Читать книгу Der Bergpfarrer Paket 4 – Heimatroman - Toni Waidacher - Страница 9

Unter den Sternen des Wachnertals … träumten wir einst vom gemeinsamen Glück Roman von Waidacher, Toni

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»Hallo, da bist du ja endlich!«

Andrea Hofmann saß im Stra­ßencafé in der Innenstadt von Nürnberg, und winkte der Freundin zu. Carla Wessel stellte ihre Einkaufstaschen ab und ließ ein deutliches Stöhnen hören.

»Puh, ist das eine Hitze heute«, sagte sie und schaute auf Andreas Cappuccinotasse. »Ich verstehe nicht, daß du so was bei diesem Wetter trinken kannst!«

Die Vierundzwanzigjährige schmunzelte.

»Was gut gegen die Kälte ist, ist auch gut bei Hitze«, meinte sie.

»Also ich brauche was Kaltes«, schüttelte die Freundin und Arbeitskollegin den Kopf. »Am besten einen Eiskaffee.«

Den brachte die Bedienung nach kurzer Zeit. Die beiden Frauen, die im Chefbüro eines Nürnberger Spielzeugfabrikanten arbeiteten, hatten die Mittagspause dazu genutzt, rasch in die Innenstadt zu fahren. Während Andrea gemütlich ihren Cappuccino trank, hatte Carla erklärt, sie müsse unbedingt drüben im Kaufhaus einen neuen Badeanzug kaufen.

Den Taschen nach zu urteilen, die sie angeschleppt hatte, war es allerdings mehr als nur ein Badeanzug geworden…

»Hier schau’ mal«, sagte sie und zog eine geblümte Bluse hervor.

»Na, ich weiß ja nicht.« Andrea blickte etwas skeptisch auf das Kleidungsstück. »Wenn du das im Schwimmbad anziehst und damit ins Wasser gehst, kann man ja alles sehen.«

Sie lachten beide. Natürlich hatte Carla nicht vor, die Bluse zum Schwimmen anzuziehen. Die war ihr nur aufgefallen, als sie mit dem neuen Badeanzug in der Hand zur Kasse ging. Allerdings blieb es dann nicht bei den beiden Kleidungsstücken, in den anderen Tüten befanden sich noch eine Hose, ein paar Hemdchen und diverse Schminkartikel.

»Kein Wunder, daß es so lange gedauert hat«, sagte Andrea. »Du hast ja deine ganze Mittagspause mit Einkaufen vergeudet.«

»Nicht vergeudet«, widersprach die Kollegin, »sondern sinnvoll investiert. Die Bluse zieh’ ich gleich heute abend zu der Party an. Du kommst doch auch?«

Irene Hessler, eine andere Kollegin, feierte Geburtstag und hatte das halbe Büro dazu eingeladen.

Andrea schüttelte den Kopf.

»Nein, du weißt doch, daß ich morgen früh gleich in Urlaub fahre«, erwiderte sie. »Da will ich ausgeschlafen sein. Ich hab’ mich schon bei Irene entschuldigt.«

Carla verzog den Mund zu einem spöttischen Grinsen.

»Na, da wird Kollege Brunner aber traurig sein«, meinte sie und verzog das Gesicht noch weiter.

»Wenn schon«, zuckte Andrea die Schultern. »Er wird schon damit fertig werden.«

Seit sie vor einem Jahr in der Firma angefangen hatte, machte Manfred Brunner, der Prokurist, ihr den Hof. Allerdings biß er dabei auf Granit, denn Andrea widerstand jedem seiner Annäherungsversuche.

»Und du willst wirklich in dieses Nest fahren?« fragte Carla. »Da ist doch bestimmt nix los.«

Plötzlich hellte sich ihre Miene auf.

»Ach, jetzt weiß ich, warum«, fuhr sie fort. »Wegen diesem Sepp. Sag’ mal, glaubst du etwa, daß der noch an dich denkt?«

Irgendwie bereute Andrea es jetzt, der Freundin einmal davon erzählt zu haben.

»Der ›Sepp‹ heißt Georg«, sagte sie, »und ich fahr’ nicht wegen ihm dahin, sondern weil’s in St. Johann schön ist.«

Im selben Moment wurde ihr klar, daß das nur die halbe Wahrheit war. Seit sie vor drei Jahren den jungen Bauern Georg Mäder kennen- und liebengelernt hatte, gab es keinen anderen Mann mehr in ihrem Leben. Es waren wunderschöne Wochen, die sie mit ihm verbracht hatte, und als ihr Urlaub damals zu Ende war, da schworen sie sich ewige Treue.

Aber natürlich kam es anders als gedacht. Schon aus dem Versprechen, gleich im nächsten Herbst zurückzukommen, wurde nichts. Andreas Mutter erkrankte schwer, und die Tochter mußte sie pflegen. Mehr als zwei Jahre siechte Helene Hofmann dahin. Andrea hatte in der ganzen Zeit gar nicht die Gelegenheit, wieder ins Wachnertal zu fahren. Bis auf ein einziges Mal, in einer Phase, als es ihrer Mutter etwas besser ging. Andrea wollte die Chance ergreifen und wenigstens übers Wochenende ins Wachnertal fahren. Sie mußten sich doch aussprechen können, dachte sie. Doch einen Tag, bevor sie abreisen wollte, bekam Helene Hofmann einen schlimmen Rückschlag, und an die Fahrt war nicht mehr zu denken. Zwar schrieb Andrea ihm die Gründe in einem langen Brief, aber eine Antwort hatte sie von Georg Mäder nie erhalten. Als sie dann einmal mit ihm telefonieren wollte, so wie sie es oft getan hatte, gab sich Georg Mäder recht abweisend und beendete das Gespräch rasch.

Vor einem halben Jahr war ihre Mutter verstorben, und so traurig das Ereignis auch war, für die arme Frau war der Tod eine Erlösung gewesen. Andrea hatte noch lange gezögert. Georg wieder anzurufen, wäre eine Möglichkeit gewesen, aber sie hatten seit damals nichts wieder voneinander gehört, und jetzt kam ihr ein Anruf einfach töricht vor. Außerdem hatte sie nicht vergessen, daß er sich bei ihrem letzten Telefonat so seltsam verhalten hatte. Deshalb überlegte sie sich etwas ganz anderes.

Heimlich wollte sie fahren und sich erst einmal erkundigen, was aus dem jungen Bauern geworden war. Vielleicht war er längst verheiratet, und dann wäre es für beide peinlich gewesen, stünde Andrea plötzlich vor der Tür.

Und morgen sollte es losgehen. Die hübsche Sekretärin würde lügen, wenn sie behauptete, daß sie nicht aufgeregt sei. Die letzten Stunden des Arbeitstages wollten nicht vergehen, und als sie am Abend ins Bett ging, konnte sie lange nicht einschlafen.

Wie wird’s wohl werden, unser Wiedersehen?

Diese Frage stellte sie sich, und sie ließ Andrea nicht mehr los.

*

»Na, Loisl, schaust ja schon wieder ganz gesund aus«, meinte Sebastian Trenker, als er den selbsternannten Wunderheiler von St. Johann im Krankenhaus besuchte.

Der Alte saß auf dem Bett, trug ein Nachthemd, das die Schwestern ihm gegeben hatten, und schaute den Bergpfarrer mit mürrischem Gesicht an.

»Das liegt ganz sicher net an der Medizin hier«, behauptete er. »Sondern daran, daß mein Körper all die Jahre ein gutes Immunsystem entwickelt hat, und das kommt allein’ von meinen Wundermitteln!«

Sebastian verkniff sich ein Lächeln. Daß der Brandhuber seine angeblich heilenden Salben, Tees und andere Mixturen an gutgläubige Menschen zu überhöhten Preisen verkaufte, war ihm von jeher ein Dorn im Auge. Aber daß der Quacksalber seine Mixturen selbst schluckte, glaubte er keinen Moment.

»Jetzt laß mal dein Kräuterzeugs«, entgegnete er, »und nimm brav, was die Schwestern dir verabreichen. Aber ich bin net hergekommen, um über Medikamente mit dir zu reden, sondern über die Behandlungskosten. Dr. Winkler hat mir die Summe genannt, die dein Aufenthalt hier ungefähr kosten wird. Da ich weiß, daß du net der arme Bursche bist, als den du dich ausgibst, würd’ ich gern’ von dir erfahren, wie du dir’s mit dem Bezahlen gedacht hast.«

Alois Brandhuber sah Sebastian an, als wäre der Geistliche der Teufel persönlich.

»Ich hab’ nix«, grantelte er. »Das hab’ ich doch schon gesagt.«

»Tisch mir hier keine Lügenmärchen auf«, sagte der gute Hirte von St. Johann heftiger, als er es eigentlich wollte. »Mit deinem Kräuterkram verdienst’ net schlecht, und ausgegeben wirst’ das Geld net haben. Überhaupt kannst froh sein, daß du noch am Leben bist. Das hast dem Dr. Wiesinger und den Ärzten hier zu verdanken.«

Der Brandhuber-Loisl hatte wirklich Glück gehabt. Toni Wiesinger, der Dorfarzt von St. Johann, hatte eigentlich vorgehabt, den Alten wegen eines Mittels zur Rede zu stellen, das Loisl an Grippekranke verkauft hatte. Einer von diesen Kunden war zu Toni in die Praxis gekommen und hatte gefragt, ob der Arzt ihm nicht nachträglich ein Rezept dafür ausstellen könne. Die Medizin sei doch so teuer, und er wollte versuchen, das Geld von seiner Krankenkasse zurückzubekommen.

Empört hatte Dr. Wiesinger das Ansinnen des Mannes zurückgewiesen und die Flasche gleich behalten, um deren Inhalt untersuchen zu lassen. Die Analyse hatte gezeigt, daß es sich keineswegs um ein wirksames Grippemittel handelte, sondern um ein Gemisch aus Kräutern und Wurzeln, das mit viel Alkohol versetzt worden war und eigentlich nur dazu taugte, in den Abfluß gegossen zu werden.

Als der Arzt dann zu der Hütte kam, in der Loisl hauste, schien der Alte nicht zu Hause zu sein. Dr. Wiesinger fand indes die Hintertür unverschlossen, und als er sie öffnen wollte, lag der Wunderheiler bewußtlos dahinter.

Im Krankenhaus stellte man fest, daß es kein Schlaganfall war, wie zuerst angenommen. Loisl selber erzählte später, er sei gestürzt und habe das Bewußtsein verloren. Tatsächlich hatte er sich so schwer verletzt, daß er mindestens zwei Tage dagelegen hatte, ohne wieder zu sich zu kommen. Dr. Wiesinger rettete ihm im letzten Moment das Leben.

Sebastian Trenker sah ihn an und schüttelte den Kopf.

»Hör’ zu, Loisl«, sagte er. »Ich steh’ dem Dr. Winkler im Wort, weil ich ihm gesagt hab’, daß ich dafür grade steh’, daß du zahlst. Also bring’ mich jetzt net in eine unmögliche Situation. Ich will noch warten, bis du in der nächsten Woche entlassen wirst, aber dann müssen wir ein ernstes Wort miteinander reden.«

»Ist schon recht«, murmelte der Alte schließlich. »Ich zahl’ ja schon.«

»Na also«, nickte der Bergpfarrer zufrieden. »Dann fahr’ ich jetzt wieder. Wenn’s meine Zeit zuläßt, komm’ ich die Woche noch mal wieder vorbei. Ansonsten hol’ ich dich dann ab. Dr. Winkler hat versprochen, mich anzurufen, wenn du entlassen wirst. Dann pfüat di’, bis dahin.«

Ohne eine Antwort auf seinen Gruß abzuwarten, verließ Sebastian das Krankenzimmer und ging über den Flur der Station. Aus dem Ärztezimmer kam ihm Dr. Winkler entgegen.

»Ah, Hochwürden, ich grüße Sie«, sagte der Arzt. »Na, haben S’ mal wieder unsren Lieblingspatienten besucht?«

Sebastian schmunzelte.

»Wie führt er sich denn so?« erkundigte er sich.

Dr. Winkler machte eine vage Handbewegung.

»Na ja, wenn man davon absieht, daß er immer über das Essen schimpft und die Medikamente nicht einnehmen will, eigentlich ganz gut«, antwortete er.

»Ich hab’ übrigens das Problem mit der Bezahlung der Behandlungskosten angesprochen«, erklärte Sebastian. »Der Loisl scheint eingesehen zu haben, daß er zahlen muß. Sie brauchen sich also wegen der Rechnung keine Gedanken zu machen.«

»Das hätte ich ohnehin nicht«, lachte der Arzt. »Höchstens unser Verwaltungsdirektor. Aber der kann dann ganz schön harte Mittel ergreifen, wenn jemand zahlungsunwillig ist.«

»Gott sei Dank hat sich das ja erledigt«, sagte Sebastian und reichte dem Arzt die Hand. »Also, ich schau’ wieder rein, wenn ich Zeit hab’.«

Zufrieden fuhr er nach St. Johann zurück. Es war ein herrlicher Sommertag, und das Leben schien unbeschwert. Sebastian wünschte, daß es immer so heiter weitergehen möge. Allerdings wußte er auch, daß es immer wieder Probleme gab, bei denen seine Hilfe gebraucht wurde.

Er dachte an die beiden jungen Paare, denen er erst vor kurzem zu ihrem Glück verholfen hatte. Schon bald sollten in St. Johann die Hochzeitsglocken läuten, und vielleicht überwogen ja die freudigen Ereignisse die weniger schönen.

Als er daran dachte, ahnte er allerdings nicht, daß sich schon bald etwas über seinem geliebten Dorf zusammenbrauen würde, das ein dunkles Geheimnis an den Tag bringen sollte…

*

Je näher Andrea Hofmann dem Wachnertal kam, um so schneller klopfte ihr Herz. Sie war am frühen Morgen in Nürnberg losgefahren, und bis zu ihrem Ziel waren es nur noch ein paar Kilometer. Jetzt fuhr sie eine Bergstraße hinauf und lenkte ihren Wagen rechts in eine Parkbucht. Sie stieg aus und ging zur anderen Seite hinüber. Von dort aus hatte sie einen herrlichen Blick ins Tal hinunter und konnte St. Johann schon sehen.

Hätte ich es doch nicht tun sollen? Wird er mich überhaupt wiedersehen wollen? Was, wenn es inzwischen eine Frau Mäder auf dem Hof gibt?

Diese Fragen stellte sie sich immer wieder, aber inzwischen war es zu spät, um wieder umzukehren.

Lange Zeit stand Andrea so da und schaute ins Tal und zur anderen Seite hinüber, wo die Berge in den Himmel ragten. Immer wieder hatte sie sich in all den Jahren ihre erste Begegnung mit Georg in Erinnerung gerufen. Aus einer Laune heraus, hatte sie sich dazu entschlossen, im Wachnertal Urlaub zu machen. Früher war sie gerne mit einer Freundin an die See gefahren, oder auch ins Ausland. Rom, Ma­drid und Paris hatten sie gesehen. Doch dann heiratete die Freundin, und Andrea war auf sich allein gestellt, wenn es um die Urlaubsplanung ging.

Georg lernte sie kennen, als sie einen Ausflug in die Umgebung machte. Der junge Bauer saß am Wegesrand und machte Brotzeit. Auf dem Feld stand sein Traktor, mit dem er beim Pflügen war. Sie kamen ins Gespräch und waren sich auf Anhieb sympathisch. Am darauffolgenden Samstagabend sahen sie sich im Löwen wieder. Der Tanzabend, der dort veranstaltet wurde, war für die Bauern der Höhepunkt einer Woche voller harter Arbeit. Aber auch die Urlauber vergnügten sich gerne dort, und Andrea hatte sich rechtzeitig einen Platz reservieren lassen.

Als Georg sie dann entdeckte und aufforderte, schien es beiden ein Wink des Schicksals zu sein, daß sie sich hier wiedersehen sollten. Sie blieben den ganzen Abend zusammen, und am Sonntag besuchte Andrea ihn auf seinem Hof.

Der Bauer hatte ihn vor zwei Jahren übernommen, als sein Vater verstarb. Gerade mal zwanzig Jahre alt, war er da gewesen. Dem ersten Besuch folgten noch viele weitere, und es dauerte nicht lange, bis Georg Andrea den ersten Kuß gab. Es war ein lauer Abend, und über dem Wachnertal stand ein sternenübersäter Himmel, als er ihr seine Liebe gestand.

Drei Jahre waren nun vergangen. Andrea hatte sich oft gefragt, warum die Beziehung so enden mußte. Natürlich, die Verpflichtung, die sie ihrer kranken Mutter gegenüber hatte, tat das ihrige, aber vielleicht hätten weder sie, noch Georg so schnell aufgeben sollen. Bestimmt hätte es einen Weg gegeben, trotz aller Widrigkeiten und der Entfernung, zusammen zu bleiben.

Aber es war müßig, über Versäumtes nachzudenken. Das Rad der Zeit ließ sich nicht zurückdrehen, und vielleicht bedeutete diese Reise ja einen Neubeginn…

Andrea setzte sich wieder in ihr Auto und fuhr weiter. Damals hatte sie in einer Pension außerhalb des Ortes gewohnt. Diesmal war für sie ein Zimmer in der Pension Stubler reserviert. Die Wirtin begrüßte sie freundlich und zeigte ihr das Zimmer. Die junge Frau war sehr angetan von der familiären Atmosphäre, die sie empfing und war sicher, daß sie sich hier wohlfühlen würde.

Aber viel mehr beschäftigte sie die Frage, was aus Georg geworden war.

Das Zimmer war geräumig und gemütlich eingerichtet. Andrea machte sich zuerst daran, ihre Sachen auszupacken und in den Schrank zu hängen, dann ging sie ins Bad, duschte, bürstete die langen, dunklen Haare durch und zog sich an. Zufrieden betrachtete sie sich in dem großen Spiegel, der an der Innentür des Badezimmers angebracht war. Sie trug einen leichten Pulli, eine helle Jeans und offene Sandalen. Schlank war sie, und die Anmutigkeit ihres Gesichts wurde durch ein braunes Augenpaar unterstrichen. Auf Schminke verzichtete Andrea im Urlaub gerne. Zwar ging sie ohnehin sparsam damit um, aber jetzt war sie der Meinung, weder Rouge, noch Lippenstift zu brauchen.

»So, jetzt wollen S’ wohl erst mal einen Bummel durchs Dorf machen, was?« erkundigte sich Ria Stubler, als die beiden Frauen sich im Flur begegneten. »Schauen S’ sich vor allem die Kirche an. Die ist wirklich sehenswert.«

Andrea nickte. Sie mußte an sich halten, um nicht zu schmunzeln. Natürlich kannte sie das Gotteshaus von St. Johann, genauso den Pfarrer. Sie hatte sich damals schon das großartige Gemälde »Gethsemane« angeschaut und die herrliche Madonna bewundert. Aber das konnte die freundliche Wirtin ja nicht wissen.

Andrea verließ die Pension und trat auf die Straße hinaus. Das Haus lag in einer Seitenstraße, in der es sehr schön ruhig war. Auf der Hauptstraße hingegen herrschte um diese Zeit mehr Verkehr. Gerade war der Bus aus der Stadt gekommen und hatte vor dem Hotel gehalten, ein Bauer fuhr mit seinem Traktor vorüber, und zahlreiche Urlauber spazierten vorüber und lenkten ihre Schritte zur Kirche hinüber, die auf der anderen Seite stand.

Die Sekretärin ging durch das kleine Einkaufszentrum, spazierte weiter zum Rathaus und kehrte wieder zum Hotel zurück. Sie merkte selbst, wie ziellos ihre Lauferei durch den Ort war. Alles, was sie sah, kannte sie schon, und eigentlich gab es nichts Neues zu entdecken.

Schließlich betrat Andrea den Bier- und Kaffeegarten des Hotels, suchte sich einen Tisch, bestellte etwas zu trinken und saß einfach nur da und ließ ihren Gedanken freien Lauf.

Irgendwie hatte sie es sich einfacher vorgestellt, als sie diese Reise plante. Ein Zimmer nehmen, sich umhören und dann zum Mäderhof fahren und Georg besuchen.

Nun, der erste Teil war geschafft. Sie war angekommen, wohnte in einer netten Pension und mußte nun den zweiten Schritt machen.

Aber wen sollte sie wegen Georg fragen? Die Wirtin? Oder den Pfarrer?

Irgendwie kam ihr ihre Idee plötzlich dumm vor.

Vielleicht hätte ich ihn doch einfach mal anrufen sollen, überlegte sie, während sie ihre Apfelschorle trank.

Was hätte schon groß geschehen sollen?

Entweder Georg würde sich darüber gefreut haben, oder nicht. In jedem Fall hätte sie aber gewußt, woran sie war.

Oder ich fahre doch einfach zu ihm, schoß es ihr plötzlich durch den Kopf.

Der Gedanke war erschreckend und aufregend zugleich. Andrea malte sich aus, wie es sein würde, wenn sie sich plötzlich gegenüberstünden, sich in die Arme fielen…

Rasch winkte sie der Bedienung und zahlte.

Nur schnell zum Auto, bevor sie es sich doch anders überlegte!

Vor Aufregung fand sie die Autoschlüssel nicht, bis ihr schließlich einfiel, daß sie sie in ihrem Zimmer auf den Tisch gelegt hatte. Andrea ging hinauf und schloß auf. Aber die Schlüssel waren nicht da. Sie suchte, fand sie nicht und kramte erneut in ihrer Handtasche. Das kleine Etui mit dem Aufdruck der Autofirma steckte zwischen etlichen anderen Sachen, die sie in der Tasche hatte. Einen Seufzer ausstoßend sank Andrea auf einen Stuhl und schüttelte den Kopf.

»So was Blödes!« murmelte sie, und wußte nicht, warum sie sich so ärgerte.

Vielleicht sollte ich es als Wink des Schicksals nehmen und nichts überstürzen, dachte sie schließlich und streifte die Sandalen ab.

*

»Langsam! Gib Obacht!«

Georg Mäder sprang auf den Anhänger und packte die Kette, die den schweren Baumstamm hielt. Franz Brandner drehte die Kurbel des Flaschenzugs langsam weiter. Es knirschte bedrohlich. Die beiden Männer arbeiteten vorsichtig weiter. Sie hatten ihre Zweifel gehabt, ob die Kette das Gewicht des gefällten Baumes tragen würde, aber schließlich hatten sie es geschafft. Der Bauer löste die Kette, und sein Knecht befestigte einen festen Gurt um das Holz.

Dann wischten sie sich den Schweiß von der Stirn und nickten zufrieden.

»Das war der letzte«, sagte Georg. »Schaffen wir ihn zum Hof, morgen machen wir dann weiter.«

Auf dem Anhänger lagen sieben dicke Stämme. Vorrat für den übernächsten Winter. Am nächsten Tag mußte das Holz zersägt und kleingehackt werden. Anschließend wurde es gestapelt, damit es bis zum Ende des nächsten Jahres getrocknet war und zum Heizen benutzt werden konnte.

Georg schwang sich in das Führerhaus des Traktors, Franz nahm auf dem Notsitz über dem linken Hinterreifen Platz. Eine halbe Stunde später kamen sie auf dem Hof an. Der Bauer fuhr bis unter das Scheunendach und schaltete den Motor aus. Aus seiner Hütte kam der Hund gelaufen und begrüßte die beiden.

