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Verratene Liebe Wem kann Maria noch vertrauen? Roman von Waidacher, Toni

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Am Montagmorgen war mal wieder auf der Münchener Stadtautobahn kaum ein Durchkommen. Im Berufsverkehr drängten sich die Fahrzeuge dicht an dicht, jeder schien es eilig zu haben, zur Arbeit zu kommen, wobei mancher sich am geruhsamen Wochenende wahrscheinlich vorgenommen hatte, den neuen Arbeitstag geruhsamer angehen zu lassen. Aber die Pflicht rief, Termine drängten und Dienstbesprechungen warteten auf ihren Beginn.

Zu den vielen schon wieder gestreßten Berufspendlern gehörte auch Maria Berger, die in ihrem Auto saß und ungeduldig darauf wartete, daß es vorwärts ging. Die junge attraktive Frau, mit den dunklen, schulterlangen Haaren, trommelte nervös mit den Fingern auf das Lenkrad. Allerdings hatte ihre Nervosität einen anderen Grund als den Stau. Sie wollte ins Büro kommen, weil sie hoffte, dort Thorsten sprechen zu können, bevor die Konferenz begann. Er war ihr mehr als eine Erklärung dafür schuldig, daß er sie am Freitagabend versetzt und sich seither nicht mehr gemeldet hatte. Zu Hause bei ihm lief der Anrufbeantworter, auf dem Handy war die Mailbox eingeschaltet, und als Maria am Samstagnachmittag zu ihm gefahren war, fand sie das Haus verschlossen vor und von ihm keine Spur.

Maria hatte absolut keine Erklärung für sein Verhalten. Seit sie vor einem halben Jahr ein Paar geworden waren, hatte es nie die derartige Situation gegeben. Thorsten Gebhard war eine Verläßlichkeit in Person, ansonsten hätte er es auch bestimmt nicht bis zum stellvertretenden Finanzdirektor der »Hillmann AG« gebracht.

Das Handy der jungen Frau klingelte. Über die Freisprecheinrichtung nahm Maria den Anruf entgegen. Allerdings war es nicht wie erhofft Thorsten, der sie sprechen wollte, sondern Kirsten Hofer, die Kollegin, die das Büro mit ihr teilte.

»Wo bleibst du?« fragte Kirsten aufgeregt. »Die warten hier schon auf dich!«

»Wer wartet?« erwiderte Maria. »Ich stehe noch im Stau, aber langsam geht es weiter. Was ist denn los?«

»Hier herrscht ziemlich dicke Luft«, antwortete die Kollegin. »Mehr kann ich nicht sagen, jeden Moment kann einer von der Polizei hereinkommen.«

»Polizei? Wieso Polizei?«

»Die stellen hier alles auf den Kopf. Also…«

»Zehn Minuten, dann bin ich da.«

Maria beendete die Verbindung.

Mein Gott, dachte sie, was will die Polizei denn in der Firma?

Die »Hillmann AG« war eine der größten Firma für innovative Computerchips. Ihre Produkte fanden sich in nahezu jedem PC auf dem gesamten Erdball. Von drei jungen Leuten vor zehn Jahren gegründet, war der Konzern schon drei Jahre später an die Börse gegangen und zählte seither zu den größten deutschen Unternehmen. Der Aktienkurs stieg ständig, und die Anleger waren mit den ausgezahlten Dividenden mehr als zufrieden.

Was um alles in der Welt war passiert?

Plötzlich spürte Maria Beklommenheit. Daß Thorsten nicht wie verabredet am Freitag zu ihr gekommen war und sich auch an den folgenden Tagen nicht gemeldet hatte, war ihr schon ein Rätsel gewesen. Jetzt bekam sein Verschwinden eine neue Dimension.

War er etwa entführt worden, um die Firma zu erpressen? Verlangte man ein Lösegeld für ihn?

Es wäre nicht das erste Mal, daß ein leitender Angestellter eines gutgehenden Konzerns das Opfer einer Entführung geworden wäre. Erfolg forderte Neider heraus, die sich ein Stück von dem Kuchen abschneiden wollten, sei es auch auf kriminelle Art und Weise.

Knapp zehn Minuten später fuhr Maria Berger in die Tiefgarage und parkte ihr Auto auf dem Stellplatz neben Thorsten.

Doch dessen Auto stand nicht wie gewohnt dort!

Panik ergriff sie. Ihr Verdacht schien sich zu bestätigen. Maria ging durch die eiserne Tür ins Treppenhaus. Auf den Lift wollte sie nicht erst warten. Mit klopfendem Herzen betrat sie die Empfangshalle und eilte zur Rezeption, um sich beim Pförtner anzumelden. Sie war viel zu sehr mit ihren Gedanken beschäftigt, um den Blick wirklich zu bemerken, mit dem der Mann sie ansah. Nur in ihrem Unterbewußtsein registrierte sie diese Mischung aus Neugier und Abschätzung.

Um diese Zeit war es ein Kommen und Gehen in der Halle, und wie immer waren die drei Aufzüge besetzt. Maria rannte die Treppe hinauf, dankbar dafür, daß das Büro, in dem sie ihren Arbeitsplatz hatte, nicht im zehnten Stock eines Hochhauses lag. Sie mußte nur drei Etagen hinauf, um dorthin zu gelangen.

Auf dem Flur herrschte ein einziges Chaos. Die Angestellten standen dort und unterhielten sich aufgeregt, ein paar Männer, die Maria noch nie in ihrem Leben gesehen hatte, waren in den Büros mit etwas beschäftigt, das ihr seltsam vorkam.

Sie räumten Schreibtische und Aktenschränke aus, Ordner lagen herum, teilweise auf dem Boden, und am Ende des Flures, wo die Direktoren des Unternehmens ihre Räume hatten, stand die Tür weit auf.

Maria nickte grüßend zu allen Seiten und zwängte sich bis zu ihrem Büro vor. Kirsten stand völlig aufgelöst vor der Tür und starrte die Kollegin aus weit aufgerissenen Augen an.

»Gott sei Dank, daß du da bist!« sagte sie.

»Thorsten ist verschwunden«, rief Maria aufgeregt. »Er hat sich seit Freitag nicht mehr gemeldet. Ich befürchte das Schlimmste!«

»Das tun wir auch«, vernahm sie eine Stimme.

Ein Mann trat aus dem Büro und sah sie prüfend an.

»Sie sind Maria Berger?« fragte er.

Sie nickte.

»Schön, daß Sie da sind. Wir müssen uns dringend unterhalten.«

»Ja, Herr Gebhard… er ist verschwunden, nicht wahr?«

Wieder dieser prüfende Blick.

»Ja, das befürchten wir«, nickte der Mann, der sich ihr bisher nicht vorgestellt hatte. »Und wir würden gerne von Ihnen wissen, wohin er sich abgesetzt hat.«

*

Maria sah den Mann verständnislos an.

»Von mir?« fragte sie. »Aber wieso? Ich meine, er ist doch entführt worden!«

»Kommen Sie, am besten gehen wir in das Büro von Dr. Eberhard. Da sind wir ungestört«, sagte der Mann und ging voran, ohne darauf zu achten, ob sie ihm tatsächlich folgte – er setzte es einfach voraus.

Im Büro des Aufsichtsratsvorsitzenden des Konzerns stellte er sich als Kriminalhauptkommissar Wolfgang Hellwig vor. Er bat sie, in einem Sessel Platz zu nehmen und setzte sich ihr gegenüber. Außer ihnen war niemand sonst anwesend.

»Frau Berger, ich will es kurz machen«, begann er. »Ehrlich gesagt wundert es mich ein wenig, Sie heute hier zu sehen…«

»Wieso? Ich verstehe nicht…«

Seine Miene verdunkelte sich, die Stimme wurde ernster.

»Ich will es Ihnen erklären«, fuhr der Beamte fort. »Gegen Dr. Thorsten Gebhard besteht der Verdacht, die ›Hillmann AG‹ um den Betrag von dreißig Millionen Euro betrogen zu haben. In der vorigen Woche wurde bekannt, daß eine Finanzprüfung vorgenommen werden sollte. Da hat der Herr offenbar gespürt, daß die Revision ihm gilt, und das Weite gesucht.«

Es war, als hätte man ihr den Boden unter den Füßen weggezogen. Würde Maria nicht schon gesessen haben, wäre sie umgefallen. Aber es sollte noch schlimmer kommen!

»Wie allgemein bekannt ist, stehen Sie in einem intimen Verhältnis zu Dr. Gebhard«, setzte Wolfgang Hellwig hinzu. »Da liegt der Verdacht nahe, daß Sie in den Millionenbetrug verstrickt sind. Wir gehen zu diesem Zeitpunkt davon aus, daß Sie, Frau Berger, die Komplizin des Diebes sind!«

Maria preßte entsetzt die Hände vor den Mund.

»Was… was sagen Sie da?« stieß sie hervor, sichtlich erschüttert. »Das können Sie doch unmöglich glauben!«

Unbeeindruckt sah der Beamte sie mit kühlem Blick an.

»Glauben tue ich gar nix«, erwiderte er schroff. »Für mich zählen Fakten und sonst nix. Sie erwähnten vorhin, Dr. Gebhard sei entführt worden. Ist das die Geschichte, die Sie beide sich ausgedacht haben? Sollen Sie uns das Märchen von einer Entführung auftischen, während Ihr Geliebter sich ungehindert mit dem Geld aus dem Staub macht?«

»Wie können Sie so was sagen?« schrie Maria auf. »Ich habe nichts damit zu tun! So glauben Sie mir doch!«

Wolfgang Hellwigs Miene war undurchdringlich.

