwürden nix dagegen haben«, meinte die Wirtin. »Der freut sich immer, wenn er jemandem die Schönheiten unsrer Heimat zeigen kann. Bestimmt nimmt er Sie auch mit.«

Sie nickte freundlich.

»Aber jetzt frühstücken S’ erstmal in aller Ruhe.«

Das tat Tobias, und es war erstaunlich, welchen Appetit er entwickelte. Aber es war auch zu köstlich, was ihm aufgetischt worden war. Besonders der Bergkäse schmeckte so lecker, daß der Student gleich zwei Semmeln damit belegte und verdrückte.

Hinterher machte er sich ein paar Brote zurecht, die Ria Stubler in ihren Kühlschrank legte.

Die Wasserflasche stand auch schon bereit.

»Bis nachher«, rief sie Tobias hinterher, als er die Pension verließ.

Er ging zur Kirche hinüber und stieg den Kiesweg hinauf. Prachtvoll standen die Büsche an den Seiten des Gotteshauses. Drinnen erwartete ihn eine angenehme Kühle. Tobias schaute mit großen Augen umher und konnte sich gar nicht satt sehen.

Es war einfach herrlich!

Nur von Pfarrer Trenker sah er nichts. Vielleicht würde er ihn ja im Pfarrhaus antreffen. Zuerst aber fotografierte der Student eifrig. Seine Eltern würden staunen, wenn er ihnen die Fotos zeigte.

Der Rundgang dauerte eine gute halbe Stunde. Dann verließ Tobias die Kirche wieder und ging zum Pfarrhaus hinüber. Er drückte die Klingel, und wenig später stand eine ältere Frau vor ihm, die ihn freundlich ansah.

»Grüß Gott. Möchten S’ zum Herrn Pfarrer?« erkundigte sich Sophie Tappert.

»Ja, wenn er zu sprechen ist? Sehr gern’«, antwortete er, nachdem er zurückgegrüßt hatte.

»Hochwürden ist draußen im Garten«, sagte die Haushälterin. »Kommen S’ bitt’ schön herein.«

Sie führte den Besucher durch den Flur und das Wohnzimmer in den Garten hinaus. Sebastian hatte erst in zwei Stunden einen Termin und nutzte die Zeit, um ein wenig die Hecke zu schneiden. Er trug eine grüne Schürze, und mit der Schere in der Hand sah er gar nicht aus wie ein Geistlicher, eher wie ein Gärtner.

»Hochwürden, Besuch für Sie«, rief Sophie.

Der Bergpfarrer unterbrach seine Arbeit und kam herüber.

»Grüß Gott«, sagte er und reichte dem Studenten die Hand. »Ich bin Pfarrer Trenker. Was kann ich für dich tun?«

»Tobias Anderer«, stellte er sich vor und kam auf sein Anliegen zu sprechen.

»So, die Kathi und die Saskia hast’ kennengelernt«, nickte Sebastian und bot ihm einen Stuhl auf der Terrasse an. »Ja, wir wollen morgen früh aufsteigen, und freilich kannst da mitkommen. Wanderkleidung hast dabei, nehm’ ich an?«

»Ja«, bestätigte Tobias.

Er schaute den Geistlichen unverwandt an. Er hatte ihn nämlich nicht für den gehalten, der Sebastian war. Aber der Student ahnte ja nicht, daß er nicht der erste war, dem es so erging.

»Prima.«

Der Bergpfarrer erkundigte sich, wo Tobias untergekommen war.

»Dann treffen wir uns morgen früh drunten an der Straße«, schlug er vor, nachdem er erfahren hatte, daß die Pension Stubler die Unterkunft des Studenten war.

Sie unterhielten sich noch ein Weilchen, und Sebastian erfuhr, daß Tobias in München lebte und Medizin studierte.

»Genau wie die Saskia«, lächelte er. »Ein schöner Zufall.«

Er verabschiedete den Besucher. Vor der Haustür fiel ihm noch etwas ein.

»Proviant brauchst net mitbringen«, erklärte Sebastian. »Dafür sorgt schon meine Haushälterin. Also, dann bis morgen.«

»Bis morgen, Hochwürden«, erwiderte Tobias. »Und ganz herzlichen Dank. Ich freu’ mich schon.«

Pfarrer Trenker sah ihm schmunzelnd hinterher. Er freute sich immer ganz besonders, wenn es junge Leute wie Tobias waren, die sich für eine Bergtour begeistern konnten.

*

»Was ist es denn nun Geheimnisvolles, das du mir zeigen willst?« fragte Saskia neugierig.

»Sei net so ungeduldig«, schmunzelte Kathi. »Wir sind ja gleich da.«

Die zwei Madln waren seit einer guten Stunde unterwegs. Zuerst marschierten sie in Richtung Höllenbruch, von dort aus ging es weiter zum Ainringerwald, der sich mehrere Kilometer weit hinzog und fast an Engelsbach heranreichte, dem Nachbarort von St. Johann. Zwischendurch hatten sie einmal eine Pause eingelegt und, mitten im Wald auf einer Lichtung, von ihren Broten gegessen.

Jetzt waren sie nur noch ein paar Minuten von ihrem Ziel entfernt.

»Gleich kannst du’s sehen«, sagte die Bauerntochter. »Nur noch einige Schritte.«

Nach knapp zweihundert Metern traten sie aus dem Wald, und Saskia blieb abrupt stehen.

»Mensch!« entfuhr es ihr.

»Na, was sagst du jetzt?« fragte Kathi.

»Das ist ja wirklich wie im Märchen«, murmelte die Studentin. »Ein Schloß, mitten im Wald!«

»Das ist Hubertusbrunn«, erklärte die Freundin. »Früher war es einmal ein Jagdschloß, das dem Baron Maybach gehörte.«

»Und wer wohnt jetzt da drinnen?« erkundigte sich Saskia.

»Hubertusbrunn gehört Pfarrer Trenker. Er hat in dem Schloß eine Begegnungsstätte für Jugendliche eingerichtet. Das ganze Jahr über kommen Gruppen hierher, um auf Hubertusbrunn ihre Freizeiten abzuhalten. Aber so ruhig, wie’s ist, scheint grad außer dem Verwalter­ehepaar sonst niemand da zu sein.«

Langsam gingen sie näher.

»Und Hochwürden ist der Besitzer?« fragte Saskia ungläubig.

»Ja, die Tochter des verstorbenen Barons hat es ihm geschenkt.«

»Wie? Einfach so?«

Kathi nickte und erzählte, wie es dazu gekommen war.

Als vor Jahren der Baron und seine Frau bei einem Autounfall ums Leben kamen, nahm sich die Kinderfrau deren Tochter an. Jahrelang lebte sie als Magd auf einem Bauernhof, Michaela von Maybach hatte sie als ihr eigenes Kind ausgegeben, und das Schloß verwaiste. Niemand kümmerte sich darum, und es wäre wohl vollends zu einer Ruine verkommen, wenn nicht der Bürgermeister von St. Johann eine Idee gehabt hätte, was man mit dem alten Gemäuer anfangen könne.

Markus Bruckner war nämlich immer auf der Suche nach Attraktionen, mit denen man den Fremdenverkehr ankurbeln konnte, und so verfiel er auf den Gedanken, aus Hubertusbrunn ein Spielcasino zu machen. Die Sache war indes schon zum Scheitern verurteilt, als sie auch nur bekannt wurde, denn der Bürgermeister hatte die Rechnung ohne den Bergpfarrer gemacht, der sich diesen Plänen widersetzte.

Zur selben Zeit spielte sich auf dem Anstetterhof ein anderes Drama ab. Dort lebte nämlich Maria Engler, die frühere Kinderfrau der Baroneß, die Michaela als ihre eigene Tochter großzog, als Magd. Aus dem kleinen Madl war eine junge, hübsche Frau geworden, die sehnsüchtig auf die Rückkehr des Bauernsohnes wartete.

Markus Anstetter war, nachdem er die Landwirtschaftsschule abgeschlossen hatte, für drei Jahre als Entwicklungshelfer nach Afrika gegangen. Mit ihm war Michaela aufgewachsen, sie hatten miteinander gespielt und gezankt und sich Freud’ und Leid geteilt. Als Markus fortging, war für sie beide die unbeschwerte Zeit ihrer Kindheit vor­über gewesen, und jetzt harrte Michaela seiner Ankunft, denn seit er fortgegangen war, wußte sie, daß sie Markus liebte.

Wie groß war die Freude, als sie sich wiedersahen, und wie glücklich war Michaela, als sie merkte, daß Markus ihre Liebe erwiderte.

Sein Vater war jedoch dagegen, und es brauchte die ganze Überredungskunst des Bergpfarrers, den Bauern davon zu überzeugen, daß er dieses Paar nicht auseinanderreißen durfte. Ein übriges tat die Enthüllung Maria Engels, die nach all den Jahren zum ersten Mal über Michaelas wahres Schicksal redete, und es sich herausstellte, daß das Madl nicht die Tochter einer armen Magd war, sondern die Nachkommin des letzten Freiherrn von Maybach.

Doch Michaela legte keinen Wert auf diesen Titel. Sie wollte nur mit Markus glücklich werden, und zum Dank für seine Hilfe schenkte sie Sebastian Trenker das alte Jagdschloß, der es mit Hilfe vieler freiwilliger Helfer wieder herrichtete und sich mit der Jugendbegegnungsstätte einen langgehegten Traum erfüllte.

»Das ist ja wie im Roman«, flüsterte Saskia, nachdem die Freundin geendet hatte.

»Oder wie im Märchen«, lächelte Kathi. »Ein modernes Märchen eben.«

Sie hatten das Schloß umrundet, so weit es Zaun und Hecke zuließen.

»Scheint wirklich niemand sonst da zu sein«, meinte die Bauerntochter. »Net einmal Vikar Moser.«

»Wer ist das?«

»Sozusagen Hochwürdens Stellvertreter. Ein netter Kerl, wär’ er kein Vikar, könnt’ er so manchem Madl gefährlich werden. Er kümmert sich als Seelsorger um die Leute hier und unternimmt auch Wanderungen mit ihnen oder organisiert Sportturniere.«

»Warst schon mal drinnen?«

Kathi nickte.

»Viele von den alten Sachen sind erhalten geblieben«, erklärte sie. »Es ist wirklich sehenswert. Mal sehen, ob die Verwalter da sind, dann dürfen wir vielleicht hinein.«

In der Mauer neben dem eisernen Tor war eine Klingel eingelassen. Leider drückte die Bauerntochter den Knopf vergeblich.

»Scheint der falsche Tag zu sein«, meinte sie und zuckte die Schultern. »Dann laß uns mal zurückgehen und schau’n, ob wir vielleicht ein paar Schwammerln finden.«

Sie warfen einen letzten Blick auf das Schloß und wandten sich zum Gehen um.

Da tauchte vor ihnen eine Gestalt aus dem Wald auf.

»Na, das ist ja ein Zufall!« rief Tobias Anderer.

*

»Hallo, was machst du denn hier?« fragten die beiden Madln überrascht.

»Vermutlich dasselbe wie ihr«, schmunzelte der Student, »ich wollt’ mir das Schloß anschauen.«

»Leider ist niemand da«, sagte Kathi. »Vielleicht sind der Verwalter und seine Frau in die Stadt gefahren.«

»Na ja, kann man halt’ nix machen«, zuckte Tobias die Schultern. »Aber schön, daß ich euch getroffen hab’.«

Beim letzten Satz schaute er Saskia an. Kathi registrierte es mit einem Lächeln.

»Wir wollten grad schau’n, ob die Schwammerln schon wuchern«, erzählte die Bauerntochter. »Hast Lust, mitzukommen?«

»Aber immer!« nickte er sofort. »Bloß hab’ ich leider von Schwammerln keine Ahnung.«

»Dann mußt dich eben an uns halten.«

»Ich hab’ übrigens mit Pfarrer Trenker gesprochen«, berichtete Tobias. »Er ist damit einverstanden, daß ich morgen mit auf die Bergtour geh’.«

»Na, das ist doch prima«, sagte Kathi, und Saskia nickte dazu.

Allerdings dachte die Studentin auch daran, was wohl Florian dazu sagen würde. Kathi und ihr würde wohl nichts anderes übrigbleiben, als es ihm heute noch zu erzählen, damit er morgen früh keine böse Überraschung erlebte.