»Na, alter Racker«, sagte Georg und strich dem Tier über den Kopf. »Hast’ schön auf die Liesl und dein Revier aufgepaßt?«

Franz reckte seine Arme. Es war eine anstrengende Arbeit gewesen, die er und der Bauer hinter sich gebracht hatten. Schon am frühen Morgen, gleich nach dem Frühstück, waren sie in den Bergwald hinaufgefahren, um die Bäume zu fällen. Jetzt war es schon nach Mittag, aber gewiß hatte die Magd das Essen warmgehalten, und der Knecht freute sich schon auf den Eintopf.

Gemeinsam gingen sie ins Haus. Liesl hatte, als sie den Traktor hörte, den Herd noch einmal eingeschaltet und Brot abgeschnitten. Die beiden Männer wuschen sich die Hände und kamen in die Küche. Franz hob schnuppernd die Nase.

»Riecht lecker!«

Die Magd stellte den Suppentopf auf die Unterlage auf dem Tisch und den Brotkorb dazu. Für die Männer hatte sie Radler bereitgestellt, eine Mischung aus Bier und Limonade, sie selbst verzichtete auf ein Getränk.

»Seid’s fertig geworden?« erkundigte sie sich.

Georg nickte.

»Es war ein hartes Stück Arbeit«, antwortete er. »Aber wir haben’s gern getan, damit du auch die nächsten Winter wieder warme Füß’ hast.«

Er hatte es mit einem Schmunzeln und Augenzwinkern gesagt.

»Ja, ja, damit mein Rheuma net zurückkommt«, gab Liesl zurück.

Sie lachten.

Liesl Lindhoff war schon an die sechzig Jahre alt. Als junges Madl hatte sie auf dem Mäderhof angefangen und war geblieben. Georgs Vater hatte sie noch als jungen Burschen gesehen und erzählte heute noch manchmal davon, wie Friedrich Mäder die Tochter eines Bauern aus Engelsbach geheiratet hatte, und ein Jahr später Georg auf die Welt gekommen war.

Sie selbst hatte nie geheiratet, obwohl es nie an Bewerbern gemangelt hatte. Aber Liesl wies sie alle ab. Später erfuhr Georg einmal, daß sie sich in seinen Vater verliebt hatte und aus diesem Grund keinen anderen wollte.

Leider hatte es nicht sein sollen, daß sie seine Mutter wurde, dennoch war der junge Bauer für sie wie ein eigener Sohn.

Franz Brandner hatte erst vor einem halben Jahr auf dem Mäderhof angefangen. Er war so alt wie Georg und stammte aus einem kleinen Ort in Unterfranken. Der Knecht hatte sich schnell eingearbeitet und fühlte sich bei seinem Bauern wohl.

Nach dem Essen machte sich Georg an die lästige Aufgabe, seine Steuerunterlagen auf Vordermann zu bringen. In ein paar Tagen war schon wieder Ultimo, und er hatte sich schon einen Termin bei seinem Steuerberater geben lassen.

Franz besserte derweil das Dach des Schuppens aus, mähte den Rasen hinter dem Haus und überprüfte dann den Ölstand des Traktors und räumte auch noch in der Scheune aus. Zusammen mit Liesl trieb der Knecht am Abend die Kühe herein und half der Magd beim Melken.

Es war ein Tag wie jeder andere. Es passierte nichts Aufregendes, und das gab den Bewohnern des Mäderhofs eine gewisse Sicherheit. Es war gut, abwägen zu können, was am nächsten Tag geschah, alles war geplant und hatte seinen Ablauf.

Und doch war da etwas, das den jungen Mann beschäftigte. Eine innere Unruhe hatte ihn ergriffen, die er sich überhaupt nicht erklären konnte. So, als stünde etwas Unerwartetes bevor.

Nach dem Abendessen spazierte Georg ein wenig die Straße hinauf, hockte sich auf einen Stein, der am Ackerrand lag, und schaute nachdenklich vor sich hin.

Plötzlich sah er sie vor sich, die einsame Gestalt. Sie kam den Weg herauf, sah ihn und grüßte lächelnd. Georg, der gerade den Becher seiner Thermoskanne zum Mund führen wollte, setzte ihn wieder ab, fasziniert von dem, was er da sah.

»Das schmeckt bestimmt gut, so an der frischen Luft«, sagte die Unbekannte, als sie vor ihm stand.

Sie schaute ihn mit ihren braunen Augen an, und Georg fühlte etwas in sich, das vorher noch nie dagewesen war.

»Möchten S’ auch einen Schluck?« fragte er mit belegter Stimme.

Doch sie schüttelte den Kopf und deutete auf ihren Rucksack.

»Danke schön, aber ich hab’ selbst was dabei.«

»Dann setzen S’ sich doch einen Moment«, sagte er und wußte selber nicht, woher er den Mut dazu nahm.

Sie folgte seiner Einladung, und sie unterhielten sich, als würden sie sich schon sehr lange kennen und nicht erst seit ein paar Minuten.

Georgs Kopf ruckte hoch. Er wischte sich über die brennenden Augen, als wollte er mit dieser Bewegung gleichzeitig die Erscheinung verscheuchen, die immer noch vor ihm stand. Er dachte an die beiden Briefe, die er erhalten hatte und die jetzt im Haus, in der Lade seines Schreibtisches lagen. Den ersten hatte er mit ungläubigem Erstaunen gelesen, den zweiten gar nicht erst geöffnet…

Vergiß sie, dachte er, du mußt sie endlich aus deinem Gedächtnis streichen!

*

Andrea wachte am nächsten Morgen in aller Frühe auf. Ganz gegen ihre Gewohnheit, denn wenn sie am Wochenende nicht arbeiten mußte, oder Urlaub hatte, dann lag sie gerne noch lange im Bett, schlief manchmal sogar wieder ein und ging den Tag ganz in Ruhe und gemütlich an.

Als sie zum Frühstück hinunterging, war es gerade kurz nach acht. Ria Stubler begrüßte sie lächelnd und erkundigte sich, ob Andrea gut geschlafen hatte.

»Ja«, nickte die Sekretärin. »Allerdings net lang’, wie Sie sehen.«

Den Nachmittag hatte sie damit verbracht, ein paar Ansichtskarten zu kaufen. Natürlich sollten die Kollegen im Büro einen Urlaubsgruß bekommen, und ein paar entfernte Verwandte, Großtanten und Onkel, zu denen sie eigentlich keine richtige Beziehung hatte. Man sah sich ein- zweimal im Jahr, weil alle viel zu weit auseinander wohnten. Immerhin wurden regelmäßig Grüße zu Geburts- und Feiertagen ausgetauscht.

Am Abend war sie in das Gasthaus gegangen. In der Wirtsstube, die zum Hotel gehörte, wurde eine etwas bodenständigere Küche serviert als im vornehmeren Restaurant, und die Preise waren moderater als nebenan.

Zuerst hatte sie gezögert, das Lokal zu betreten und überlegt, ob sie zum Essen nicht doch besser in die Stadt fahren sollte. Schließlich war es nicht ausgeschlossen, daß sie Georg hier beim Feierabendbier antraf. Früher, jedenfalls, hatte er des öfteren hier gesessen und sich mit anderen Bauern unterhalten.

Doch in die Stadt war es weit, und sie hatte eigentlich keine Lust dazu. Also überwand sich Andrea und ging hinein. In der Gaststube war es voll gewesen, es gab keinen freien Tisch mehr, aber ein junges Paar wartete schon auf die Rechnung und signalisierte der jungen Frau, daß es gleich gehen würde.

Es war schon ein merkwürdiges Gefühl, hier zu sitzen und auf den Stammtisch zu schauen, wo sich an jedem Mittwochabend der Pfarrer, der Arzt, Kaufmann, Apotheker und Bürgermeister trafen. Auf der anderen Seite saßen immer, genau wie heute, einige Dörfler, und unter ihnen hatte auch immer Georg gesessen. Manchmal jedenfalls, denn nachdem sie sich kennengelernt hatten, war der Bauer nur noch wenig ins Wirtshaus gegangen und dann auch nur mit ihr zusammen. Von ihrem Platz aus konnte Andrea den Tisch sehen, an dem sie meisten gesessen hatten.

Auch an ihrem letzten Abend…

Ihre Gedanken wurden unterbrochen, als die Bedienung kam und sich nach ihrer Bestellung erkundigte. Mittags hatte Andrea nichts gegessen und so bestellte sie sich ein Schwammerlragout mit Semmelknödel und Salat. Sie blieb danach aber nicht mehr lange sitzen und ging schon bald in die Pension zurück. Vom Fenster ihres Zimmers aus schaute sie in die Richtung, in der der Mäderhof lag, und überlegte, was sie dort gerade machten.

Georg saß vielleicht vor dem Fernseher, oder er arbeitete noch irgendwas draußen auf dem Hof. Liesl stopfte vielleicht Wäsche oder bereitete schon das Essen für den nächsten Tag vor, weil sie morgens keine Zeit dazu finden würde.

Andrea merkte, wie eine unbändige Sehnsucht sie überkam. In den letzten Jahren hatte sie sich immer wieder diese Szene ausgemalt und sich vorgestellt, wie es sein würde, wenn sie Teil dieses Lebens sein würde.

Sie wandte sich vom Fenster ab und setzte sich in einen Sessel. Dort blieb sie, bis es im Zimmer ganz dunkel geworden war, und hing ihren Gedanken nach.

*

»Ich hab’ draußen gedeckt«, erklärte jetzt die Wirtin. »Es ist wieder so ein herrliches Wetter. Heut’ früh um sechs hatten wir schon sechzehn Grad, und bis zum Mittag sollen es über dreißig werden.«

Auf der Terrasse saßen schon ein paar Gäste, darunter das junge Paar, das Andrea gestern abend im Wirtshaus gesehen hatte. Sie nickte den beiden zu und grüßte nach allen Seiten. Ihr Tisch stand auf der rechten Seite, im Schatten eines hohen Baumes, und war nur für eine Person eingedeckt. Ria Stubler erkundigte sich, ob sie Kaffee oder Tee wollte und ob das Ei weich oder hartgekocht sein sollte.

Andrea entschied sich für Tee und staunte wenig später, als die Wirtin ein Stövchen an den Tisch brachte und die Kanne darauf absetzte. Darin schwamm keineswegs der erwartete Teebeutel, sondern ein Filter, in dem sich »richtige« Teeblätter befanden. Es war ein perfekter Service, und es fehlten weder Kandis noch Sahne.

Die Frühstücksplatte überraschte die Sekretärin ebenfalls, denn, was darauf lag, hätte auch für drei Personen gereicht. Der Brotkorb war reich gefüllt, und die frischen Semmeln darin herrlich kroß.

»Lassen S’ es sich nur schmecken«, lachte Ria, als Andrea darauf hinwies, daß das alles doch viel zuviel für sie sei. »Und wenn S’ möchten, dann machen S’ sich noch ein paar belegte Brote für später. Dann brauchen S’ net zum Essen ins Lokal gehen und schonen Ihre Reisekasse.«

Andrea bedankte sich und ließ sich Zeit, das Frühstück in aller Ruhe zu genießen. Nach und nach gingen die anderen Gäste, und neue kamen hinzu. Wie es schien, war die Pension ausgebucht, und die Sekretärin beglückwünschte sich im nchhinein, daß sie das Zimmer schon rechtzeitig reserviert hatte.

Sie nahm das Angebot der Wirtin an und machte sich ein paar belegte Brote. Ria Stubler gab ihr zwei Bogen Papier zum Einwickeln, und erkundigte sich, ob ihr Gast auch an etwas zu trinken gedacht hatte. Als Andrea meinte, sie würde sich gleich eine Flasche Wasser kaufen, schüttelte Ria den Kopf.

»Ich geb’ Ihnen eine«, sagte sie. »Gehört zum Service des Hauses.«

Lächelnd nahm Andrea die Flasche entgegen und verabschiedete sich. Draußen blieb sie einen Moment stehen und überlegte, ob sie wirklich so mutig war, zum Mäderhof zu fahren.

Das hatte sie sich am Abend überlegt. Irgendwann würden sie und Georg sich sowieso über den Weg laufen, und vielleicht wäre er dann gekränkt, wenn er erfuhr, daß sie schon eine ganze Weile in St. Johann war, ohne sich bei ihm gemeldet zu haben.

Also gab sie sich einen Ruck, schloß das Auto auf und stieg ein. Und ihr Herz klopfte bis zum Hals hinauf, als sie die Richtung einschlug, die sie so viele Male gefahren war.

*

Im Garten der Pension »Edelweiß« saßen die Gäste ebenfalls beim Frühstück. Daß Ria Stubler durch die Eröffnung Konkurrenz bekommen hatte, tat ihrem Geschäft keinen Abbruch. Im Gegenteil, sie und die neuen Wirtsleute vermittelten sich gegenseitig die Gäste, wenn der eine oder andere Betrieb ausgebucht war.

Inhaber des »Edelweiß« waren Marion und Andreas Trenker. Der Cousin des Bergpfarrer hatte St. Johann als junger Bursche wegen einer unglücklichen Liebe verlassen und war nach Übersee gegangen. In Kanada baute er sich eine Existenz als Farmer auf und dort lernte er auch seine spätere Frau kennen. Marion Hellmann, wie sie damals noch hieß, machte seinerzeit Urlaub, als die beiden sich begegneten und ineinander verliebten. Zu diesem Zeitpunkt hatte Andreas seine erste Frau durch eine Krankheit verloren. Marion kehrte nach Hamburg zurück, wo sie als Lektorin in einem Kinder- und Jugendbuchverlag arbeitete. Sie war sicher, den deutschen Auswanderer niemals wiederzusehen, auch wenn sie sich die erste Zeit noch schrieben. Um so überraschter war die attraktive Frau, als Andreas eines Tages vor ihrer Tür stand.

Der hatte seine Farm verkauft, um wieder in die Heimat zurückzukehren. Daß dort auf ihn eine Überraschung wartete, ahnte er nicht.

Ungefähr zur selben Zeit hatte Sebastian sich auf die Suche nach seinem Cousin gemacht. Zu ihm war nämlich eine junge Frau gekommen, die auf der Suche nach ihrem Vater war. Der Mann, den sie jahrelang dafür gehalten hatte, war es nicht, wie sie beim Tode ihrer Mutter erfahren mußte. Es gab allerdings nur einen vagen Hinweis, einen Namen, der so ähnlich klang, wie der des guten Hirten von St. Johann.

Es kam zu allerlei Verwirrungen, weil dem Bergpfarrer unterstellt wurde, gegen das Keuschheitsgelübde der Kirche verstoßen zu haben, und Sebastian brauchte beinahe detektivisches Gespür, um die Angelegenheit aufzuklären. Wie sich schließlich herausstellte, war es Andreas Trenker, der nur als Vater des Madls in Frage kommen konnte, und der tauchte wenig später tatsächlich wieder im Wachnertal auf.

Allerdings wußte der Heimkehrer nichts von seinem Glück…

Als endlich alle Ungereimtheiten geklärt, und Vater und Tochter vereint waren, fuhr Andreas nach Hamburg und holte Marion, die er nie hatte vergessen können, zu sich. Zusammen kauften sie eine alte Villa am Rande des Dorfes, auf die auch schon Markus Bruckner, der Bürgermeister, ein Auge geworfen hatte, und eröffneten die Pension.

Nachdem die Gäste bedient waren, setzten sich Marion und Andreas selbst zum Frühstück nieder.

»Sollen wir heut’ net noch einen Gast bekommen?« fragte der Cousin des Bergpfarrers seine Frau.

»Ja, ein Herr Burger«, nickte sie. »Ich weiß allerdings net, wann er ankommt. Aber das Zimmer ist fertig.«

Sie besprachen, was alles an diesem Tag anfiel, den Einkauf, ein paar kleinere Reparaturen und welche Gäste in den nächsten Tagen abreisen oder ankommen würden.

Andreas hatte gerade für Marion und sich Kaffee nachgeschenkt, als Sebastian durch die Pforte trat und über den Rasen zu ihnen kam.

»Guten Morgen, ihr zwei«, grüßte der Geistliche. »Wie ich seh’, habt ihr ja das Haus voll.«

»Trotzdem bleibt uns noch genügend Zeit zum Frühstücken«, erwiderte Andreas. »Magst’ auch einen Kaffee?«

»Gerne«, nickte Sebastian und setzte sich an den Tisch. »Was macht denn unser Turteltaubenpaar?«

Marion lächelte.

»Verliebt wie am ersten Tag«, antwortete sie. »Richard ist grad droben am Sonnenleitnerhof.«

Richard, das war Richard Carpenter, ein Freund Andreas’, aus Kanada. Der bärtige Mann mit der Gestalt eines Bären war vor einiger Zeit überraschend nach St. Johann gekommen. Im Gegensatz zu seiner Ankündigung, nur einen kurzen Urlaub zu verbringen, blieb er jedoch – der gutmütige Holzfäller hatte sich nämlich verliebt.

Seine Angebetete hieß Christel und arbeitete als Magd auf einem Bauernhof.

»Und wie geht’s denn dem Brandhuber?« erkundigte sich Andreas.

»Ihm könnt’s net besser gehen«, erwiderte der Bergpfarrer. »Drei Mahlzeiten am Tag, ein warmes Bett und gute Pflege – was will der Mensch mehr!«

»Ich könnt’ mir vorstellen, die Ärzte und Schwestern werden heilfroh sein, wenn er net mehr bei ihnen ist«, schmunzelte sein Cousin.

Sebastian winkte ab.

»Laßt uns das Thema lieber net vertiefen«, sagte er und trank einen Schluck Kaffee.

Marion sah plötzlich zum Gartentor, vor dem ein Mann stand. Er trug einen Koffer in der Hand und schaute sich neugierig um.

»Das wird der Herr Burger sein«, meinte sie und stand auf.

Der Mann hatte das Tor geöffnet und war eingetreten. Zielsicher, als wüßte er, daß dort an dem Tisch die Wirtsleute saßen, kam er heran.

»Guten Tag«, grüßte er. »Mein Name ist Burger, ich habe ein Zimmer bestellt.«

»Ja, richtig, Herr Burger«, bestätigte Marion mit einem Nicken. »Herzlich willkommen in der Pension ›Edelweiß‹. Hatten S’ eine gute Fahrt?«

Obgleich sie eine waschechte Norddeutsche war, hatte sich Andreas’ Frau den hiesigen Dialekt ein wenig angewöhnt.

»Nun ja, ein bißchen umständlich ist es schon, mit Bus und Bahn von Hannover hierher zu kommen«, antwortete der Gast. »Vielleicht hätte ich doch das Auto nehmen sollen. Aber eigentlich war es mir zu weit.«

Sebastian musterte den Mann. Er mochte wohl Mitte vierzig sein, war groß und hager. Das dunkle Haar hatte schon ein paar graue Strähnen. Er trug legere Freizeitkleidung und machte keinen unsympathischen Eindruck.

»Von Hannover kommen Sie?« fragte er. »Dann ist es aber kein norddeutscher Name, den Sie tragen. Haben Sie vielleicht Verwandte hier?«

Der Geistliche richtete sich auf.

»Entschuldigung, ich hab’ mich noch gar net vorgestellt«, setzte er hinzu. »Sebastian Trenker, ich bin der Pfarrer hier.«

»Angenehm, Franz Burger«, nickte der Mann und lächelte unverbindlich. »Nein, ich habe hier keine Verwandten.«

Er zuckte die Schultern.

»Und was den Namen angeht«, fuhr er fort, »den hab’ ich von meinem Vater. Er ist so gut, wie jeder andere Name auch.«

»Ihr Zimmer ist fertig«, sagte Andreas. »Ich bringe Sie gleich hinauf.«

Franz Burger nickte Sebastian und Marion zu und folgte Andreas ins Haus.

Der gute Hirte von St. Johann schaute ihm nachdenklich hinterher.

»Ist was mit ihm?« fragte Marion.

»Nein, net daß ich wüßte«, antwortete Pfarrer Trenker. »Mich hat nur der Name stutzig gemacht. Ich bin sicher, daß er in Norddeutschland net so häufig vorkommt. Für wie lang’ hat der Herr Burger denn gebucht?«

»Drei Wochen, glaub’ ich. Aber ich müßte schon nachschauen, wenn du es genauer wissen willst.«

Der Geistliche schüttelte den Kopf.

»Net nötig. Es wird sich wohl irgendwann die Gelegenheit ergeben, mit ihm ins Gespräch zu kommen«, sagte er und stand auf. »Vielen Dank, für den Kaffee. Ich schau mal wieder herein.«

Marion umarmte ihn und machte sich daran, den Tisch abzuräumen. Sebastian ging durch das Gartentor. Immer noch nachdenklich spazierte er zum Pfarrhaus zurück und fragte sich, was ihn an diesem Mann eigentlich so interessierte.

*

Schon von weitem hörte Andrea Hofmann den Lärm der Motorsäge. Sie hielt ein Stück vom Mäderhof entfernt an und stieg aus.

Hier hatte sich nichts verändert. Sie konnte das Bauernhaus sehen, die Scheune und den Stall, wußte, daß dahinter die Wiese anstieg, auf der Georg seine Kühe stehen hatte.

Dem Lärm nach zu urteilen, war er gerade dabei, Holz zu machen. Damals, vor drei Jahren, hatte sie ihn ein- zweimal in den Bergwald hinauf begleitet. Es war schön gewesen, ganz alleine mit ihm da oben zu sein. Sie hatten Bäume ausgesucht, die gefällt werden konnten, und beim nächsten Mal sah sie Georg zu, wie er die Stämme durchschnitt. Noch jetzt glaubte sie, den Geruch des frisch gesägten Holzes in der Nase zu haben, und den Duft des Kaffees, den sie in der Arbeitspause getrunken hatten. Sie hatten auf einem umgelegten Baum gesessen und von dem Kuchen gegessen, den Liesl ihnen eingepackt hatte.

Andrea hatte sich damals wie die Bäuerin gefühlt und sich ernsthaft die Frage gestellt, ob das ein Leben für sie sein könnte. Freilich wußte sie nicht viel von dem, was eine Bäuerin können mußte, um ihrem Mann Stütze und Hilfe zu sein. Aber sie war sicher, daß man es lernen konnte, und als sie abfuhr, hing die Frage im Raum, die Georg dann letztendlich doch nicht gestellt hatte.

»Wir wollen die Zeit entscheiden lassen«, hatte er an ihrem letzten Abend, nach dem Besuch im Wirtshaus, gesagt, als sie auf der Bank vor dem Haus saßen.

Als habe er geahnt, daß sich ihnen Ungeahntes in den Weg stellen würde. Kurz nach ihrer Rückkehr erfuhr Andrea von ihrer Mutter alles über die Krankheit, die Helene Hofmann ein paar Jahre später das Leben kosten sollte…

Langsam ging die Sekretärin auf das Anwesen zu. Ihr Herz klopfte bis zum Hals hinauf, als sie an der Einfahrt stand und zur Scheune schaute. Hinter der Ecke, zwischen Hühnerhof und Misthaufen, mußte Georg arbeiten.

Wie würde er reagieren, wenn sie jetzt plötzlich vor ihm stand?