»Wir werden sehen«, sagte er knapp.

Es klopfte an der Tür, und ein junger Mann kam herein.

»Chef«, sagte er, »wir haben eine erste Spur. So, wie es aussieht, ist unser Mann am Freitagabend vom Flughafen Frankfurt aus nach Südafrika geflogen. Ich habe mich schon mit den Kollegen in Johannesburg in Verbindung gesetzt. Aber das kann dauern.«

»Ist gut, Jochen«, nickte Wolfgang Hellwig.

Er wandte sich wieder Maria zu.

»Südafrika«, sagte er nachdenklich. »Waren Sie schon einmal dort?«

Die junge Frau nickte beklommen.

Vor zwei Monaten waren sie und Thorsten dorthin geflogen und hatten drei herrliche Wochen am Kap der guten Hoffnung verbracht.

»Dann kennt sich Thorsten Gebhard also dort aus«, stellte Winkler fest. »Da liegt es natürlich nahe, daß er versucht, sich nach Afrika abzusetzen. Wahrscheinlich weiß er auch, daß viele Staaten da unten kein Auslieferungsabkommen mit uns haben.«

Er zog schwer die Luft ein.

»Das wird ein hartes Stück Arbeit!«

Maria war immer noch wie betäubt, in ihrem Kopf schwirrten die Gedanken durcheinander. Thorsten war ein Dieb, der Millionen unterschlagen hatte, ein gesuchter Verbrecher auf der Flucht vor der Polizei.

»Was geschieht jetzt?« fragte sie den Beamten. »Kann ich gehen?«

Wolfgang Hellwig sah sie beinahe belustigt an.

»Gehen?« antwortete er. »Sie?«

Er schüttelte den Kopf.

»Auf gar keinen Fall. Sie sind vorläufig festgenommen, Frau Berger, wegen des Verdachts der Mittäterschaft in einem Fall von schweren Raubes.«

Er gab seinem Kollegen, der immer noch an der Tür stand, ein Zeichen.

»Bring’ sie ins Präsidium und besorge einen Durchsuchungsbeschluß für ihre Wohnung.«

»Geht klar, Chef«, nickte Jochen Brandner und sah Maria auffordernd an.

*

»Also, noch mal von vorne«, sagte Wolfgang Hellwig unbarmherzig. »Sie heißen?«

Maria tat alles weh. Seit sieben Stunden oder noch länger saß sie nun schon in dem kahlen Raum, in dem nur ein Tisch und ein paar Stühle standen. Eine grelle Lampe leuchtete ihr ins Gesicht, und das Aufnahmegerät war wieder eingeschaltet.

»Wie oft denn noch?« fragte sie und fuhr sich müde über das Gesicht.

»So oft, bis wir die Wahrheit erfahren haben«, lautete die Antwort.

Mit zitternden Fingern griff Maria nach dem Wasserglas, das Wolfgang Hellwig vor sie hingestellt hatte, und trank. Dann begann sie wieder zu erzählen.

Acht Jahre war es jetzt her, daß sie aus einem kleinen Dorf in den Alpen nach München gekommen war. Sie hatte keine Verwandten mehr und wollte einfach nur fort aus der Enge der Heimat. In der bayerischen Landeshauptstadt suchte sie sich Arbeit, besuchte nebenher die Abendschule und studierte. Vor einem Jahr fand sie die gutbezahlte Stelle in der »Hillmann AG«. Dort lernte sie denn auch Thorsten Gebhard kennen, Sunnyboy und Gentlemen gleichermaßen. Er war erfolgreich und hatte innerhalb der Firma mühelos die Karriereleiter erklommen. Sein Posten brachte ihm ein Spitzengehalt ein, und sein Lebensstil war dementsprechend aufwendig. Die Frauen lagen ihm zu Füßen, und Thorsten war beileibe kein Kostverächter. Als sein Blick auf die neue Sekretärin im Vorzimmer von Dr. Eberhard fiel, setzte er alles daran, Maria Berger zu erobern.

Doch die war vorgewarnt worden, sein Ruf als Casanova eilte dem smarten Finanzdirektor voraus. Zwar konnte auch sie nicht dem Charme des gutaussehenden Mannes widerstehen, dennoch dauerte es fast ein halbes Jahr, bis sie seine Einladung annahm.

Der ersten Verabredung folgten weitere, und Thorsten gab sich alle Mühe, Maria zu zeigen, daß er sich geändert habe.

»Du bist die größte Liebe meines Lebens«, sagte er zu ihr. »Es gibt keine andere Frau, die sich mit dir vergleichen kann.«

Nur zu gerne glaubte sie ihm, denn Maria liebte ihn ja auch.

»Wir wollten zusammenziehen«, erzählte sie. »Thorsten hat mich gebeten, seine Frau zu werden.«

Wolfgang Hellwig runzelte die Stirn.

»Davon haben Sie in Ihrer vorherigen Aussage aber nichts gesagt«, stellte er fest.

Die junge Frau fuhr sich über das Gesicht.

»Mein Gott noch mal«, entfuhr es ihr, »wahrscheinlich habe ich es in der Aufregung vergessen. Das kann doch mal vorkommen.«

Der Beamte erwiderte nichts darauf.

»Also gut«, sagte er nach einer Weile, »kommen wir jetzt zum Freitag. Sie und Dr. Gebhard waren verabredet. Schildern Sie bitte noch mal den Tag.«

Maria seufzte tief.

Es war ein ganz normaler Freitag gewesen. Im Büro gab es nicht viel zu tun, das Übliche halt, und man freute sich schon auf das Wochenende. Kirsten und sie hatten gegen fünfzehn Uhr Feierabend gemacht und sich in der Tiefgarage verabschiedet. Dann war Maria nach Hause gefahren. Unterwegs hielt sie an einem Supermarkt und kaufte ein. Sie wollte am Abend Pasta kochen und brauchte dafür noch ein paar Sachen. Außerdem Rotwein, Käse und Baguette. Thorsten wollte gegen sechs bei ihr sein. Er selber hatte sich schon gegen Mittag aus der Firma verabschiedet, um, wie er sagte, eine dringende Angelegenheit zu erledigen.

»Worum es sich bei dieser Angelegenheit handelt, hat er nicht gesagt?« hakte Wolfgang Hellwig nach.

Maria schüttelte den Kopf.

Als Thorsten um kurz vor sieben noch immer nicht da war, versuchte sie, ihn auf dem Handy zu erreichen, bekam aber nur die automatische Ansage der Mailbox zu hören. Vielleicht war er immer noch beschäftigt und wollte nicht gestört werden. Sie hatte dem zunächst keine große Bedeutung beigemessen. Doch je mehr die Zeit verrann, um so unruhiger wurde Maria Berger. Immer wieder wählte sie die Nummern seines Privatanschlusses und des Mobiltelefons. Sie hinterließ Nachrichten für ihn und hoffte, daß er sich endlich melden würde.

Das Essen war längst verkocht, das Baguette trocken geworden. Maria wachte in der Nacht auf und stellte fest, daß sie auf dem Sofa eingeschlafen war. Wieder versuchte sie, Thorsten zu erreichen, wieder ohne Erfolg. Am frühen Morgen fuhr sie zu seinem Haus. Dort waren die Rolläden heruntergelassen, die Tür verschlossen. Das Garagentor war zwar auch abgesperrt, aber sie konnte durch das kleine Fenster sehen, daß sein Auto nicht da war. Sie kehrte unverrichteterdinge nach Hause zurück und wartete den ganzen Samstag und Sonntag.

Thorsten Gebhard kam nicht, er rief auch nicht an oder gab sonst ein Lebenszeichen von sich. Heute morgen war sie dann nervös ins Büro gefahren. Ja, natürlich hatten sich Gedanken eingeschlichen, er könne bei einer anderen Frau sein, und deshalb hoffte Maria, ihn noch vor Beginn der Konferenz sprechen zu können.

Wolfgang Hellwig sah sie lange und schweigend an. Sie merkte, daß sie immer unsicherer unter seinem Blick wurde.

»Und das soll ich Ihnen abnehmen, ja?« fragte er schließlich. »Soll ich Ihnen mal sagen, wie ich das sehe? Sie und der saubere Herr Doktor haben die Sache gemeinsam durchgezogen. Dreißig Millionen Euro verschwinden nicht so mit einem Mal, nein, nein, das Ganze ist von langer Hand vorbereitet gewesen. Vermutlich haben Sie sich die Chose während Ihres gemeinsamen Urlaubs in Südafrika ausgedacht. Herrlich, net wahr, dort unter Palmen zu leben, jeden Tag Sonnenschein, Partys und Geldausgeben. Aber dazu müßte man erst mal Geld haben, nicht wahr? War es Ihre Idee, Frau Berger, oder ist Ihr Geliebter darauf gekommen, daß man die ›Hillmann AG‹ ein bissel erleichtern könne. Kein Problem für ihn, als stellvertretender Finanzdirektor hatte Dr. Gebhard ja die Möglichkeit, größere Überweisungen zu tätigen. Das hat er dann ja auch gemacht, und zwar kurz nachdem Sie beide aus Südafrika zurückgekehrt waren. Wir wissen sogar, wohin das Geld gegangen ist. Zuerst nach England, von dort aus auf die Bahamas und weiter nach Südostasien. Leider verliert sich dort die Spur, aber ich bin mir sicher, daß Sie uns da weiterhelfen können, Frau Berger.«

Maria schüttelte den Kopf.