Sie waren ein gutes Stück den Weg zurückgegangen und suchten unter dichten Büschen und hohen Bäumen. Schon bald fanden sie die ersten Pilze, darunter ein paar bemerkenswert große Eierschwammerl. Da Kathi sich damit am besten auskannte, war es nur natürlich, daß sie die größte Ausbeute hatte. Saskias Fund war kleiner als der der Freundin und Tobias fand gerade mal drei kümmerliche Exemplare Butterpilze.

Aber dann sollte er doch noch Sammlerglück haben, denn zwischen dicht stehenden Kiefern und einer Hecke aus wilden Brombeeren sah er plötzlich eine Anzahl herrlicher Steinpilze, daß er einen überraschten Schrei ausstieß.

»Das gibt’s doch gar net«, rief er zu den Madln hinüber, die auf der anderen Seite suchten. »Das müßt ihr euch ansehen!«

Sofort waren sie bei ihm.

»Ich werd’ verrückt«, sagte Kathi und schaute ungläubig auf die Pracht.

»Los, wetzt die Messer!« lachte Saskia.

Gemeinsam machten sie sich daran, die Pilze zu ernten. Zwar hatte Tobias gar nicht vorgehabt, auf Schwammerlsuche zu gehen, aber natürlich hatte er, wie es sich für einen jungen Burschen gehörte, der eine Wanderung machte, ein Taschenmesser eingesteckt.

Später saßen sie zusammen auf dem Waldboden und untersuchten ihren Fund.

»Nee, was soll ich denn damit?« schüttelte der Student den Kopf, als Kathi ihm einen Berg Pilze geben wollte. »In der Pension kann ich doch gar net kochen. Außerdem hab’ ich gar keine Ahnung davon, wie man die zubereitet.«

»Dann nimm sie für die Ria mit«, sagte die Bauerntochter. »Bestimmt lädt sie dich dann zum Essen ein.«

Nach dieser Aufregung mußten sie sich erstmal stärken. Tobias hatte noch reichlich Proviant dabei, und beide Madln etwas geschnittenes Obst. Wie die Schwammerln wurden auch Brote und Obst geteilt, und so saßen sie im Sonnenschein auf einer Lichtung und ließen es sich schmecken.

»Vielleicht finden wir noch mehr«, sagte Saskia plötzlich, die vom Pilzfieber infiziert worden war.

Sie sprang auf und schlug sich in die Büsche.

»Laß gut sein«, wollte Kathi rufen, »wir haben doch mehr als genug.«

Aber das hörte die Freundin schon nicht mehr.

Tobias war es indes nicht unrecht, daß er einen Moment mit Kathi Raitmayr alleine war. Er deutete in die Richtung, in die Saskia gegangen war.

»Hat Saskia mal was erzählt?« fragte er vorsichtig. »Ich mein’, hat sie einen Freund?«

Die Bauerntochter lächelte.

»Mir ist schon aufgefallen, daß sie dir gefällt«, meinte sie, statt auf seine Frage einzugehen.

»Na ja«, sagte der Student ein wenig verlegen, »ich geb’ zu, daß ich mich in sie verguckt hab’.«

»Ich kann dich beruhigen, Saskia hat momentan keinen Freund.«

Tobias lächelte auch.

»Meinst, ich könnt’ sie mal fragen, ob sie sich mit mir verabredet?« fragte er.

»Warum net? Am Samstag ist Tanzabend im Löwen, und da wär’s doch klasse, wenn wir zu viert hingingen.«

»Okay«, grinste er. »Dann werd’ ich sie mal fragen.«

»Am besten morgen, wenn wir unterwegs sind.«

Kurz darauf kam Saskia zurück. Sie hatte tatsächlich noch ein paar Schwammerln gefunden, die sie stolz präsentierte.

»Hmm, das gibt ein Abendessen!« sagte sie.

»Ich glaub’, wir sollten uns langsam auf den Rückweg machen«, schlug Kathi vor.

Am Höllenbruch verabschiedeten sie sich.

»Bis morgen«, winkte Tobias ihnen zu und schritt in Richtung St. Johann weiter.

Die beiden Freundinnen gingen zum Raitmayrhof. Dort wurde der Fund gebührend bewundert, und dann machten sich Kathi und Saskia daran, die Pilze zu putzen. Dazu setzten sie sich vor das Haus.

»Wie findest’ ihn denn nun eigentlich?« fragte die Bauerntochter.

»Wen?«

»Na, wen schon? Den Tobias natürlich.«

Die Studentin zuckte die Schultern.

»Hab’ ich doch schon gesagt, nett.«

»Himmel, merkst du denn gar net, daß er auf dich steht?« rief Kathi ungeduldig.

»Ach, du spinnst«, schüttelte die Freundin den Kopf. »Erstens glaub’ ich es net, und zweitens hab’ ich keine Lust, mich da auf was einzulassen. In zwei Wochen bin ich wieder zu Haus’, und Tobias fährt nach München. Was soll denn bitt’ schön daraus werden?«

»Wie du inzwischen weißt, kann man auch in München Medizin studieren, oder umgekehrt«, meinte Kathi. »Es ist alles nur eine Frage der Organisation.«

Saskia schüttelte den Kopf.

Freilich war Tobias ihr sympathisch, aber was auch immer er für sie vielleicht empfinden mochte, sie konnte diese Gefühle nicht erwidern.

»Laß uns von was andrem reden«, sagte sie und wechselte das Thema. »Erzähl mir doch mal was von der Alm, die wir morgen besuchen.«

Dazu kam Kathi aber nicht mehr, denn im selben Moment fuhr Flo­rian auf den Hof. Er hatte noch zu Hause arbeiten müssen und erst jetzt Zeit, sich zu ihnen zu gesellen.

»Habt ihr Lust, heut’ abend ins Kino zu gehen?« fragte er.

»Lust schon, aber morgen müssen wir noch früher aufstehen als sonst«, gab Kathi zu bedenken.

Sie brachte die Schwammerln ins Haus.

»Die haben wir heut’ morgen gefunden«, sagte Saskia, nicht ohne Stolz.

Florian sah sie lächelnd an.

»Schade, daß ich net dabei sein konnte. So allein im Wald...«

Sie erwiderte seinen Blick.

»Wir waren net allein«, entgegnete die Studentin. »Unterwegs haben wir Tobias getroffen.«

Der Bauernsohn runzelte die Stirn.

»Tobias? Welchen Tobias?«

»Den von gestern. Am See.«

Florian Burgers Miene verfinsterte sich.

»Der dich so unverschämt angestarrt hat?« fragte er.

»Redet ihr von Tobias?«

Kathi war gerade aus der Tür gekommen.

»Laßt euch bloß net mit dem ein«, sagte Florian. »Wer weiß, was das für einer ist!«

»Quatsch!« meinte seine Freundin. »Der ist völlig in Ordnung. Er kommt übrigens morgen mit auf Bergtour.«

*

Im Laufe der Jahre, die Sophie Tappert nun schon Haushälterin bei ihm war, hatte es sich Sebastian abgewöhnt, sie darauf hinzuweisen, daß sie ihm nicht soviel zu essen mitgeben sollte, wenn er auf Bergtour ging.

Sie hörte ohnehin nicht darauf, außerdem hatte die Gute immer noch Angst, Hochwürden könne bei seiner Kletterei abstürzen und sich verletzen, oder vielleicht auch verirren.

Dann sollte er wenigstens genug zu essen dabei haben, war ihre Meinung.

An diesem Morgen war der Proviantrucksack noch voller als sonst. Sophie Tappert war der Meinung, daß vier junge Leute viel Hunger hatten, und Sebastian hatte eingesehen, daß die Haushälterin damit recht hatte. Schon oft hatte er erlebt, daß die Brote gerade so ausreichten, wenn er mit Leuten unterwegs war. Die Wanderung und die frische Luft sorgten für einen guten Appetit.

Es war noch nicht hell, als der Geistliche das Pfarrhaus verließ, aber er sah schon das Auto der Bauerntochter an der Straße stehen, als er den Kiesweg herunterkam.

Auch Tobias Anderer überquerte gerade die Straße.

»Grüß euch zusammen«, sagte Sebastian und drehte sich zu Tobias um. »Schön, dann kann’s ja losgehen.«

Der Student nickte grüßend in die Runde. Die Madln nickten zurück, nur Florian Burger ignorierte Tobias.

Der hatte den ungehobelten Klotz vom See gleich erkannt und machte gute Miene zum bösen Spiel. Außerdem interessierte ihn nicht dessen Freundin, sondern Saskia.

Sebastian entging es nicht, daß Florian über Tobias keineswegs begeistert war. Tatsächlich hatte es wegen dem Studenten am Abend noch eine heftige Auseinandersetzung zwischen Kathi und ihrem Freund gegeben.

Florian hatte sie beiseite genommen und sie böse angesehen.

»Ist das etwa deine Idee gewesen, daß der Kerl die Tour mitmacht?« fragte er.

»Sag’ mal, was soll denn das?« schüttelte Kathi den Kopf. »Ich weiß gar net, warum du dich so aufregst.«

»Weil ich ihn net leiden kann!« stieß er wütend und fast beleidigt hervor.

»Du kennst Tobias doch überhaupt net«, erwiderte sie. »Außerdem hat er dir nix getan.«

»Ich will aber net, daß er dabei ist!« rief der Bauernsohn verstimmt.

»Dann bleib’ doch zu Haus’«, gab sie kurz zurück.

»Das tu’ ich auch!«

Jetzt wurde Kathi ärgerlich.

»Also, jetzt stell’ dich net wie ein ungezogener Bub an«, wies sie ihn zurecht. »Mal ganz abgesehen davon, daß Saskia die Idee dazu hatte, war es immer noch Pfarrer Trenker, der zugestimmt hat, daß Tobias mitkommt. Aber wenn’s dir net paßt, solltest wirklich zu Haus’ bleiben.«

Mit der Drohung, genau das auch zu tun, war Florian gefahren. Doch am Morgen erschien er wieder auf dem Hof und holte die Madln ab.

Kathi war recht froh darüber und vermied es, noch etwas zum vergangenen Abend zu sagen.

Jetzt wanderte die kleine Gruppe zum Höllenbruch und wandte sich der Hohen Riest zu. Nachdem sie den Bergwald durchquert hatten, kamen sie zu einer Anhöhe, von der die Wege zu den einzelnen Almen abzweigten. Holzschilder zeigten die jeweilige Richtung und Entfernung an.

Unterwegs erklärte der Bergpfarrer seinen Begleitern immer wieder diese oder jene Besonderheit, zeigte ihnen ein scheues Tier oder eine seltene Pflanze. Saskia und Tobias hatten ihre Fotoapparate mitgebracht und machten fleißig Aufnahmen. Hin und wieder unterhielt sich Sebastian mit Florian und erkundigte sich, wie es auf dem Hof stand. Tobias hielt sich dann an Saskia und versuchte, mit ihr ins Gespräch zu kommen.

»Ich hab’ gehört, daß am Samstag ein Tanzabend stattfindet«, meinte er einmal.

Die Studentin nickte begeistert.

»Ich freu’ mich schon drauf«, antwortete sie und blickte ihn fragend an. »Kannst du tanzen?«

»Aber klar«, lächelte er. »Und ich hoffe, daß wir beide einen flotten Tango hinlegen werden.«

Saskia lachte.

»Ob sie einen Tango spielen, weiß ich net«, erwiderte sie. »Aber ein Foxtrott soll mir auch recht sein.«

Tobias schaute sie von der Seite her an, und er wußte nicht, was daran schuld war, daß sein Herz schneller schlug – der Aufstieg oder das Madl an seiner Seite...

Nach drei Stunden machten sie die erste Rast. Inzwischen war die Sonne aufgegangen, und sie konnten ihre Jacken ausziehen und als Sitzunterlage benutzen.

Pfarrer Trenker öffnete den Proviantrucksack, den Florian während des Aufstiegs getragen hatte, und holte Brote und Thermoskannen hervor.

»So, laßt es euch schmecken«, sagte er.

Die Madln schenkten Getränke ein. Es gab Kaffee und Tee. Als Saskia Tobias seinen Becher reichte, berührten sich ihre Finger leicht. Der Student sah sie lächelnd an, und sie lächelte zurück.

Florian, der daneben saß, quittierte es mit einer sauren Miene. Während er einen Schluck trank, blieb sein Blick unverwandt auf Saskia gerichtet, und er spürte die Sehnsucht dabei, sie in die Arme zu nehmen.