Andrea spürte, wie sie der Mut verließ, und beinahe wäre sie umgekehrt, wenn nicht in diesem Augenblick Liesl Lindhoff aus dem Haus gekommen wäre und sie bemerkt hätte.

Die Augen der alten Magd weiteten sich vor Überraschung, sie preßte die rechte Hand an den Mund und hatte Mühe, die Schüssel in ihrer Linken nicht fallen zu lassen.

»Träum’ ich, oder bist du’s wirklich?« rief sie durch den Lärm der Motorsäge.

Andrea nickte stumm, während sie zu ihr ging, und Tränen der Freude liefen ihr dabei über das hübsche Gesicht.

»Grüß dich, Liesl«, sagte sie.

Die Magd schüttelte immer noch ungläubig den Kopf.

»Die Andrea. Das gibt’s doch gar net!«

Endlich stellte sie die Schüssel auf dem Tisch ab. Die beiden Frauen fielen sich in die Arme.

»Ist das schön!« murmelte Liesl und wischte sich über die Augen. »Ich freu’ mich ja so!«

Sie umarmte Andrea noch einmal, als wollte sie sichergehen, daß es kein Geist war, der da vor ihr stand.

»Komm«, rief sie dann, »laß uns hineingehen. Bei diesem Krach versteht man ja sein eignes Wort net.«

Andrea deutete zur Scheune hinüber.

»Aber…«

Die Magd schüttelte den Kopf.

»Das ist der Franz, der Knecht«, erklärte sie. »Georg ist auf dem Feld.«

Ziemlich enttäuscht warf Andrea noch einen Blick dorthin, woher der Lärm erklang, dann folgte sie Liesl ins Haus.

»Ich war gar net sicher, ob ich herkommen sollte«, sagte sie, als sie in der Küche saßen.

Liesl sah sie erstaunt an.

»Aber warum denn net?«

Die junge Frau zuckte die Schultern. »Na ja, ich weiß ja net, wie Georg darauf reagieren wird«, antwortete sie und sah sich um. »Und überhaupt… ist er inzwischen…?«

»Verheiratet?«

Die Magd lächelte.

»Nein«, erwiderte sie. »Obgleich die Madln bei ihm Schlange stehen, wenn er am Samstag beim Tanzen ist. Aber bis jetzt ist es noch keiner Frau gelungen, sich ihn zu schnappen.«

Die letzten Worte begleiteten ein Augenzwinkern.

»Eigentlich hab’ ich ein sehr schlechtes Gewissen«, gestand die Sekretärin, »weil ich mich so lang’ net gemeldet hab’. Aber die Umstände…«

Sie richtete sich auf.

»Hat er sich sehr verändert?« fragte sie

»Du willst wissen, ob er dich immer noch liebt?«

»Ja, ich glaub’ schon. Deswegen bin ich ja hier.«

Liesl sah nachdenklich vor sich hin.

»Weißt’«, sagte sie, »damals, da hab’ ich immer gedacht, daß ihr zwei eines Tags heiraten werdet, und ich denk’, der Georg hat das auch geglaubt. Er war sehr enttäuscht, als du dann nix mehr hast von dir hören lassen. Er ist es wohl immer noch. Darum vergräbt er sich auch in seiner Arbeit.«

»Spricht er denn manchmal von mir?« wollte Andrea wissen.

Liesls Antwort war enttäuschend.

»Nein, nie«, erwiderte sie.

In der Diele erklangen Schritte.

»Ist er schon wieder da?« sagte die Magd verwundert.

Erwartungsvoll blickten die beiden Frauen zur Tür. Doch es war der Knecht, der sie öffnete und eintrat.

»Oh, Besuch«, stellte er fest und schaute Andrea interessiert an. »Dazu noch so ein reizender…«

Er ging an den Küchenschrank und holte ein Glas heraus.

»Der Holzstaub trocknet einem die Kehle aus«, meinte Franz Brandner, und drehte den Wasserhahn auf.

Andrea hatte nichts gesagt, aber sie bemerkte, daß der Knecht sie immer noch anschaute, während er trank. Sie stand auf und reichte der Magd die Hand.

»Ich muß dann wieder«, sagte sie.

Liesl machte ein enttäuschtes Gesicht. »Schon?«

Die Sekretärin nickte.

»Vielleicht schau’ ich mal wieder vorbei.«

»Wo wohnst denn eigentlich?« fragte die Magd, als sie vor der Tür standen. »Und wie lang’ bleibst’?«

»In St. Johann«, antwortete Andrea. »Pension Stubler. Ich hab’ das Zimmer für drei Wochen reserviert.«

»Dann mußt’ aber auf jeden Fall noch mal wieder herkommen«, beharrte Liesl. »Wenn der Georg hört, daß du da bist…«

Andrea Hofmann stand schon an der Einfahrt. Sie drehte sich noch einmal um.

»Vielleicht ist’s besser, wenn du ihm gar nix davon erzählst«, rief sie.

»Aber warum denn?« wollte die Magd wissen.

»Glaub’ mir, es ist besser«, entgegnete sie nur und ging zu ihrem Wagen.

»Donnerwetter, wer war das denn?« hörte Liesl die Stimme des Knechts hinter sich. »Was wollte sie hier?«

Die Magd mochte den Burschen. Er arbeitete fleißig und hatte sich in die Hofgemeinschaft eingefügt. Liesl wußte aber auch, daß Franz Brandner ein Hallodri war, der keine Gaudi ausließ und die Herzen der Madln reihenweise brach. Als er sie jetzt nach Andrea fragte, fuhr sie herum, und ihre Augen funkelten ihn an.

»Das geht dich gar nix an«, sagte sie in scharfem Ton. »Daß du’s nur weißt! Und jetzt geh’ wieder an deine Arbeit, anstatt hier Maulaffen feilzuhalten!«

Franz, der solch einen Ausbruch von ihr nicht gewöhnt war und auch nicht erwartet hatte, starrte die Magd verblüfft an.

»Ist ja schon gut«, murmelte er und ging wieder zum Holz zurück.

Aber das Madl, das er eben gesehen hatte, regte seine Phantasie an und beschäftigte ihn noch eine ganze Weile…

*

Zum Mittagessen kehrte der junge Bauer auf den Hof zurück. Franz hatte inzwischen vier von den Baumstämmen in große Stücke zersägt. Nach dem Essen wollte er mit den anderen weitermachen und die Klötze dann mit der Maschine spalten.

Georg Mäder nickte zufrieden, mit dem Knecht hatte er wirklich einen guten Griff getan!

Liesl hatte den Tisch gedeckt und stellte die Schüsseln darauf. Sie hatte den Rest des Sonntagsbratens aufgewärmt, bloß die Knödel und das Kraut waren frisch. Georg erzählte, wie es auf den Feldern ausschaute und erkundigte sich, ob sich während seiner Abwesenheit etwas Besonderes ereignet hatte.

Irritiert blickte er die Magd und den Knecht an. Liesl hatte den Kopf geschüttelt – Franz gleichzeitig genickt.

»Ja, was denn nun?« fragte der Bauer. »War was, oder war nix?«

Erst jetzt fiel ihm auf, daß die Magd irgendwie anders wirkte als sonst. Ihre Miene war ernst, und auf seinen Scherz, beim Eintreten, hatte sie auch nicht reagiert.

»Besuch war da«, erzählte Franz, ehe sie etwas sagen konnte.

Georg runzelte die Stirn.

»Besuch? Wer denn?«

»Ach, nur jemand, der sich erkundigen wollte, ob wir Zimmer vermieten«, schwindelte Liesl.

Die ganze Zeit hatte sie darüber nachgedacht, ob sie Georg von Andrea erzählen sollte. Hielt es aber für besser, deren Besuch zu verschweigen. Sie ahnte zwar, daß er das Madl nicht vergessen hatte, dachte aber, daß es nur noch wieder schlimmer werden würde, wenn sie alte Wunden aufriß.

»Eine Frau«, stellte Franz klar, wobei er mit den Händen andeutete, wie wohlgeformt die Besucherin gewesen war.

»Und die wollt’ ein Zimmer bei uns?« hakte der Bauer nach.

»Ich hab’ ihr gesagt, sie soll’s beim Lechnerbauern versuchen. Der vermietet an Urlauber«, erklärte Liesl und schaute Franz wütend an. »Und jetzt eßt endlich, es wird ja alles kalt!«

Georg blickte seinen Knecht an. Der zuckte die Schultern und aß weiter.

Als sie später alleine in ihrer Küche war, räumte Liesl den Tisch ab, ließ Wasser in das Spülbecken laufen und setzte sich seufzend wieder hin.

Warum war Andrea wieder hergekommen?

Diese Frage beschäftigte sie, seit das junge Madl gegangen war.

Und sollte sie Georg davon erzählen?

Als sie jetzt darüber nachdachte, kam die Magd zum Schluß, daß es richtig gewesen war, ihm die Wahrheit zu verschweigen. Allerdings hätte ihr um ein Haar der vorlaute Franz dazwischengefunkt.

Wenn Georg es ihr bloß abgenommen hatte!

Aber er schien ihren Worten zu glauben. Immerhin hatte er sich damit zufriedengegeben, was sie geantwortet hatte, und keine weiteren Fragen gestellt.

Der Bauer stand mit seinem Knecht an der Scheune. Sie überlegten, wohin das zerkleinerte Holz später am besten gestapelt werden sollte. Die Rückseite schied aus, weil es die Richtung war, in die immer der Regen wehte.

»Dann schaffen wir halt drüben am Schuppen Platz«, schlug Franz vor.

Georg Mäder nickte. So richtig war er nicht bei der Sache. Immer noch beschäftigte ihn die Frau, die am Vormittag auf den Hof gekommen war. Er wußte nicht, was er davon halten sollte. Solange er sich erinnern konnte, hatte noch nie ein Urlauber nachgefragt, ob man hier ein Zimmer bekommen könne. Der Mäderhof stand auch gar nicht auf der Liste der Betriebe, die Ferien auf dem Bauernhof anboten, wie es schon einige Kollegen im Wachnertal taten. Für ihn hatte sich nie die Frage gestellt, in diesen Nebenerwerbszweig einzusteigen. Bis zum Tode des Vaters hatten sie zu zweit geschafft, dann er ganz alleine, und erst vor einem halben Jahr war Franz hinzugekommen. Zusammen mit Liesl hatten sie genug um die Ohren und konnten sich nicht auch noch um Urlaubsgäste kümmern.

Warum also kam jemand auf die Idee, hier nachzufragen?

»Hast’ mitgekriegt, wie sie heißt?« fragte der Bauer.

Sein Knecht sah auf.

»Wer?«

»Na, die Frau, die heut’ da war.«

Franz schüttelte den Kopf.

»Keine Ahnung«, erwiderte er und grinste. »Aber das war schon was Fesches, Donnerwetter noch mal!«

Er sah Georg fragend an.

»Warum willst’ das eigentlich wissen?«

»Ach, das ist net so wichtig«, winkte der Bauer ab und marschierte zum Haus zurück.

»Aber ich hab’ gehört, wie die Liesl sie geduzt hat«, rief Franz hinterher.

Georg drehte sich abrupt um.

»Geduzt? Du meinst, sie kannten sich?« fragte er.

»Ich hatte jedenfalls den Eindruck.«

Der Knecht kam ein paar Schritte näher.

»Ich weiß net recht«, sagte er und blickte zum Haus hinüber, ob die Magd da irgendwo zu sehen war. »Aber so recht glaub’ ich das net – die Geschichte mit dem Zimmer. Für mich sah es aus, als wenn das keine Fremde war.«

Er senkte noch ein wenig die Stimme und erzählte, daß er zufällig einen Blick um die Ecke geworfen hatte, als die Frau da stand, und Liesl herausgekommen war.

»Die haben sich umarmt«, schloß er, »und das tun Fremde normalerweise net, oder?«

Georg schaute ihn nichtverstehend an.

Umarmt hatten sich die beiden Frauen?

Nein, das tat man wirklich net, wenn man einander fremd war.

Was war das nun wieder für eine Geschichte?

Der Bauer dachte an die seltsame Situation gestern abend, als er noch einmal den Moment durchlebt hatte, in dem er und Andrea Hofmann sich kennengelernt hatten. Wieso hatte er ausgerechnet gestern abend an sie denken müssen? Und warum war hier heute ein Frau aufgetaucht, die für Liesl keine Unbekannte war?

Er wandte sich um und stiefelte über den Hof.

»Von mir weißt’ aber nix!« rief der Knecht ihm hinterher.

Georg betrat das Haus. Die Magd stand an der Spüle und trocknete das Geschirr vom Mittagessen ab. In der Maschine war noch Kaffee. Der Bauer nahm eine Tasse aus dem Schrank und schenkte sich ein. Liesl schien sehr beschäftigt zu sein. Jedenfalls blickte sie nicht auf, sondern hielt den Kopf gesenkt.

»War sie es?« fragte Georg mit rauher Stimme.

Erst jetzt schaute die Magd ihn an.

»Was meinst’?«

»Die Frau. War sie es?« fragte er noch einmal. »Komm schon, du weißt, von wem ich red’!«

Liesl Lindhoff ließ die Hand mit dem Geschirrtuch sinken. Ihr Gesicht spiegelte eine Mischung aus Furcht und Bitten um Verständnis wider.

»Ich sollt’s dir net erzählen, hat sie gesagt.«

»Es ist also Andrea«, stellte er fest und holte tief Luft. »Warum ist sie hergekommen, nach all der Zeit? Was will sie?«

Die Magd zuckte die Schultern.

»Ich weiß es net, Georg«, sagte sie leise. »Plötzlich stand sie da, und es war wie damals, als sie immer herkam.«

»Es kann net wie damals sein«, widersprach er vehement. »Es ist zuviel Zeit vergangen. Eher hätt’ se zurückkommen müssen. Viel eher!«

Mit einem Ruck stellte er die Kaffeetasse ab und ging hinaus.

Liesl schaute betroffen hinterher.

*

Der Mann aus Hannover, der den eher süddeutsch klingenden Namen Franz Burger trug, stand vor der Kirche und blickte den Kiesweg hinauf. Er war nicht sicher, ob er sich das Gotteshaus ansehen sollte. Besonders gläubig war er nicht und schon gar nicht katholisch. In seiner Heimat waren die meisten Leute Protestanten, wie es auch seine Mutter gewesen war, die sich erfolgreich gegen ihren Mann durchgesetzt und dafür gesorgt hatte, daß der Sohn evangelisch getauft wurde.

Einen Moment dachte er an die Mutter, die kleine, abgehärmt aussehende Frau, die es nicht immer leicht gehabt hatte. Nicht mit ihrem Mann und mit dem Leben an sich. Daheim, in dem kleinen Dorf am Rande der Lüneburger Heide, hatte sie hart arbeiten müssen. Die Heirat mit dem zugereisten Josef Burger änderte nicht viel daran, denn auch er war nicht mit Reichtümern gesegnet gewesen. Beide arbeiteten sie auf dem Hof eines Heidebauern, führten ein karges Dasein, immer am Rand des Existenzminimums. Das einzige Glück, das Hannelore Burger, geborene Rüter, empfand, war, als der Sohn geboren wurde. Franz sollte er heißen, und diesmal setzte der Vater seinen Willen durch.

Es hätte trotz aller Widrigkeiten ein schönes Leben sein können, wäre Josef Burger nicht immer wieder in tiefe Depressionen verfallen. Franz bemerkte es erst, als er ein junger Bursche war. Doch damals dachte er sich nichts weiter dabei. Er glaubte, daß der Vater unzufrieden mit seinem Leben war und deshalb immer wieder diese »Anfälle« hatte, wie Franz es bei sich nannte.

Er hatte die Schule besucht und eine Lehre bei einem Tischler gemacht. Der Meister übernahm den Gesellen, und später wurde Franz selber der Meister und Inhaber der kleinen Tischlerei. Aber bis dahin war es noch ein langer Weg. Daß sein Vater, den er eigentlich von Herzen liebte, sich hin und wieder wie jemand aufführte, der sich von Gott und der Welt verraten fühlte, das wurde dem Sohn noch bewußter, als er die Eltern bei sich aufnahm. Beide waren alt und gebrechlich geworden, und Franz konnte es sich leisten, für sie zu sorgen. Er hatte inzwischen geheiratet, und Lina, seine Frau, gebar ihm einen Sohn.

Thomas war inzwischen neunzehn Jahre alt und hatte vor einigen Monaten die Gesellenprüfung im Tischlerhandwerk abgelegt. Er war der ganze Stolz seiner Eltern. Gerne hätte er seinen Vater auf dieser Reise begleitet, aber er mußte zu Hause mit der Mutter und dem Altgesellen den Betrieb weiterführen, und Franz Burger war auch ganz froh, daß Thomas nicht mitfahren konnte.

Was er hier zu erledigen hatte, das ging nur ihn etwas an. Ihn und den Mann, der für alles verantwortlich war…

Am Morgen, gleich nach einem schnellen Frühstück, hatte er sich auf den Weg gemacht, um den Hof zu finden. Leider verlief die Suche nicht so befriedigend, wie er gehofft hatte.

Den Brandnerhof, den er suchte, gab es offenbar gar nicht!

Franz konnte es gar nicht verstehen. Sein Vater hatte ihm in allen Einzelheiten geschildert, was sich hier im Wachnertal vor mehr als fünfzig Jahren ereignet hatte. Die Geschichte hatte den Sohn schockiert und er verstand, warum der Vater mit seinem Leben so unzufrieden war. Es hätte eine ganz andere Wendung nehmen können, wenn das alles nicht geschehen wäre.

Freilich gab es hier Familien, die den Namen Brandner trugen. Einige besaßen auch Bauernhöfe. Da waren der Thomas Brandner, Alois und Wolfgang, ein anderer Bauer hieß mit Vornamen Vinzent, aber keiner war darunter, der in Frage kam. Franz war um die Mittagszeit unverrichteter Dinge nach St. Johann zurückgekehrt. Er mußte erst einmal alles neu überdenken und sich einen neuen Plan zurechtlegen. Nach einem kleinen Mittagessen im Gasthof hatte er sich zur Kirche aufgemacht. Während er in der Wirtsstube saß, hatte er überlegt, ob nicht dieser Pfarrer Trenker der Richtige wäre, den er nach dem Mann fragen konnte, nach dem er suchte.

Wenn in einem kleinen Dorf jemand über alles Bescheid wußte, dann war es der Geistliche. Das war zu Hause nicht anders als hier.

Franz Burger entschloß sich, erst einmal nachzuschauen, ob er den Pfarrer in der Kirche antraf. Falls nicht, würde er zum Pfarrhaus hinübergehen.

Das Innere des Gotteshauses beeindruckte ihn. Die Kirchen, die er kannte, waren nicht so prachtvoll ausgestattet, obgleich es auch unter ihnen welche gab, die zu besichtigen sich lohnte. Der einsame Besucher ging durch den Mittelgang zum Altar hinunter, schaute zu den Fensterbildern und wandte sich der anderen Seite zu, wo ein Christusgemälde an der Wand hing, gleich neben der Figur der Mutter Gottes. Von beidem hatte ihm sein Vater erzählt.

Nein, nicht erzählt – regelrecht geschwärmt hatte Josef Burger, und der Sohn erinnerte sich an die glänzenden Augen, die sein Vater dabei gehabt hatte.

Nachdenklich blieb Franz Burger vor der Tür zur Sakristei stehen. Plötzlich waren ihm Zweifel gekommen. Pfarrer Trenker machte einen sympathischen Eindruck, und wahrscheinlich würde er ihm nicht seine Hilfe bei der Suche verweigern. Aber es gab zwei Dinge, die Franz bedenklich stimmten.

Zum einen war der Geistliche viel zu jung, um etwas über die alte Geschichte zu wissen. Als sie sich ereignete, konnte er auf keinen Fall hier schon Pfarrer gewesen sein, wenn er denn überhaupt schon auf der Welt war.

Zum anderen konnte er, Franz, nicht sicher sein, daß Hochwürden nicht auch dem Mann zur Seite stand, auf den er es abgesehen hatte.

Je mehr er darüber nachdachte, um so sicherer wurde er, daß es besser sein würde, sich nicht an Sebastian Trenker zu wenden. Er mußte diese Sache alleine aufklären, auch wenn er dabei ganz auf sich gestellt war.

*

»Na, Frau Hofmann, was machen Sie denn für ein Gesicht?« fragte Ria Stubler, als sie die junge Frau durch die Tür kommen sah.

Nach ihrem Besuch auf dem Mäderhof war Andrea eher ziellos durch die Gegend gefahren. Ihr war jetzt klar, daß sie einen Fehler gemacht hatte, als sie sich entschloß, ins Wachnertal zu fahren.

Georg hatte ihren Namen nie wieder erwähnt, sprach nicht mehr von ihr!

Wie konnte sie da annehmen, daß er sich über ihren Besuch freuen würde?

Es gab keinen Grund, warum sie Liesl nicht glauben sollte. Sie waren immer gut miteinander ausgekommen, und für die Magd gab es keinen Grund, sie zu belügen.

Andrea hatte irgendwo angehalten, war ausgestiegen und ein ganzes Stück zu Fuß gegangen. Sie wußte nicht recht, was sie anfangen sollte. Ihre Hoffnung war es gewesen, Georg wiederzusehen und zu erfahren, daß es wieder so sein würde wie früher. Ja, sie liebte ihn immer noch. Er war der Grund, warum sie sich nie mit einem anderen Mann eingelassen hatte. Keiner hätte dem Vergleich mit dem jungen Bauern standhalten können.

Aber vielleicht war sie ja damals nur ein Zeitvertreib für ihn gewesen. Ein Spielzeug für ein paar Wochen, das man vergaß, wenn man es nicht mehr sah.

Er hatte ja nicht einmal auf ihren Brief reagiert, in dem sie ihm alles erklärt hatte und um Verständnis bat.

Andrea war so in Gedanken gewesen, daß sie gar nicht bemerkte, wie weit sie sich schon von ihrem Auto entfernt hatte. Sie wußte nicht einmal genau, wo sie sich überhaupt befand. Erst als sie an eine Wegbiegung kam, an der ein großer Felsbrocken stand, fiel ihr wieder ein, daß sie genau hier oft mit Georg gesessen hatte. Es war nämlich der Platz, an die sie ihm zum ersten Mal begegnet war. Da unten lag das Feld, das ihm gehörte, und hier oben hatte er gesessen und Brotzeit gemacht.

Sie setzte sich an der Stelle ins Gras und schloß die Augen. Unendliche Trauer erfüllte sie. Andrea fühlte, wie sich ihr Herz verkrampfte, und am liebsten wäre sie nie hergekommen.

Stunden saß sie dort und erinnerte sich an all das, was vor drei Jahren geschehen war. Es war, als erinnerte sie sich an jedes Wort, das sie gesprochen hatten, jede Umarmung, jeden Kuß.

Im Tal läuteten die Kirchenglocken. Andrea schreckte hoch und schaute auf die Uhr. Sie war so in ihren Erinnerungen versunken gewesen, daß sie es die anderen Male gar nicht mitbekommen hatte, wenn die Glocken anschlugen.

Sie stand auf und klopfte ihre Hose ab. Langsam ging sie den Weg zurück, den sie gekommen war, und fand das Auto wieder. Andrea fuhr nach St. Johann zurück, ohne zu wissen, was sie eigentlich noch dort wollte.