»Sie irren sich«, sagte sie schwach. »Ich weiß doch gar nichts davon. Ich habe mit der ganzen Sache nichts zu tun!«

Die Tür des Vernehmungsraumes öffnete sich, und Jochen Brandner trat ein.

»Soll ich Sie ablösen, Chef?« fragte er.

Wolfgang Hellwig schüttelte den Kopf.

»Ich bin ohnehin fertig.«

Er sah Maria an.

»Sie können gehen«, sagte er zu ihr. »Aber halten Sie sich zu unserer Verfügung.«

Mit zitternden Knien stand sie auf und wankte aus dem Raum. Jochen Brandner sah seinen Vorgesetzten erstaunt an.

»Sie lassen sie gehen?«

Der Kriminalhauptkommissar biß sich auf die Unterlippe.

»Entweder sagt sie die Wahrheit und hat tatsächlich mit der ganzen Sache nichts zu tun, oder sie ist so raffiniert, daß sie uns hier das Unschuldslamm nur vorspielt«, erwiderte er nachdenklich. »Jedenfalls werden wir sie net aus den Augen lassen. Observation rund um die Uhr. Vielleicht meldet sich Thorsten Gebhard über kurz oder lang bei ihr…«

*

»Und er hat sich net wieder gemeldet?«

Maria Erbling sah Sebastian Trenker traurig an.

»Ich versteh’ das gar net«, sagte die Witwe. »Dabei hat er doch so einen zuverlässigen Eindruck gemacht.«

»Ich verstehe es auch nicht«, entgegnete der Bergpfarrer. »Aber ich denke, daß es etwas mit Ihnen zu tun hat, Frau Erbling. Sagen Sie, hat es irgendwelche Differenzen zwischen Ihnen und Karl gegeben?«

Der Mann, von dem die beiden sprachen, war Karl Moislinger, ein Obdachloser den der gute Hirte von St. Johann im Pfarrhaus aufgenommen hatte, nachdem Karl vom Heuboden eines Bauern gefallen war, bei dem er als Erntehelfer gearbeitet hatte. Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus bedurfte er noch Hilfe und Pflege. Während Sophie Tappert für das leibliche Wohl sorgte, kümmerte sich Dr. Wiesinger um die Genesung des Patienten.

Karl gefiel es im Pfarrhaus, auch wenn er immer wieder den Drang nach Freiheit verspürte, der ihn schon seit vielen Jahren auf die Straße zog. Aber er wußte, daß es noch viel zu früh war, die Wanderschaft wieder aufzunehmen. Um so mehr verwunderte es Sebastian, daß der Moislinger-Karl an einem Samstag mittag verschwand und nichts wieder von sich hören ließ.

Kurz zuvor hatte Maria Erbling, Witwe des letzten Poststellenhalters von St. Johann und gefürchtete Klatschtante des Dorfes, im Pfarrhaus angerufen und wollte den Obdachlosen sprechen. Was bei diesem Telefonat geredet wurde, entzog sich Sebastians Kenntnis. Aus diesem Grund war er heute bei Maria zu Besuch, um etwas darüber zu erfahren.

»Sie haben doch öfter mit ihm gesprochen«, sagte der Geistliche. »Und am Tag seines Verschwindens haben S’ mit ihm telefoniert. Verstehen Sie, Frau Erbling, ich mach’ mir schon ein bissel Sorgen um den Karl und möchte herausfinden, was geschehen ist, das ihn zu diesem Schritt veranlaßt hat.«

Die Witwe druckste herum, als sei es ihr peinlich, darüber zu sprechen.

»Sie mochten ihn, den Karl, net wahr?« hakte der Bergpfarrer nach.

Maria zuckte die Schultern und nickte gleichzeitig.

»Schon«, gab sie zu. »Er war ja auch so hilfsbereit, als ich ihn gebeten hab’, hier im Haus mal nach dem Rechten zu schauen. Es gab da ein paar kleinere Arbeiten, und ich hab’ gedacht, ich mach’ ihm eine Freud’ damit, wenn ich ihn frag’.«

»Er hat also hier bei Ihnen ein paar kleinere Reparaturen ausgeführt.«

»Ja, und dann haben wir Kaffee getrunken und uns unterhalten…«

»Worüber, wenn ich fragen darf?«

Die Witwe zuckte die Schultern.

»Na ja, über das Leben und so. Was man eben spricht, wenn man zusammensitzt und sich unterhält.«

Sebastian schmunzelte. Eigentlich hatte er nicht erwartet, daß er diese Informationen so schnell aus Maria Erbling herauskitzeln würde. Zwar war ihre Lästerei im ganzen Ort gefürchtet, aber wenn es um sie selbst ging, dann konnte Maria verschlossen wie eine Auster sein.

»Aha«, nickte er, »und haben S’ vielleicht ein paar Andeutungen gemacht…? Ich mein’, daß das Haus für Sie allein viel zu groß wär’ oder so ähnlich.«

Maria errötete bis unter die Haarwurzeln.

»Na ja, ich hab’ halt gedacht, ich würd’ ihm eine Freud’ machen«, sagte sie verlegen. »Es ist doch auch kein Leben, immer nur auf der Straße, wo er doch so krank ist, der Herr Moislinger.«

»Ich glaub’, ich weiß jetzt, welche Absicht dahintersteckte, Frau Erbling«, lächelte Sebastian. »Und ich kann verstehen, daß Sie sich da gewisse Hoffnungen gemacht haben. Aber der Karl ist kein Mensch, der sich bindet. Er liebt seine Freiheit über alles, und wahrscheinlich hat er sich von Ihnen zu bedrängt gefühlt und hat daraus die Konsequenz gezogen, daß es besser wär’, wenn er weiterzieht.«

»Dann hab’ ich ihn also vertrieben, ja? Wollen S’ das damit sagen?«

Sebastian schüttelte den Kopf.

»Nein, früher oder später wäre Karl ohnehin gegangen«, erwiderte er. »Ich hab’ Sie auch nur deshalb aufgesucht, um letzte Gewißheit zu haben. Sehen S’, ich selbst hab’ mich natürlich auch gefragt, warum er so Hals über Kopf auf und davon ist, und ob ich vielleicht der Grund bin. Aber jetzt sollten S’ sich deswegen keine Vorwürfe machen. Niemand hätt’ ihn aufhalten können.«

Er verabschiedete sich von Maria Erbling und ging zum Pfarrhaus zurück.

Geahnt hatte er schon, was dahinterstecken könne, zumal Alois Kammeier, der Mesner, ihm angedeutet hatte, die Witwe sei in Karl Moislinger verliebt. Zuerst wollte der Geistliche es nicht so recht glauben, doch dann erschien ihm dieser Gedanke gar nicht mehr so abwegig.

Nun, wie auch immer, er hoffte, daß es dem Alten gutging, und Karl auf seine Gesundheit aufpaßte – wo immer er jetzt auch stecken mochte.

Bis zum Mittagessen war es noch ein bißchen Zeit, und Sebastian warf einen Blick in die Tageszeitung. Die Schlagzeile war nicht zu übersehen.

Dreiste Unterschlagung in Computerkonzern, stand in dicken Lettern auf der Titelseite. Wohin sind die dreißig Millionen Euro verschwunden? Weltweite Fahndung nach Finanzdirektor. War seine Geliebte Mittäterin?

Der Geistliche las den Artikel ungläubig. Es war ihm ein Rätsel, wie ein einzelner Mensch in der Lage war, so eine Unterschlagung zu begehen, aber der vermutliche Täter war gerissen vorgegangen und hatte seit Wochen größere Summen auf ein Konto überwiesen, das augenscheinlich einer Partnerfirma der »Hillmann AG« gehörte. Erst durch eine Finanzprüfung innerhalb des Konzerns war der Betrug ans Licht gekommen.

Neben Dr. Thorsten Gebhard wurde auch der Name einer Frau genannt, die verdächtigt wurde, in die Unterschlagung verwickelt zu sein. Zwar war der Nachname abgekürzt, doch das verschwommene Foto, das neben dem Artikel abgedruckt war, ließ den Geistlichen aufmerken. Er betrachtete es genau, schaute noch einmal auf den Namen. Maria B. – kein Zweifel, es mußte sich bei der Frau um ­Maria Berger handeln, die vor Jahren aus St. Johann fortgegangen war.

Max kam und unterbrach seinen Bruder bei der Lektüre.

»Dolles Ding, was?« sagte der Polizist, als er sah, was Sebastian las. »Unglaublich, mit was für einer Dreistigkeit manche Leute vorgehen.«

Er rieb sich die Hände.

»Ich glaub’, das Essen ist fertig.«

Der Geistliche nickte.

»Ich komme«, sagte er und faltete die Zeitung zusammen.