Auch bei ihm hatte sie gelächelt, während er den Becher entgegengenommen hatte.

Hatte das mehr zu bedeuten, oder war es reine Höflichkeit gewesen?

Florian konnte den Blick nicht abwenden, und so bemerkte er nicht, daß Kathi ihn verwundert anschaute.

Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf den Geistlichen, der während der Pausen immer von früheren Wanderungen erzählte. Seine Zuhörer hingen stets gebannt an seinen Lippen, denn es gab zahlreiche Geschichten, die der Bergpfarrer spannend und farbig zu schildern wußte.

*

»Jetzt schau’ dir das an!«

Toni Wiesinger reichte seiner Frau das Schreiben, das eben mit der Post gekommen war.

»Was ist denn das?« fragte Elena.

»Der Laborbericht über die Analyse des angeblichen Wundermittels von Brandhuber«, sagte der Arzt mit deutlich verärgerter Miene. »Das Zeug taugt allenfalls dazu, ins Spülbecken gegossen zu werden.«

»Ärgere dich net«, versuchte sie ihn zu beruhigen. »Wenn die Leut’ so dumm sind, darauf reinzufallen, dann haben s’ eben nix Besseres verdient.«

»Schon«, gab Dr. Wiesinger zu, »aber wenn s’ erstmal wegen dieser ›Medizin‹ zum Brandhuber rennen, dann tun sie’s auch, wenn s’ wirklich schwer erkrankt sind, dann mag ich mir gar net ausmalen, was da für Katastrophen passieren können.«

Er schaute auf die Uhr.

»Die Praxis wird erst in einer halben Stunde geöffnet«, meinte er nachdenklich. »Vielleicht sollt’ ich die Zeit nutzen und diesen Scharlatan mal aufsuchen.«

Elena Wiesinger, die in St. Johann als Tierärztin arbeitete, wiegte nachdenklich den Kopf.

»Ich weiß net, Toni, ob du mit einem Gespräch wirklich was bei ihm ausrichten kannst«, gab sie zu bedenken. »Du hast doch erzählt, daß Pfarrer Trenker dem Loisl die Leviten lesen wollte.«

»Ja, schon zweimal. Gestern noch hab’ ich mit ihm darüber gesprochen, als er wissen wollte, ob die Analyse schon da wär’. Er hat den Brandhuber nie angetroffen. Bei der Hütte sei alles wie ausgestorben gewesen. Leider ist Hochwürden heut’ auf Bergtour und wird net vorm Abend zurück sein.«

Er schüttelte den Kopf und trank seine Tasse leer.

»Nein, ich will’s net länger verschieben«, erklärte er entschlossen. »Dem Brandhuber muß endlich mal auf die Füß’ getreten werden, sonst richtet er noch richtigen Schaden an. Außerdem geht’s mir an die Berufsehre, wenn so einer meine Patienten behandelt.«

Elena sah ebenfalls auf die Uhr.

»Ich muß los«, sagte sie. »Beim Berghofer ist eine Kuh krank geworden, die will ich mir noch anschauen, bevor bei mir in der Praxis der Ansturm losgeht.«

Sie verabschiedeten sich vor dem Haus. Während die Tierärztin in ihren Geländewagen stieg, ging ihr Mann zur Hütte des selbsternannten Wunderheilers.

Vielleicht hab’ ich ja heut’ mehr Glück als Hochwürden, dachte Toni. So früh am Morgen ist der Brandhuber möglicherweise noch zu Hause.

Als der Arzt an der Hütte ankam, sah er keine Anzeichen dafür, daß der Hausherr anwesend war. Er spähte durch die vor Schmutz starrenden Scheiben und versuchte, einen Blick ins Innere der Hütte zu werfen. Aber der Dreck auf den Fenstern und das Dunkel drinnen verhinderten jede Sicht. Dr. Wiesinger probierte die Türklinke, es war abgesperrt.

»Brandhuber, bist daheim?« rief er trotzdem, bekam aber keine Antwort.

Schließlich ging er durch den verwilderten Garten zur Rückseite. Hier sah es aus wie auf einem Schrottplatz. Rostiger Draht lag zwischen alten, zerfetzten Kartons und leeren Flaschen. Ein alter Ofen, der keine Tür mehr hatte, lag quer über den von Moos überwucherten Gehwegplatten, und was einmal Rasen und Beete gewesen sein mochten, sah aus, als wüchse hier ein Urwald.

Toni Wiesinger schaute auf einen Kaninchenstall, in dem ein abgemagertes Tier saß. Es schnupperte und zuckte aufgeregt mit dem Näschen, während es vergeblich versuchte, aus einer Wasserflasche, die an dem Drahtgestell hing und wohl eine Tränke darstellen sollte, Wasser zu saugen.

Nachdenklich sah der Arzt das Kaninchen an. Der Stall war verdreckt, der Futternapf leer und ausgetrocknet. Offenbar hatte das arme Tier schon seit Tagen nichts mehr zu fressen und trinken bekommen.

Da stimmt doch was net, schoß es Toni durch den Kopf.

Entweder hatte der Brandhuber das Weite gesucht und das Kaninchen zurückgelassen, oder...

Einer inneren Eingebung folgend, griff der Arzt die Klinke der Hintertür und drückte sie hinunter. Die Tür öffnete sich einen Spalt, doch dann verhinderte eine Art Sperre, daß sie sich weiter aufschieben ließ. Toni mußte alle Kraft aufbieten, um das Hindernis aus dem Weg zu räumen.

Und dann sah er die Bescherung.

Alois Brandhuber lag hinter der Tür auf dem Boden, alle Viere von sich gestreckt!

»Auch das noch!« murmelte der Arzt, während er sich hinunterbeugte und den Alten untersuchte.

Loisl atmete kaum noch. Dr. Wiesinger mußte sich überwinden, das Hemd zu öffnen und nach dem Herz zu tasten, am Hals hatte er kaum noch einen Pulsschlag wahrnehmen können.

Mochte der Himmel wissen, wie lange der Brandhuber hier schon lag!

Tage waren es bestimmt schon. Zu dem, was ihn niedergestreckt hatte, kam noch hinzu, daß er die ganze Zeit nichts getrunken hatte. Er mußte innerlich schon fast ausgetrocknet sein.

Dr. Wiesinger richtete sich wieder auf und holte sein Handy aus der Tasche. Er drückte die Taste, unter der die Nummer der Notrufzentrale eingespeichert war. Dort wurde sofort abgenommen, und der Arzt schilderte, was geschehen war.

Während er auf den Krankenwagen wartete, sah er sich in der Hütte um. Aber dazu mußte er erst einmal die Fenster öffnen, damit überhaupt Licht hereindrang.

In der Mitte stand ein Tisch mit zwei Stühlen, alt und wackelig. An den Wänden waren Regale mehr oder weniger schief befestigt, in denen Töpfe, Tiegel, Gläser und Tüten standen, in denen der Alte seine obskuren Mittel aufbewahrte. In die anderen Räume mochte der Arzt gar nicht erst hineinsehen. Ihm genügte der Schmutz, der hier überall zu sehen war.

Er nahm eine Blechkanne, die neben dem Spülbecken stand, räumte das dreckige Geschirr beiseite und füllte die Kanne mit Wasser. Das Kaninchen trank gierig, als der Arzt das Wasser in die Flasche gefüllt hatte.

Es dauerte eine Viertelstunde, bis der Krankenwagen vor das Grundstück fuhr. Toni lief nach vorne und empfing den Kollegen, der als Notarzt mitgefahren war.

»Der Mann heißt Alois Brandhuber, Alter circa um die siebzig. Vermutlich ein Schlaganfall«, erklärte er und wies die Männer darauf hin, daß es in der Hütte nicht gerade »wohnlich« aussah.

»Wir sind einiges gewohnt«, meinte einer der Rettungssanitäter.

Dr. Braun untersuchte den Brandhuber und ordnete seinen Abtransport ins Krankenhaus an.

»Gibt’s Angehörige, die wir verständigen können?« fragte der Arzt.

»Wüßt’ ich net«, schüttelte Dr. Wiesinger den Kopf. »Der Mann lebt allein’.«

Der Kollege nickte.

»Also, wir fahren. Ich ruf’ dich an, sobald wir was Genaueres wissen.«

»Dank dir, Wolfgang«, erwiderte Toni und reichte ihm die Hand.

Als der Krankenwagen abgefahren war, stand der Arzt einen Moment vor der Hütte.

»Hoffentlich kommt er durch«, murmelte er.

Sosehr er sich auch immer über den Brandhuber ärgern mußte – natürlich wünschte er dem Alten nicht, daß er so enden mußte.

Dann ging Toni Wiesinger nach hinten, nahm das Kaninchen aus dem Stall und brachte es in die Praxis seiner Frau.

*

»Schaut, da steht die Sennerhütte.«

Kathi deutete auf das alte Gebäude, das in einer Senke zwischen zwei Bergwiesen stand.

»Da ist ja mächtig was los«, meinte Tobias, mit Blick auf die Terrasse, auf der zahlreiche Wanderer saßen. »Wie sind die denn alle heraufgekommen?«

Die Bauerntochter schmunzelte.

»Es gibt verschiedene Wege, die auf die Alm führen«, erklärte sie. »Außerdem kann man auch bequem mit dem Auto herauffahren. Das machen mein Bruder oder ich, wenn wir unsren Käse abholen, den der Franz für uns herstellt. Aber Hochwürden hat extra diese Route ausgewählt, damit ihr zwei auch was von der Wanderung habt.«

»Genau«, sagte Sebastian, der neben sie getreten war. »Schließlich wollen wir unsren Gästen ja was bieten, net wahr?«

»Das schaut genauso aus, wie ich’s mir vorgestellt hab’«, sagte Saskia, die inzwischen ein Foto von der Kandererhütte gemacht hatte.

»Na, dann laßt uns mal schau’n, was der Franz uns heut’ Gutes anzubieten hat«, meinte der Bergpfarrer und lüftete seinen Hut, um dem Senner damit zu winken.

Franz Thurecker hob die Hand und winkte zurück.

»Hochwürden, grüß Gott«, sagte er, als die Gruppe bei ihm angekommen war. »Na, heut’ haben S’ ja viele Leute dabei.«

Er grinste Kathi und Florian an.

»Und sogar welche, die ich kenn’«, setzte er hinzu.

»Grüß dich, Franz«, sagte die Bauerntochter. »Das hier ist meine Freundin, die Saskia. Sie besucht mich für ein paar Tage, und wollt’ ihr hier natürlich zeigen, woher unser Käse kommt, für den sie so schwärmt.«

»Und dieser junge Mann, der sich uns angeschlossen hat, ist der Tobias«, stellte Sebastian den Studenten vor.

»Aber jetzt brauchen wir erst einmal einen großen Krug Milch!«

»Kommt sofort, Hochwürden«, nickte der Senner. »Schaut’s nur, daß ihr alle einen Platz auf der Terrasse findet. Heut’ herrscht mal wieder Hochbetrieb.«

Auf der mit bunten Sonnenschirmen bestückten Terrasse standen einfache Tische und Bänke. Die Wanderer, die dort schon saßen, rückten bereitwillig zusammen und machten den Neuankömmlingen Platz. Franz Thurecker kam schon einen Augenblick später und brachte die Milch und Gläser.

»Was hast’ denn heut’ gekocht?« erkundigte sich der Bergpfarrer.

Wie immer gab es eine kleine Auswahl deftiger Speisen. Franz Thurecker kümmerte sich nicht nur um die ihm anvertrauten Kühe und Ziegen, aus deren Milch er seinen weit über die Grenzen das Wachnertals hinaus berühmten Bergkäse machte. Er kochte auch selbst und bediente die Gäste, die während der Sommermonate in großer Zahl heraufkamen und den herrlichen Blick hier oben genießen wollten.

Heute hatte er wieder eine seiner Spezialitäten im Angebot: Käsespätzle, die mit vielen gerösteten Zwiebeln im Rohr gebacken wurden. Vorher gab es eine Suppe, die für sich schon fast ein Hauptgericht war, mit ihren vielen Gemüsen, Fleischstücken und Kartoffeln darin. Das Brot, das der Senner dazu reichte, hatte er am Morgen frisch gebacken.

Die Gruppe um den guten Hirten von St. Johann ließ es sich schmecken.