»Ist alles in Ordnung?« hakte die Wirtin nach.

Andrea antwortete nicht, und Ria fand, daß die junge Frau alles andere, als einen glücklichen Eindruck machte, und ihr mütterlicher Instinkt sagte ihr, daß sie sich ein wenig um Andrea Hofmann kümmern sollte.

»Ich hab’ grad Kaffee gekocht«, setzte sie hinzu. »Was halten S’ davon, wenn wir eine Tasse trinken und uns dabei ein bissel unterhalten?«

Endlich nickte die Sekretärin, und in ihrem Gesicht zeigte sich ein dankbares Lächeln.

»Die andren Gäste sind alle aus dem Haus«, erklärte Ria. »Wir sind also ungestört, wenn wir uns nach draußen setzen.«

Rasch ging sie in die Küche, um Kaffee zu holen, Andrea nahm schon auf der Terrasse Platz. Nach kurzer Zeit kam die Pensionswirtin und stellte ein Tablett auf dem Tisch ab.

»Den Kuchen hab’ ich heut’ morgen gebacken«, erklärte sie. »Ich hoff’, er schmeckt Ihnen, Frau Hofmann.«

»Vielen Dank«, erwiderte Andrea, und bat Ria, sie doch beim Vornamen zu nennen.

»Das mach’ ich gern’«, nickte die Wirtin und hob ihre Kaffeetasse, »und ich bin die Ria.«

»Hmm, der ist aber wirklich lecker«, sagte Andrea, als sie von dem Napfkuchen abgebissen hatte. »So mag ich ihn besonders gern, mit der dunklen Schokolade darin.«

»Und magst’ jetzt darüber sprechen, was dich bedrückt?« fragte Ria Stubler.

Die Sekretärin blickte versonnen auf die blühende Pracht im Garten, dann sah sie die Wirtin an und erzählte, warum sie nach St. Johann gekommen war, und von dem Besuch auf Georgs Hof.

Ria war überrascht.

»Der Georg Mäder also«, sagte sie. »Na, das hätt’ ich net gedacht. Weißt’, Andrea, im Dorf wird natürlich viel geredet, und manche zerreißen sich schon lang’ das Maul darüber, daß der Georg immer noch Junggeselle ist. Es ist schon ungewöhnlich, daß so ein junger Bauer net heiraten will. Auf einen Hof gehört nun mal eine Frau, und die Liesl ist ja auch net mehr die Jüngste. Ganz abgesehen davon, daß es reichlich Bewerberinnen geben würd’. Aber glaubst’ net, daß genau das bedeuten könnt’, daß der Georg dich immer noch liebt? Das er deswegen kein andres Madl anschaut?«

»Nein, das glaub’ ich net«, schüttelte Andrea den Kopf. »Die Liesl hat doch ganz deutlich gesagt, daß er nie wieder meinen Namen erwähnt hat. Und warum hat er net auf meinen Brief geantwortet, den ich ihm geschrieben hab’? Das muß doch einen Grund haben!«

»Ja, schon«, gab Ria zu. »Wer weiß schon, was damals in ihm vorgegangen ist. Aber das wirst’ ihn schon selbst fragen müssen.«

»Ich weiß net«, meinte die junge Frau und schüttelte den Kopf. »Er weiß ja net, daß ich da bin, und der Liesl hab’ ich gesagt, daß sie’s ihm net sagen soll.«

Ria dachte nach.

»Vielleicht«, sagte sie nach einer Weile, »solltest’ dich Hochwürden anvertrauen. Du kennst Pfarrer Trenker doch. Bestimmt wird er bereit sein, zwischen euch zu vermitteln. Was willst’ denn machen, wenn dein Urlaub zu End’ ist? Heimfahren, als wär’ nix gewesen, als hättest’ den Georg nie gekannt?«

Sie sah Andrea eindringlich an.

»Madl, unter Umständen hängt dein Lebensglück davon ab, daß du net aufgibst«, setzte sie hinzu.

*

Lange Zeit stand Andrea vor der Madonnenstatue und schaute sie an. Zum ersten Mal hatte sie die Figur gesehen, als sie mit Georg in die Messe gegangen war. Voller Stolz hatte er sie herumgeführt, und später hatten sie vor dem Altar gesessen und sich an den Händen gehalten.

Jetzt war sie alleine hergekommen. Georg hatte sie aus seinen Gedanken gestrichen und wahrscheinlich würde er nie erfahren, daß sie überhaupt zurückgekommen war.

Nein, solchen düsteren Gedanken wollte Andrea nicht nachhängen. Schließlich war sie in die Kirche gegangen, um Ria Stublers Rat zu befolgen und mit Pfarrer Trenker zu sprechen. Vielleicht gab es ja noch eine Chance…

Zuerst hatte sie zum Pfarrhaus gehen wollen, doch dann hatte sie die Kirche betreten, um sich daran zu erinnern, wie Georg und sie hier gewesen waren. Ein Moment, der sie damals überwältigt hatte und es auch heute wieder tat.

Außer ihr waren noch ein paar andere Besucher da. Sie standen einzeln oder in Gruppen und unterhielten sich mit gedämpften Stimmen. Andrea schaute, ob sie den Geistlichen irgendwo fand, und verließ das Gotteshaus wieder, als das nicht der Fall war.

Hoffentlich ist er überhaupt da, dachte sie, während sie die Klingel drückte.

Eine Frau öffnete, und Andrea erinnerte sich, daß es die Haushälterin war.

»Grüß Gott, Frau Tappert«, sagte sie. »Ich würd’ gern’ den Herrn Pfarrer sprechen.«

»Ja, bitt’ schön, treten S’ ein«, nickte Sophie Tappert. »Hochwürden ist im Arbeitszimmer. Ich bin sicher, daß er einen Moment Zeit hat, Frau…«

»Hofmann.«

Die Haushälterin klopfte an die Tür des Arbeitszimmers und öffnete sie.

»Besuch, Hochwürden«, sagte sie. »Frau Hofmann.«

Sebastian stand von seinem Schreibtisch auf und kam an die Tür.

»Grüß Gott, Frau Hofmann«, nickte er der Besucherin freundlich zu. »Kommen S’ herein. Was kann ich für Sie tun.«

Er bot ihr einen Platz an und grübelte währenddessen, woher ihm die Frau so bekannt vorkam. Der Bergpfarrer hatte ein untrügliches Personengedächtnis und vergaß kaum ein Gesicht, das er mal gesehen hatte.

Und dann fiel es ihm ein.

»Andrea Hofmann, net wahr?«

Die Sekretärin nickte überrascht.

»Sie erinnern sich an mich?«

»Freilich, das muß jetzt etwa drei Jahre her sein«, erwiderte Sebastian. »Sie waren auf Urlaub hier und haben dabei den Georg Mäder kennengelernt.«

Er lächelte.

»Und Sie waren sehr verliebt damals«, setzte er hinzu.

Andrea lächelte ebenfalls. »Ja, das waren wir«, erwiderte sie. »Leider hat’s net lang’ gehalten.«

Der Geistliche hatte sich wieder hinter seinen Schreibtisch gesetzt.

»Dabei hatte ich den Eindruck, daß es für immer wär’…«

»Manchmal gibt es im Leben Umstände, die verhindern, daß alles so verläuft, wie man es sich vorstellt.«

»Da haben S’ recht, Andrea«, nickte Sebastian. »Wollen S’ mir erzählen, was geschehen ist?«

»Darum bin ich hergekommen«, antwortete sie. »Und um Sie um Hilfe zu bitten. Ich war heut’ morgen auf dem Hof, der Georg war net zu Haus’, aber ich hab’ mit der Liesl gesprochen…«

»Am besten erzählen S’ von Anfang an«, schlug der gute Hirte von St. Johann vor. »Aber möchten S’ vorher vielleicht was zu trinken? Kaffee oder Saft?«

»Ein Glas Saft wär’ schön.«

»Einen Moment«, sagte Sebastian und ging in die Küche.

Seine Haushälterin sah ihn fragend an.

»Kaffee oder was Kaltes?«

»Apfelsaft hätten wir gern’, Frau Tappert.«

Sie nickte und holte eine Karaffe aus dem Kühlschrank.

»Können Sie Gedanken lesen?« fragte Sebastian schmunzelnd.

»Dann hätt’ ich net zu fragen brauchen«, erwiderte Sophie Tappert und reichte ihm noch zwei Gläser. »Außerdem glaub’ ich net an Gedankenleserei und diesen Humbug.«

Sebastian bedankte sich und kehrte ins Arbeitszimmer zurück. Andrea Hofmann saß immer noch auf ihrem Platz und schaute gedankenverloren aus dem Fenster.

»Lassen S’ sich schmecken«, sagte der Geistliche, nachdem er eingeschenkt hatte.

Die junge Frau nahm einen Schluck.

»Köstlich!« bemerkte sie.

»Den macht die Frau Tappert selbst«, erklärte Sebastian. »Wir haben viele, alte Apfelbäume im Pfarrgarten.«

Er lehnte sich zurück und schaute die Besucherin auffordern an.

»Jetzt erzählen S’ aber erst einmal.«

Das tat Andrea. Sie sprach davon, wie es damals mit ihr und Georg Mäder angefangen hatte, von den schönen Wochen, die sie zusammen erlebten, von dem schweren Abschied und dem Versprechen, wiederzukommen.

Sie erzählte von der Krankheit ihrer Mutter, von dem Brief, die sie Georg schrieb, und den er unbeantwortet ließ, und kam schließlich auf den Besuch heute morgen zu sprechen, der so niederschmetternd für sie gewesen war.

Der Bergpfarrer hörte zu, ohne sie zu unterbrechen. Nur hin und wieder nickte er verständnisvoll.

»Tja, das ist schon seltsam«, sagte er dann, nachdem Andrea geendet hatte, »man müßt eigentlich denken, daß der Georg Sie genauso vermißt hat wie Sie ihn. Aber statt dessen beantwortet er den Brief net, und wie Sie heut’ erfahren haben, spricht er net einmal mehr von Ihnen.«

»Was schließen Sie daraus?« fragte sie. »Das kann doch nur bedeuten, daß er nie wirklich Kontakt mehr zu mir haben wollte, nachdem ich abgereist war.«

Sebastian Trenker schüttelte den Kopf.

»Da wär’ ich net so sicher«, widersprach er. »Ich kenn’ den Georg. Wenn er einem Madl sagt, daß er es liebt, dann meint er es auch so. Es muß ja einen Grund geben, warum er immer noch net verheiratet ist, und ich vermute, daß Sie dieser Grund sind.«

»Ich?« fragte Andrea ungläubig.

»Ja«, nickte der Bergpfarrer. »Und ich bin fast sicher, daß seine Haltung etwas mit dem Brief zu tun hat. Sind Sie sicher, daß er ihn überhaupt erhalten hat?«

Die Sekretärin war überrascht. An diese Möglichkeit hatte sie überhaupt noch nicht gedacht.

Was, wenn ihr Brief wirklich niemals bei ihm angekommen war?

»Nein«, antwortete sie auf die Frage des Geistlichen, »sicher bin ich net. Wie auch? Ich bin einfach davon ausgegangen, daß ihn der Brief erreicht, und Georg ihn auch gelesen hat.«

»Am besten wird’s sein, ich statte ihm mal einen Besuch ab«, schlug Sebastian vor. »Mal sehen, wie er dazu steht, wenn ich ihn frag’. Eine Antwort wird er mir gewiß geben. Allerdings werd’ ich besser net gleich mit der Tür ins Haus fallen und mich erst einmal vorsichtig an die ganze Sache heranpirschen…«

Andrea atmete erleichtert auf.

»Vielen Dank, Hochwürden«, sagte sie.

Sebastian schüttelte den Kopf.

»Sie müssen sich net bedanken«, entgegnete er. »Ich freu’ mich ja, wenn ich Ihnen helfen kann. Also, gleich morgen früh fahr’ ich zum Mäderhof hinauf und red’ mit dem Georg. Anschließend meld’ ich mich bei Ihnen.«

Er brachte die Besucherin zur Tür.

»Das ist ja eine sonderbare Geschichte«, murmelte der Geistliche, als er wieder in sein Arbeitszimmer zurückging. »Ich bin gespannt, was dabei herauskommt.«

*

»Na, geht’s ein bissel besser?« erkundigte sich Ria Stubler teilnahmsvoll, als Andrea wieder in der Pension war.

Die junge Frau lächelte.

»Ja, Ria, ich hab’ mit Pfarrer Trenker gesprochen. Vielen Dank für den Rat.«

»Und was hat Hochwürden vor?«

Andrea erzählte, was sie und der Geistliche besprochen hatten. Ihr ging es wirklich schon ein wenig besser, nach diesem Gespräch, und sie beschloß, einen kleinen Spaziergang zu machen. Aufgeregt, wie sie immer noch war, würde sie es bestimmt nicht aushalten, den Rest des Tages auf ihrem Zimmer zu verbringen.

»Aber zum Abendessen kommst’ wieder her«, sagte sie Wirtin. »Ich lad’ dich ein.«

Rias gutes Herz ließ sie immer wieder solche Einladungen aussprechen, wenn ihr ein Gast sympathisch war. Und Andrea Hofmann war ihr sehr sympathisch.

»Danke schön«, nickte die Sekretärin. »Ich freu’ mich schon drauf.«

Sie ging rasch in ihr Zimmer hinauf und zog sich feste Schuhe an. Auf eine Jacke wollte sie verzichten, warm wie es draußen war, aber richtiges Schuhwerk war bei einem Spaziergang außerhalb des Dorfes unabdingbar. Andrea hatte St. Johann bald hinter sich gelassen und stieg einen Pfad hinauf, der am Ainringer Wald vorbeiführte. Links lagen Wiesen und Felder, rechts lockte der dunkle Forst. Früher wäre sie sehr gerne durch das Dickicht gestreift und hätte nach Schwammerln gesucht. Aber da sie weder Korb noch Messer dabei hatte, verzichtete sie darauf. Statt dessen erfreute sich die junge Frau an der schönen Natur und atmete tief die würzige Luft ein.

Was mußte es herrlich sein, hier zu leben! Die Menschen im Wachnertal waren wirklich zu beneiden!

Damals, da hatte sie selbst daran gedacht, für immer herzukommen. Auch wenn Georg gesagt hatte, sie sollten die Zeit entscheiden lassen, hatte sie sich vorgestellt, wie glücklich sie mit ihm auf dem Hof leben würde als Mann und Frau.

Nun, die Zeit hatte entschieden und zwar gegen sie. Auch wenn in ihr immer noch das Feuer die Liebe glühte, so war es in seinem Herzen längst erloschen.

Andrea lehnte an einem Baumstamm und schaute gedankenverloren ins Tal hinunter. Sie war so in ihren Erinnerungen vertieft, daß sie nicht bemerkte, wie sich am Himmel dunkle Wolken zusammenzogen. Erst als die Sonne fort war, und es spürbar kühler wurde, schreckte die Sekretärin auf.

Ach du liebe Güte, durchfuhr es sie, als sie zum Himmel schaute, da braut sich ein Unwetter zusammen! Hoffentlich komm’ ich noch trocken ins Dorf zurück!

Andrea hatte es kaum zu Ende gedacht, als es über ihr auch schon bedrohlich grummelte. Eilig lief sie den Weg zurück. Auf dem Spaziergang hatte sie gar nicht auf die Zeit geachtet, aber es mußte wenigstens eine Stunde gewesen sein, die sie unterwegs war. Und die würde sie auch brauchen, um nach St. Johann zurückzukehren.

Dann fielen auch schon die ersten Tropfen. Ein eisiger Wind rauschte durch die Bäume und ließ sie frösteln. Andrea schimpfte mit sich selber, weil sie darauf verzichtet hatte, eine Jacke mitzunehmen und sie statt dessen nur in Jeans und T-Shirt gekleidet war. Immerhin hatte sie die Sandalen gegen Halbschuhe getauscht. Das waren zwar auch keine Wanderstiefel, aber immer noch besser, als die dünnen Schläppchen.

Der Regen wurde stärker. Wie dünne Fäden kam er zuerst herunter, dann wurde es ein stetiger Strom. Dazu blitzte und krachte es, daß einem angst und bange werden konnte.

Du mußt dich irgendwo unterstellen, dachte Andrea, sonst wirst du naß bis auf die Haut!

Aber wohin sollte sie?

Auf die Wiese konnte sie nicht, denn dort gab es keinen Schutz vor dem Unwetter, und in den Wald zu laufen, wagte sie nicht, aus Furcht, ein Blitz könne in die Bäume einschlagen.

Aber es kam noch ärger. Ein regelrechter Gewittersturm brach los, dazu war der Regen so dicht, daß Andrea kaum noch die Hand vor Augen sehen konnte. Sie kämpfte gegen Wind und Regen an und taumelte blindlings vorwärts. Plötzlich schien der Boden unter ihr nachzugeben, ihre Füße rutschten auf dem schlammigen Weg aus und sie stürzte lang hin.

Benommen lag die junge Frau einen Moment reglos auf dem Boden, dann spürte sie, wie jemand sie griff und hochzog.

»Um Himmels willen«, rief eine Männerstimme durch den Sturm. »Was machen S’ denn hier draußen bei diesem Wetter?«

Andrea wischte sich über die Augen. Sie erkannte den Knecht, den sie am Morgen auf Georgs’ Hof gesehen hatte, und schluchzte dankbar auf.

»Kommen S’«, sagte Franz Brandner, »wir müssen uns unterstellen. Da vorn’ ist eine Jagdhütte.«

Er zog sie mit sich in den Wald hinein. Nach ein paar Metern erreichten sie eine Jagdhütte, die auf einer kleinen Lichtung stand. Franz drückte die Tür auf und schob Andrea hinein. Mit einem lauten Krachen schlug die Tür hinter ihm zu.

»So«, atmete er auf, »das wär’ geschafft!«

In der Hütte war es kaum richtig hell, aber sie konnten einen Tisch erkennen, ein paar Stühle und ein leeres Regal. In einer Ecke stand noch ein Bett, mit einer alten Matratze darauf.

Sie wischten sich den Regen aus den Gesichtern und sahen sich an.

»Vielen Dank«, sagte Andrea, »wenn Sie net gekommen wären… ich weiß net, was ich hätt’ machen sollen.«

Der Knecht lächelte.

»Hätt’ net gedacht, daß ich einmal einer schönen Frau das Leben retten würd’«, meinte er. »Ich bin der Franz. Wir haben uns heut’ morgen auf dem Mäderhof gesehen.«

Sie nickte und streckte ihm die Hand hin.

»Ja, ich weiß. Andrea Hofmann, danke noch mal.«

»Schon gut«, erwiderte er. »Hauptsache, das Unwetter geht bald vorüber.«

Er blickte sie musternd an.

»Machst’ Urlaub hier?« erkundigte sich Franz dann.

»Ja, ich wohn’ drunten in St. Johann in einer Pension.«

»Und dann hat dir keiner gesagt, daß man vernünftige Sachen anzieht, wenn man eine Wanderung unternimmt?«

Andrea sah, wie er sie von oben bis unten anschaute. Erst jetzt bemerkte sie, daß das nasse T-Shirt mehr von ihr sehen ließ, als daß es etwas verbarg. Sie drehte sich zur Seite.

»Ich wollt’ gar keine Wanderung machen«, erwiderte sie. »Nur einen kleinen Spaziergang.«

Franz Brandner lächelte belustigt.

»Von St. Johann bis hierher sind ungefähr acht Kilometer«, meinte er. »Das ist ein bissel mehr als nur ein Spaziergang.«

Er ging zur Tür und öffnete sie.

»Es scheint aufgehört zu haben«, sagte er. »Komm, ich fahr’ dich ins Dorf.«

Es regnete zur noch ein wenig, als sie zu dem Traktor gingen. Franz hatte auf dem Feld gearbeitet und wollte sich selbst in der Jagdhütte unterstellen, als das Unwetter immer heftiger wurde. Jetzt war im Westen schon wieder etwas Blau am Himmel zu sehen. Andrea erkannte, daß es der Traktor war, auf dem sie selbst schon gesessen hatte, und es war ein eigenartiges Gefühl, als der Knecht sie jetzt damit nach St. Johann brachte.

Vor der Pension verabschiedeten sie sich.

»Hast’ dir schon was für morgen abend vorgenommen?« wollte Franz wissen, als Andrea abgestiegen war.

»Warum?« fragte sie.

»Weil morgen Tanzabend im ›Löwen‹ ist«, entgegnete er und lächelte dabei. »Vielleicht hast’ ja Lust, hinzugehen. Wir könnten dann das Tanzbein schwingen…«

Andrea schürzte die Lippen. Er schien ein ziemlicher Draufgänger zu sein. Aber er gefiel ihr, und nicht nur, weil er ihr in der Not geholfen hatte, war ihr der Knecht sympathisch…

»Mal sehen«, antwortete sie, »vielleicht geh’ ich wirklich hin.«

*

Ria Stubler schlug die Hände über dem Kopf zusammen, als sie Andrea sah.

»Lieber Himmel, wie schaust du denn aus!« rief die Wirtin.

Die Sekretärin sah an sich herunter. Schuhe, Jeans und T-Shirt waren schlammbedeckt, auch ihr Gesicht hatte etwas abbekommen, und die Hände. Ihre Frisur mußte fürchterlich aussehen.

»Am besten gehst’ erst mal unter die heiße Dusche«, riet die Wirtin, nachdem Andrea erzählt hatte, wie sie in das Unwetter geraten war. »Sonst holst’ dir noch eine Erkältung! Wenn du dann wieder runterkommst, ist das Essen fertig.«

Andrea nickte und ging in ihr Zimmer hinauf. Herrlich war es unter dem heißen Wasser, und sie fühlte sich viel besser, als sie wenig später in der Küche saß. Ria tischte ein leckeres Nudelgericht auf. Besonders die Tomantensauce schmeckte köstlich, und die Wirtin verriet, daß das Rezept dazu von einem waschechten Grafen stammte, der einmal in der Pension gewohnt hatte.

Das Unwetter hatte schon nachgelassen, als sie auf dem Traktor nach St. Johann zurückfuhr, inzwischen strahlte draußen wieder die Sonne, und der Boden dampfte von der Feuchtigkeit. Ria öffnete die Tür, die in den Garten führte, und ließ die frische Luft hereinströmen.

»Noch mal machst solch einen Leichtsinn aber net«, ermahnte die Wirtin sie.

»Ganz bestimmt net«, schüttelte Andrea den Kopf. »Eigentlich wollt’ ich gar net so weit laufen, aber dann hab’ ich irgendwie die Zeit vergessen.«

»Hast an ihn gedacht, net wahr?«

»Das tu’ ich ja immerzu«, antwortete die junge Frau und machte ein bekümmertes Gesicht.

»Na ja, du hast ja noch mal Glück im Unglück gehabt, daß der Franz grad in der Nähe war, sonst hätt’s bös’ ausgehen können. Ein Unwetter in den Bergen ist schon was andres, als im Flachland.«

»Seit wann ist er eigentlich auf dem Mäderhof?« fragte Andrea.

Ria zuckte die Schultern.

»Ich weiß gar net so genau«, entgegnete sie. »Vielleicht ein halbes Jahr, oder so. Irgendwann hat der Georg gemerkt, daß er die Arbeit net mehr alleine schafft, und hat ihn eingestellt. Wie man hört, ist der Franz als Knecht ein tüchtiger Bursche. Allerdings ist er auch mit Vorsicht zu genießen, jedenfalls, wenn man ein weibliches Wesen ist…«

Andrea blickte sie erstaunt an.