»Die Fahndung läuft auf Hochtouren«, erzählte Max während des Mittagessens. »Aber es gibt noch keine heiße Spur von diesem Dr. Gebhard. Und bei seiner Schläue muß man darauf gefaßt sein, daß man ihn nie bekommt. Es gibt genug Plätze auf der Erde, an denen man sich verstecken kann, und mit dreißig Millionen läßt es sich ganz gut leben.«

»Die Frau, die in dem Artikel genannt wird«, sagte Sebastian. »Ich fürchte, wir kennen sie.«

»Diese Maria B.?« fragte Max erstaunt. »Wer soll denn das sein?«

»Maria Berger, die Tochter vom Tischler, der vor sieben oder acht Jahren verstorben ist«, antwortete der Bergpfarrer. »Maria war das einzige Kind, die Mutter ist schon einige Jahre zuvor gestorben, und die Tochter hat St. Johann verlassen, nachdem sie das Haus und die Werkstatt verkauft hatte.«

Max nickte.

»Ja, ich erinnere mich«, sagte er. »Und du glaubst, daß sie das ist?«

»Schau dir das Foto in der Zeitung an. Freilich ist sie älter geworden, aber ich bin sicher, daß es sich um Maria handelt.«

»Auweia, dann steckt sie jetzt aber ganz schön tief in der Tinte.«

»In der Zeitung steht, sie beteuert ihre Unschuld.«

»Und du glaubst ihr?«

»Für mich ist jeder so lange unschuldig, bis ihm das Gegenteil bewiesen ist«, entgegnete Sebastian.

Sein Bruder schaute ihn forschend an.

»Du hast doch was vor«, stellte der Polizist fest. »Das sehe ich an deinem Gesicht. Sebastian, halt’ dich da raus. Das ist Sache der Kollegen von der Münchener Kripo.«

Der gute Hirte von St. Johann schüttelte den Kopf.

»Das kann ich net, Max«, sagte er. »Maria ist mein Pfarrkind, ich kann net einfach die Augen davor verschließen, daß sie sich in Not befindet.«

»Und was willst du unternehmen?«

Sebastian lächelte.

»Kannst du für mich ihre Münchener Adresse herausfinden?« fragte er. »Für dich ist das doch ein Klacks.«

Max erwiderte seinen Blick. Dann nickte er seufzend und nahm sich noch ein Fleischpflanzerl von der Platte.

»Danke, Max«, sagte der Bergpfarrer.

*

Warum bloß mußte die Sonne scheinen? Wieso drehte sich die Welt immer noch? Warum ging das Leben einfach weiter?

Maria Berger verstand es nicht. Seit dem vergangenen Montag war in ihrem Leben nichts mehr so wie vorher.

Die junge Frau saß in ihrer Wohnung und brütete stundenlang vor sich hin. Daß man sie auf freien Fuß gesetzt hatte, hieß noch lange nicht, daß die Polizei auch an ihre Unschuld glaubte. Der Beweis dafür stand vor dem Haus. Ein dunkler PKW, in dem zwei Männer saßen, die alles beobachteten. Wer ins Haus hineinging, wer es wieder verließ, und wenn es Maria war, dann folgten sie ihr. Entweder mit dem Auto, wenn sie selbst auch fuhr, oder einer der Beamten in Zivil stieg aus, wenn sie zu Fuß unterwegs war, und ging ihr nach. Seit drei Tagen ging das jetzt so. Maria wußte sogar ganz genau, wann die Polizisten abgelöst wurden; alle sechs Stunden kamen zwei andere Männer, die die Observation übernahmen.

In der Firma war sie beurlaubt worden. Die Herren vom Aufsichtsrat hatten es ihr nahegelegt, für eine Weile zu Hause zu bleiben, bis die Angelegenheit aufgeklärt wäre.

Natürlich spürte Maria während des Gesprächs das Mißtrauen, das ihr entgegengebracht wurde, und selbst wenn man sie nicht suspendiert hätte, wäre sie von selber darauf gekommen, daß sie unmöglich bleiben konnte. Sie war überzeugt, daß man im Konzern über sie und ihr Verhältnis zu Thorsten Gebhard redete.

Von dem Dieb gab es keine Spur. Die angebliche Firma, auf deren Konto er die Beträge über Monate hinweg überwiesen hatte, existierte nicht mehr, das Konto war aufgelöst worden. Es wurde vermutet, daß Thorsten selbst diese Firma zu dem Zweck gegründet hatte, das Geld dorthin zu überweisen. Jedenfalls konnte die Staatsanwaltschaft feststellen, daß die Beträge jeweils nach kurzer Zeit schon auf einem Konto bei einer Bank auf den Bahamas auftauchten. Von dort konnte der Geldfluß nach Südostasien verfolgt werden, wo sich dann leider jede Spur verlor.

Doch das interessierte Maria Berger nur am Rande. Die menschliche Enttäuschung traf sie viel tiefer. Sie hatte Thorsten geliebt und von einer gemeinsamen Zukunft geträumt. Doch ihre Tränen darüber waren inzwischen getrocknet. Sie hatte keine Kraft mehr, zu weinen.

Vielmehr hatte jetzt Vorrang, ihr Leben neu zu ordnen. Es mußte einfach weitergehen, wenn sie auch noch nicht wußte, wie.

Zur »Hillmann AG« würde sie wohl nie wieder zurückkehren. Selbst wenn sich eines Tages endlich herausstellte, daß sie unschuldig war, ein Opfer ihrer Liebe, die mit der Unterschlagung durch Thorsten so schändlich verraten war.

Aber was sollte sie statt dessen tun?

Erst einmal waren ihr die Hände gebunden. Maria durfte München nicht verlassen, und sich dieser Auflage zu widersetzen, davor hatte sie Angst, würde es doch einem Schuldgeständnis gleichkommen, wenn sie jetzt verschwand. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als abzuwarten, wie sich die Dinge entwickelten, und zu hoffen, daß der schreckliche Verdacht von ihr genommen wurde.

Die junge Frau schreckte auf, als das Telefon klingelte. Doch sie ließ es einfach weiterläuten. Schon lange nahm sie den Hörer nicht mehr ab. In den vergangenen Tagen hatten immer wieder dreiste Journalisten angerufen, die mit ihr ein Interview machen wollten. Hatte sie zunächst kategorisch abgelehnt, ignorierte sie nun jeden Anruf. Daß Thorsten sich bei ihr melden würde, glaubte Maria nicht. Sie war sicher, daß ihr Telefon abgehört wurde, und daß Thorsten es ebenfalls annahm. Selbst wenn er das Bedürfnis hatte, mit ihr zu reden, konnte er das Wagnis nicht eingehen.

Als das Läuten aufhörte, und der Anrufbeantworter ansprang, vernahm sie wieder die Stimme des Reporters der großen Münchener Tageszeitung. Er hatte sich, im Gegensatz zu seinen Kollegen der anderen Blätter, als sehr hartnäckig erwiesen. Mindestens zweimal am Tag rief er an. Als es ihr zuviel wurde, zog Maria den Stecker aus der Buchse und warf ihn ärgerlich zu Boden.

Plötzlich klingelte es an der Wohnungstür. Sie ging zum Fenster und schaute hinunter auf die Straße. Da stand der Wagen mit den beiden Polizisten. Sie sah, daß einer von ihnen in sein Handy sprach. Vor dem Fahrzeug stand noch ein anderes.

Das Klingeln an der Wohnungstür wurde dringender. Maria hastete durch den Flur und blickte durch den »Spion«. Durch das geschliffene Glas, das wie eine Lupe wirkte, sah sie einen Mann stehen.

Das ist doch…, ging es ihr durch den Kopf, und sie öffnete.

»Sie?« fragte sie erstaunt.

Sebastian Trenker nickte.

»Grüß dich, Maria«, sagte der Geistliche. »Darf ich hereinkommen?«

»Äh… ja, natürlich«, erwiderte sie und trat beiseite.

Als sie die Wohnungstür wieder schloß, hörte sie unten im Haus Schritte, die schnell die Treppe heraufkamen.

»Bitte, geradeaus, ins Wohnzimmer«, sagte sie und lief zum Fenster.

Die beiden Beamten hatten ihr Auto verlassen. Bestimmt waren sie es, die gerade durch das Treppenhaus heraufkamen.

Im nächsten Moment klingelte es wieder an der Tür. Maria sah Sebastian an, ihr Gesicht war bleich.

»Ich habe die beiden Männer da unten gesehen«, sagte der Bergpfarrer. »Und ich vermute, daß es Polizeibeamte sind, die dich beobachten.«

Sie nickte.

»Sie haben mich ins Haus gehen sehen«, fuhr Sebastian fort. »Mach’ ihnen nur auf.«

Maria fuhr sich nervös durch das Haar.

»Ja«, sagte sie und ging durch den Flur.

Einer der beiden zückte seine Dienstmarke.

»Ernst, Kripo München«, stellte er sich vor. »Das ist mein Kollege Schober. Dürfen wir hereinkommen?«

»Wenn’s sein muß«, entgegnete Maria müde und ließ sie eintreten.

Sie folgten ihr ins Wohnzimmer und schauten den Geistlichen neugierig an.

»Guten Tag, die Herren«, sagte Sebastian lächelnd. »Wollen Sie zu mir? Ich hoffe net, daß ich falsch geparkt habe.«

Martin Ernst sah erst den Bergpfarrer, dann seinen Kollegen unsicher an.

War das jetzt ein Geistlicher, der da vor ihnen stand, oder nicht?