Sie waren erstaunt gewesen, wie schnell die belegten Brote verzehrt waren, die Hochwürden mit sich geführt hatte, und jetzt aßen sie schon wieder mit gutem Appetit.

»Ja, so ein Aufstieg macht hungrig«, meinte Sebastian und nahm sich noch eine Portion von dem Salat, den Franz zu den Spätzle gereicht hatte.

Der Senner zog in dem kleinen Garten hinter der Hütte allerlei Grünzeug. Doch das reichte bei weitem nicht, wenn der Ansturm der Gäste begann. Die meisten Sachen, die er hier oben nicht selbst herstellen oder anbauen konnte, wurden mit dem Auto über den Wirtschaftsweg heraufgebracht.

»Ich bin so satt, ich bekomm’ keinen Bissen mehr hinunter«, stöhnte Saskia zuerst.

Auch Kathi legte schließlich die Gabel aus der Hand.

»Aber lecker war’s!«

Sebastian sah Florian an, der sich beim Essen eher zurückgehalten hatte.

»Was ist denn mit dir?« fragte er. »Hast keinen Hunger?«

»Net so recht«, gab der Bauernsohn zurück und erhob sich. »Ich geh’ mir ein bissel die Beine vertreten.«

Kathi sah ihm hinterher, sagte aber nichts weiter.

»Ist ja ein netter Zufall, daß sich zwei Medizinstudenten hier getroffen haben«, meinte der Geistliche, an Saskia und Tobias gewandt. »Habt ihr euch denn schon darüber unterhalten können?«

»Ein wenig geplaudert haben wir schon«, nickte das Madl.

»Aber im Urlaub möcht’ man eigentlich net von der Uni reden«, sagte Tobias.

»Ja, das kann ich verstehen«, lachte Sebastian Trenker. »Übrigens, ihr solltet mal unsren Dr. Wiesinger kennenlernen. Der kommt ursprünglich auch aus München. Sein Doktorvater hat ihm immer gesagt, er solle nicht aufs Land ziehen. Aber als Professor Bernhard dann zum ersten Mal in St. Johann war, hat er rasch seine Meinung geändert.«

»Professor Bernhard?« fragte Tobias nach. »Ulrich Bernhard?«

»Ja. Kennst du ihn?«

Der Student nickte.

»Ich hab’ Vorlesung bei ihm«, erzählte er. »Außerdem hat der Professor mich eingeladen, bei ihm in der Klinik das Praktikum zu machen, wenn es soweit ist. Und der war der Doktorvater vom hiesigen Landarzt?«

Sebastian nickte.

»Dann muß das aber ein sehr guter Arzt sein!« sagte Tobias sichtlich beeindruckt.

»Und ein sehr gut aussehender!« setzte Kathi hinzu.

Alle am Tisch lachten. Saskia stand schließlich auch auf. Sie wollte unbedingt noch ein paar Fotos machen, wie sie erklärte.

»Na, dann schau’ ich mal, ob ich dem Franz helfen kann«, sagte der Bergpfarrer und ging mit ihr.

Tobias war es keineswegs unrecht, daß er einen Moment mit Kathi alleine war.

»Hast du Saskia gegenüber etwas davon erwähnt, worüber wir gestern gesprochen haben?« fragte er.

Sie lächelte. »Du meinst, daß du sie liebst?« Sie schüttelte den Kopf. »Net direkt. Aber ich bin sicher, daß Saskia es ahnt. Hat sie was gesagt?«

Erneutes Kopfschütteln.

»Ich glaub’ aber schon, daß sie dich auch mag«, meinte die Bauerntochter. »Aber weißt, es ist ein bissel kompliziert. Ihr letzter Freund war ein ziemlicher Draufgänger, wenn du verstehst, was ich mein’. Er hat ihr erzählt, daß er Saskia liebt, und sich nebenbei mit ein paar andren Madln vergnügt. Und jetzt hat sie Angst, noch mal auf so einen Hallodri hereinzufallen. Au­ßerdem hat sie wohl Bedenken, weil München und Passau ja net grad um die Ecke liegen.«

»Ach, Gott, was sind schon Entfernungen, wenn man sich gern’ hat«, sagte Tobias. »Aber das mit dem Freund, das versteh’ ich schon, daß sie da Angst hat.«

»Vielleicht solltest ihr einfach mal sagen, was du für sie empfindest, und ihr die Angst nehmen«, schlug Kathi vor.

Der Student nickte.

»Das werd’ ich auch«, antwortete er. »Am Samstag auf dem Tanzabend.«

»Dann wünsch’ ich dir viel Erfolg«, lächelte das Madl und stand auf. »Laß uns mal schauen, wo die beiden abgeblieben sind.«

Bei den Kühen war weder Flo­rian, noch Saskia zu sehen, als Kathi und Tobias zur Bergwiese kamen.

»Vielleicht da drüben«, deutete der Student zur Hütte.

Sie gingen hinüber um die Hütte herum, um auf die Rückseite zu kommen, und blieben gleichzeitig wie vom Donner gerührt stehen.

An dem halbhohen Zaun, der den Garten vor Wildtieren schützen sollte, lagen sich Saskia und Florian in den Armen und küßten sich innig.

*

»Nicht!«

Tobias hielt Kathi zurück. Das Madl hatte gerade losstürmen wollen, um die beiden zur Rede zu stellen. Jetzt schaute sie den Studenten fragend an.

»Soll ich die etwa weitermachen lassen?« fragte sie empört.

Tobias war nicht weniger entsetzt als Kathi. Sein Herz krampfte sich zusammen, als er das Madl, das er liebte, in den Armen eines anderen sah. Dennoch bemühte er sich, einen kühlen Kopf zu bewahren.

»Wir sollten uns jetzt nicht bemerkbar machen«, sagte er und zog die Bauerntochter mit sich.

Kathi war schreckensbleich. Sie wußte nicht, ob sie weinen sollte oder schreien vor Wut.

»Ausgerechnet Saskia!« murmelte sie enttäuscht. »Und ich hab’ sie für meine Freundin gehalten!«

»Ich kann dich verstehen«, erklärte Tobias. »Aber wir dürfen jetzt nix überstürzen. Vielleicht ist es ja harmloser als es ausschaut.«

So recht mochte er seinen Worten eigentlich nicht glauben. Aber es war wohl ein Akt der Verzweiflung, der ihn so reden ließ.

Er wagte nicht, noch einmal um die Ecke zu spähen, und gleich darauf wurden Schritte laut. Tobias nahm Kathis Arm und führte sie um die Hütte herum, zur Vorderseite.

»Natürlich wirst du Saskia fragen müssen, was das zu bedeuten hat«, sagte er, als sie wieder bei der Terrasse angekommen waren.

Er sah sich nach Pfarrer Trenker um, der aber nicht zu sehen war. Wahrscheinlich half er dem Senner noch beim Abwasch.

»Vor allem aber wird dein Freund dir erklären müssen, wieso er die Saskia küßt«, fuhr er fort. »Ich hab’ schon am Achsteinsee gemerkt, daß er ein Auge auf sie geworfen hat. Aber dann dachte ich, ich hätt’ mich getäuscht, weil ihr beide doch zusammen seid.«

»Fragt sich nur noch, wie lang’!« stieß das Madl hervor. »Ich könnt’ ihm die Augen auskratzen und ihr gleich dazu.«

»Still! Da kommen sie.«

Saskia und Florian kamen herangeschlendert, wobei sie ein Stück­chen vor dem Bauernsohn ging. Sie schritten die Stufen hinauf und setzten sich wieder.

Saskia hantierte angelegentlich mit ihrem Fotoapparat, und Tobias fragte sich, ob sie doch etwas gemerkt hatte, weil sie so verlegen wirkte.

Kathi zwang sich dazu, ihren Freund und Saskia nicht sofort zur Rede zu stellen. Glücklicherweise erschien im selben Moment der Bergpfarrer und schlug vor, daß sie sich die Käserei anschauen sollten. Die Studentin stand sofort auf. Auch Tobias machte Anstalten, sich zu erheben.

»Kommt ihr net mit?« fragte er, an Kathi und Florian gewandt.

Die Bauerntochter nickte und sah ihren Freund an.

»Was ist mit dir?«

Florian zuckte die Schultern.

»Das interessiert mich net«, erwiderte er. »Ich weiß, wie Käse gemacht wird.«

»Dann eben net«, sagte Kathi und folgte den beiden anderen.

Natürlich kannte sie auch die Arbeit bei der Käseherstellung. Sie war dabei sogar schon öfter dem Franz zur Hand gegangen. Trotzdem stand sie in dem gekachelten Raum und hörte zu, während der Senner erzählte, worauf es ankam, wenn man einen wirklich guten Käse machen wollte.

Aber Kathi hörte nur mit halbem Ohr hin. In Gedanken war sie bei der Szene, die sich hinter der Hütte abgespielt hatte, und sie fragte sich, ob sie das wirklich gesehen hatte.

Warum hat er das getan?

Sie wußte ja, daß Florian ein angeberischer Draufgänger war, der es liebte, mit den Madln zu flirten.

Aber warum konnte er nicht die Finger von Saskia lassen?

Sebastian Trenker bemerkte sofort die eigenartige Stimmung, die zwischen den jungen Leuten herrschte. Auf dem Rückweg grübelte er darüber nach, was geschehen sein konnte. Aber er stellte keine Fragen. Wenn es Probleme zwischen ihnen gab, die sich nicht selber lösen konnten, würde der eine oder andere sich ohnehin an ihn wenden, war er sicher.

Vor der Kirche verabschiedete er sich. Die vier bedankten sich bei ihm für den schönen Tag und standen schließlich schweigend da.

»Tja, ich geh’ dann auch mal«, sagte Tobias und nickte ihnen zu.

Kathi und Saskia nickten zurück. Der Student wußte nicht genau, ob es richtig war, jetzt zu gehen. Aber dann überlegte er, daß es in erster Linie eine Angelegenheit zwischen den Madln und dem Bauernsohn war, die sie unter sich klären mußten. Er hatte kein Recht, sich da einzumischen.

»Wollen wir dann auch?« fragte Florian.

Er schloß sein Auto auf, und die Madln stiegen schweigend ein. Schweigend verlief auch die Fahrt zum Raitmayrhof. Dort stieg Flo­rian gar nicht erst aus, sondern fuhr gleich weiter.

»Ich meld’ mich«, rief er noch aus dem geöffneten Fenster, bevor er wendete.

»Ich bin ziemlich erschlagen«, sagte Saskia und blickte die Freundin an.

Kathi nickte stumm.

»Du kannst zuerst ins Bad«, meinte sie und ging zum Haus.

Die Studentin sah ihr hinterher.

»Ist was?« fragte Saskia.

Sie bekam keine Antwort und ging achselzuckend hinterher. Während sie ihre Sachen aus dem Zimmer holte und zum Duschen ging, saß Kathi in ihrer Kammer auf dem Bett und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen.

Was sie gesehen hatte, war eindeutig und unleugbar gewesen. Florian und Saskia hatten sich geküßt. Wild und leidenschaftlich, und nicht freundschaftlich, wie man jemandem, den man sympathisch fand, vielleicht einen Kuß auf die Wange gab.

Nein, da hatte mehr dahintergesteckt als bloße Sympathie!

Die Bauerntochter schluchzte tief auf und ließ ihren Tränen freien Lauf.

Saskia kam aus dem Bad und ging in ihr Zimmer.

Ob sie was bemerkt hatte?

Diese Frage stellte Saskia sich die ganze Zeit. Als Florian sie in seine Arme gezogen und geküßt hatte, da war es ihr, als hätte sie an der Ecke der Hütte eine Bewegung gesehen. Schnell hatte sie sich von ihm losgemacht und zurückgeschaut. Aber da war niemand zu sehen gewesen.

»Hey, was ist denn?« fragte der Bauernsohn und wollte sie wieder an sich ziehen.

Doch sie wand sich aus seinem Griff und ging zur Terrasse zurück. Saskia war sicher, daß es ihr auf der Stirn geschrieben stehen müsse, was eben geschehen war, doch Kathi hatte sie nur angesehen und nichts weiter gesehen.

Vielleicht ist’s ja noch mal gutgegangen, dachte die Studentin erleichtert.

Aber dann war wieder dieses Gefühl da, bei etwas Verbotenem erwischt worden zu sein, und die eigenartige Stimmung schien ihr recht zu geben.