»Wieso?«

»Na ja«, lächelte die Wirtin, »der Franz Brandner ist ein richtiger Herzensbrecher, wird erzählt, vor dem kein Rock sicher ist.«

Die Sekretärin erinnerte sich an den Blick des Knechts, als sie naß bis auf die Haut in der Jagdhütte standen. Er war eindeutig gewesen…

»Ich versteh’«, nickte sie, »ein Schwerenöter ist er also.«

»Und was für einer!«

»Er hat mich gefragt, ob ich morgen auf den Tanzabend geh’…«

»Siehst du!«

Andrea lächelte.

»Da brauchst dir keine Gedanken machen«, sagte sie. »Er ist nett, aber für mehr reicht’s bei mir net.«

»Da bin ich aber beruhigt. Was glaubst wohl, was der Franz alles anstellen wird, um dich herumzukriegen.«

»Das wird ihm gewiß net gelingen!«

Ria wiegte den Kopf.

»Das hat schon so manche gesagt«, meinte sie skeptisch. »Und wenn der Franz was davon erfährt, dann brauchst’ dir erst gar keine Hoffnung zu machen, daß es mit ihm wieder ins Lot kommt.«

Ria hatte sehr hart gesprochen und erschrak selbst darüber. Aber natürlich mußte Andrea ihr recht geben; wenn sie auf Franz Brandners Flirtversuche einging, hatte sie verloren.

Aber es lag auch wirklich nicht in ihrer Absicht, sich mit dem Knecht einzulassen!

Daß die hübsche Sekretärin zur selben Zeit Gegenstand der Überlegungen zweier Männer war, ahnte sie nicht.

Franz Brandner war zum Feld zurückgefahren, um es zu Ende zu pflügen. Dabei dachte er ununterbrochen an die junge Frau. Die Situation in der Jagdhütte war so richtig nach seinem Geschmack gewesen. Andrea Hofmann hatte verführerisch ausgesehen, in ihrem nassen T-Shirt, und unter anderen Umständen hätte er nicht gezögert, diese Situation auszunutzen. Doch irgendwas hatte ihn zurückgehalten. Instinktiv ahnte der Knecht, daß sie nicht zu den Madln gehörte, die sich leicht herumkriegen ließen. Bei Andrea mußte man anders vorgehen und nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen. Immerhin war da ja noch die Aussicht, sie morgen abend wiederzusehen.

Außerdem fragte er sich, in welchem Verhältnis sie zu dem Bauern stand. Georg Mäder hatte merkwürdig reagiert, als er hörte, daß Andrea auf dem Hof gewesen war. Er würde erst dahinterkommen müssen, was die beiden verband, damit er sich bei seinem Arbeitgeber nicht in die Nesseln setzte.

Georg saß zur selben Zeit zu Hause in der Küche und schaute trübsinnig vor sich hin. Vor ein paar Stunden hatte es einen großen Krach gegeben, als Liesl ihn auf Andrea ansprach.

»Bei der Ria Stubler wohnt sie«, hatte die Magd gesagt. »Warum fährst’ net hin und redest mit ihr?«

Georg hatte sie angesehen und den Kopf geschüttelt.

»Warum sollt’ ich das tun?« erwiderte er. »Sie hat ja in all den Jahren nix von sich hören lassen. Ich muß doch net den ersten Schritt tun.«

»Weil du ein Esel bist!« hatte Liesl daraufhin geschimpft. »Stur und eigensinnig. Das Madl liebt dich. Warum wohl ist es denn sonst hergekommen?«

Die Frage hatte er sich auch gestellt, nachdem es klar war, daß es sich bei der Besucherin um Andrea gehandelt hatte. Georg hatte am Nachmittag an seinem Schreibtisch gesessen, die Schublade geöffnet und die beiden Briefe herausgenommen, den einen, der geöffnet war, und den anderen, den er so, wie er angekommen war, weggelegt hatte.

Lange Zeit schaute er die Umschläge an, ohne den zweiten zu öffnen. Was im ersten Brief stand, wußte er ja und alles weitere interessierte ihn nicht mehr.

Schließlich legte er sie zurück, drückte die Lade zu und schloß ab.

Drei Jahre hatte er sie nicht angerührt, jetzt brauchte er nicht zu lesen, was Andrea an Entschuldigungen für ihren Wortbruch geschrieben hatte. Viel anders als das, was in dem anderen Brief stand, konnte es wohl kaum sein.

»Ich will sie einfach net wiedersehen«, sagte er, lauter als beabsichtigt.

»Dann sieh’ doch zu, wie du damit fertig wirst«, hatte Liesl kopfschüttelnd gerufen. »Dir ist ja net zu helfen.«

Dann war sie hinausgerauscht und hatte die Tür hinter sich zugeknallt.

Georg saß mit gesenktem Kopf und überlegte, was er tun sollte. Raus mußte er, er hielt es einfach nicht mehr aus. Schließlich stand er auf und ging in seine Kammer. Dort zog er sich um und kehrte in die Küche zurück. Er nahm ein paar Vorräte aus dem Kühlschrank, stopfte sie in einen Rucksack und holte sein Jagdgewehr aus dem Schrank auf der Diele. Dann verließ er das Haus, pfiff nach dem Hund und kletterte in den alten Geländewagen, den er immer benutzte, wenn er zur Jagd ging.

Liesl schaute aus dem Fenster, als er vom Hof fuhr.

»Du Hirsch, du damischer!« schimpfte sie, wohl wissend, daß er sie nicht hören konnte.

*

»Grüß Gott, Herr Gruber«, sagte Andreas Trenker zu seinem Pensionsgast. »Haben S’ das Unwetter gut überstanden?«

Der Mann nickte. Er war gerade erst von seiner Wanderung zurückgekehrt.

»Ja, ich war zwar einige Kilometer unterwegs, aber als das Unwetter losging, habe mich noch rechtzeitig unterstellen können«, erwiderte er.

»Und sonst«, erkundigte sich der Cousin des Bergpfarrers, »ist alles zu Ihrer Zufriedenheit?«

Wieder bejahte Franz Gruber.

»Alles in Ordnung, Herr Trenker«, versicherte er. »Das Zimmer ist wirklich sehr schön.«

»Das freut mich zu hören«, sagte Andreas. »Übrigens, Sie haben mich doch nach einem Brandnerhof gefragt, aber ich sagte ja schon, daß ich über zwanzig Jahre nicht hier war und die meisten Bauern gar net kenne. In der Zeit sind ja viele Höfe aufgegeben worden, aber auch ein paar Leute haben es gewagt, einen zu übernehmen, so daß es sein könnt’, daß der Besitzer gewechselt hat. Tut mir wirklich leid, daß ich Ihnen da net weiterhelfen konnte, aber vielleicht fragen S’ mal meinen Cousin, den Pfarrer. Er kennt so ziemlich jeden Hof im Wachnertal und kann Ihnen vielleicht Auskunft geben.«

»Daran habe ich auch schon gedacht«, antwortete Franz Gruber. »Vielleicht werde ich es wirklich tun. Vielen Dank erst mal, für den Hinweis.«

Er nahm seinen Zimmerschlüssel und ging die Treppe hinauf. Erschöpft ließ er sich in den bequemen Sessel nieder, der am Fenster stand.

Er hatte einen harten Tag hinter sich. Mehrere Höfe war Franz Gruber auf der Suche nach dem richtigen angelaufen und doch immer wieder enttäuscht worden. Er mußte zugeben, daß er sich die Sache einfacher vorgestellt hatte.

Aber auf keinen Fall würde er aufgeben! Und wenn er den Schuldigen von damals ausfindig gemacht hatte, dann war der Tag der Abrechnung gekommen!

Nachdem er sich einen Moment erholt hatte, nahm Franz Gruber das Handy aus der Tasche und rief zu Hause an. Lina war sofort am Apparat.

»Wie geht es dir?« fragte sie besorgt.

»Gut«, antwortete er, obwohl es nicht ganz der Wahrheit entsprach.

Die Enttäuschung, immer wieder auf dem falschen Bauernhof zu landen, zehrte an ihm, und seine Frau hörte es auch am Telefon – sie kannte ihn eben zu gut.

»Willst du die Angelegenheit nicht auf sich beruhen lassen und nach Hause kommen?« bat sie.

»Niemals!« stieß er sofort hervor. »Unrecht darf kein Unrecht bleiben, und was man meinem Vater angetan hat, das war alles andere als Recht!«

»Ach, Franz«, seufzte seine Frau, »vielleicht lebt dieser Mensch schon gar nicht mehr, genauso wie Vater. Du vergeudest doch nur deine Zeit. Schließlich kannst du ja nicht ganz Bayern nach ihm absuchen. Was ist, wenn ich recht habe, und er ist schon längst gestorben? Oder er wohnt überhaupt nicht mehr da, sondern ist verzogen?«

»Wenn er noch lebt, dann müßt er jetzt etwa fünfundsiebzig Jahre alt sein«, widersprach er. »Wenn Vater nicht krank geworden wäre, könnte er auch heute noch leben. Ich kann nicht glauben, daß dieser Mann tot ist. Und ich werde erst Ruhe haben, wenn ich es herausgefunden habe. Aber du hast recht, die Möglichkeit, daß er längst gestorben ist, besteht natürlich. Vielleicht hätte ich erst einmal auf dem Friedhof nachsehen sollen. Aber das werde ich gleich nachholen.«

»Du könntest doch aber auch einfach zum Meldeamt gehen und nach seiner Adresse fragen?« schlug Lina Gruber vor.

»Glaubst du nicht, daß ich das nicht auch überlegt habe? Aber das werde ich nicht tun. Wer weiß denn, ob er dann nicht auf irgendwelchen Umwegen erfährt, daß ich auf der Suche nach ihm bin, und somit gewarnt ist? Nein, ich werde ihn finden, und wenn er noch am Leben ist, dann gnade ihm Gott!«

»Franz, manchmal habe ich richtig Angst«, sagte seine Frau leise. »Bitte sei vorsichtig.«

»Du mußt keine Angst haben«, beruhigte er sie. »Ich kann schon auf mich aufpassen.

Aber jetzt erzähle doch mal, wie es zu Hause steht.

Ist in der Firma alles in Ordnung, und mit dem Jungen?«

»Alles bestens«, antwortete sie. »Die Lindenbrauerei hat gestern grünes Licht gegeben. Wir werden also die drei Objekte einrichten.«

»Das ist aber eine gute Nachricht!« freute sich Franz Gruber.

Bei dem Auftraggeber handelte es sich um eine der größten Privatbrauereien in Niedersachsen. Die Firma Gruber hatte sich an der Ausschreibung für die Einrichtung von drei Gaststätten beteiligt und den Zuschlag erhalten. Allerdings waren ein paar Änderungswünsche vorgebracht worden.

»Ja, das haben wir Thomas zu verdanken«, sagte Lina, nicht ohne Stolz in der Stimme.

Der Sohn hatte sich gleich darangemacht, die ersten Entwürfe zu überarbeiten.

Es war ihm gelungen, die Chefs der Brauerei zufriedenzustellen, gleichzeitig aber auch dafür zu sorgen, daß die Tischlerei nicht zuviel Profit dabei verlor.

»Wir können wirklich stolz auf ihn sein«, sagte Franz mit weicher Stimme.

»Du…?« flüsterte seine Frau.

»Ja, was ist denn?«

»Komm bald zurück, Franz«, bat Lina. »Wir vermissen dich hier.«

»Ich vermisse euch auch, Schatz«, entgegnete er. »Aber laß mir noch ein paar Tage Zeit. Ich melde mich morgen wieder. Grüß mir Thomas und den Horst.«

Franz beendete die Verbindung und lehnte sich zurück.

Ich habe eine tolle Familie, dachte er glücklich.

Überhaupt ist es mir besser ergangen als meinen Eltern. Vater hat nie etwas aus sich machen können; genau wie Mutter, hat er sein ganzes Leben hart gearbeitet, doch auf den grünen Zweig sind sie nie gekommen. Manchmal ist das Leben ganz schön ungerecht.

Immerhin konnte er sich damit trösten, seinen Eltern einen schönen Lebensabend gegeben und damit etwas von dem zurückgezahlt zu haben, was er von ihnen erhalten hatte. Trotz aller Widrigkeiten waren Josef und Hannelore Burger immer bemüht gewesen, aus ihrem Sohn etwas zu machen, und das war ihnen gelungen.

Franz dachte lange nach. Auf den Gedanken, zum Friedhof zu gehen und nach einem eventuellen Grab des Mannes zu suchen, war er bisher nicht gekommen. Erst das Telefongespräch mit seiner Frau hatte ihn darauf gebracht. Nach wie vor aber war er skeptisch, was den Geistlichen betraf. Bestimmt würde Pfarrer Trenker wissen wollen, warum er, Franz, auf der Suche nach dem Mann war, der seinen Vater ins Unglück getrieben hatte. Dieses Risiko wollte er lieber nicht eingehen.

*

Eine halbe Stunde später verließ Franz Gruber die Pension »Edelweiß« wieder. Die Zeit hatte immerhin gereicht, daß er sich ein wenig ausruhen und die vom vielen Laufen schmerzenden Füße eincremen und massieren konnte. Da er nicht beabsichtigte, sich heute abend noch außerhalb des Dorfes auf die Suche zu machen, hatte Franz bequeme Schuhe angezogen. Dazu trug er eine leichte Hose, ein Polohemd und ein dünnes Jackett. Nach dem Besuch auf dem Friedhof wollte er ins Gasthaus gehen und zu Abend essen.

Etwas Bayerisches, hatte er sich überlegt, und vor allem was Warmes, sollte es sein. Den ganzen Tag hatte er sich nur von belegten Broten ernährt. Sein Vater hatte sehr gerne Spezialitäten aus seiner Heimat gegessen. Allerdings waren die in Norddeutschland nur sehr schwer zu bekommen. Die Weißwurst, die es da oben zu kaufen gab, war selten frisch, sondern meist in Dosen oder Folie verpackt und schmeckte dem Vater überhaupt nicht. Von solchen Leckereien wie saurer Lunge oder geschmortes Herz, süßsauer abgeschmeckt, konnte Josef Gruber nur träumen. Immerhin hatte seine Frau im Laufe der Zeit gelernt, mit dem wenigen, was sie hatten, so zu kochen, daß es für den Vater manchmal tatsächlich wie daheim schmeckte. Franz erinnerte sich jetzt an den Schweinebraten, den die Mutter hin und wieder am Sonntag gemacht hatte. Der Vater spendierte für die Sauce dann sogar immer eine Flasche Bier. Oder Semmelknödel mit Pilzen. Die schmeckten, egal ob in Süddeutschland oder hoch oben im Norden, überall gut. Und irgendein solches Gericht wünschte Franz Gruber sich zum Abendessen.

Aber erst einmal stand ihm der Besuch auf dem Friedhof bevor.

Die Pension lag am Ende des Dorfes. Franz mußte also wieder laufen. Schon am Morgen hatte er überlegt, ob es nicht ratsam wäre, sich einen Leihwagen zu nehmen. Schließlich wußte er nicht, wie viele Kilometer er noch hinter sich bringen mußte, ehe er den richtigen Hof gefunden hatte. Aber dazu mußte er erst wieder mit dem Bus in die Stadt fahren, in St. Johann gab es keinen Autoverleih, und er hoffte eigentlich, schneller fündig zu werden.

Jetzt nahm er sich vor, beim Abendessen noch einmal darüber nachzudenken. Er hatte die Mitte des Dorfes erreicht und schaute zum schlanken Turm der Kirche hinauf. Wenig später trat er durch die schmiedeeiserne Pforte, die den Friedhof vom Kirchplatz abtrennte.

Langsam ging er durch die Reihen und las auf jedem Grabstein sorgfältig die Inschriften. Aber der Name, den er suchte, war nicht dabei.

Als er wieder an der Pforte stand und sich umsah, kamen ihm Zweifel.

War er wirklich an jedem Grab gewesen, oder hatte er eines übersehen?

Erneut machte er sich auf die Suche, die wieder ergebnislos verlief. Als Franz Gruber den Friedhof wieder verließ, wußte er nicht, ob er zufrieden oder enttäuscht sein sollte. Vielleicht bedeutete es ja, daß der Mann noch lebte. Aber auch Linas Worte, der Gesuchte könne das Wachnertal längst verlassen haben und woanders hingezogen sein, fielen ihm wieder ein.

Er blieb stehen und blickte nachdenklich zu Boden.

War es wirklich eine aberwitzige Idee, wie seine Frau meinte? Machte er sich zum Narren, wenn er hier einer alten Geschichte nachspürte, deren einziger Leidtragender schon nicht mehr unter den Lebenden weilte?

Franz Gruber war so in Gedanken versunken, daß er den Mann gar nicht bemerkte, der plötzlich vor ihm stand. Erst als Pfarrer Trenker ihn ansprach, schaute er auf.

»Ich hab’ Sie vom Pfarrhaus aus gesehen«, sagte Sebastian. »Es scheint, Sie sind auf der Suche nach einem Grab. Kann ich Ihnen vielleicht behilflich sein?«

»Nein, nein, vielen Dank«, wehrte der Tischlermeister rasch ab. »Nein, ich suche kein Grab. Ich wollte mir nur den Friedhof ansehen. Guten Abend, Hochwürden.«

Er nickte dem Bergpfarrer zu und ging mit schnellen Schritten den Kiesweg hinunter.

Sebastian schaute ihm hinterher. Er wußte, daß Franz Gruber ihn angelogen hatte. Vom Fenster seines Arbeitszimmers hatte er ganz deutlich gesehen, daß der Mann zweimal über den Friedhof gegangen war und sich dabei sehr genau die Grabsteine angesehen hatte. Es konnte gar kein Zweifel daran bestehen, daß er etwas gesucht hatte.

Aber was wollte er sonst hier finden, außer die Namen der Toten, die hier ihre letzte Ruhe gefunden hatten?

Natürlich, schoß es dem Geistlichen durch den Kopf, er sucht nach einem Namen. Oder vielmehr nach einem Menschen, der entweder tot und hier begraben ist, oder der noch lebt, und dieser Gruber wollte sich davon überzeugen. Er sucht also jemanden aus St. Johann oder der Umgebung.

Aber warum tat er dabei so geheimnisvoll?

Die Sache ließ ihm keine Ruhe. Zwar hatte Sophie Tappert gewiß schon den Tisch fürs Abendessen gedeckt, aber Sebastian ging dennoch erst in sein Arbeitszimmer und wählte die Nummer der Pension »Edelweiß«. Marion nahm den Hörer ab und meldete sich.

»Entschuldige die Störung«, sagte der Geistliche. »Aber ich hätt’ da mal eine Frage…«

Er berichtete von seiner Beobachtung und dem kurzen Gespräch mit dem Mann.

»Ja, das ist wirklich merkwürdig«, bestätigte Andreas’ Frau. »Der Herr Gruber sucht tatsächlich jemanden. Ich versteh’ gar net, warum er das jetzt abstreitet.«

»Wen will er denn unbedingt finden?«

»Er hat uns nach einem Bauernhof gefragt, dessen Besitzer Brandner heißt«, erzählte Marion.

»Brandner, davon gibt’s ja einige«, sagte Sebastian. »Viele Leute heißen hier so, auch solche, die keinen Bauernhof haben. Hat er denn gesagt, warum?«

»Nein. Wir haben ihm ja auch gar net weiterhelfen können. Ich sowieso net, und der Andreas auch net, weil er ja all die Jahre fort war.«

»Aber es scheint dem Herrn Gruber sehr wichtig zu sein…«

»So wichtig, daß er den halben Tag unterwegs ist und jeden in der Gegend fragt.«

»Bloß mich net.«

»Ja, das ist schon seltsam. Dabei erwartete man beim Pfarrer doch noch am ehesten, daß er über alle Leute Bescheid weiß. Was glaubst’ denn, was dahinterstecken könnt’?«

»Du, ich hab’ keine Ahnung«, erwiderte der Geistliche. »Stutzig macht mich nur der Name Gruber, der ja alles andere, als norddeutsch ist. Ich könnt’ mir denken, daß zumindest einer der Vorfahren eures Gasts von hier stammt. Vielleicht ist er einer alten Geschichte auf der Spur…«

»Aber warum tut er dann jetzt so geheimnisvoll und leugnet dir gegenüber seine wahren Absichten?« fragte Marion irritiert. »Dafür gibt’s doch überhaupt keine vernünftige Erklärung!«

»Da hast’ du recht. Das Verhalten des Herrn Gruber macht die ganze Angelegenheit recht rätselhaft. Aber ich werd’ schon noch dahinterkommen. Das war’s einstweilen, Marion. Grüß mir den Andreas, und euch noch einen schönen Abend.«

»Dir auch«, antwortete sie und legte auf.

Sebastian lehnte sich nachdenklich zurück. Was er eben erfahren hatte, warf ein neues Licht auf die Geschichte. Franz Gruber war also auf der Suche nach einem, der Brandner hieß und einen Bauernhof bewirtschaftete. Offenbar war er bei seiner Suche aber bisher nicht fündig geworden, sonst hätte er heute abend nicht auf dem Friedhof die Grabinschriften gelesen.

Der Bergpfarrer überlegte, was das bedeuten konnte, unter Umständen, daß der Gesuchte kein junger Mensch mehr war. Natürlich mußte man nicht alt sein, um vom Herrgott abberufen zu werden, aber Sebastian glaubte nicht daran, daß es sich hierbei um jemanden handelte, der noch in der Blüte seines Lebens stand. Jemand also, der fünfzig Jahre oder älter war und der auf irgendeine Art und Weise mit der Lebensgeschichte Franz Grubers verbunden war.

Hinzu kam der eindeutig süddeutsch klingende Name des geheimnisvollen Mannes. Der ließ vermuten, daß jemand aus seiner Familie aus St. Johann oder der Umgebung stammte. Vielleicht würde ja ein Blick in die Kirchenbücher weiterhelfen.

Aber erst einmal rief Sophie Tappert zum Abendessen.

Doch gleich danach würde er in die Kirche gehen und dort einen bestimmten Band aus dem Regal nehmen: den, in dem alle Geburten und Sterbefällen des letzten Jahrhunderts verzeichnet waren. Gewiß würde er früher oder später auf den Namen Gruber stoßen und konnte möglicherweise eine Verbindung zu dem Mann herstellen, der bei seinem Cousin wohnte.

Und dann würde hoffentlich etwas Licht in das Dunkel kommen, das Franz Gruber umgab.

*

Am nächsten Morgen machte sich Sebastian erst einmal auf den Weg zum Mäderhof. Unterwegs dachte er noch einmal über seine Recherche nach. Bis spät in den Abend hatte er in der Sakristei gesessen und in dem Kirchenbuch gelesen. Bis zum Jahr Neunzehnhundertzwanzig war er dabei zurückgegangen. Wenn der Brandner, um den es ging, noch lebte, dann war er jetzt über siebzig Jahre alt, und eben dieses Alter mußte in etwa auch der Vorfahre Franz Grubers haben. Der gute Hirte von St. Johann war dabei auf mehrere Leute mit diesem Namen gestoßen, der einzige, der auf die Annahme paßte, daß der Mann noch leben könnte, war ein Josef Gruber, geboren am ersten Juni Neunzehnhundertachtunddreißig, demnach war er neunundsechzig Jahre alt.