Eigentlich sah der Mann nicht wie ein Diener Gottes aus. Wäre da nicht der Priesterkragen gewesen, hätte man ihn für einen durchtrainierten Sportler halten können, oder gar einen prominenten Schauspieler.

Der Beamte räusperte sich und zückte erneut seine Dienstmarke.

»Darf ich fragen, welchen Zweck Ihr Besuch bei Frau Berger hat?« wollte er wissen, nachdem er seinen Namen genannt hatte.

»Frau Berger ist mein Pfarrkind«, erwiderte Sebastian. »Aber gestatten Sie, daß ich mich Ihnen erst einmal vorstelle. Mein Name ist Trenker. Ich bin Pfarrer in St. Johann, und Frau Berger ist mein Pfarrkind gewesen. Als ich davon Kenntnis bekommen habe, was geschehen ist, bin ich hergekommen, um ihr beizustehen.«

Die beiden Polizisten sahen sich ratlos an.

Als der Mann vor ihnen aus dem Auto gestiegen und ins Haus gegangen war, hatte Klaus Schober sofort Wolfgang Hellwig angerufen und um Weisung gebeten.

»Geht hinterher und stellt die Personalien fest, wenn der Mann zu Maria Berger will«, hatte ihr Vorgesetzter angeordnet.

Und da standen sie nun und erfuhren, daß es sich um einen Geistlichen handelte.

Aber war der auch wirklich echt?

*

Bereitwillig nahm Sebastian seinen Ausweis aus der Tasche und reichte ihn den Beamten. Martin Ernst notierte sich die Daten und gab das Dokument zurück. Dann verabschiedeten sie sich.

»So, Maria«, sagte der Geistliche, »jetzt erzähl’ doch mal, wie du da hineingeraten bist.«

»Setzen Sie sich doch bitte«, sagte die junge Frau lächelnd. »Ich kann ja noch gar nicht glauben, daß Sie es wirklich sind, Hochwürden. Kaffee?«

Sie eilte in die Küche, während der Bergpfarrer sich setzte und umschaute. Maria Berger hatte eine große Wohnung, die modern eingerichtet war. Sie mußte gut verdienen, denn die Möbel waren ausgesuchte Stücke, die bestimmt nicht billig gewesen waren.

Nach einer Weile kam sie mit einem Tablett zurück und stellte Kaffee, Geschirr und einen Teller mit Plätzchen auf dem Tisch ab. Nachdem sie eingeschenkt hatte, setzte sie sich und atmete tief durch.

Erst langsam, dann immer flüssiger kam es über ihre Lippen. Wie sie damals fortgegangen war, der Neuanfang in München, das Studium und schließlich das Kennenlernen des Mannes, der ihr Leben auf so drastische Weise verändert hatte.

Während sie erzählte, kamen wieder die Erinnerungen hoch. Wie eine Verbrecherin hatte man sie aus der Firma abgeführt und ins Polizeipräsidium gebracht. Dort wurde sie erkennungsdienstlich behandelt, wie es in der Amtssprache hieß. Man fotografierte sie und nahm ihre Fingerabdrücke. Es war eine erniedrigende Prozedur gewesen. Schließlich wurde Maria Berger in das Vernehmungszimmer geführt. Unzählige Male mußte sie ihre Aussage wiederholen, bis sie dann endlich gehen durfte.

»Und ich bin unschuldig, Hochwürden!« stieß sie schon fast verzweifelt hervor. »Ich habe mit der ganzen Sache nichts zu tun. Thorsten hat nie auch nur ein Sterbenswort darüber erzählt, was er vorhat, und schon gar nicht habe ich mit ihm gemeinsame Sache gemacht. Aber ich kann es noch so oft sagen, niemand will mir glauben!«

Sebastian hatte sie, während Maria erzählte, prüfend angesehen. Natürlich hatte er sich gefragt, ob sie zu so einem Verbrechen fähig wäre, es aber verneint. Er kannte Maria Berger seit ihrer Kommunion, hatte sie begleitet, als erst die Mutter, später dann der Vater verstarb. Sie war ein durch und durch ehrlicher Mensch gewesen, und es war für ihn unvorstellbar, daß sie die Mittäterin sein sollte. Für ihn stellte es sich so dar, daß Maria Opfer geworden war. Sie hatte an den Mann geglaubt und wurde völlig ahnungslos von allem überrollt.

»Doch«, entgegnete er, »ich glaube dir, Maria. Ich kenne dich lang’ genug, um zu wissen, daß du nicht fähig bist, eine Unterschlagung zu begehen.«

Er deutete auf die Einrichtung.

»Wenn ich mich so umsehe, dann ahne ich, daß du in deinem Beruf net schlecht verdienst«, setzte er hinzu. »Wahrscheinlich mehr, als jeder and’re es sich vorstellen kann. Warum sollte dieses Geld dir net genügen? Sicher gibt es Menschen, die nie genug bekommen können, aber ganz sicher gehörst du net dazu.«

Tränen traten ihr in die Augen. Es tat so gut, endlich einmal zu hören, daß jemand sie nicht verdächtigte, eine Verbrecherin zu sein.

»Weißt du schon, was du jetzt anfangen wirst?« erkundigte sich der Geistliche.

Sie schüttelte den Kopf.

»Nein. In der Firma bin ich beurlaubt, allerdings werde ich ohnehin nicht dorthin zurückkehren, und bis Thorsten nicht gefaßt worden ist und aussagt, daß ich mit der Sache nichts zu tun habe, bin ich als Verbrecherin abgestempelt. Sie sehen ja selbst – die Polizei überwacht mich Tag und Nacht, und die Stadt darf ich net verlassen.«

»Na, das werden wir erst noch sehen«, erwiderte Sebastian und trank seinen Kaffee aus.

Maria sah ihn fragend an.

»Was haben Sie vor?«

»Erst einmal werde ich mit dem ermittelnden Beamten reden«, antwortete der Geistliche, »und dann nehm’ ich dich mit nach St. Johann. Du kannst im Pfarrhaus wohnen. Hier mußt du erst mal raus, und zu Haus’ wirst auf andre Gedanken kommen.«

Plötzlich leuchteten ihre Augen. Einmal, ganz kurz nur, hatte sie selber daran gedacht, wie es wäre, wenn sie in die Heimat zurückkehren könnte. Einfach nur, um etwas anderes zu sehen, nicht mehr in den eigenen vier Wänden eingesperrt zu sein.

Aber da war ja die Auflage der Polizei!

»Glauben Sie denn, daß das geht?« fragte sie. »Ich weiß nicht so recht…«

»Deshalb möchte ich ja mit dem Herrn Hellwig reden«, sagte Sebastian. »Packe nur ruhig schon ein paar Sachen zusammen. Wir fahren noch heute nachmittag.«

Aufgekratzt machte sich Maria Berger daran, einen Koffer zu packen, während der gute Hirte von St. Johann die Wohnung verließ und zu den Beamten ging, die unten im Auto saßen.

»Ich würde Frau Berger gerne mit nach St. Johann nehmen«, erklärte er.

Martin Ernst und Klaus Schober sahen ihn entgeistert an.

»Das geht net«, schüttelte Ernst den Kopf. »Frau Berger darf die Stadt net verlassen. Flucht- und Verdunklungsgefahr.«

»Genau deshalb möchte ich mit Ihrem Vorgesetzten sprechen«, erwiderte Sebastian ungerührt. »Würden Sie ihn bitte davon in Kenntnis setzen? Entweder kommt er hierher, oder ich fahre mit Frau Berger zu ihm ins Präsidium. Mitnehmen werde ich sie auf jeden Fall.«

Er nickte ihnen zu und kehrte ins Haus zurück.

Es dauerte keine Viertelstunde, bis es an der Tür läutete. Maria öffnete, und Wolfgang Hellwig stürmte an ihr vorbei.

Im Wohnzimmer erhob sich der Geistliche von seinem Sessel und sah dem Kriminalhauptkommissar lächelnd entgegen.

»Grüß Gott. Trenker mein Name. Ich freu’ mich, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

»Das wird sich erst noch herausstellen, ob es eine Freude ist«, knurrte der Beamte. »Wie kommen Sie darauf, daß Frau Berger Sie begleiten wird?«

Maria stand in der Tür und schaute ängstlich auf die beiden Männer. Im Schlafzimmer wartete der gepackte Koffer, aber im Moment sah es nicht so aus, als ob sie tatsächlich fahren würde.

Sebastian sah Hellwig an. Er war beinahe so groß wie der Geistliche, schlank und hatte ein sympathisches Gesicht, das allerdings nicht über die Härte hinwegtäuschte, die der Kommissar besaß, wenn es darum ging, ein Verbrechen aufzuklären. Sebastian schätzte ihn auf Mitte dreißig.

»Nehmen Sie doch erst einmal Platz«, sagte er. »Es läßt sich besser reden, wenn man sich in gleicher Höhe gegenübersitzt.«

Wolfgang Hellwig kam der Aufforderung nach. Es war das zweite Mal, daß er sich in dieser Wohnung befand.

Als Maria Berger ins Polizeipräsidium gebracht worden war, hatte er selbst die Durchsuchung hier geleitet.

Leider war sie ohne Ergebnis geblieben.

»Vielleicht erkläre ich Ihnen erst einmal, warum ich hergekommen bin«, sagte der Bergpfarrer und erzählte, woher er Maria kannte.