»Ich muß mit Kathi reden«, murmelte sie halblaut vor sich hin, während sie ihre Haare bürstete. »Das darf net unausgesprochen bleiben.«

*

»Guten Morgen«, sagte Saskia am nächsten Morgen, als sie aus dem Zimmer kam und Kathi begegnete.

Die Freundin antwortete mit einem kurzen Kopfnicken und öffnete die Tür zum Bad.

Die Studentin stellte sich ihr in den Weg.

»Kathi, was ist los?« fragte sie, obgleich sie den Grund für die ablehnende Haltung der Brieffreundin ahnte.

Gestern abend war es sehr schweigsam am Abendbrotstisch gewesen. Kathis Eltern, insbesondere ihre Mutter, argwöhnte, daß die beiden Madln sich zerstritten hatten. Aber sie wagte nicht, nachzufragen. Schon bald nach dem Essen ging Saskia in ihr Zimmer.

»Es war ein langer Tag«, entschuldigte sie sich.

Auf ihrem Bett stützte sie den Kopf in ihre Hände und dachte nach.

Florians »Angriff« war für sie völlig überraschend gekommen. Sie hatte ein paar Fotos von den Tieren gemacht und war dann auf die andere Seite der Sennerhütte gegangen, um dort den phantastischen Ausblick hinunter ins Tal zu fotografieren, als er plötzlich hinter ihr stand.

»Hier steckst also«, sagte er und lächelte sie an. »Soll ich dich auch mal fotografieren?«

Saskia nickte. Es war natürlich schön, ein Foto von sich vor diesem Panorama zu haben. Sie reichte ihm die Kamera und stellte sich in Positur. Florian machte ein paar Aufnahmen und kam wieder zu ihr.

»Herrlich, hier oben, was?« meinte die Studentin.

»Ja, aber das Schönste von allem bist du«, erwiderte der Bauernsohn und trat ganz dicht an sie heran.

»Blödmann«, sagte sie, halb verärgert, halb gutgelaunt. »Und laß das vor allem net Kathi hören.«

Sie sah das Begehren in seinen Augen.

»Ach was«, schüttelte Florian den Kopf und legte seinen Arm um ihre Taille. »Weißt eigentlich, daß ich dich sehr mag...«

Sie schluckte.

»Du sollst so was net sagen«, kam es ihr wie ein Hauch über die Lippen.

»Aber wenn’s doch wahr ist!« erwiderte er mit rauher Stimme. »Ich kann an nix andres mehr denken, als an dich. Wenn du net da bist, dann seh’ ich immer dein Gesicht vor mir.«

»Florian, bitte, hör’ auf!«

Wieder schüttelte er den Kopf.

»Warum willst dagegen ankämpfen?« fragte er. »Du magst mich doch auch. Ich spür’s ganz deutlich.«

»Freilich mag ich dich. Aber Kathi ist meine Freundin, es wär’ net recht, wenn wir beide...«

Sie kam nicht mehr dazu, weiterzusprechen. Florian umfaßte sie ganz und bog ihren Kopf nach hinten. Dann preßte er seinen Mund auf ihre Lippen, die sich automatisch öffneten.

Nein, nein, nein! hämmerte es in ihrem Kopf. Aber der Rausch war stärker. Vergessen waren in diesem Augenblick alle Bedenken, die sie eben noch gehabt hatte.

Endlich machte sie sich frei und sah ihn an.

»Bitte, tu’s nie wieder«, flüsterte sie.

»Doch«, widersprach er. »Immer wieder!«

Erneut näherte sich sein Mund dem ihren, und Saskia konnte nicht anders, als es zuzulassen. Dann hatte sie plötzlich das Gefühl, beobachtet zu werden und riß sich von ihm los.

An der Ecke der Hütte war nichts zu sehen. Sie atmete auf, überzeugt davon, daß ihr verbotenes Tun unbeobachtet geblieben war.

Doch schon auf der Terrasse meldete sich ihr schlechtes Gewissen. Saskia suchte nach Anzeichen, daß Kathi vielleicht doch etwas mitbekommen hatte, aber die Freundin zeigte es nicht. Immerhin gab sie sich schweigsam, so daß die Studentin unsicher war, ob die Freundin es nun wußte oder nicht, daß sie von ihrem Freund mit der besten Freundin hintergangen worden war.

Nachdem sie lange darüber nachgedacht hatte, stand Saskia auf und ging aus dem Zimmer. Sie klopfte an Kathis Tür und rief leise deren Namen.

Die Bauerntochter antwortete nicht. Erst als Saskia heftiger klopfte, öffnete sie.

»Was willst du?« fragte sie.

Die Studentin konnte deutlich sehen, daß die Freundin geweint hatte.

»Ich möcht’ mit dir reden«, bat sie.

Doch Kathi schüttelte den Kopf.

»Aber ich net mit dir«, erwiderte sie. »Was ich gesehen hab’, reicht mir. Ich muß es net auch noch hören.«

Damit schloß sie ihre Tür, und Saskia stand wie ein begossener Pudel davor.

Die halbe Nacht schlief sie nicht, sondern machte sich Vorwürfe, daß sie sich dazu hatte hinreißen lassen, Florian zu küssen, anstatt sich seinem Annäherungsversuch zu widersetzen. Erst gegen Morgen schlief sie ein, aber da klingelte schon bald wieder der Wecker.

»Du weißt genau, was los ist«, antwortete die Freundin jetzt auf ihre Frage. »Und ich will net mit dir reden! Hast das verstanden?«

Mit diesen Worten schob sie Saskia beiseite und schloß die Badezimmertür hinter sich.

Die Studentin kehrte in ihr Zimmer zurück, setzte sich auf das Bett und hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt.

*

Pfarrer Trenker stellte sein Auto auf dem Parkplatz des Krankenhauses ab und betrat die Eingangshalle. Wie immer herrschte hier ein ständiges Kommen und Gehen. Patienten, die nicht bettlägerig waren, spazierten umher, begrüßten oder verabschiedeten Bekannte und Angehörige. Schwestern und Ärzte eilten geschäftig hin und her, und vor dem Kiosk, an dem man Zeitschriften und Romane, Süßigkeiten und kleine Mitbringsel kaufen konnte, hatte sich eine Schlange gebildet.

Sebastian trat an die Rezeption und erkundigte sich nach Alois Brandhuber.

Die Frau hinter dem Tresen gab den Namen in ihren Computer ein und lächelte den Geistlichen, den sie von früheren Besuchen her kannte, freundlich an.

»Im dritten Stock, Hochwürden«, sagte sie. »Auf der Inneren, Zimmer zwölf.«

Der Bergpfarrer bedankte sich für die Auskunft und fuhr mit dem Aufzug nach oben. In der Abteilung für innere Medizin war er schon öfter gewesen und kannte sich aus. Er ging zum Schwesternzimmer und klopfte an die Tür.

»Grüß Gott«, sagte er. »Ich möcht’ zum Herrn Brandhuber.«

Die junge Schwester erwiderte seinen Gruß.

»Schön, Sie mal wieder zu sehen, Hochwürden«, lächelte sie erfreut. »Ich hab’ schon mit Ihrem Besuch gerechnet, nachdem ich erfahren hab’, daß der Patient aus St. Johann stammt.«

»Wie geht’s ihm denn?«

Schwester Hanna wiegte den Kopf.

»Na ja, er ist erstmal stabil. Ich würd’ sagen, die Rettung kam in letzter Sekunde. Aber gehen S’ doch zu ihm. Dr. Winkler ist grad bei ihm drin.«

Sebastian nickte ihr dankend zu und ging zu den Patientenzimmern weiter. Er klopfte an die Tür der Nummer zwölf und öffnete sie.

»Darf ich schon hereinkommen?« fragte er.

Der Stationsarzt stand an einem von drei Betten. Der Brandhuber lag darin, die beiden anderen schienen nicht belegt zu sein.

»Freilich, Hochwürden«, sagte er. »Ich bin ohnehin fertig.«

Sebastian trat ein und schaute Loisl an, der wie ein Häufchen Elend in seinem Bett lag. Er war an Apparaturen angeschlossen, die seine Werte maßen und an die Kontrollgeräte im Überwachungszimmer weitergaben.

»Ich weiß, daß Sie mir eigentlich keine Auskunft geben dürfen«, bemerkte der Geistliche, »aber...«

Der Arzt nickte.

»Wenn der Herr Brandhuber einverstanden ist – kein Problem.«

Der selbsternannte Wunderheiler hob den Kopf und nickte ebenfalls.

»Tja, unser Kollege, Dr. Wiesinger, kam in buchstäblich letzter Sekunde«, erklärte der Arzt. »Herr Brandhuber hatte doch keinen Schlaganfall, aber er muß mehrere Tage bewußtlos in seiner Hütte gelegen haben. Es ist beinahe ein Wunder, daß es ihm schon wieder so gutgeht. Seine Lage war wirklich lebensbedrohlich, weil der Flüssigkeitshaushalt seines Körpers nicht mehr funktionierte. Einige Zeit ohne jegliches Essen kann man ohne weiteres verkraften, aber trinken muß man auf jeden Fall. Wir haben den Patienten erst einmal stabilisiert und ihm kreislaufstärkende Mittel verabreicht. Der Flüssigkeitsverlust wird durch eine ständige Infusion ausgeglichen.«

»Wie ist das denn passiert?« wandte sich Sebastian an den Alten, der, im Gegensatz zu sonst, sauber aussah.

Wahrscheinlich hatten ihn die Schwestern ordentlich abgeschrubbt. Sogar das Haar war gekämmt.

»Ich kann mich net erinnern«, antwortete Loisl. »Muß irgendwie gestürzt sein, als ich nach draußen zum Bertl wollte.«

»Bertl?« sagte Sebastian stirnrunzelnd. »Zu welchem Bertl?«

»Na, meinem Stallhasen. Bestimmt ist das arme Viech inzwischen verhungert und verdurstet.«

»Da kann ich dich beruhigen«, schüttelte der Geistliche den Kopf. »Dr. Wiesinger hat ihn mitgenommen. Dein Bertl wird in der Praxis seiner Frau aufgepäppelt, und ich soll dir ausrichten, daß er ganz munter frißt.«

Der Dorfarzt war am Abend ins Krankenhaus gekommen und hatte berichtet, was sich ereignet hatte. Sebastian war bestürzt gewesen. Der Brandhuber war nun freilich kein Kirchgänger. Der Bergpfarrer konnte sich eigentlich nicht erinnern, ihn jemals bei der Heiligen Messe gesehen zu haben. Dennoch war der Loisl für ihn ein Mitglied der Gemeinde, ein irregeleitetes Schäfchen, das nun in Not geraten war und Hilfe brauchte.

Alois Brandhuber atmete auf.

»Dann geht’s ihm besser als mir«, seufzte er.

»Na, du hast nun wirklich keinen Grund, dich zu beschweren«, meinte Sebastian. »Hier im Krankenhaus bist in den besten Händen. Die Ärzte tun alles, daß du wieder gesund wirst.«

»Wo Sie’s grad ansprechen, Hochwürden«, wandte sich Dr. Winkler an Sebastian, »der Herr Brandhuber sagt, er habe keine Krankenkasse, die für die Behandlung aufkommt. Was können wir denn da machen?«

Sebastian strich sich nachdenklich über das Kinn.

»Tja, lassen S’ mich nachdenken«, erwiderte er und sah den selbsternannten Wunderheiler an. »Sag’ mal, Loisl, du verdienst doch net schlecht mit deinen Sachen, die du da unter die Leute bringst. Hast net was von dem Geld auf die hohe Kante gelegt?«

Der Brandhuber richtete sich auf. Sein Gesicht war vor Aufregung rot angelaufen.

»Das... das sind meine Notgroschen«, rief er. »Die werden net angerührt!«

Sebastian hob die Hand.

»Beruhig’ dich«, sagte er und bedeutete dem Arzt, mit vor die Tür zu kommen.

Loisl sah ihnen mit einem bösen Blick hinterher.

»Machen S’ sich wegen der Kosten keine Gedanken«, meinte der Bergpfarrer zu Dr. Winkler. »Der Brandhuber ist kein armer Mann, auch wenn man den Eindruck haben könnt’.«

»Ehrlich gesagt, hatten wir gestern bei der Einlieferung den Eindruck, es mit einem Obdachlosen zu tun zu haben«, sagte der Arzt. »Wenn S’ bei Gelegenheit ein paar frische Sachen zum Anziehen mitbringen könnten? Seine Lumpen haben wir weggeworfen.«

»Freilich, das mach’ ich«, nickte Sebastian. »Und wegen des Geldes – ich red’ später mit ihm. Sie können sich drauf verlassen, daß der Herr Brandhuber zahlt.«

»Wenn Sie es sagen, Hochwürden, dann geht das in Ordnung«, lächelte der Stationsarzt und verabschiedete sich.