Es gab zwei Eintragungen, die seiner Geburt, und dann über die Kommunion. Mehr war nicht zu finden.

Konnte man daraus schließen, daß er immer noch lebte?

Vielleicht, aber es war durchaus möglich, daß Josef Gruber St. Johann verlassen hatte und inzwischen ganz woanders wohnte. Zumindest gab es weder einen Eintrag über seinen Tod, noch daß er geheiratet hätte.

Sebastian hatte sich Notizen gemacht und dann nach dem Namen Brandner gesucht. Brandners gab es wie Sand am Meer. Zusätzlich waren die Berufsbezeichnungen dahinter geschrieben, Stellmacher, Kaufmann, Knecht und Landwirt. Von letzteren gab es unzählige, aber daraus konnte man nicht ablesen, ob sich der Gesuchte darunter befand.

Als der Bergpfarrer jetzt zum Mäderhof fuhr, notierte er sich in Gedanken, seinen Bruder zu bitten, nachzuforschen, was aus Josef Gruber geworden war. Mit den Mitteln, die Max zur Verfügung standen, war es eine Kleinigkeit, das herauszufinden. Und wußte man erst einmal, wo er abgeblieben war, würde es auch möglich sein, den wahren Absichten Franz Burgers auf die Spur zu kommen.

Sebastian fuhr auf den Hof und stieg aus. Er wunderte sich ein wenig, denn wenn er sonst herkam, lief sofort der Hund herbei, um den Besucher zu begrüßen. Der Geistliche ging zum Haus hinüber und klopfte an. Liesl Lindhoff öffnete ihm.

»Grüß Gott, Hochwürden«, sagte die Magd. »Das ist aber nett, daß Sie vorbeischauen.«

Sie zuckte die Schultern.

»Leider ist der Georg net daheim«, setzte sie hinzu.

»Ach, das ist schad’, grad ihn wollt’ ich sprechen«, bedauerte der Bergpfarrer. »Wann kommt er denn zurück?«

Liesl bat ihn erst einmal herein. In der Küche saß der Knecht bei einem späten Frühstück. Franz Brandner begrüßte den Geistlichen, und Liesl bot dem Besucher einen Platz an.

»Möchten S’ einen Kaffee?« erkundigte sie sich.

»Vielen Dank«, schüttelte Sebastian den Kopf. »Ich hab’ grad welchen getrunken, bevor ich losgefahren bin.«

Er wandte sich an den Knecht.

»Wie schaut’s aus, Franz?« fragte er. »Wird die Ernte gut?«

»Sie könnt’ net besser werden, Hochwürden«, nickte der Knecht. »Wir müssen bloß aufpassen, daß die Wildschweine net den ganzen Mais niedermachen.«

»Und heut’ abend geht’s wieder zum Tanzen, was?« lächelte Sebastian. »Mal schauen, vielleicht komm’ ich auch für ein Stündchen.«

Zwar nicht immer, aber hin und wieder nahm der Bergpfarrer an dem Tanzvergnügen teil. Seine Schäfchen wunderten sich schon lange nicht mehr darüber, daß ihr Hirte auch auf der Tanzfläche eine gute Figur machte.

Franz hatte sein Frühstück beendet. »Ich fahr’ nachher noch in die Stadt«, sagte er an die Magd gewandt. »Soll ich dir irgendwas mitbringen?«

»Nein, dank’ schön, ich hab’ alles, was ich brauch’«, erwiderte Liesl.

Sie sah Sebastian an und holte tief Luft.

»Der Georg ist gestern auf die Jagd gefahren«, erzählte sie, als der Knecht hinausgegangen war. »Das macht er immer, wenn er schlechte Laune hat. Dann verkriecht er sich in der Hütte und taucht erst nach ein paar Tagen wieder auf. Und gestern hatte er sehr schlechte Laune.«

»Ich hab’ mich schon gewundert, weil der Hund net da ist«, sagte der Bergpfarrer. »Warum hatte er denn schlechte Laune?«

»Weil ich ihm gehörig meine Meinung gesagt hab’«, rief Liesl, schon wieder ganz aufgeregt, weil sie sich immer noch über die Sturheit des Bauern ärgerte.

»Und worum ging’s bei dem Streit?«

»Ein Streit war’s eigentlich net«, wiegelte die Magd ab. »Es ging um die Andrea…«

Sebastian nickte.

»Sie hat mit mir gesprochen und erzählt, daß sie bei euch war.«

»Der Georg ist so ein Sturkopf«, schimpfte sie wieder. »Manchmal könnt’ man denken, daß Männer ihren Kopf nur zum Essen und Trinken haben, aber net zum Nachdenken.«

Der gute Hirte von St. Johann schmunzelte, sagte aber nichts weiter.

»Ist doch wahr!« fuhr die Magd fort. »Ich hab’ ihm gesagt, er soll zu ihr fahren, damit die beiden sich aussprechen können. Wissen S’, Hochwürden, ich glaub’, daß der Georg die Andrea immer noch liebt. Warum hat er denn noch keine andre? Ich red’ ihm ja dauernd zu, daß er sich endlich eine suchen soll. Auf den Hof gehört eine Frau! Was will er denn machen, wenn ich mal net mehr bin? Aber ich kann reden und reden, er hört ja doch net drauf, und das kann doch nur bedeuten, daß er keine andre, als die Andrea will. Und was war, als er erfahren hat, daß sie hier war? Sie hätten ihn mal erleben müssen, Hochwürden. Wie ein Huhn ohne Kopf ist er umeinand’ geschlichen und hat ein Gesicht gemacht wie Sieben-Tage-Regenwetter. Ja, und als ich ihn dann drauf angesprochen hab, da wollt’ er nix davon wissen!«

»Was glaubst’ denn, wann er wiederkommt?« fragte Sebastian.

Liesl zuckte die Schultern.

»Wahrscheinlich net vor morgen abend«, antwortete sie. »Die Hütte steht droben am oberen Wald. Die Felder gehören zum Hof, und Sie haben ja gehört, was der Franz wegen der Wildschweine gesagt hat. Der Förster hat letzte Woche die Abschußgenehmigung erteilt, weil die Viecher wirklich Überhand nehmen. Der Georg hat Vorräte mitgenommen und sich für länger eingerichtet.«

Sebastian erhob sich.

»Ich wollt’ ihn ja eigentlich sprechen«, sagte er. »Aber vielleicht ist’s auch ganz gut, wenn er erst einmal in aller Ruhe nachdenkt und wieder zu sich kommt.«

»Glauben S’ denn, daß es wieder was wird, mit den beiden?« fragte die Magd. »Ich würd’s mir sehr wünschen, denn die Andrea ist ein patentes Madl und was sie noch net weiß, um Bäuerin zu werden, das würd’ ich ihr schon beibringen.«

»Ich bin sicher, daß es zwischen ihnen wieder in Ordnung kommt«, sagte Sebastian zuversichtlich. »Aber manchmal dauert es halt etwas länger. Und wenn Andrea nach drei Jahren zurückgekommen ist, dann net ohne Grund.«

Liesl lächelte.

»Geb’s Gott, daß Sie recht behalten«, hoffte sie.

Der Bergpfarrer sagte ihr noch ein paar aufmunternde Worte und verabschiedete sich. Auch wenn er den Bauern nicht angetroffen hatte, so war sein Besuch auf dem Mäderhof doch nicht vergeblich gewesen. Was er über Georgs Verhalten erfahren hatte, verriet ihm, daß er Andrea keineswegs vergessen hatte, wie sie glaubte.

Natürlich mußte seine Reaktion auf ihre Anwesenheit im Wachnertal einen Grund haben, und den galt es, herauszufinden. Aber wenn sie ihm tatsächlich egal gewesen wäre, dann hätte der Mäderbauer viel gelassener sein können.

Sebastian fuhr ins Dorf zurück und suchte die Pension auf. Er erzählte Andrea von seinem Besuch und von dem, was er von Liesl Lindhoff erfahren hatte.

»Ich seh’s keineswegs so, daß der Georg nix mehr von dir wissen will«, sagte er, als er das enttäuschte Gesicht der jungen Frau sah. »Ganz im Gegenteil, er ist bloß überrascht, daß du dich nach all der Zeit wieder gemeldet hast, und wird in aller Ruhe darüber nachdenken müssen. Also Kopf hoch, und gib die Hoffnung net auf.«

»Wenn Sie es sagen, Hochwürden«, nickte die Sekretärin, »dann muß ich es wohl glauben.«

Der Bergpfarrer verabschiedete sich.

»Ich würd’ mich freuen, wenn du heut’ abend ins Pfarrhaus kämst«, sagte er beim Hinausgehen. »Der Max und die Claudia werden auch da sein, und nachher geh’n wir auf den Tanzabend. Hast’ Lust dazu?«

»Sehr gern’«, antwortete Andrea erfreut. »Vielen Dank, es wird bestimmt sehr schön.«

*

Hubert Hirschler saß auf der Bank vor dem Haus und blickte stolz auf das junge Madl, das mit einem Arm voller Wiesenblumen durch die Einfahrt kam.

»Grüß dich, Großvater«, sagte Franzi und beugte sich zu ihm und gab ihm einen Kuß auf die Wange.

»Schöne Blumen hast’ mitgebracht«, meinte der Altbauer.

»Die sind für die Großmutter«, antwortete die Enkelin. »Sie hat sie doch immer so gern’ gemocht. Ich bring’ sie nach dem Essen zum Grab.«

Hubert Hirschler klopfte auf die freie Fläche neben sich.

»Hock’ dich ein bissel her«, sagte er. »Wir haben uns lang’ net unterhalten. Wie geht’s in der Schule?«

»Prima.«

Franzi Hirschler setzte sich neben ihn. Sie war achtzehn Jahre alt und ein hübsches Madl. Lange, dunkle Haare bedeckten ihre schmalen Schultern. Manchmal band sie sie auch zu Zöpfen. Das aparte Gesicht war weich, besaß aber die gesunde Farbe eines Menschen, der in den Bergen aufgewachsen war. Sie hatte unverkennbare Ähnlichkeit mit ihrer verstorbenen Großmutter – einer der Gründe, warum der Altbauer sie immer wieder liebevoll und bewundernd ansah.

Die Enkelin besuchte das Gymnasium in der Stadt. Nach dem Ab­itur wollte sie studieren, und das Fach, das sie sich ausgesucht hatte, erstaunte die ganze Familie.

Architektin wollte sie werden!

»Ihr wißt doch, daß ich mit der Landwirtschaft nix am Hut hab’«, erwiderte Franzi, als ihre Eltern entsetzt auf ihre Eröffnung, den Hof nicht übernehmen zu wollen, reagierten.

Was einmal aus dem Hirschlerhof werden sollte, interessierte sie nicht. Wenn es nach ihr ging, konnten die Eltern ihn später einmal verkaufen und sich zur Ruhe setzen. Seltsamerweise hatte sie dabei Unterstützung von ihrem Großvater erhalten, der sie über alles liebte und sie bei ihren Plänen unterstützte.

Enkelin und Großvater saßen eine ganze Weile zusammen und unterhielten sich, dann sagte Franzi, sie wolle die Blumen ins Wasser stellen, damit sie nicht schon vor dem Friedhofsbesuch vertrockneten, und nach dem Mittagessen schauen. Sie ging ins Haus, und Hubert Hirschler stand auf, um vor dem Essen noch ein paar Schritte zu spazieren. Fünfundsiebzig Jahre war er jetzt und immer noch rüstig. An seinem sechzigsten Geburtstag hatte er sich auf das Altenteil zurückgezogen und den Hof seinem Sohn überschrieben. Gerne hätte er seinen Lebensabend noch länger an der Seite seiner Frau verbracht, aber Maria war vor vier Jahren verstorben, und es war ein herber Schlag für die ganze Familie gewesen.

Der Altbauer ging ein Stück die Straße hinunter. Prächtig stand das Korn auf den Feldern, und Stolz wurde in ihm wach, als er zurückschaute.

Damals, als er auf den Hof einheiratete, stand es gar nicht gut um den Betrieb. Es waren schlechte Zeiten, der Krieg noch nicht lange vorbei. Aber er hatte es angepackt und seinen Schwiegereltern gezeigt, was in ihm steckt. Der Sohn hatte das Werk seines Vaters fortgesetzt, und der Hirschlerhof stand wirtschaftlich auf einer soliden Basis.

Natürlich bedauerte Hubert es, daß der Hof eines Tages in fremde Hände kommen würde. Aber er verstand auch Franzis Wunsch, ihn nicht übernehmen und einen ganz anderen Weg einschlagen zu wollen. Er aber wollte jetzt nicht daran denken. Wenn es einmal soweit war, würde er ohnehin nicht mehr sein.

Als er zurückkam, stand das Essen schon auf dem Tisch. Samstags gab es meistens einen kräftigen Eintopf, und Hubert lobte die Enkelin wieder einmal für ihre Kochkünste.

Nach dem Mittag zog er sich in den Anbau zurück, den er und sein Sohn seinerzeit errichtet hatten, als Hubert Hirschler Vinzent den Hof überschrieb. Dort legte sich der Altbauer auf das Sofa, schloß die Augen und wanderte in Gedanken in der Zeit zurück.

Vieles hatte er in seinem Leben erfahren und durchgemacht. Und so manches davon hatte ihn geprägt. Indes gab es nichts, was er bedauerte, auch wenn etwas darunter war, das hin und wieder sein Gewissen belastete.

Unwillig richtete Hubert sich auf, als er an den Anhänger denken mußte. Ein flaches Stück Metall. Gold war es freilich, mit einer schönen Gravur darauf. Nicht mehr wert als achtzig Mark. Aber das war damals viel Geld gewesen. Und doch hatte er diesem Anhänger sein ganzes Glück zu verdanken. Ohne ihn wäre er nicht das geworden, was er heute war.

Ein wohlhabender Mann, ein erfolgreicher Bauer, angesehen bei Freunden und Nachbarn.

Trotzdem war der Gedanke an das Schmuckstück unangenehm. Denn damit war auch etwas verbunden, das Hubert Hirschler zeitlebens vor anderen verborgen hatte, und er wünschte sich, daß es niemals ans Licht der Sonne kommen möge.

Er sank auf das Sofa zurück und versuchte, an etwas anderes zu denken. Doch die Erinnerungen kamen quälend zurück. Er wälzte sich unruhig hin und her, und stand schließlich wieder auf.

Es kam öfter vor, daß er daran denken mußte. Aber in der letzten Zeit geschah es noch viel häufiger. Der Altbauer versuchte zu ergründen, was der Grund dafür sein könnte.

Mußte er Angst haben?

Nein, eigentlich war es unmöglich. Der einzige Mensch, der die Wahrheit kannte, war irgendwo untergetaucht, wo ihn und seine Geschichte niemand kannte, oder er weilte längst nicht mehr unter den Lebenden.

Und der Anhänger, um den sich alles drehte, der war gut verwahrt. Nein, er brauchte keine Angst zu haben. Das Geheimnis war sicher, und wenn er einmal starb, würde er es mit ins Grab nehmen.

*

»Ich hab’ da eine Bitte«, sagte Sebastian zu seinem Bruder, als der Polizist und dessen Frau ins Pfarrhaus gekommen waren.

»Worum geht’s denn?« fragte Max.

Der Bergpfarrer erzählte es ihm, sein Bruder schürzte die Lippen. Es war keine ungewöhnliche Bitte, mit der Sebastian an ihn herantrat. Schon öfter hatte Max solche Nachforschungen für ihn betrieben.

»Ich kenn’ den Gruber«, sagte er schließlich. »Er war droben am Jägerstieg, als er mir über den Weg lief.«

»Du hast mit ihm gesprochen?«

»Ja, er wollte wissen, ob ich in der Gegend einen Brandnerhof kenne. Aber da oben gibt’s ja nur den Hirschlerhof.«

»Hm, wenn er gewußt hätt, daß dein Name Trenker ist, hätt’ er dich gewiß net gefragt.«

Max machte ein erstauntes Gesicht.

»Wie kommst’ darauf?«

Der Geistliche berichtete von der Begegnung mit Franz Gruber am Abend zuvor.

»Jeden fragt er, nur mich net.«

»Das ist wirklich seltsam«, meinte der Beamte. »Was könnt’ denn dahinterstecken?«

»Ich vermute, es geht um eine alte Rechnung«, sagte Sebastian. »Allein sein Name deutet darauf hin, daß jemand aus seiner Familie von hier stammt. Der Mann selber ist hier net geboren, denk’ ich. Es wär’ mir eine große Hilfe, wenn du etwas über den Josef Gruber herausfinden könntest.«

»Gleich Montagfrüh mach’ ich mich daran«, versprach Max und hob schnüffelnd die Nase. »Was gibt’s denn Gutes?«

Der Bergpfarrer lächelte. Die Appetit seines Bruders war geradezu legendär. Wenn andere beim Essen längst aufgegeben hatten, langte er noch einmal zu. Dabei machte Max eine gute Figur. An seinem Körper war nicht ein Gramm überflüssiges Fett.

»Laß dich überraschen«, antwortete Sebastian. »Wir erwarten übrigens noch einen Gast.«

»So? Wen denn?« wollte der Polizist wissen.

»Eine Frau Hofmann«, erklärte der Geistliche. »Andrea Hofmann. Sie war vor drei Jahren mit dem Georg Mäder befreundet, als sie hier in Urlaub war. Aber irgendwie ging die Sache zu Ende, als sie wieder abreisen mußte. Es gab nur noch einige Mal telefonischen Kontakt, dann hörten sie nix mehr voneinander. Jetzt ist Andrea wieder zurückgekommen, aber Georg schaltet auf stur und will sie net sehen.«

Max lächelte.

»Und du willst wieder mal Schicksal spielen«, meinte er.

»Schicksal spielen ist net die richtige Bezeichnung«, entgegnete sein Bruder. »Ich will dem Glück der beiden nur ein bissel auf die Sprünge helfen. Georg hat Andrea nie vergessen, da bin ich sicher. Aber wenn er so reagiert, dann

gibt’s da bestimmt irgendwelche Mißverständnisse, die aus dem Weg geräumt werden müssen, und dabei will ich helfen.«

»Er ist jedenfalls net mit einer anderen verbandelt«, stellte der Polizist fest.

»Richtig«, nickte Sebastian. »Und das ist für mich ein eindeutiges Indiz für die Richtigkeit meiner Annahme.«

Claudia kam aus der Küche, wo sie letzte Hand mit angelegt hatte.

»Frau Tappert ist soweit«, sagte die Journalistin, die in Garmisch Partenkirchen beim »Kurier« arbeitete.

Der Bergpfarrer sah auf die Uhr.

»Dann müßt’ sie gleich hier sein«, meinte er.

Im selben Moment klingelte es an der Haustür, und er ging, um zu öffnen.

»Herzlich willkommen«, begrüßte er die Sekretärin. »Schön, daß du da bist.«

»Guten Abend, Hochwürden«, lächelte Andrea Hofmann. »Vielen Dank für die Einladung.«

Sebastian machte die Besucherin mit Claudia und Max bekannt.

»Ich denk’, ihr könnt schon mal Platz nehmen«, sagte die Journalistin und ging in die Küche.

Zusammen mit der Haushälterin kam sie kurz darauf zurück. Sophie Tappert hatte wieder einmal alle Register ihrer Kochkünste gezogen. Schon die Vorspeise war ein Augen- und Gaumenschmaus. Doch zuerst schenkte Max einen Aperitif ein. Der Sherry schimmerte goldfarben in den Gläser. Er war trocken und schmeckte köstlich.

Dann servierte die Haushälterin, von Claudia unterstützt, ein leckeres Gericht aus kroßgebackenen Blätterteigbrötchen, die mit einem Ragout aus Krabben, Fischstückchen und Champignons in einer hellgelben Sahnesauce gefüllt waren. Die Zutaten hatte Sophie in einem Fischfond gar ziehen lassen, ohne sie zu kochen, und die Brühe anschließend mit einem Gemisch aus Sahne und Eigelb gebunden. Als Blickfang lag ein dunkelgrüner Dillzweig auf dem Teller. Dazu wurde ein leichter Weißwein getrunken, dessen Säure den Geschmack der Sauce unterstützte.

»Das schmeckt herrlich!« sagte Andrea, ehrlich begeistert.

Max schielte zu der Haushälterin hinüber, die schmunzelnd aufstand und ihm eine zweite Portion aus der Küche holte.

Während des Essens unterhielten sie sich über den bevorstehenden Tanzabend. Claudia freute sich, mal wieder ausgelassen mit ihrem Mann feiern zu können.

»Georg wird wohl net da sein«, sagte Sebastian zu Andrea. »Liesl meint, er wird wohl kaum vor morgen abend von der Jagd zurückkommen.«

Die junge Frau nickte. Sie hatte es nicht anders erwartet. Nachdem Pfarrer Trenker am Morgen in die Pension gekommen war und von seinem Besuch auf dem Mäderhof berichtet hatte, war Andrea in die Stadt gefahren und hatte einen Einkaufsbummel gemacht. Zwar hatte sie genügend Sachen mitgebracht, darunter auch welche, die sie getrost zu so einem Ereignis, wie dem Tanzabend, anziehen konnte, aber ihr stand der Sinn nach etwas Neuem. In einem Modegeschäft fand sie ein schickes Kleid aus leichtem Stoff. Es war cremefarben und mit hübschen, kleinen Blumen bedruckt. Darüber hatte sie einen Blazer gezogen und trug als einzigen Schmuck eine Perlenkette, die aus dem Nachlaß ihrer Mutter stammte. Andrea war mit ihrem Aussehen sehr zufrieden gewesen, als sie sich im Spiegel betrachtete.

Als Hauptgang kamen saftig gebratene Rehnüßchen auf den Tisch. Die Haushälterin hatte das Filet ein paar Stunden zuvor mit frischgemahlenem Pfeffer und grob zerstoßenen Wachholderbeeren eingerieben. Kurz vor dem Servieren der Vorspeise wurden die Nüßchen in einem Gemisch aus Butter und Öl angebraten und dann die Pfanne bei niedriger Temperatur ins Rohr geschoben, wo das Fleisch langsam weiter schmorte und dabei innen saftig und rosa blieb.

Nun hatte Sophie Tappert die Pfanne wieder herausgenommen, ein Gläschen Kognak hineingegossen und mit einem Streichholz angezündet. Nachdem die Flamme verloschen war, nahm die Haushälterin das Fleisch heraus und stellte es auf einen Teller warm. In die Pfanne kam ein Glas Rotwein, es war derselbe, der zum Essen serviert wurde, und der Bratenfond wurde gewürzt und abgeschmeckt. Zum Schluß schlug die Köchin ein paar Stücke eiskalte Butter darunter, die die Sauce auf diese Weise, ganz ohne Mehlzugabe, sämig und glänzend machte.

Als Beilage wurden Herzoginkartoffeln und gedünsteter Wirsing gereicht.

Die Esser am Tisch waren begeistert. Max strahlte über das ganze Gesicht, als er sich ein zweites Mal nahm, und auch die anderen aßen von diesem Gericht mehr, als sie es sonst taten.