Der Kripobeamte hörte aufmerksam zu. In all den Jahren, die er nun schon bei der Polizei war, hatte er ein Gespür dafür entwickelt, ob er einem Menschen vertrauen konnte. Bei Maria Berger war er nicht sicher gewesen, aber dieser Geistliche hier strahlte etwas aus, das ihm jeden Zweifel nahm.

»Ich verbürge mich dafür, daß Frau Berger sich den Behörden net durch Flucht entziehen wird«, versicherte Sebastian. »Mein Bruder ist selbst Polizist bei uns im Dorf. Maria wird sich regelmäßig bei ihm melden, und er wird Sie davon unterrichten.«

Es klang durchaus so, als könne man das Wagnis eingehen. Aber ein letzter Zweifel blieb doch.

Was, wenn dieser Gebhard sich in St. Johann mit der Frau in Verbindung setzte?

Sicher wußte er, woher Maria Berger stammte, und daß er sie dort finden konnte.

Andererseits war der Mann wie vom Erdboden verschwunden. Auf der ganzen Welt wurde nach ihm gefahndet, aber nirgendwo gab es einen Hinweis auf seinen Verbleib.

Wolfgang Hellwig dachte sehr lange nach, bevor er antwortete. Und während dieser Zeit reifte in ihm ein Plan.

»Also gut«, nickte er, »Sie können Frau Berger mitnehmen, unter der Auflage, daß Sie sich regelmäßig auf der dortigen Polizeidienststelle meldet, und sie mich sofort informiert, wenn Thorsten Gebhard sich mit ihr in Verbindung setzt.«

Er sah erst Sebastian an, dann Maria. Zwar zeigte sein Gesicht dabei eine harte, undurchdringliche Miene, aber Wolfgang Hellwig gingen ganz andere Gedanken durch den Kopf.

Plötzlich wünschte er sich nichts mehr, als daß diese Frau wirklich unschuldig war. Noch nie wäre es ihm lieber gewesen, daß er sich in seinem Verdacht total geirrt haben möge, wie in diesem Fall.

Mensch, Junge, jetzt halte mal an dich, dachte er, während er dem Wagen des Geistlichen nachschaute, noch ist es net heraus, daß sie nix damit zu tun hat.

Aber in seinem Herzen wußte er es besser…

*

Die Rückkehr in die Heimat war für Maria mit vielen Eindrücken verbunden. Die Erinnerungen stürzten auf sie ein und schienen sie schier zu erdrücken.

»Das geht vorüber«, sagte Sebastian, der ahnte, welche Gefühle die junge Frau jetzt durchlitt, als sie das Dorf erreichten und langsam in die Straße zur Kirche einbogen.

Von unterwegs hatte er Sophie Tappert davon unterrichtet, daß sie für einige Zeit einen Gast im Pfarrhaus haben würden. Seine Haushälterin hatte daraufhin sofort alles vorbereitet und wartete mit einem warmen Abendessen auf sie.

»Vorher gehen wir noch mal zu Max hinüber«, sagte der Geistliche. »Damit alles seine Ordnung hat.«

Sein Bruder wohnte über dem Revier, das schon geschlossen war. Max begrüßte Maria völlig unbefangen.

»Schön, dich zu sehen«, sagte er. »Und wegen der Meldepflicht mach’ dir mal keine Gedanken. Ich weiß ja, daß du im Pfarrhaus wohnst.«

Der Polizeibeamte war gerade dabei, den Abendbrotstisch zu decken. Claudia, seine Frau, arbeitete in Garmisch-Partenkirchen bei der Zeitung. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sie nach Hause kam.

»Ich hätt’ gern’, daß Maria und Claudia sich mal unterhalten«, raunte Sebastian seinem Bruder zu, als sie einen Moment alleine waren. »Die beiden sind in einem Alter, und vielleicht kann sich Claudia ein bissel um Maria kümmern.«

Max nickte. »Das wird sie bestimmt machen.«

Im Pfarrhaus hatte Sophie Tappert den Tisch gedeckt. Silke Brandner, die erst am Sonntag aus dem Urlaub zurückgekehrt war, hatte von der Haushälterin erfahren, um wen es sich bei der jungen Frau handelte, die Hochwürden mitgebracht hatte. Auch die Gemeindeschwester zeigte keinerlei Vorurteile gegen Maria Berger, und während des Essens wurde überhaupt nicht über den Grund ihrer Anwesenheit gesprochen.

An diesem Abend war es, als sei alle Last von ihr abgefallen. Maria ging früh schlafen, und es war das erste Mal, seit das Drama begonnen hatte, daß sie nicht von schlechten Träumen geplagt wurde.

Am nächsten Morgen wachte sie ausgeschlafen auf. Es hielt sie nicht lange im Bett, und nachdem sie sich angezogen hatte, ging die junge Frau gleich in die Küche hinunter.

»Guten Morgen, kann ich Ihnen helfen?« fragte sie Sophie Tappert.

Doch die Haushälterin hatte längst den Tisch gedeckt.

»Nein, setz’ dich nur«, antwortete sie. »Hochwürden kommt auch gleich.«

»Sie sind aber schon früh auf den Beinen«, meinte Maria, während sie am Tisch Platz nahm.

»Ich schlaf’ ohnehin net lang«, erwiderte Sophie schmunzelnd. »Außerdem hab’ ich schon das Frühstück für die Silke gemacht.«

»Gestern abend hab’ ich net weiter gefragt«, meinte Maria, die ganz schnell wieder dazu übergegangen war, in dem heimatlichen Dialekt zu sprechen, den sie sich in München abgewöhnt hatte. »Aber ist es net ungewöhnlich, daß eine junge Frau hier ständig im Pfarrhaus wohnt?«

»Ja, das mag sein«, lachte die Haushälterin. »Aber das ist auch eine sehr ungewöhnliche Geschichte.«

Silke Brandner stammte aus Regensburg. Nach langer Arbeitslosigkeit hatte sie die Stelle der Gemeindeschwester in Engelsbach angetreten. Doch leider stand ihr Umzug unter keinem guten Stern, denn es war völlig unmöglich, eine Unterkunft zu finden. Das Wohnen in einem Hotel war alleine schon wegen der Kosten unmöglich, und so quartierte Sebastian, dem sehr daran gelegen war, daß im Nachbarort endlich wieder eine Gemeindeschwester arbeitete, die junge Frau kurzerhand im Pfarrhaus ein.

Freilich geschah das nicht, ohne daß dadurch ein handfester Skandal ausgelöst wurde. In dem, neben einer Journalistin, auch Blasius Eggensteiner verwickelt war, Sebastians Amtsbruder aus Engelsbach.

»Na ja, die Sache kochte zwar hoch«, erzählte die Haushälterin, »aber schließlich war ja an den Vorwürfen nix dran, und inzwischen haben sich die Leut’ daran gewöhnt, daß die Silke hier bei uns wohnt.«

Kurz darauf kam Sebastian Trenker in die Küche.

»Guten Morgen zusammen. Na, Maria, hast gut geschlafen?«

»Ach, ganz wunderbar«, lächelte sie.

»Das freut mich. Hast’ nachher Lust, ein bissel spazieren zu gehen? Es hat sich zwar net viel verändert in den Jahren, in denen du fort warst. Aber so einiges gibt es doch zu bestaunen.«

Maria biß sich auf die Unterlippe. Auf der Fahrt gestern hatte sie sich vorgestellt, wie es sein würde, die alte Heimat wiederzusehen. Aber sie hatte auch an die Leute gedacht. Wahrscheinlich hatten viele sie im Laufe der Jahre vergessen, aber nachdem ihr Foto in allen Zeitungen abgedruckt war, würden sie sie bestimmt sofort wiedererkennen.

»Ich weiß net«, antwortete sie. »Wär’ das net so was wie ein Spießrutenlauf?«

»Je eher du die Menschen mit dir konfrontierst, um so eher werden sie akzeptieren, daß du wieder hier bist«, entgegnete der Bergpfarrer. »Und du hast keinen Grund, dich zu verstecken. Schließlich bist du unschuldig!«

Dieser Satz gab den Ausschlag.

»Ja, Hochwürden«, nickte Maria, »Sie haben recht, es gibt keinen Grund, warum ich mich hier verstecken sollte.«

*

»Chef, halten Sie das wirklich für eine gute Idee, die Berger einfach wegfahren zu lassen?« fragte Jochen Brandner während der morgendlichen Dienstbesprechung. »Was, wenn Gebhard sich mit ihr in Verbindung setzt, und die beiden die Flucht der Frau ins Ausland organisieren?«

Der Kriminalhauptkommissar sah auf das Papier, das vor ihm auf dem Tisch lag. An der Besprechung nahmen auch Klaus Schober und Martin Ernst teil. Zusammen bildeten sie die Sonderkommission, die mit der Aufklärung des Falles beschäftigt war.

Vier Leute – eigentlich viel zu wenig. Aber mehr konnte der Münchener Polizeipräsident beim besten Willen nicht zur Verfügung stellen. Gerade wurde in der bayerischen Landeshauptstadt der Besuch eines hochrangigen ausländischen Staatsgastes vorbereitet, und die Sicherheitsmaßnahmen erforderten eine große Anzahl Beamter.