Der gute Hirte von St. Johann ging in das Krankenzimmer zurück. Loisl saß aufrecht in seinem Bett und sah ihm entgegen.

»Ist der Quacksalber endlich weg?« fragte er schlecht gelaunt. »Ich möcht’ net wissen, was für’n ungesundes Zeug die in mich hineinstopfen.«

»Also, jetzt halt mal an dich!« ermahnte der Geistliche ihn. »Gewiß ist die Medizin net so schlimm wie das, was du den Leuten andrehst.«

Loisl zog den Kopf ein.

Das mußte ja so kommen. Kaum war der Pfarrer da, setzte es auch schon Vorwürfe, und er konnte nicht fortlaufen, wie sonst...

»Also, werd’ erstmal wieder ganz gesund und genieße den Aufenthalt hier«, sagte Sebastian. »Ich komm’ dich bald wieder besuchen.«

Der Alte zog ein mürrisches Gesicht und brummelte etwas in seinen Bart.

Aber das verstand der Bergpfarrer schon nicht mehr. Er ging zur Tür und wandte sich noch einmal um.

»Auch, wenn du net dran glauben magst«, sagte er, »ich bin sicher, daß unser Herrgott seine Hand über dich gehalten hat. Denk’ mal ein bissel darüber nach. Zeit hast ja jetzt.«

*

Saskia fühlte sich hundeelend. Sie saß in ihrer Kammer und traute sich eigentlich gar nicht mehr heraus. Immer wieder hatte sie Anläufe gemacht, mit Kathi zu sprechen, doch die hatte stets abgelehnt und sich unversöhnlich gegeben.

»Was fang’ ich denn bloß an?« murmelte die Studentin halblaut. »Am besten wird’s sein, wenn ich abreise.«

Aber dann würde die Angelegenheit für immer zwischen ihnen stehen, und das wollte sie nicht.

Doch wie brachte man Kathi dazu, mit ihr zu reden?

Es war inzwischen Nachmittag geworden, und außer den beiden Madln war sonst niemand im Haus. Kathis Eltern waren in die Stadt gefahren, und Thomas hatte draußen auf den Feldern zu tun.

Die Studentin horchte auf, als sie einen Wagen hörte. Sie eilte ans Fenster und schaute hinaus. Insgeheim hatte sie gehofft, daß Florian herkommen würde. Schließlich war der an der Misere schuld, in der sie jetzt steckte, und ein paar Worte zu Kathi wären ja wohl angebracht gewesen.

Auch jetzt sah sie sich in ihrer Erwartung getäuscht, denn das Auto kam nicht auf den Hof, es fuhr davon.

Und hinter dem Lenkrad saß Kathi...

»Ich hab’ ja selbst schuld«, gestand Saskia sich ein. »Hätt’ ich ihm bloß eine runtergehauen!«

Allerdings war es jetzt für jede Einsicht zu spät. Das Kind war in den Brunnen gefallen, und sie mußte zusehen, wie sie die Sache wieder hinbog.

Während sie im Zimmer gesessen und sich ihre Gedanken gemacht hatte, war kurz die Überlegung gewesen, ob sie nicht vielleicht Hochwürden bitten sollte, ihr einen Rat zu geben. Kathi hatte doch gesagt, daß Pfarrer Trenker stets ein offenes Ohr für die Probleme anderer habe.

Jetzt dachte Saskia wieder daran, ins Dorf zu fahren und den Geistlichen aufzusuchen. Und nach einer Weile rang sie sich dazu durch.

Zur selben Zeit fuhr Kathi Raitmayr zum Burgerhof. Die Bauerntochter wollte und mußte Florian zur Rede stellen. Er sollte wissen, daß er mit ihr nicht so umspringen konnte, wie mit jedem beliebigen Madl sonst. Wenn die sich das gefallen ließen, hatten sie selbst schuld, Kathi jedenfalls war nicht gewillt, es zu tun.

Als sie auf dem Hof ankam, sah sie Florian gerade in die Scheune gehen. Sie stieg aus dem Auto und ging ihm nach. Als sie eintrat, hörte sie ihn hinten in der Ecke rumoren und folgte den Geräuschen.

Florian Burger nahm sich gerade den Traktor vor. Schon am Morgen hatte sein Vater ihm gesagt, daß der Motor nicht mehr rund laufe, und der Sohn sich die Sache mal ansehen solle. Als er seine Freundin erblickte, lächelte er und legte den Schraubenschlüssel aus der Hand.

»Hallo, Spatzl«, sagte er. »Das ist aber schön, daß du mich besuchen kommst.«

Ihr Blick war abweisend, und als er sich zu ihr beugte und sie küssen wollte, drehte Kathi den Kopf zur Seite.

»Bist sicher, daß du net jemand andres erwartet hast?« fragte sie.

»Wieso?« erwiderte er. »Wie kommst du darauf?«

»Tu net so«, gab sie zurück. »Du weißt genau, wovon ich red’!«

Erst runzelte er die Stirn, dann grinste er.

»Ach so, das meinst.«

Florian machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Das hat doch nix zu bedeuten«, schüttelte er den Kopf. »Ein Spaß, mehr net.«

»Langsam hab’ ich die Nase voll von deinen Späßen«, rief Kathi erzürnt. »Daß du dich net schämst, net einmal vor meiner Freundin Halt zu machen!«

»Jetzt hab’ dich net so«, sagte der Bauernsohn. »Ist doch gar nix passiert. Komm, gib mir ein Busserl und sei wieder gut.«

Er wollte sie an sich ziehen, doch Kathi entwand sich seinem Griff.

»Nix da!« sagte sie energisch. »Es hat sich ausgebusserlt. Ich hab’ keine Lust mehr auf deine Eskapaden. Such dir eine, die sich das gefallen läßt. Mich bist jedenfalls los!«

Damit drehte sie sich um und lief hinaus. Hastig sprang sie in ihr Auto und warf den Motor an. Als sie losfuhr, war Florian heran. Mit einem Satz sprang er zur Seite, als sie an ihm vorüberschoß.

»Kathi!« brüllte er ihr hinterher. »So bleib’ doch steh’n!«

Selbst wenn sie ihn gehört hätte, wäre sein Rufen vergebens gewesen. Kathi Raitmayr brauste die steile Bergstraße hinunter, und erst, als sie sicher war, daß er ihr nicht folgte, hielt sie an, legte den Kopf auf das Lenkrad und weinte.

Eigentlich hatte sie gar nicht Schluß machen wollen, sondern ihm nur gehörig die Meinung sagen. Doch dann war es über sie gekommen. Die vielen Male, in denen er vor ihren Augen mit anderen Madln geflirtet hatte, standen plötzlich vor ihr.

Kathi fühlte sich so gedemütigt!

Wußte sie denn, wie oft Florian sie schon betrogen hatte? Vielleicht sogar noch schlimmer als mit Saskia?

Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich beruhigt hatte und die Fahrt fortsetzen konnte. Als sie zu Hause ankam, fiel ihr sofort auf, daß Saskias Auto nicht mehr dort stand, wo die Freundin es abgestellt hatte.

Einen Moment schaute sie ratlos auf die Stelle. Dann zuckte Kathi die Schultern.

»Soll sie doch hingehen, wo der Pfeffer wächst«, stieß sie wütend hervor und ging ins Haus.

*

»Na, das ist ja keine schöne Geschichte«, sagte Sebastian Trenker zu der Besucherin.

Saskia Benthof saß vor ihm und schluchzte. Sie hatte sich alles von der Seele geredet, was sie quälte, und schaute den Geistlichen hilfesuchend an.

»Ganz bestimmt, Hochwürden«, sagte sie leise, »ich hab’s net gewollt. Das müssen Sie mir glauben. Gewiß, ich mag den Florian. Aber ich respektiere auch, daß er und Kathi ein Paar sind. Ich hab’ ja selbst am eignen Leib erfahren, wie es ist, wenn man betrogen wird. Aber es ging net von mir aus.«

»Ich glaub’ dir«, antwortete der Bergpfarrer. »Aber das ist net so wichtig. Wichtiger ist, daß die Kathi dir auch glaubt.«

Die Studentin hob hilflos die Hände und ließ sie wieder sinken.

»Ich hab’ ja versucht, mit ihr zu sprechen«, sagte sie. »Aber was soll ich denn machen, wenn sie sich so stur stellt?«

»Die Kathi ist verletzt und mag net mit dir reden«, gab der gute Hirte von St. Johann zu bedenken. »Das ist nur verständlich. Aber das muß noch lange net das Ende eurer Freundschaft bedeuten.«

»Wie soll ich’s denn anstellen, daß sie mir zuhört?« fragte Saskia verzweifelt.

»Das wird net so einfach sein«, entgegnete Sebastian. »Dir will sie net zuhören, der Florian wird von sich aus nix sagen, und das macht die Sache nur um so schlimmer. Aber vielleicht gibt’s eine Möglichkeit, daß wir drei uns zusammensetzen, und ihr euch aussprecht.«

Die Studentin sah den Geistlichen hoffnungsvoll an.

»Glauben S’ wirklich, daß das klappen könnt?«

»Zumindest ist es ein Versuch wert, und ich hab’ da auch schon eine Idee, wie wir’s anstellen können«, meinte Sebastian nachdenklich. »Eine Einladung ins Pfarrhaus, zum Abendessen, wird sie gewiß net ablehnen...«

Er sah Saskia fragend an.

»Der Tobias«, sagte Sebastian, »wie gut kennt ihr ihn?«

»Na ja, halt so«, antwortete sie. »Wir haben ihn am Dienstag erst kennengelernt. Er ist ein netter Bursche.«

Der Bergpfarrer lächelte.

»Das find’ ich auch«, meinte er. »Und ich glaub’, er mag dich ganz besonders...«

Jetzt lächelte die Studentin auch.

»Ich weiß«, nickte sie. »Kathi hat’s mir erzählt. Aber ich bin net so recht darauf eingegangen, wegen der Geschichte mit meinem letzten Freund.«

»Verstehe. Gebranntes Kind scheut’s Feuer. Aber der Tobias könnt’ uns vielleicht nützlich sein, bei dem, was ich mir da überlegt hab’.«

»Und was haben S’ sich überlegt?«

Sebastian erklärte es ihr. Zuerst wußte Saskia nicht, was sie davon halten sollte, dann aber lachte sie.

»Ja, Sie haben recht, Hochwürden«, sagte sie, »der Florian hat einen Denkzettel verdient!«

Erleichtert machte sie sich auf den Weg. Vielleicht, so hoffte sie, redete Kathi ja jetzt mit ihr, wenn nicht, dann würde Hochwürden dafür sorgen, daß die Freundin morgen abend zum Essen ins Pfarrhaus kam.

Kathis Mutter nahm Saskia beiseite, als die Studentin ins Haus ging.

»Sag’ mal, was ist denn da los, mit der Kathi und dir?« fragte die Bäuerin.

»Ach, ein schreckliches Mißverständnis«, antwortete sie. »Und schuld ist nur der Florian!«

Burgl Raitmayr nickte verstehend.

»Er hat mit dir geflirtet, der Bursche, was?« fragte sie.

»Ja, ziemlich heftig sogar. Und jetzt redet die Kathi net mehr mit mir.«

»Ich hab’ mir so was schon gedacht. Was machen wir denn da?«

Saskia erzählte von ihrem Besuch im Pfarrhaus und davon, was Hochwürden sich ausgedacht hatte.

Burgl lachte laut, als sie es hörte.

»Da hatte unser Herr Pfarrer mal wieder eine gute Idee«, sagte sie. »Ich drück’ die Daumen, daß es klappt.«

»Ist Kathi daheim?« fragte die Studentin.

Die Bäuerin schüttelte den Kopf.