Den Abschluß bildete ein Zitronensouffle. Das war eine heikle Angelegenheit, weil diese Köstlichkeit aus geriebener Zitronenschale, dem Saft, Zucker und Ei schnell in sich zusammenfiel, wenn es nicht gleich serviert wurde. Sophie Tappert hatte das Souffle erst in die Backröhre geschoben, als man mit dem Hauptgang zu Ende war. Es brauchte etwa zwanzig Minuten, bis es in der Form hochgestiegen und gar geworden war. Aber diese kleine Pause schuf wieder Platz in den Mägen und war nicht unwillkommen.

*

Wie an jedem Samstagabend herrschte auf dem Saal im Löwen ein großes Gedränge. An die dreihundert Leute hatten hier Platz, und so viele waren es auch, die sich heute wieder eingefunden hatten. Für die Bauern bedeutete dieses Vergnügen eine Abwechslung von der harten Arbeit, die sie die Woche über zu verrichten hatten, aber auch Urlauber, Gäste der Hotels, der Pensionen und umliegenden Privatunterkünften kamen gerne her, um bei einem Abend mit Gaudi und Musik einmal so richtig ausgelassen zu feiern.

Andrea Hofmann saß mit am Tisch der Honoratioren des Dorfes. Sie unterhielt sich mit Claudia, tanzte mit Pfarrer Trenker und dessen Bruder und war richtig guter Stimmung. Dennoch warf sie immer wieder einen sehnsuchtsvollen Blick durch den Saal, in der Hoffnung, Georg würde doch noch gekommen sein.

Aber sie konnte ihn nirgendwo entdecken. Statt dessen sah sie hin und wieder Franz Brandner, der mal hier, mal dort auftauchte. Der Knecht des Mäderhofs schien überall zu sein. Mal hockte er an einem der Tische und schwatzte mit den Leuten, die dort saßen, dann wiederum wirbelte er ein Madl übermütig über die Tanzfläche.

Natürlich hatte er Andrea längst entdeckt. Aber noch forderte er sie nicht zum Tanzen auf. Er wollte freilich nicht darauf verzichten, sie in seinen Armen zu halten. Immer noch stand das Bild in der Jagdhütte vor seinen Augen, und er begehrte sie mehr denn je. Doch gut Ding will Weile haben, sagte er sich und zögerte den Augenblick hinaus.

Am Nachmittag hatte er erfahren, wer sie war und was Andrea mit dem Bauern verband. Liesl hatte es ihm gesagt, als der Knecht, fast beiläufig, während des Kaffeetrinkens das Gespräch auf die junge Frau lenkte.

»Was ist eigentlich mit dem Bauern los?« fragte er, ohne gleich auf sein eigentliches Ziel loszusteuern. »Wieso ist er denn zur Jagd gefahren?«

Die Magd hatte mit den Schultern gezuckt.

»Ach, mein Gott«, erwiderte sie, »so ist er halt. Wenn ihm was auf den Magen schlägt, muß er einfach ein bissel für sich sein.«

»Hat’s was mit der Andrea zu tun?« wollte Franz wissen.

»Was weißt du denn von ihr?« fragte Liesl erstaunt.

»Na ja, ich hab’ sie kennengelernt«, erwiderte er und erzählte von der Begegnung im Unwetter. »Das mit dem Fremdenzimmer hab’ ich dir ohnehin net abgenommen. Als du’s dem Bauern gesagt hast, konnt’ man dir ansehen, daß es net stimmte.«

Sie sah ihn ärgerlich an.

»Misch dich net in Sachen, die dich nix angehen!« sagte sie hart.

»Ist ja schon gut«, wiegelte er ab. »Es interessiert mich halt, was es mit ihr auf sich hat. Ich denk’, da war mal was, zwischen der Andrea und dem Georg…«

»Wenn du’s sowieso schon ahnst, kannst’ gleich alles wissen«, erwiderte Liesl. »Ja, die beiden waren einmal ein Paar. Ist lang’ her, und ich weiß net genau, warum es auseinandergegangen ist. Aber nun ist die Andrea zurückgekommen, und was dann geschehen ist, weißt’ ja.«

Franz Brandner nickte. Er hatte genug erfahren. Eine alte Liebschaft also, wie er vermutet hatte. Aber offenbar legte der Bauer keinen Wert darauf, die Beziehung zu erneuern, und er, Franz, brauchte sich keine Gedanken darüber machen, daß er ihm ins Gehege kommen würde, wenn er sich um das fesche Madl bemühte.

Zum Ausgehen hatte er sich besonders gründlich rasiert, das Haar sorgfältig gekämmt und etwas mehr Rasierwasser als sonst auf die Haut gerieben. Mit seinem Trachtenanzug, dem weißen Leinenhemd, das er nicht ganz zuknöpfte, machte er einen draufgängerischen Eindruck.

Und ein Draufgänger war er, der Franz Brandner. Diese schmerzvolle Erfahrung hatte schon so manches Madl machen müssen. Wenn ihm eines gegen den Strich ging, dann war es die Anhänglichkeit einer Frau, nur bei einer würde er eine Ausnahme machen.

Indes war es ja auch nur eine Frage der Zeit, bis Andrea Hofmann wieder abreisen mußte…

Als er die Zeit für gekommen hielt, ging Franz an den Tisch, machte eine formvollendete Verbeugung und forderte sie auf.

»Ich dachte schon, du hättest keine Lust, mit mir zu tanzen«, sagte sie, als er ihren Arm nahm.

Die Kapelle spielte einen langsamen Walzer, und er drückte sie fest an sich.

Du ahnst ja gar net, wieviel Lust ich hab’, dachte er, hütete sich aber, es laut auszusprechen. Statt dessen lächelte er sie an.

»Das wär’ ja geradezu eine Sünd’, net mit dir tanzen zu wollen«, antwortete er. »Hast’ das Unwetter gestern gut überstanden?«

»Dank’ deiner Hilfe, ja«, erwiderte sie. »Ich war wirklich froh, daß du da plötzlich warst.«

Er grinste und zog sie noch enger an sich.

»Dann können wir ja jetzt ausgiebig deine Rettung feiern«, meinte er und bedachte sie mit einem Blick, der Bände sprach.

Andrea lächelte. Es war ihr von Anfang an klar gewesen, daß er mit ihr flirten wollte. Und welche Frau ist nicht stolz, wenn ein Mann ihr zeigt, wie sehr er sie mag. Aber da war ein gefährliches Glitzern in seinen Augen, das zur Vorsicht mahnte.

Doch was soll mir hier schon passieren? dachte sie.

Trotz der Tatsache, daß Georg sich in seiner Jagdhütte verkrochen hatte und es vermied, ihr zu begegnen, fühlte sie sich ausgesprochen wohl. Der Abend hatte so schön im Kreis der Familie des Geistlichen begonnen. Das herrliche Essen, der Wein und die Unterhaltung, all das hatte dazu beigetragen, ihre Stimmung zu heben. Andrea merkte, daß sie einen leichten Schwips hatte, und Franz der sie jetzt, zu den Klängen eines fetzigen Rock ’n’ Roll im Kreis herumwirbelte, merkte es auch.

Na, dann los, Madl, wollen wir die Sache mal angehen, sagte er zu sich selbst und zwinkerte seiner Tanzpartnerin zu.

*

Unter den Gästen war auch Franz Gruber. Er hatte lange überlegt, ob er hingehen sollte, nachdem Andreas Trenker ihm von dem Tanzabend erzählt hatte. Zuerst wollte er nicht, doch dann überlegte er es sich anders. Nachdem er wieder im Wirtshaus zu Abend gegessen hatte, ging er auf den Saal und sah dem Treiben vom Tresen aus zu. Zu Hause gab es ähnliche Feste. Nicht jeden Samstag, aber wenn die Feuerwehr feierte, oder Schützenfest war, dann ging es auch immer hoch her.

Franz dachte an Lina. Es war lange her, daß sie ausgegangen waren und getanzt hatten. Er nahm sich vor, bald wieder mal was mit ihr zu unternehmen, wenn er zurück war.

Doch noch war es nicht soweit. Erst einmal hatte er eine Aufgabe zu erfüllen, die er sich selbst auferlegt hatte.

Am Morgen war er wieder rastlos unterwegs gewesen, ohne den erhofften Erfolg zu haben. Vorher war er allerdings in die Stadt gefahren und hatte sich ein Auto besorgt. Das stand jetzt vor der Pension. Bis zum frühen Nachmittag war er damit unterwegs gewesen, bis er endlich aufgegeben hatte.

Neben ihm standen etliche andere Männer. Es gehörte einfach dazu, am Tresen, bei Bier und Obstler, zu plaudern – wobei sich manch einer auch davor drückte, mit seiner Frau zu tanzen…

Franz Gruber schaute umher, als ihn jemand ansprach. Es war einer der Bauern, die er vergeblich aufgesucht hatte. Er erkannte den Mann wieder, als der das Wort an ihn richtete.

»Haben S’ bei Ihrer Suche Erfolg gehabt?« fragte Wolfgang Brandner, der einen Hof in der Nähe von Waldeck bewirtschaftete.

»Leider nicht«, schüttelte Gruber den Kopf.

Der Bauer bestellte eine Runde Obstler und schob eines der Gläser Franz zu.

»Mir ist da noch was eingefallen«, sagte er, nachdem sie sich zugeprostet und getrunken hatten. »Mein Vater hat da mal eine Geschichte erzählt. Ist mir erst jetzt wieder in den Sinn gekommen. Unsre Familie ist nämlich weitläufig mit den Hirschlers vom Jägersteig verwandt. Ich weiß net, ob Sie da oben schon waren.«

Im ersten Moment war Franz’ Interesse erwacht, doch dann nickte er enttäuscht. Am Jägersteig stand der Hirschlerhof. Zwar hatte er nicht mit den Leuten dort gesprochen, aber auf einem Wegweiser stand der Name.

»Das kann nicht der richtige Hof sein«, antwortete er.

»Könnt’ schon«, widersprach der Bauer. »Die Sache ist nämlich so: Mein Vater war noch ein Bub, als die Geschichte sich zugetragen hat, und so genau konnt’ er sich auch net mehr daran erinnern. Es ist ja auch schon recht lang’ her, aber der Hirschlerhof gehörte früher entfernten Verwandten meines Großvaters, und die hießen Brandner.«

Es war, als durchzucke ihn ein Blitz. Mit einem Schlag schien es ihm ganz klar vor Augen zu stehen.

»Brandner, sagen Sie?« fragte Franz Gruber mit belegter Stimme. »Und wieso wurde er umbenannt?«

»Das ist so«, erklärte der Bauer, »es gab da eine Tochter. Maria hat sie geheißen, die hat den Hubert Hirschler geheiratet, und nach dem Tod seiner Schwiegereltern hat der dann dem Hof seinen Namen gegeben.«

Maria und Hubert – diese beiden Namen hatte sein Vater immer genannt. Allerdings nie die Nachnamen. Kein Wunder also, daß er, Franz, bislang keine Spur gefunden hatte.

»Und da sind Sie ganz sicher?« hakte er nach.

»Freilich!« Wolfgang Brandner nickte. »Die Maria ist vor ein paar Jahren gestorben, aber der Hubert lebt noch. Er hat den Hof seinem Sohn überschrieben und wohnt auf dem Altenteil. Fahren S’ mal hin und fragen nach. Vielleicht sind’s ja die Leute, die Sie suchen.«

Franz Gruber nickte. Ja, genau das würde er tun.

»Vielen Dank«, sagte er und lud den Bauern seinerseits zu einem Schnaps ein.

Hatte es sich also doch gelohnt, herzukommen! Endlich war der Mann gefunden, dem Franz’ Vater all sein Unglück zu verdanken hatte, und das Beste war, er lebte noch und würde seiner gerechten Strafe nicht entgehen!

Franz Gruber unterhielt sich noch eine ganze Weile mit Wolfgang Brandner und forschte den Bauern aus. Allerdings war diese Quelle nicht sehr ergiebig. Was sein Vater ihm seinerzeit erzählt hatte, war das Wenige, was er nun dem Fremden mitgeteilt hatte. Tobias Brandner, der Altbauer, war damals noch ein Knabe und konnte sich später nur noch bruchstückhaft erinnern. Immerhin war Franz dennoch zufrieden mit dem Verlauf des Abends, und als er bezahlte und den Saal verließ, stand schon fest, wohin ihn morgen sein Weg führen würde.

Vor dem Eingang standen einige Gäste, die sich an der frischen Luft vom Rauch und der Wärme auf dem Saal erholen wollten. Einige waren auch schon auf dem Heimweg. Darunter auch Pfarrer Trenker, der eben durch die Tür kam. Er sah Franz Gruber ein paar Schritte vor sich und eilte ihm hinterher.

»Na, haben S’ sich gut amüsiert?« sprach er den Mann an.

Der blickte ihn an und nickte.

»Eine schöne Veranstaltung«, erwiderte er. »Aber jetzt wird es Zeit für mich.«

Es drängte Franz wirklich in die Pension zurück. Noch war es nicht so spät, als daß er nicht noch zu Hause anrufen konnte, und er wollte Lina doch von seinem Glück erzählen.

»Sagen Sie, Herr Gruber, wonach suchen Sie eigentlich?« fragte der Bergpfarrer unvermittelt.

Er war erstaunt, wie gut sich Franz Gruber in der Gewalt hatte, denn in dessen Gesicht zeigte sich keinerlei Regung.

»Sie irren sich, Hochwürden«, entgegnete er gelassen. »Ich suche niemanden.«

»Bitte, Herr Gruber!« Sebastian schüttelte den Kopf, »Sie müssen mir nix vormachen. Überall im Ort und auf den umliegenden Höfen ziehen S’ Erkundigungen ein. Wenn Sie etwas Bestimmtes über jemanden wissen wollen, warum fragen S’ dann net mich? Glauben S’, ein andrer kann Ihnen mehr Auskunft geben, als ich?«

Franz Gruber antwortete nicht, sondern ging stur weiter. Erst nach ein paar Metern drehte er sich um. Seine Augen fixierten den Geistlichen.

»Wir leben in einem freien Land«, sagte er. »Und ich kann gehen, wohin ich will, und fragen, wen und was ich will, ohne dafür Rechenschaft ablegen zu müssen. Bitte, Herr Pfarrer Trenker, ich will nicht unhöflich sein, aber meine Angelegenheiten gehen Sie nichts an. Guten Abend.«

Er wollte weitergehen, doch die Stimme des Geistlichen hielt ihn zurück.

»Wenn Ihre Angelegenheiten eine Person aus meiner Pfarrgemeinde betreffen, und es für mich ausschaut, daß Sie dieser Person Schaden zufügen wollen, dann geht es mich sehr wohl etwas an, Herr Gruber«, sagte Sebastian. »Und ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um das zu verhindern. Glauben S’ mir das, Herr Gruber.«

Der drehte sich endgültig um und ging. Sebastian blieb noch einen Moment stehen und schaute hinterher.

Franz Gruber machte durchaus keinen unsympathischen Eindruck. Der Bergpfarrer hatte nicht das Gefühl, daß von diesem Mann wirklich eine Gefahr ausging. Aber gerade diese scheinbare Harmlosigkeit, die Franz Gruber umgab, war es, die Sebastian Sorge bereitete.

Er wurde einfach nicht aus ihm schlau!

*

Georg Mäder saß dumpfbrütend in seiner Jagdhütte. Sein Hund lag zu seinen Füßen und schlief, auf dem Tisch brannte eine Petroleumlampe und verbreitete ihr diffuses Licht in der Hütte.

Noch in der vergangenen Nacht war der Bauer losgezogen, hatte stundenlang auf dem Hochsitz gehockt, ohne wirklich ein Stück Wild erlegen zu wollen. Er saß nur da und dachte nach. Den Streit mit Liesl hatte er längst bereut. Und eigentlich war es auch gar keine richtige Auseinandersetzung gewesen. Sie hatte im Grunde ja recht, mit dem, was die Magd gesagt hatte. Er war stur, allerdings meinte Georg in diesem Fall auch das Recht dazu zu haben.

Andrea war seine große Liebe gewesen. Sie hatten glückliche Tage miteinander verbracht, auch wenn da immer die Gewißheit war, daß sie eines Tages abreisen würde. Doch dann gab es auch das Versprechen, wiederzukommen, und die Hoffnung auf ein gemeinsames Leben.

Die Enttäuschung über ihren Wortbruch saß tief, hatte all die Jahre nicht nachgelassen, und daß sie jetzt zurückgekehrt war, machte es nur noch schlimmer.

Nein, bestimmt nicht, Liesl hatte nicht recht, Andrea liebte ihn nicht mehr, seinetwegen war sie bestimmt nicht wieder da. Mochte der Teufel wissen, was sie dazu veranlaßt hatte, auf den Hof zu kommen.

Gegen Morgen war Georg in die Hütte zurückgekehrt, hatte ein wenig geschlafen und war später wieder durch den Wald gestreift. Diesmal ging es ihm nicht so schlecht wie in der Nacht, und er hätte auch geschossen, wenn ihm ein Wildschwein vor die Flinte gelaufen wäre. Doch es ließ sich keines blicken, und so kehrte er gegen Abend wieder zurück.

Im Dorf sind jetzt alle auf dem Tanzabend versammelt, dachte er, bestimmt geht es dort wieder hoch her.

Georg überlegte, ob er sein selbst gewähltes Asyl nicht verlassen und nach St. Johann fahren sollte. Auch wenn er nicht gerade dafür angezogen war. Aber schließlich wollte er keinen Walzer tanzen, sondern sich nur mal umschauen, vielleicht ein Bier trinken und dann zum Hof zurückfahren.

Als er wenig später in seinem Auto saß, da wußte er schon im Hinterkopf, daß es nicht der einzige Grund war, warum es ihn auf das Tanzvergnügen zog. Bestimmt würde auch Andrea dort sein, und er wollte sie wenigstens einmal sehen.

Wenn auch, ohne sie anzusprechen!

Jedenfalls nahm er sich das vor…

Der Bauer stellte seinen Wagen auf dem Parkplatz des Hotels ab und ermahnte den Hund, sich ruhig zu verhalten. Indes legte sich das Tier ohnehin brav schon wieder auf den Boden des Kofferraumes und machte die Augen zu.

Georg ging zum Saaleingang, grüßte hier und da jemanden, den er kannte, und trat ein. Wie er es sich gedacht hatte, herrschte Hochbetrieb. Er steuerte den Tresen an und bestellte ein kleines Bier.

Es war schon spät, aber immer noch hatten die Saaltöchter alle Hände voll zu tun, um die Wünsche der Gäste nach flüssiger und fester Nahrung zu erfüllen. Als das Bier dann vor ihm stand, nahm Georg einen tiefen Schluck und wischte sich den Schaum von den Lippen. Er lehnte mit dem Rücken an den Tresen und schaute sich um. Die meisten Gäste kannte er, anderen sah man an, daß es sich bei ihnen um Urlauber handelte. Vergebens glitt sein Blick über die Menge. Andrea konnte er nirgendwo entdecken.

War sie doch nicht hergekommen?

Einer der Umstehenden sprach ihn an.

»Sag’ mal, Georg, dein Knecht hat immer ein Glück«, meinte der Mann. »Das schönste Madl auf dem ganzen Saal hat er sich geschnappt. Wie macht der Bursche das bloß?«

Der junge Bauer grinste.

»Ja, das ist schon ein Hallodri, der Franz«, erwiderte er. »Vielleicht sollten wir ihn mal um Rat fragen. Bestimmt kann er uns ein paar Tips geben.«

Die beiden lachten, und Georg schlug die Einladung zu einem Obstler nicht aus.

»Wo steckt denn der Bursche?« fragte er, nachdem sie getrunken hatten.

»Vor ein paar Minuten stand er noch mit seiner Eroberung an der Sektbar.«

»Na, dann werd’ ich mal schauen, wen er heut’ wieder aufgerissen hat«, meinte Georg und schlug dem anderen auf die Schulter. »Mach’s gut.«

Er bahnte sich einen Weg durch die Menge der immer noch unermüdlich Tanzenden. Immer wieder wurde er aufgehalten und angesprochen. Schließlich war er auf der anderen Seite der Tanzfläche angekommen. Die Sektbar befand sich seitlich der Empore, auf der die Blasmusiker saßen. Georg nickte grüßend hinauf und bog um die Ecke.

Abrupt blieb er stehen. Keine zwei Meter vor ihm stand sein Knecht und hatte den Arm um eine Frau gelegt. Die drehte gerade den Kopf und sah ihn direkt an.

Das Lachen, das eben noch auf ihrem Gesicht lag, erstarb, statt dessen breitete sich ungläubiges Staunen darauf aus. Georg blieb auf dem Fleck stehen und schluckte.

Jetzt drehte sich auch Franz Brandner um und sah seinen Bauern. Auch er wußte nicht, ob er verlegen sein sollte.

»Grüß dich«, rief er schließlich herüber. »Bist’ doch noch hergekommen.«

Georg Mäder antwortete nicht. Sein Blick blieb unverwandt auf Andrea gerichtet, aus deren Gesicht alle Farbe gewichen war. Sie hatte, wie zum Geständnis, bei etwas Verbotenem ertappt worden zu sein, Franz’ Arm abgeschüttelt und wußte nicht, was sie sagen sollte.

Es war ein Schock Georg wiederzusehen. Nicht, weil er schrecklich aussehen würde, sondern weil sie einfach nicht damit gerechnet hatte. Endlich löste sich ihre Starre und sie machte einen Schritt auf ihn zu. Der junge Mann wich im selben Moment zurück.

»Georg, warte doch«, sagte sie.

Er blieb tatsächlich stehen und sah sie an.

»Was gibt’s?« fragte er mit rauher Stimme.

»Es… es ist net so, wie’s ausschaut«, stammelte Andrea.

»So? Wie schaut’s denn deiner Meinung nach aus?« erwiderte er.

Er schüttelte den Kopf.

»Aber du mußt dich net entschuldigen«, setzte er hinzu. »Es geht mich ja gar nix an.«

»Aber…«

Die Worte erstarben auf ihren Lippen. Georg Mäder hatte sich umgedreht und zwängte sich durch die Leute. Andrea wollte ihm nach, doch da spürte sie, wie Franz sie festhielt.

»Laß ihn«, sagte der Knecht. »Wir haben einen so schönen Abend miteinander verbracht, und er wird noch viel schöner, das versprech’ ich dir!«

Er wollte sie an sich ziehen und küssen. Andrea hob die Hand und gab ihm eine schallende Watschen. Ohne sich um sein verblüfftes Gesicht zu kümmern, suchte sie sich einen Weg durch die Menge. Als sie endlich draußen ankam, war von Georg nichts mehr zu sehen.

Die junge Frau blieb stehen und wischte sich die Tränen aus den Augen. Dann kehrte sie auf den Saal zurück, holte ihren Blazer und ging zur Pension.

»Was muß er nur von mir denken?« sagte sie leise, als sie in ihrem Bett lag und nicht einschlafen konnte.

Sie bereute die Watschen, die sie dem Knecht gegeben hatte. Franz konnte ja nichts dafür, aber sich selbst hätte sie ohrfeigen können.

*

Gleich nach der Sonntagsmesse nahm Sebastian seinen Bruder beiseite.