Das Papier, das Hellwig so interessiert in Augenschein nahm, war vor zehn Minuten per Fax eingetroffen. Es kam von den österreichischen Kollegen aus Wien. Danach sei Thorsten Gebhard angeblich in Oberösterreich gesehen worden. In einem Hotel sei man auf den Mann aufmerksam geworden, weil die Personenbeschreibung auf ihn paßte. Leider kam der Hinweis durch den Portier zu spät, denn als die Polizei in dem Hotel eintraf, war der Gast schon wieder abgereist. Natürlich wurden sofort die Kontrollen verschärft und eine großangelegte Suchaktion durchgeführt. Allerdings ohne Ergebnis. Die österreichischen Kollegen wiesen jedoch darauf hin, daß der Gesuchte sich immer noch im Grenzgebiet zu Deutschland aufhalten könne. Wolfgang Hellwig hatte sofort die Polizisten in den grenznahen Orten und Gemeinden in Alarmbereitschaft versetzt und zu erhöhter Wachsamkeit aufgerufen.

»Gestern mochte es vielleicht noch eine schlechte Idee gewesen sein«, antwortete der Kriminalhauptkommissar auf die Frage seines Mitarbeiters und klopfte mit dem Zeigefinger auf das Fax. »Inzwischen sieht die Sache vielleicht schon wieder anders aus.«

Ernst und die anderen nickten.

»Sie meinen, da könnt’ was dran sein, daß der Gebhard sich gar net sehr weit ins Ausland abgesetzt hat?« fragte Klaus Schober.

Hellwig breitete die Arme aus und ließ sie wieder fallen.

»Wir haben jeden internationalen Flughafen auf der Welt überprüfen lassen«, sagte er. »Nirgendwo ist ein Mann gesehen worden, auf den Gebhards Beschreibung paßt.«

»Aber er ist doch von Frankfurt aus nach Südafrika geflogen«, wandte Martin Ernst ein.

»Wenn schon. Er kann genauso gut unterwegs, zum Beispiel in Rom, die Maschine wieder verlassen haben. Ein raffiniertes Ablenkungsmanöver, um uns zu täuschen und auf eine falsche Fährte zu führen.«

Auf dem römischen Flughafen ›Leonardo da Vinci‹ legte das Flugzeug einen Zwischenstop ein, um weitere Passagiere aufzunehmen, hatte Hellwig herausgefunden.

Der Gedanke, Gebhard könne dort ausgestiegen sein, erschien ihm mit einem Male gar nicht mehr so abwegig. Während weltweit nach dem Millionendieb gesucht wurde, könnte der sich nach Südtirol durchgeschlagen haben, um schließlich bis nach Oberösterreich zu gelangen.

Der Beamte stand auf und trat an eine Karte, die an der Wand des Büros hing. Mit dem Finger fuhr er die Strecke entlang, die Thorsten Gebhard genommen haben konnte.

Plötzlich verharrte der Finger auf einem Punkt. Dort stand der Name des Ortes, in den Maria Berger gestern gefahren war.

Und St. Johann war nur einen Katzensprung von Österreich entfernt!

Hatte er so etwas wie eine Eingebung gehabt, als er der Frau erlaubte, München zu verlassen und in ihr Heimatdorf zu fahren?

Hellwig glaubte daran. Gestern hatte er sich den Plan zurechtgelegt, Maria Berger zu folgen und sie in St. Johann zu beobachten. Jetzt gab es noch einen viel gewichtigeren Grund dafür, diesen Plan auch in die Tat umzusetzen.

Er erklärte seinen Mitarbeitern sein Vorhaben.

»Ihr haltet hier also die Stellung«, sagte er abschließend. »Wir bleiben in Verbindung, und sollte sich dort tatsächlich etwas tun, dann muß der Kollege vor Ort, der Bruder dieses Pfarrers, eben aktiv werden.«

»Soll nicht doch einer von

uns mitkommen?« fragte Jochen Brandner.

»Ihr werdet hier gebraucht!« Ihr Vorgesetzter schüttelte den Kopf. »Vielleicht erweist es sich ja als Schuß in den Ofen, und der entscheidende Hinweis kommt von ganz woanders her. Dann will ich, daß hier alles glatt geht. Schober, Sie leiten während meiner Abwesenheit die Soko. Ich gehe jetzt zum Polizeipräsidenten und teile ihm den neuesten Erkenntnisstand mit und lasse mir die Fahrt von ihm absegnen.«

Zwei Stunden später befand sich Wolfgang Hellwig auf der Fahrt nach St. Johann. In seinem ganzen Körper kribbelte es. Er hatte das Gefühl, daß sich in dem kleinen Dorf, das er nur vom Hörensagen kannte, alles entscheiden würde.

Während er nach Hause gefahren war, um ein paar Sachen zu packen, hatte Martin Ernst nach einer Unterkunft für ihn gesucht. Jetzt klingelte Hellwigs Handy.

»Chef, das war knapp«, hörte der Kriminalhauptkommissar die Stimme seines Mitarbeiters. »Dieses St. Johann scheint ein beliebter Urlaubsort zu sein. Fremdenzimmer sind dort Mangelware. Aber ich hatte Glück, in der Pension Stubler wartet ein gemütliches Einzelzimmer auf Sie.«

»Danke, Martin«, sagte Hellwig. »Ein bissel Glück gehört nun mal zu unsrem Beruf dazu.«

»Dann gute Fahrt, Chef, und Weidmannsheil«, verabschiedete sich der Anrufer.

»Das kann ich brauchen«, knurrte der Beamte grimmig und trat das Gaspedal durch, als er auf die Autobahn kam.

*

»Das Einkaufszentrum gab’s damals noch net«, sagte Sebastian, als sie nach dem Frühstück ihren Spaziergang machten. »Auch auf der anderen Seite des Dorfes stehen ein paar neue Häuser.«

Bevor sie sich auf den Weg gemacht hatten, war Maria auf den Friedhof gegangen und hatte das Grab ihrer Eltern besucht. Als sie damals St. Johann verließ, hatte sie nicht die Absicht gehabt, jemals wieder zurückzukehren und deshalb die ortsansässige Gärtnerei mit der Pflege der Ruhestätte beauftragt. Zwar standen frische Blumen vor dem Stein, und eine niedrige Hecke aus Lebensbäumchen säumte das Grab ein, trotzdem stellte Maria einen Strauß Margariten in eine leere Vase; Blumen, die ihre Mutter immer so gern gehabt hatte.

»Ist der Herr Glauser denn noch da?« erkundigte sie sich, während sie durch das Einkaufszentrum bummelten.

Alois Glauser hatte sie seinerzeit die Tischlerei und das Haus verkauft.

»Freilich, der Loisl schafft immer noch«, erwiderte der Geistliche. »Er hat sogar einen Gesellen und zwei Lehrbuben eingestellt.«

»Vater hat ja net mehr so viel arbeiten können«, sagte Maria. »Mutters Tod hatte ihm schon den Lebensmut genommen, und dann wurd’ er ja auch noch so krank.«

Sie zuckte die Schultern.

»Wer weiß«, setzte sie hinzu, »vielleicht wär’ alles anders gekommen, wenn er net so früh hätt’ gehen müssen.«

»Du meinst, du wärst vielleicht geblieben?« fragte der Bergpfarrer.

»Wahrscheinlich«, nickte sie. »Aber das weiß man ja alles vorher net.«

»Aber du bist net unzufrieden, mit dem, was du erreicht hast, oder?«

»Nein, unzufrieden bin ich net. Ich denk’, in meiner damaligen Lage war’s das Beste, was ich machen konnte.«

Ein paar Leute, die vorübergingen, grüßten Sebastian und schauten Maria neugierig an.

»Jetzt überlegen s’ wohl, wo sie mich hinstecken sollen«, vermutete sie. »Bald wird’s im ganzen Ort rum sein, daß die Geliebte des Millionendiebes nach Hause zurückgekommen ist.«

»Laß sie reden und denken, was sie wollen«, erwiderte Sebastian. »Du hast dir nix vorzuwerfen.«

»Manchmal frag’ ich mich aber, ob ich wirklich nix hätt’ merken müssen«, überlegte Maria laut. »Thorsten hat diesen Coup von langer Hand vorbereitet, eigentlich müßte er sich doch dabei irgendwie verraten haben. Irgendeine Äußerung, ein unbedachtes Wort. Ich hab’ mir schon den Kopf darüber zerbrochen, aber es will mir nix einfallen. Wahrscheinlich war ich blind vor Liebe.«

»Nun, erst einmal traut man so etwas einem anderen Menschen net zu. Zumindest keinem, den man liebt und von dem man net glaubt, daß er zu solch einer Tat fähig wäre. Auch in dieser Hinsicht hast du dir keine Vorwürfe zu machen.«

Sie schlenderten langsam zu der Straße, in der Marias Elternhaus stand. Die Tischlerei befand sich hinten auf dem Hof. Joseph Berger hatte seinerzeit seinen Betrieb am Rande des Dorfes errichtet, und auch heute noch standen keine Häuser in unmittelbarer Nachbarschaft. Schon von weitem hörten sie das Kreischen der Bandsäge und das Klopfen von Hämmern. Je näher sie kamen, um so näher rückten auch die längst vergessenen Eindrücke. Maria glaubte förmlich den Geruch von Holz und Sägemehl in der Nase zu haben.