»Sie ist vor ein paar Minuten gegangen«, antwortete sie. »Kurz bevor du gekommen bist. Sie wollt’ einen Spaziergang machen, hat sie gesagt. Aber mach’ dir keine Gedanken, wenn sie dich heut’ abend immer noch schneidet. Ich werd’ schon dafür sorgen, daß sie morgen ins Pfarrhaus kommt.«

Kathi kam erst wieder heim, als die anderen schon zu Abend gegessen hatten. Sie machte sich ein belegtes Brot und zog sich damit in ihr Zimmer zurück. Als Saskia später an ihre Tür klopfte, antwortete sie wieder nicht, und die Studentin gab es schließlich auf.

*

Tobias Anderer hatte einen schlimmen Tag hinter sich. Schon den gestrigen Abend, nein, überhaupt den ganzen Tag hätte er am liebsten aus seinem Gedächtnis gestrichen. Immer wieder mußte er an die Szene denken, die Kathi und er droben auf der Hütte beobachtet hatte.

Als er von der Bergtour in die Pension zurückgekehrt war, hatte der Student erst einmal das Stück Bergkäse, das der Senner ihm, wie allen anderen auch, mitgegeben hatte, Ria Stubler überreicht.

»Wie war’s denn?« erkundigte sich die Wirtin.

»Sehr schön«, hatte er geantwortet, aber die Miene, die Tobias dabei machte, strafte seinen Worten Lügen.

Er war in sein Zimmer hinaufgegangen und hatte sich auf das Bett gelegt. Immer wieder sagte er sich, daß es gar nicht so war, wie sie es gesehen hatten. Aber da war das Schweigen zwischen Kathi und Florian gewesen, und die sichtbare Verlegenheit bei Saskia.

Nach einer Weile war er wieder aufgestanden und unter die Dusche gegangen. Ohne etwas zu essen ging er schlafen – versuchte es zumindest. Doch das war alles andere als leicht. Tobias spürte, wie der Kummer an ihm nagte. Richtiger Liebeskummer, wie er ihn noch nie gehabt hatte.

Ja, er liebte Saskia Benthof, doch die war für ihn so unerreichbar wie der Mond. Er würde sich also damit abfinden müssen, daß er bei ihr keine Chancen hatte.

Am nächsten Morgen wachte er schon früh auf. Zuerst glaubte er, nur einen bösen Traum gehabt zu haben, aber dann war die Erinnerung an das Geschehene wieder mit aller Macht da. Lustlos ging er zum Frühstück hinunter und aß kaum etwas, so daß die Wirtin besorgt fragte, ob er krank sei.

Dann verbrachte er den ganzen Tag auf dem Zimmer. Er schaltete sich durch die verschiedenen Fernsehkanäle, ohne wirklich auf den Bildschirm zu blicken, geschweige denn, daß er mitbekommen hätte, was da gerade lief. Schließlich setzte er sich auf den Balkon und schaute zu den Bergen hinüber. Irgendwo da oben war er gestern gewesen, und natürlich dachte er dabei an Saskia und wurde dieses drückende Gefühl in der Brust einfach nicht los.

Wie es wohl Kathi gehen mochte?

Das Madl tat ihm leid, und er überlegte, ob er sie vielleicht anrufen und sich mit ihr verabreden sollte. Geteiltes Leid war bekanntlich halbes Leid.

Aber dann unterließ er es und gab sich ganz seinem Kummer hin.

Wahrscheinlich wären die nächsten Stunden genauso verlaufen, hätte am frühen Abend nicht Ria Stubler an seine Tür geklopft. Tobias war erstaunt, als er öffnete und die Wirtin draußen stehen sah.

»Ich wollt’ mich erkundigen, wie’s Ihnen geht«, sagte sie, mit besorgter Miene. »Ist alles in Ordnung?«

Der Student schüttelte den Kopf.

»Nein«, erwiderte er, »eigentlich ist nix in Ordnung.«

»Ich hab’ einen Eintopf gekocht. Haben S’ net Lust, herunterzukommen? Sie haben doch den ganzen Tag nix Rechtes gegessen.«

In der Tat verspürte Tobias ein Hungergefühl und ging mit ihr hinunter.

»Ich will net neugierig sein«, begann Ria, als sie am Tisch saßen und sich die Suppe schmecken ließen. »Und Sie können natürlich sagen, daß es mich nix angeht, aber wenn S’ sich aussprechen wollen, dann hör’ ich Ihnen gern’ zu. Manchmal hilft’s, wenn man sich seine Sorgen von der Seele reden kann.«

»Wenn’s wirklich so einfach wär’...«, meinte Tobias zweifelnd.

Aber dann erzählte er doch, was ihn plagte.

»Ja, der Florian, der ist ein Hallodri«, nickte die Pensionswirtin. »Aber daß er ausgerechnet was mit der Freundin von der Kathi anfängt!«

Sie schüttelte den Kopf.

»Und diese Saskia, was sagt die dazu?« fragte sie dann.

Tobias zuckte die Schultern.

»Ich weiß net, was jetzt zwischen ihr und Kathi ist«, sagte er. »Aber ganz sicher herrscht da net Friede, Freude, Eierkuchen.«

»Der Florian müßt’ mal so richtig auf die Nase fallen«, machte Ria ihrem Ärger Luft. »Aber Sie sollten trotzdem Ihren Urlaub genießen, Tobias. Es hat keinen Sinn, wenn S’ den ganzen Tag auf dem Zimmer hocken.«

»Ich weiß«, nickte er. »Und vielleicht geht’s ja in ein paar Tagen vorüber.«

So recht dran glauben mochte er allerdings nicht...

Die Unterhaltung wurde unterbrochen, als es an der Haustür klingelte. Ria blickte verwundert auf.

»Nanu«, sagte sie, »wer mag das sein? Ich erwarte doch gar keine Gäste mehr.«

Sie erhob sich und ging hinaus. Wenig später führte sie Pfarrer Trenker herein.

»Bleib’ ruhig sitzen«, sagte der Geistliche, als Tobias sich erheben wollte.

Er nahm auf einem Stuhl Platz und sah den Studenten an.

»Ja, also, die Saskia war bei mir im Pfarrhaus«, erzählte er. »Und ihr geht’s gar net gut. Die Kathi redet net mehr mit ihr, und am liebsten würd’ sie wieder nach Passau zurückfahren. Aber das ist natürlich keine Lösung. Ich hab’ mir da was überlegt, wie wir die beiden Madln an einen Tisch kriegen, damit sie sich aussprechen können.«

Tobias war ein wenig verwundert.

»Dann... dann ist da gar nix zwischen Saskia und Florian?« fragte er.

Der Bergpfarrer schüttelte den Kopf.

»Nein, Saskia respektiert die Beziehung der beiden«, erklärte er. »Der Bursche hat sie gestern ein bissel überrumpelt. Es war jedenfalls nie ihre Absicht, Kathi den Freund auszuspannen.«

Dem Studenten fiel ein Stein vom Herzen. Sebastian bemerkte es mit einem Lächeln.

»Für dich hätt’ ich vielleicht einen Tip«, sagte er. »Du bist der Saskia sehr sympathisch. Du mußt ihr nur zeigen, daß es dir ernst mit ihr ist.«

»Das will ich«, nickte Tobias. »Ich liebe sie doch!«

Den letzten Satz hatte er mit Nachdruck gesagt.

»Ich glaub’s dir ja«, schmunzelte der Geistliche. »Trotzdem ist es notwendig, daß du morgen abend mit der Kathi flirtest, daß alle denken, ihr wäret ein Paar.«

Tobias sah ihn entgeistert an.

»Ich soll mit Kathi...?« fragte er nichtverstehend.

»Natürlich net ernsthaft«, sagte Sebastian. »Es muß nur so aussehen, als ob. Vor allem für den Flo­rian. Ihm muß vor Schreck das Herz in die Hose rutschen.«

Endlich begriff der Student. Er grinste und nickte.

»Es wird ihm in die Hose rutschen!« versprach er.

»Gut, dann ist ja alles klar. Morgen abend kommst ins Pfarrhaus. Es gibt was zu essen, und hinterher geh’n wir auf den Tanzabend. Vorher hoff’ ich aber, werden sich Kathi und Saskia ausgesprochen haben, und ich bin sicher, dann wird’s auch mit dir und dem Madl klappen.«

Den letzten Satz begleitete ein Augenzwinkern des Geistlichen, der aufgestanden war und sich nun verabschiedete.

Tobias brachte ihn an die Tür.

»Vielen Dank, Hochwürden«, sagte er.

Sebastian lächelte.

»Schon gut«, erwiderte er. »Es ist mir immer eine Freud’, wenn ich helfen kann. Bis morgen, und schlaf heut’ nacht gut.«

*

»Was soll ich denn da?« fragte Kathi unwillig, als ihre Mutter sie auf die Einladung ins Pfarrhaus ansprach. »Etwa mit Saskia an einem Tisch sitzen und gute Miene zum bösen Spiel machen? Ich denk’ ja gar net dran!«

Burgl sah ihre Tochter kopfschüttelnd an.

»Das kannst net machen«, sagte sie. »Schließlich ist es etwas Besonderes, von Hochwürden eingeladen zu werden. Außerdem will er anschließend mit euch auf den Tanzabend gehen.«

»Der kann mir gleich ganz gestohlen bleiben«, entgegnete die Bauerntochter. »Oder glaubst vielleicht, ich schau’ mir an, wie die beiden miteinander tanzen? Ich mach’ mich doch net zum Gespött der Leute!«

Die Unterhaltung fand am Nachmittag statt. Den ganzen Tag schon waren sich die Freundinnen aus dem Weg gegangen. Während Saskia in die Stadt gefahren war, hatte Kathi einen langen Spaziergang gemacht, um in Ruhe über alles nachzudenken. Sie war nicht sicher, ob sie nicht einen Fehler gemacht hatte, Florian so schnell den Laufpaß zu geben.

Saskia würde bald wieder abreisen, er aber blieb.

Das Herz tat ihr weh, wenn sie sich an die Szene am Berg erinnerte. Sie liebte den Burschen, auch wenn er ein Tunichtgut war, was die Treue anlangte. Aber Kathi hatte gehofft, daß er sich eines Tages ausgetobt haben würde, und sie beide ein glückliches Leben führen konnten.

Am Mittag hatte Pfarrer Trenker angerufen, um Kathi für den Abend einzuladen. Da sie nicht zu Hause war, hatte ihre Mutter versprochen, es der Tochter auszurichten. Doch die stellte sich nun stur.

Schließlich sprach der Raitmayrbauer ein Machtwort.

»Jetzt stell’ dich net so an!« sagte er. »Schließlich geht’s auch um deine Zukunft.«

Kathi brauchte noch ein Weilchen, bis sie schließlich einsah, daß es vielleicht doch ein Versuch wert war. Trotz allem mochte sie Saskia Benthof, und im Hinterkopf war da immer noch der Gedanke, daß die Freundin ja wieder nach Hause fahren würde und somit keine Konkurrenz mehr darstellte.

Allerdings fuhr die Bauerntochter mit ihrem eigenen Auto, während die Studentin das ihrige benutzte. Sie kamen zur selben Zeit vor der Kirche an und gingen stumm nebeneinander den Kiesweg hinauf.

Pfarrer Trenker öffnete ihnen.

»Ah, da seid ihr ja«, begrüßte er sie. »Herzlich willkommen.«

Er führte sie ins Wohnzimmer und bot ihnen Plätze und Getränke an.

»Ihr wißt ja, warum ich euch hergebeten hab’«, begann Sebastian das Gespräch. »Was geschehen ist, läßt sich net mehr rückgängig machen, aber wir können vielleicht dafür sorgen, daß das, was jetzt unausgesprochen zwischen euch steht, aus der Welt geschafft wird.«

Er sah die Studentin an.

»Saskia, erzähl’ du erst einmal, was genau auf der Hütte geschehen ist«, forderte er sie auf.

Sie räusperte sich zuerst und berichtete dann leise, wie sich die Sache zugetragen hatte. Dabei schaute sie Sebastian an, der aber bedeutete ihr, sich Kathi zuzuwenden.

Saskia blickte zur Freundin, die ihr mit undurchdringlicher Miene gegenüber saß.

»Bitte, du mußt es mir glauben«, sagte sie beinahe flehentlich, »ich will nix vom Florian. Du weißt doch, was ich selbst erlebt hab’. Ich könnt’ niemals...«

»Warum hast es mir denn net gleich gesagt?« fuhr Kathi auf. »Ja, dann hätt’ ich’s dir glauben können. Aber so?«

»Saskia wär’ net zu mir gekommen, wenn sie es net ernst gemeint hätt’«, sagte Sebastian an die Bauerntochter gewandt. »Ich für meinen Teil glaube ihr, und du solltest es auch tun, damit eure Freundschaft, die nun schon so lange währt, net ein unschönes Ende findet.«

Kathi senkte den Kopf. Sie schluchzte und wischte sich die Tränen ab.