»Max, ich weiß, daß es eine Zumutung ist«, sagte er, »aber könntest du dich sofort an deinen Computer setzen und versuchen etwas über einen Josef Burger herauszufinden?«

»So sehr pressiert’s?«

Der Bergpfarrer nickte.

»Ich hab’ kein gutes Gefühl, wenn ich an den Mann denke. Er führt etwas im Schilde.«

»Also gut«, erwiderte Max, »ich mach’ mich gleich daran.«

»Dank’ dir«, sagte Sebastian.

Er stand wie immer an der Kirchentür und verabschiedete die Gläubigen. Als er Andrea Hofmann sah, fiel ihm gleich ihr bleiches, übernächtigtes Gesicht auf.

»Wart’ einen Moment«, bat er. »Wir können gleich reden.«

Sie nickte und setzte sich in eine Bank. Als der letzte Kirchgänger verabschiedet war, kam der Geistliche zu ihr.

»Ist gestern abend noch was geschehen?« fragte er.

Andrea erzählte, was passiert war. Sebastian schürzte die Lippen.

»Hm, dann wird der Georg ja jetzt auf dem Hof sein«, meinte er. »Am besten fahr’ ich gleich mal zu ihm.«

»Soll ich net mitkommen?« fragte sie.

»Besser net«, schüttelte der gute Hirte von St. Johann den Kopf. »Was der Georg gestern gesehen hat, muß auf ihn den Eindruck gemacht haben, als wenn du mit dem Franz Brandner zusammen wärest. Wenn er dich jetzt sieht, dann wird er wieder auf stur schalten. Ich red’ also erst mal allein’ mit ihm.«

»Fragen S’ ihn bitte, warum er net auf meinen Brief reagiert hat«, bat Andrea.

»Freilich werd’ ich das tun.« Sebastian nickte ihr beruhigend zu. »Ich komm’ nachher zur Ria hinüber.«

Er ging in die Sakristei, wo die beiden Meßbuben und Alois Kammeier, der Mesner, schon auf ihn warteten. Sebastian verabschiedete die Jungen und steckte jedem von ihnen ein Geldstück zu.

»Aber net schon vor dem Mittagessen vernaschen«, ermahnte er sie augenzwinkernd. »Sonst bekomm’ ich Ärger mit euren Müttern.«

Dann ließ er sich von dem Mesner aus der Soutane helfen und zog sein Jackett über. Im Pfarrhaus sagte er seiner Haushälterin Bescheid, daß das Mittagessen noch warten müsse. Aber Sophie Tappert erklärte, daß es, angesichts des üppigen Mahls gestern abend, ohnehin nur eine kalte Salatplatte gebe, und es also kein Problem wäre, mit dem Essen noch zu warten.

Sein nächster Weg führte Sebastian Trenker zum Polizeirevier. Max saß an seinem Schreibtisch und suchte in seinem Computer nach einem Eintrag über Josef Gruber. Seinem Gesicht nach zu urteilen, hatte er auch schon etwas gefunden. Der Beamte grinste, als sein Bruder eintrat.

»Das ist ja eine tolle Geschichte«, sagte er und drehte den Bildschirm so, daß Sebastian selbst lesen konnte.

»Er saß im Gefängnis«, staunte der Bergpfarrer. »Wegen des Diebstahls eines Medaillons hat er sechs Monate abgesessen.«

»Ich laß mir gleich morgen früh die alten Akten darüber kommen«, erklärte Max. »Die sind nämlich noch net im Computer gespeichert. Das kam erst viel später. Aber Josef Burger lebt net mehr. Er ist vor einigen Jahren verstorben. Der letzte Wohnort war Moorkate. Ich hab’ schon nachgeschaut, das ist ein kleines Dorf in der Nähe von Hannover. Irgendwo in der Heide.«

Sebastian nickte nachdenklich.

»Dann lag ich also gar net falsch mit meiner Vermutung«, sagte er. »Franz Burger muß sein Sohn sein und er ist wegen dieser alten Geschichte hergekommen. Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, was genau damals geschehen ist.«

»Da muß ich dich leider vertrösten, bis die Gerichtsakten hier sind«, meinte sein Bruder. »Aber ich werd’s eilig machen.«

Der Geistliche erhob sich.

»Vielen Dank erst mal, Max«, sagte er. »Ich bin schon gespannt, was wir finden werden.«

Er verabschiedete sich und ging zu der Garage, in der er sein Auto untergestellt hatte. Auf der Fahrt zum Mäderhof dachte er über das nach, was sein Bruder herausgefunden hatte.

Josef Burger war als Schmuckdieb überführt und vor Gericht gestellt worden. Nach Verbüßung seiner Strafe war er fortgegangen. Offenbar nach Norddeutschland. Sebastian verstand die Beweggründe, hier im Dorf hatte Burger sich nicht mehr sehen lassen können. Der Diebstahl lag über fünfzig Jahre zurück, und damals herrschten noch andere Sitten. Der Mann wäre hier seines Lebens nicht mehr froh geworden.

Aber warum tauchte jetzt, nach all der Zeit, dessen Sohn hier auf? Und an welchem Brandner wollte er Rache nehmen? Und warum? Was konnte der Grund dafür sein? Ein Justizirrtum? Hatte man Josef Burger zu Unrecht verurteilt, und wollte der Sohn jetzt den wahren Täter ausfindig machen und zur Rechenschaft ziehen?

Nach langem Nachdenken kam der Geistliche zu dem Schluß, daß seine Vermutung der Wahrheit recht nahe sein mußte.

Aber dennoch war es ein aberwitziger Gedanke. Franz Burger mußte doch damit rechnen, daß der Betreffende, ebenso wie sein Vater, nicht mehr lebte. Aus diesem Grund hatte er doch auf dem Friedhof die Inschriften der Grabsteine gelesen.

Und nichts gefunden!

Unwillkürlich trat Sebastian auf das Bremspedal und fuhr rechts ran.

Nein, dachte er, gefunden hatte er nichts, und das konnte nur heißen, daß der Mann, den er suchte, noch lebte, und wahrscheinlich stieß er früher oder später auf ihn.

Aber auf wen wollte er stoßen?

*

Der Mann, dem die Gedanken des Bergpfarrers galten, saß zur selben Zeit in seinem Leihwagen und fuhr die schmale Bergstraße zum Jägersteig hinauf. Franz Gruber hatte eine unruhige Nacht verbracht. Nachdem er mit seiner Frau telefoniert hatte, saß er noch lange am Fenster seines Pensionszimmers und starrte in die Dunkelheit draußen.

Wie viele Male hatte er es sich vorgestellt, wie es sein würde, wenn er vor dem Mann stand, dem sein Vater alles erlittene Unrecht zu verdanken hatte!

Und jetzt fragte er sich, ob er wirklich so reagieren würde, wie er es sich immer ausgemalt hatte.

Immer, wenn er sich die Situation vor Augen geführt hatte, dann war Franz Gruber nicht weit davon entfernt gewesen, zum Mörder zu werden.

»Totschlagen müßt’ man den Hund!« hatte sein Vater, von unbändigem Haß erfüllt, immer gesagt, wenn er wieder in dieser depressiven Phase war, unter der Franz und seine Mutter zu leiden hatten.

Aber der Sohn wußte auch, daß ein Mord keine Lösung war. Zum einen machte er sich strafbar und würde den Rest seines Lebens im Gefängnis verbringen, zum anderen war es auch keine richtige Strafe für diesen Mann. Aber trotzdem würde er auf irgendeine Weise büßen müssen.

Was er getan hatte, war längst verjährt, und kein Gericht der Welt würde ihn heute noch dafür verurteilen. Aber aus genau diesem Grund war Franz Gruber nach St. Johann gefahren. Er wollte der Richter sein, der eine Strafe verhängte, der sich dieser Mensch nicht entziehen konnte.

An dem Hinweisschild zum

Hirschlerhof hielt er den Wagen an und stieg aus. Jetzt, wo er wußte, wo er den Gesuchten finden würde, konnte er sich Zeit lassen. Erst einmal die Lage sondieren, herausfinden, wie viele Leute auf dem Hof wohnten, wie Hubert Hirschler aussah, und wie man an ihn herankommen konnte.

Langsam wanderte Franz Gruber die Straße hinauf, gab sich ganz, als wäre er ein harmloser Wanderer, der sich die Gegend anschaute. Aber er beobachtete ganz genau, prägte sich alles ein und ging mehrmals an der Hofeinfahrt vorbei.

Nach einer Weile kehrte er zum Auto zurück und setzte sich hinein. Bevor er aufgebrochen war, hatte er die Pensionswirtin um eine Brotzeit gebeten, die Marion Trenker ihm bereitwillig eingepackt hatte. Während er aß und trank, überlegte Franz sein weiteres Vorgehen. Noch hatte er keinen genauen Plan, aber der würde sich im Laufe der Zeit entwickeln.

Plötzlich sah er eine Gestalt die Straße herunterkommen und richtete sich in seinem Sitz auf. Es war ein Mann. Franz spürte, wie Erregung ihn ergriff, denn es handelte sich um einen alten Mann. Gebeugt kam er auf der Straße daher, langsam und ohne Hast.

Instinktiv wußte Franz Gruber, daß es der Gesuchte war. Dieser Greis konnte niemand anderer als Hubert Hirschler sein. Langsam öffnete er die Autotür und stieg aus. Er reckte die Glieder, als hätte er eine lange Fahrt hinter sich und blickte dem Bauern entgegen.

»Grüß Gott«, sagte Hubert, als er heran war. »Ein herrlicher Tag, net wahr? Wie geschaffen für eine Spritztour ins Grüne.«

»Da haben Sie wahrlich recht«, nickte Franz und betrachtete den alten Mann genauer.

All die Jahre hatte er kein genaues Bild gehabt. Sein Vater hatte nie über das Aussehen des Mannes gesprochen, aber seltsamerweise hatte er sich Hubert Hirschler genauso vorgestellt.

»Sind S’ auf Urlaub hier?« erkundigte sich der Bauer, ganz so, als wäre er auf einen Plausch aus.

»Ja«, nickte Franz.

Es war ihm wichtig, mit dem Mann erst mal in ein unverfängliches Gespräch zu kommen. Vielleicht ließ sich auf diese Weise mehr über ihn und seine Familie erfahren.

»Dann haben S’ sich das schönste Ziel ausgesucht«, fuhr der Bauer fort. »Wir Wachnertaler brauchen gar net in Urlaub zu fahren, wo wir’s hier so schön haben.«

»Da haben Sie sicher recht«, erwiderte Gruber. »Ich hätte nie gedacht, daß es hier so herrlich ist. Leben Sie schon lange hier?«

»Mein ganzes Leben. Drüben in Engelsbach bin ich geboren und hab’ später auf den Hof droben eingeheiratet. Aber das ist lang’ her. Inzwischen ist mein Sohn der Bauer, und ich freu’ mich über einen ruhigen Lebensabend im Kreis der Familie. Haben Sie Familie?«

»Oh ja, eine Frau und einen Sohn.«

»Übrigens, ich heiße Hirschler, Hubert Hirschler«, stellte sich der Altbauer vor. »Woher kommen S’, wenn ich fragen darf?«

»Hinzmann«, sagte Franz. »Sehr erfreut. Ich stamme aus Norddeutschland. Komme aus der Nähe von Hannover.«

»Aber Sie sind net allein unterwegs?«

»Nein, nein«, log der Norddeutsche, »ich bin mit meiner Frau da. Aber die ist in der Pension geblieben. Sie fühlt sich nicht ganz wohl. Ich bin ein wenig alleine herumgefahren, um die Gegend anzuschauen. Wissen Sie, ich interessiere mich für die Bauernhöfe hier. Sie sind so ganz anders, als bei uns im Norden.«

Mit den letzten beiden Sätzen verband Franz Gruber eine ganz bestimmte Absicht, und Hubert Hirschler biß prompt an.

»Möchten S’ sich unsren Hof mal anschauen, Herr Hinzmann?« fragte er. »Kommen S’ nur. Ich führ’ Sie überall herum, und nachher gibt’s Kaffee und Kuchen. Meine Enkelin, die Franzi, kann sehr gut backen, müssen Sie wissen. Also, haben S’ Lust?«

Franz Gruber frohlockte. Was er nicht zu hoffen gewagt hatte, war eingetreten.

Er hatte nicht nur Hubert Hirschler getroffen, der Mann lud ihn auch noch zu sich nach Hause ein!

*

Den ganzen Morgen hatte sich der Knecht nicht unter die Augen des Bauern getraut. Franz Brandner hielt sich die meiste Zeit in seiner Kammer auf und selbst das Mittagessen nahm er später zu sich und gab vor, geschlafen zu haben, als die Magd ihn fragte, warum er nicht pünktlich am Tisch gesessen hatte.

Indes hätte er sich gar nicht vor Georg Mäder fürchten müssen, denn der hatte sich selbst bisher kaum sehen lassen. Liesl war schon ein wenig überrascht gewesen, als sie am Morgen zum Melken in den Stall gegangen war und den alten Geländewagen auf dem Hof stehen sah. Daß Georg nach Hause gekommen war, hatte sie gar nicht gehört.

Beim Frühstück war er so kurz angebunden gewesen, daß sie drauf verzichtete, das Wort an ihn zu richten. Immerhin murmelte der Bauer beim Hinausgehen eine Entschuldigung für sein Verhalten am Freitag, und Liesl verzieh ihm großzügig.

Jetzt hockte Georg in seinem Arbeitszimmer und dachte über den vergangenen Abend nach. Wütend und enttäuscht war er nach Haue gefahren. Wütend über sich, weil er so dumm gewesen war, noch auf den Tanzabend zu gehen, und enttäuscht war er über das, was er dort gesehen hatte. Insgeheim war da doch der Wunsch gewesen, Andrea zu sehen und mit ihr zu sprechen. bestimmt hätte er sich besser gefühlt, wenn sie ihm ihren Wortbruch von damals erklären würde.

Doch als er sie dann mit seinem Knecht da stehen sah, da war wieder alles so wie vorher. Er wollte sie nicht sehen, kein Wort von ihr hören. Beinahe fluchtartig hatte er den Saal verlassen.

Der Bauer horchte auf, als er Stimmen in der Diele hörte.

Kam etwa Besuch?

Kurz darauf öffnete die Magd die Tür und schaute herein.

»Pfarrer Trenker möcht’ dich sprechen«, sagte Liesl und ließ den Geistlichen eintreten.

»Grüß dich, Georg«, nickte Sebastian ihm zu und reichte dem Bauern die Hand. »Wie geht’s dir?«

Der zuckte die Schultern.

»Einen schönen Gruß soll ich dir ausrichten«, fuhr der Geistliche fort. »Von der Andrea. Sie würd’ gern’ was von dir wissen!«

Georg Mäder schluckte. Er war rot angelaufen und ärgerte sich darüber.

»Warum kommt sie dann net zu mir?« fragte er mit belegter Stimme und störrischem Gesichtsausdruck.

Der Bergpfarrer setzte sich auf einen Stuhl.

»Na ja«, sagte er, »du mußt zugeben, daß eure kurze Begegnung gestern abend der Andrea net gerad’ Mut zu einem Besuch bei dir gemacht hat.«

Georg schluckte wieder.

»Und was will sie wissen?« fragte er.

»Ob der Brief, den sie dir damals geschrieben hat, auch angekommen ist«, erklärte Sebastian. »Du hast ihn nämlich nie beantwortet.«

»Was hätt’ ich denn da noch drauf antworten sollen?« fuhr der junge Bauer auf. »Was drinsteht, ist doch eindeutig!«

»Dann hast du ihn also gelesen?« forschte der Geistliche nach.

»Den einen ja, den andren net«, brummte Georg.

»Den andren? Dann gab es zwei Briefe von ihr? Merkwürdig, Andrea hat nur von einem gesprochen.«

»Ja, es waren zwei. Einer von ihrer Mutter, der andre von Andrea selbst.«

Sebastian wurde hellhörig.

»Von ihrer Mutter? Und das ist der, den du gelesen hast?« wollte er wissen.

Der Bauer nickte.

»Darf ich die Briefe mal sehen?« bat der Bergpfarrer.

Georg zuckte die Schultern und zog die Lade auf. Er nahm die zwei Umschläge heraus und reichte sie Sebastian. Der las den Brief, der bereits geöffnet war. Ja, was darin stand, war wirklich eindeutig. Er riß den zweiten auf, ohne auf Georgs Blick zu achten. Nachdem er ihn auch gelesen hatte, ließ er den Brief sinken und sah den Bauern kopfschüttelnd an.

»Die Liesl hat recht«, sagte er. »Du bist ein sturer Esel und ein Dummkopf obendrein. Warum um alles in der Welt hast’ denn den Brief von der Andrea net gelesen? Dann würd’ heut’ alles anders sein!«

*

Die junge Frau ging langsam den Berghang hinauf und setzte sich auf eine Aussichtsbank. Eigentlich hatte sie in der Pension auf Pfarrer Trenker warten wollen, aber dann hielt Andrea es nicht mehr aus. Ihr Zimmer schien immer kleiner zu werden, die Wände schienen zusammenzurücken und sie erdrücken zu wollen.

»Ich mach’ nur einen kleinen Spaziergang«, sagte sie zu Ria Stubler, die sie besorgt ansah. »Net weit, nur grad zum Dorf hinaus.«

Es waren wirklich kaum mehr als einige hundert Meter. Auf keinen Fall wollte sie die Ankunft des Geistlichen verpassen, und von ihrem Sitz aus konnte sie bis zur Straße blicken.

Andrea wünschte sich sehr, daß Pfarrer Trenker Erfolg haben möge. So uneinsichtig konnte Georg doch gar nicht sein, daß er sich nicht wenigstens darauf einließ, sich mit ihr auszusprechen.

Wieder sah sie sein Gesicht vor sich, als er sie gestern abend angestarrt hatte. Sie ärgerte sich immer noch, da sie sich überhaupt so lange mit Franz Brandner abgegeben hatte. Aber im Grunde war ja nichts wirklich Schlimmes geschehen.

Trotzdem war es ihr unangenehm und viel lieber wäre es ihr gewesen, sie könnte die Situation rückgängig machen.

Während Andrea ihren Gedanken nachhing, schaute sie immer wieder zur Straße zurück. Als sie ein Auto dort fahren und vor der Pension halten sah, sprang sie auf.

Doch die Sekretärin lief nicht sofort los, denn außer Pfarrer Trenker sah sie einen zweiten Mann aussteigen. Es war Georg. Die beiden Männer gingen zur Tür, und von da an verschwanden sie aus ihrem Blickfeld.

Aber nicht für lange, denn kurz darauf waren sie wieder zu sehen. Sie kamen die Straße herauf, und Andrea fühlte, wie ihr das Herz bis zum Halse pochte.

Langsam sank sie wieder auf die Bank zurück und schaute ihnen entgegen. Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bis sie näher kamen. Der Geistliche hob die Hand und winkte ihr zu. Ihr Mund wurde trocken, und die Hände und Knie zitterten.

Dann standen sie vor ihr.

»Hallo, Andrea«, sagte Sebastian Trenker, »da bist du ja.«

Georg sah sie schweigend an. Er machte einen betretenen Eindruck.

»Ich hab’ ihn gleich mitgebracht«, fuhr der Bergpfarrer fort. »Und das hier.«

Er reichte ihr zwei Briefumschläge. Andrea nahm sie mit einem fragenden Blick und schaute darauf.

»Der eine ist von dir«, bemerkte Sebastian. »Aber du solltest den andren lesen.«

Sie nahm den Brief heraus, ohne auf den Absender zu blicken, und riß erstaunt die Augen auf, als sie die Handschrift erkannte.

»Meine Mutter hat dir geschrieben?« sagte sie mit tonloser Stimme zu Georg.

Der nickte nur stumm.

»Lies den Brief«, forderte der gute Hirte von St. Johann sie auf. Ich bin sicher, dann wirst’ den Georg ein bissel verstehen.

Sehr geehrter Herr Mäder, las Andrea. Ich schreibe Ihnen, um Ihnen mitzuteilen, daß meine Tochter nicht zu Ihnen zurückkehren wird. Es sind Umstände eingetreten, die Andreas Pläne unmöglich machen. Bitte haben Sie Verständnis und schreiben Sie ihr nicht mehr, oder rufen Sie an. Vielleicht sind Sie eher dazu bereit, keinen weiteren Kontakt mehr zu wünschen, wenn ich Ihnen verrate, daß es einen anderen Mann im Leben meiner Tochter gibt. Es mag für Sie schmerzlich sein, dies zu erfahren, aber es ist immer noch besser, als vergeblich auf ein Lebenszeichen von Andrea zu hoffen.

Mit freundlichen Grüßen,

Hannelore Hofmann.

Andrea war leichenblaß geworden. Ihr Herz hämmerte wild in der Brust.

»Das darf doch net wahr sein!« flüsterte sie. »Was hat Mutter denn da nur angerichtet!«

Sebastian hatte sich neben sie gesetzt, während Georg immer noch stand.

»Deine Mutter hatte wohl Furcht, dich für immer zu verlieren«, sagte der Geistliche. »Sie brauchte dich und griff zu dieser Lüge, um zu verhindern, daß du hierher zurückkehrst.«

»Aber ich hätt’ sie doch niemals mit ihrer Krankheit allein’ gelassen!« rief Andrea schluchzend. »Darum hab’ ich dir doch geschrieben, Georg, damit du Geduld hast und weißt, daß ich net fort konnte.«

»Ich weiß«, sagte der junge Bauer, mit rauher Stimme. »Jetzt weiß ich es, weil Hochwürden mich mit der Nase drauf gestoßen hat. Als ich den Brief von deiner Mutter erhalten hatte, war ich so enttäuscht und wütend, daß ich deinen, der wenig später kam, gar net erst geöffnet hab’.«

Er blickte sie beschämt an.

»Es tut mir fürchterlich leid, Andrea, das mußt du mir glauben«, versicherte er. »Wenn ich’s rückgängig machen könnt’ – ich würd’ meinen rechten Arm dafür hergeben!«

»Behalt’ ihn lieber«, ließ Sebastian sich vernehmen. »Du wirst nämlich beide Arme brauchen, wenn du eine Frau ernähren willst. Gar net zu sprechen von den Kindern, die ihr haben werdet!«

Georg sah Andrea unsicher an.

»Willst du mich denn noch?« fragte er zaghaft. »Kannst du mir überhaupt verzeihen?«

Andrea stand auf und nahm seine Hand.

»Was soll ich dir denn verzeihen, Liebster?« erwiderte sie. »Du kannst doch net für das, was meine Mutter gemacht hat. Sie ist es, die um Verzeihung bitten müßt’, wenn sie noch lebte.«

»Dann trägst du mir nix nach?«

»Nein«, schüttelte sie den Kopf und lächelte. »Aber deine Sturheit wirst’ ablegen müssen. Ich will nämlich keinen Esel zum Mann, sondern den Georg, den ich kennen- und liebengelernt hab’.«

»Ja, das versprech ich dir«, sagte der Bauer, zog sie an sich und gab ihr den ersten Kuß nach drei langen Jahren.

Sebastian sah ihnen lächelnd zu. Aber er dachte in diesem Moment auch an Franz Gruber und fragte sich, was dieser Mann wirklich in St. Johann wollte.

Vielleicht, hoffte er, würde er es bald erfahren…

Der Bergpfarrer Paket 4 – Heimatroman

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