»Ich weiß ja, was der Florian für einer ist«, flüsterte sie. »Aber könnt’ ihr euch vorstellen, was in mir vorging, als ich sie da stehen sah, in inniger Umarmung? Ich dacht’, die Welt stürzt zusammen. Ausgerechnet Saskia!«

Die Studentin konnte ihre Tränen auch nicht mehr zurückhalten. Sie ging zu Kathi und legte ihren Arm um sie.

»Ich möcht’ dich um Verzeihung bitten«, sagte sie. »Es tut mir alles so unendlich leid.«

»Nun gib deinem Herzen einen Stoß«, lächelte Sebastian Trenker. »Der Bursche hat’s net verdient, daß ihr seinetwegen eure Freundschaft aufs Spiel setzt.«

Kathi hob den Kopf, ihre Hand tastete nach der ihrer Freundin. Und dann lagen sie sich in den Armen und schauten sich stumm an.

Das wär’ geschafft, dachte der Bergpfarrer zufrieden, jetzt kommt der zweite Akt.

Es klingelte an der Haustür, und kurz darauf brachte Sophie Tappert Tobias Anderer herein.

»Schön, daß du da bist«, begrüßte Sebastian den Studenten. »Dann können wir ja besprechen, wie es weitergeht.«

Tobias begrüßte die beiden ­Madln.

»Alles wieder in Ordnung zwischen euch?« fragte er.

Sie lächelten beide und nickten.

»Da bin ich aber froh.«

»Wir auch«, sagte Kathi und drückte Saskia an sich.

Dann schaute sie Tobias und Pfarrer Trenker an.

»Wie soll’s denn jetzt weitergehen?« erkundigte sie sich.

Der gute Hirte von St. Johann schmunzelte.

»Richtig, du bist ja noch gar net eingeweiht«, meinte er. »Also, wir haben uns da was überlegt...«

Während er erklärte, was im Laufe des Abends geschehen sollte, saß Tobias neben Saskia und schaute sie immer wieder von der Seite her an. Den ganzen Tag schon war er aufgeregt gewesen, und Ria Stubler hatte ihn zwingen müssen, ordentlich zu frühstücken und mittags mit ihr zusammen zu essen. Die Wirtin war immer um ihre Gäste bemüht, und lag ihr jemand besonders am Herzen, dann kümmerte sie sich noch besorgter um ihn.

Jetzt klopfte Tobias’ Herz vor Aufregung, und am liebsten hätte er nach Saskias Hand gegriffen und sie festgehalten.

Aber das wagte er doch nicht – noch nicht...

*

Zum Essen kamen Claudia und Max herüber.

Der Bruder des Bergpfarrers erkundigte sich nach dem Befinden des Brandhuber-Loisl. Sebastian war am Vormittag wieder ins Krankenhaus gefahren und hatte ein paar Sachen zum Anziehen aus dem Kleiderfundus des Pfarrhauses mitgenommen.

»Der ist schon wieder obenauf«, schmunzelte er. »Loisl findet noch richtig Gefallen an seinem Krankenhausaufenthalt. Ihr sollt mal seh’n, bald will er gar net wieder raus.«

Die Haushälterin hatte wieder ein kleines Festmahl hergerichtet. Nach einer köstlichen Suppe, in der Streifen von Kräuterpfannkuchen schwammen, gab es einen saftigen Lendenbraten mit einer samtigen Rahmsauce, Gemüse aus dem Pfarrgarten und gebackene Kartoffelkrusteln. Das Fleisch war scharf angebraten worden und dann bei niedriger Temperatur im Backofen fertig gegart. Innen war es rosa und zerging auf der Zunge.

Das Dessert, eine Mandelcreme mit Karamelsoße, war ein kleines Meisterwerk. Sophie Tappert hatte sie zunächst in kleine Formen gefüllt und dann zum Servieren auf große Glasplatten gestürzt. Ein paar frische Früchte und einige Sahnetupfer dazu, und den Gästen bot sich ein farbenprächtiges Bild.

Ohne Ausnahme lobte jeder das ausgezeichnete Mahl, und natürlich war es Max, der sich von allem, was aufgetischt worden war, noch einen Nachschlag erbat...

In aufgeräumter Stimmung ging es dann zum Hotel hinüber. Die Madln hatten sich für diesen Abend besonders sorgfältig herausgeputzt, und auch Tobias trug ein Jackett zu einem Jeanshemd und Hose.

Pfarrer Trenker, Claudia und Max hatten ihre Plätze am Tisch der Honoratioren, während Kathi immer bei den jungen Leuten saß. An diesem Abend aber setzte sie sich zusammen mit Saskia und Tobias neben Sebastian.

Die beiden Studenten staunten über den Andrang, der hier herrschte, aber Saskia wußte ja, daß der Tanzabend für die Wachnertaler immer etwas Besonderes war, was sie auf keinen Fall versäumen durften.

»Hoffentlich kommt er überhaupt«, meinte Saskia, als nach über einer Stunde noch immer nichts von Florian zu sehen war.

»Keine Sorge«, beruhigte Kathi sie, »der läßt sich nie eine Gaudi entgehen.«

Sie lächelte grimmig.

»Nur, daß er net weiß, daß er heut’ Grund zur Gaudi sein wird...«

»Da ist er ja«, deutete der Geistliche auf den Bauernsohn, der sich durch die Tanzenden drängte und nach allen Seiten grüßte.

Kathi war gewillt gewesen, sofort hinzuschauen, doch sie zwang sich, den Blick auf Tobias zu richten. Dann griff sie nach seiner Hand und zog ihn hoch.

»Komm, laß uns tanzen.«

»Es ist mir ein Vergnügen«, grinste er.

Aber während er Kathi auf die Tanzfläche führte, sah er sich noch einmal zu Saskia um. Die erwiderte seinen Blick und lächelte.

Am liebsten hätte er ja mit ihr getanzt, aber dann ging der Student ganz in seiner Rolle auf und legte seinen Arm um die Bauerntochter. Richtig verliebt schauten sie sich in die Augen, als die Musik einsetzte, und die »Wachnertaler Bu’am« einen langsamen Walzer spielten.

Sofort richteten sich die Augen der Tanzenden auf das junge Paar, und erstaunte Blicke wurden gewechselt.

Natürlich war es nicht ungewöhnlich, wenn eines der Madln, auch wenn es einen festen Freund hatte, mit einem Fremden tanzte. Aber Kathi und der Bursche zeigten ganz deutlich, daß das hier mehr war als nur ein Tanz. Sie strich Tobias durch das Haar und lächelte ihn glücklich an, während er sie fest an sich drückte und ihr einen Kuß auf die Wange hauchte.

»Wenn schon, denn schon richtig«, raunte Kathi. »Es soll doch echt aussehen.«

Und schon küßte sie ihn auf den Mund.

Einige der Paare tuschelten miteinander. Sie rätselten, wer der Bursche wohl sein mochte, der dem flotten Florian das Madl ausgespannt hatte.

Freilich blieb es nicht bei diesem Tanz. Auch die nächsten Stücke blieben Kathi und Tobias auf der Tanzfläche, mimten das verliebte Paar. Dann gingen sie zur Sektbar und erfrischten sich. Dabei standen sie Arm in Arm und schauten sich verliebt an.

Florian Burger bekam von alledem nichts mit. Er hockte an dem Tisch, an dem die anderen jungen Leute saßen und unterhielt sich mit einigen Burschen. Der Bauernsohn war erst spät auf den Tanzabend gekommen. Nachdem Kathi ihm gründlich die Meinung gesagt hatte, war er zwar zuerst geschockt gewesen, aber dann dachte er, daß sie sich schon wieder beruhigen würde. Am Abend hatte er dann auf dem Raitmayrhof angerufen und wollte fragen, ob er sie abholen solle.

Doch da war schon niemand mehr zu Hause. Kathis Eltern nahmen natürlich auch an dem Tanzvergnügen teil und waren längst nach St. Johann gefahren, als Flo­rian anrief.

Na ja, treff’ ich sie eben da, dachte er und ging erst einmal gemütlich unter die Dusche. Jetzt war er ein wenig verwundert. Er hatte angenommen, daß Kathi hier am Tisch sitzen würde, aber die anderen erklärten, das Madl den ganzen Abend noch nicht gesehen zu haben. Erst nach der dritten Maß erfuhr Florian, daß Kathi doch anwesend sei. Jemand kam und schlug ihm auf die Schulter. Er drehte den Kopf und blickte in das Gesicht von Thomas Raitmayr.

»Na, du alter Schlawiner«, sagte der Bruder des Madls. »Was hast denn mit der Kathi angestellt?«

Florian grinste schief.

»Ach, das ist doch Schnee von gestern«, meinte er. »Wo ist sie denn überhaupt?«

»Eben hat sie noch mit dem Tobias getanzt«, erwiderte Thomas, der in alles eingeweiht war. »Jetzt steh’n s’ an der Sektbar.«

»Sie ist mit dem Kerl hier?« fuhr Florian auf und sprang hoch.

»He, laß das«, ermahnte Thomas ihn. »Mach’ keinen Ärger. Das zwischen dir und Kathi ist doch beendet.«

Der Bauernsohn lief rot an.

»Was ist es? Na wart’!«

Er stürmte los und drängte sich durch die Menge. Thomas folgte ihm grinsend.

»Achtung, er kommt«, sagte Kathi, als sie ihren Freund sah.

Sofort riß Tobias sie in seine Arme und küßte sie innig. Florian baute sich vor ihnen auf, die Fäuste erhoben.

»Nimm deine Finger von meinem Madl!« brüllte er.

Der Student tippte sich an die Stirn.

»Du hast sie wohl net alle, was?« gab er zurück.

Kathi blickte Florian kühl an.

»Was willst eigentlich noch?« fragte sie.

»Was... was ich will?« stammelte er. »Aber, Kathi, du kannst doch net... Ich mein’, wir gehören doch zusammen!«

»Und warum führst dich dann auf wie ein Don Juan?« hörte der Bursche eine Stimme hinter sich. »Das Madl liebt dich, du Dummkopf, und du tust ihr so was an!«

Verlegen sah Florian Pfarrer Trenker an. Neben dem Geistlichen stand Saskia.

»Ich... ich weiß net, was da über mich gekommen ist«, sagte er und blickte wieder zu Kathi. »Bitte, ich versprech’, daß ich mich ändern werd’. Kathi, du mußt mir glauben!«

»Dann zeig’s ihr, du Hirsch!« rief Tobias und schob Kathi zu ihm. »Und ich hoff’, daß du endlich erkennst, was für ein tolles Madl sie ist. Eins will ich dir noch sagen, Florian Burger, verdient hast sie nämlich net, und wenn ich hör’, daß du die Kathi jemals wieder betrügst, oder auch nur mit einer anderen flirtest, dann komm ich persönlich und hau dir eine runter, daß dir Hören und Sehen vergeht!«

»Und damit du’s dir merkst, bekommst’ schon mal einen Vorgeschmack«, sagte die Bauerntochter und gab ihrem Freund eine Watschen, daß es nur so klatschte.

Die Umstehenden brachen in Gelächter aus, während Florian sich die rote Wange hielt.

»Jetzt darfst mich küssen«, setzte Kathi hinzu und hielt ihm ihren Mund hin.

Während Florian ihr einen Kuß gab, ging Tobias zu Saskia. Er nahm ihre Hand und zog sie mit sich.

»Und jetzt müssen wir zwei was klären«, sagte er, als sie draußen auf der Straße standen. »Ich weiß, daß du das Vertrauen verloren hast, aber glaub’ mir, ich bin net so wie die andren. Ich kann treu sein, wenn ich eine Frau von Herzen lieb’, und dich liebe ich mehr als alles andere auf der Welt.«

Sie schaute ihm in die Augen. Saskia war klar gewesen, daß sie sich an diesem Abend entscheiden mußte.

Für oder gegen Tobias. Sie lächelte und drückte seine Hand.

»Ich glaube, ich liebe dich auch«, flüsterte sie. »Laß es uns miteinander versuchen.«

Der Bergpfarrer Paket 4 – Heimatroman

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