Sie betraten das Gelände durch die Einfahrt, und die junge Frau blieb einen Moment stehen, um das Haus zu betrachten, in dem sie aufgewachsen war. Äußerlich war es unverändert, lediglich das Holz am Giebel war gestrichen worden. Drinnen hatten die neuen Besitzer wahrscheinlich alles nach ihrem Geschmack eingerichtet. Maria erinnerte sich an Alois Glauser als einen Mann von Mitte vierzig. Seine Frau mochte vielleicht ein paar Jahre jünger sein. Sie erkannte den Tischlermeister sofort wieder, als dieser durch die breite Werkstatttür trat und ihnen entgegenkam.

»Grüß Gott, Hochwürden«, sagte er freundlich und sah Maria stirnrunzelnd an. »Das darf doch net wahr sein! Frau Berger? Ja, guten Tag. Was führt Sie denn hierher? Möchten S’ sich mal umschauen, was aus dem allen hier geworden ist?«

Er reichte ihr die Hand.

»Das ist aber eine Freud’, Sie zu sehen«, setzte er dabei hinzu. »Kommen S’, gehen wir ins Haus. Meine Frau wird staunen!«

Maria spürte, wie ihr diese freundliche Begrüßung guttat. Gerne folgten sie der Einladung und gingen durch die Hintertür hinein.

»Traudel«, rief Alois Glauser, »jetzt rat’ mal, wer zu Besuch gekommen ist!«

Edeltraud Glauser machte die Buchführung, nahm die Aufträge an, schrieb die Rechnungen und erledigte, was es sonst noch alles an Büroarbeiten gab. Sie steckte den Kopf durch die Tür und schaute die Besucher neugierig an.

»Nein, die Frau Berger!« rief sie sofort, als sie Maria erkannt hatte. »Na, das ist aber eine Überraschung!«

Wenig später saßen sie in der Küche und tranken Kaffee. Für Maria war es, als sei sie erst jetzt richtig angekommen. Natürlich hatten die Glausers alles neu gestrichen und tapeziert, aber dennoch war ihr alles vertraut.

»Die Maria hat eine schwere Zeit hinter sich«, sagte Sebastian. »Ihr habt ja vielleicht von der Sache gehört.«

»Freilich«, nickte der Tischler. »Es stand ja in allen Zeitungen, und im Fernsehen haben s’ darüber auch berichtet. Aber ich hab’ gleich zur Traudel gesagt, daß die Frau Berger unschuldig ist. Ich konnt’ mir einfach net vorstellen, daß Sie was damit zu tun haben.«

Die letzten Worte hatte er direkt an Maria gerichtet, die ihn dankbar anlächelte.

Nachdem sie noch einen Moment über dieses Thema gesprochen hatten, bot das Ehepaar an, Maria durch das Haus zu führen.

»Danke, nein«, lehnte sie ab. »Ich möcht’s lieber so in Erinnerung behalten, wie ich’s damals verlassen hab’. Aber vielen Dank für Ihre Gastfreundschaft.«

»Wirklich nette Leute«, sagte Sebastian, als sie wieder auf dem Weg zum Pfarrhaus waren. »Und ich glaub’ dem Loisl, daß er von deiner Unschuld überzeugt ist. So, wie er’s gesagt hat, spürte man, daß es von Herzen kam.«

Im Pfarrhaus angekommen, wartete Max auf sie. Er hatte eine Nachricht, die wie eine Bombe einschlug.

»Ich hab’ vorhin mit München telefoniert«, erzählte der Bruder des Bergpfarrers. »Ihr wißt schon, wegen der Meldepflicht. Und jetzt haltet euch fest, Kriminalhauptkommissar Hellwig ist auf dem Weg nach St. Johann!«

Maria stieß einen erstickten Schrei aus.

»Nein!«

Sebastian sah Max fragend an.

»Wegen Maria?« fragte er. »Will er sie etwa nach München zurückholen?«

Sein Bruder schüttelte den Kopf.

»Nein, deswegen würd’ er sich net die Mühe machen, herzukommen«, erwiderte er und sah Maria an. »Du mußt also keine Bedenken haben. Der Kollege kommt wegen etwas ganz anderem…«

»Nun mach’s net so spannend!« sagte der Geistliche. »Was ist denn geschehen?«

Max holte tief Luft.

»Thorsten Gebhard ist angeblich in Österreich gesehen worden«, antwortete er endlich. »Und jetzt wird vermutet, er könne nach St. Johann kommen, wegen der alten Bindungen, die die Maria hierher hat.«

*

»Grüß Gott, der Herr Hellwig aus München, net wahr?« begrüßte Ria Stubler den Kripobeamten.

Der nickte.

»Ja, mein Kollege hat heut’ morgen ein Zimmer reserviert.«

Die Wirtin hatte schon den Schlüssel in der Hand und ging voran. Wolfgang war überrascht. Das Zimmer war geräumig und gemütlich eingerichtet. Es gab Fernsehen, Telefon und ein separates Bad. Durch eine Glastür konnte man auf den umlaufenden Balkon hinausgehen.

Das wär’ ja mal was, um Urlaub zu machen und auszuspannen, dachte er und seufzte innerlich. Leider bin ich aber net auf Urlaub hier.

Ria erklärte ihm, wann es Frühstück gab, zu den anderen Mahlzeiten müsse er aber ins Wirtshaus gehen. Der Beamte nickte und bedankte sich.

»Das Zimmer wurde erst einmal für eine Woche gemietet«, sagte sie. »Sie müßten dann aber bitt’ schön rechtzeitig Bescheid sagen, wenn Sie verlängern wollen.«

»Mach’ ich«, erwiderte Wolfgang Hellwig.

Er hoffte, daß es nicht so lange dauern würde, bis Thorsten Gebhard hier auftauchte. Wenn er es überhaupt tat…

Die Pensionswirtin wünschte ihm einen angenehmen Aufenthalt und ging hinaus. Wolfgang packte erst einmal seine Reisetasche aus, dann nahm er sein Handy und setzte sich auf das Bett. Auf der Dienststelle meldete sich Klaus Schober.

»Gibt’s was Neues?« erkundigte sich der Chef.

»Nein, überhaupt nix«, antwortete sein Mitarbeiter. »Wenn es tatsächlich der Gebhard war, den der Portier erkannt haben will, dann ist er jetzt wieder wie vom Erdboden verschwunden.«

Er lachte.

»Na ja, dann haben S’ immerhin einen kleinen Urlaub gemacht.«

Hellwig beendete die Verbindung und ließ sich zurücksinken. Während er an die Decke starrte, versuchte er sich in den Millionendieb hineinzuversetzen. Thorsten Gebhard war gewiß kein Dummkopf. Er gehörte zu der Sorte Verbrecher, die sich nicht nur durch Kaltblütigkeit auszeichnete, sondern auch durch eine gute Portion Intelligenz. Der Mann hatte in Wirtschaftswissenschaften promoviert, seinen Doktor mit »summa cum laude« gemacht. Er hatte also einiges auf dem Kasten. Ganz bestimmt würde er sein Äußeres verändern, das Bild, das als Fahndungsfoto um die ganze Welt gegangen war, mußte nicht mehr seinem jetzigen Aussehen ähneln.

Wolfgang Hellwig schloß einen Moment die Augen. Er sah das Gesicht von Maria Berger vor sich und überlegte, nicht zum ersten Mal, was ihn an dieser Frau so faszinierte.

Gut, sie war attraktiv und sprach einen Mann an. Aber das alleine war es nicht. Während der Vernehmung hatte Wolfgang einen leisen Anflug von Mitleid für sie gespürt. Darüber war er mehr als verwundert gewesen. Für ihn war sie verdächtig, Mittäterin an einem Kapitalverbrechen zu sein, alles sprach dafür, daß sie mit Gebhard gemeinsame Sache gemacht hatte, und doch waren dem gewieften Kriminalbeamten irgendwann Zweifel gekommen.

Weiter fragte er sich, welche Rolle dieser Geistliche in der ganzen Geschichte spielte. Der Mann war ihm gegenüber selbstsicher und bestimmt aufgetreten. Sympathisch war der erste Eindruck, den Pfarrer Trenker auf ihn gemacht hatte, und doch war Wolfgang Hellwig nicht ganz klar, ob es wirklich nur die Sorge um das einstige Pfarrkind war, die ihn veranlaßt hatte, nach München zu kommen und Maria Berger mitzunehmen.

Maria Berger – Wolfgang lauschte in sich hinein. Der Entschluß, ihr nach St. Johann zu folgen, war keineswegs spontan gefaßt worden. Zwar hatte die Tatsache, Thorsten Gebhard könne hierher kommen, den endgültigen Ausschlag gegeben, aber überlegt hatte der Beamte es schon vorher.

Dabei war es keineswegs mehr der Verdacht, den er gegen die Frau hegte. Wolfgang fühlte vielmehr, daß sie ihn auf ungewöhnliche Weise angesprochen hatte, und er wünschte sich nichts mehr, als daß sie wirklich die Wahrheit sagte und völlig ahnungslos war, was ihren Geliebten anging.

Ihren Geliebten – diese Bezeichnung auf den Verbrecher anzuwenden, widerstrebte ihm. Denn das machte Maria mit Thorsten Gebhard irgendwie gemein. Aber Wolfgang wollte nicht die Schuldige in ihr sehen, sondern das Opfer. Wenn er doch nur glauben könnte, daß sie es auch tatsächlich war. Mit einem Ruck richtete er sich auf und starrte ins Leere. Mit einer Heftigkeit, die ihn erschrecken ließ, war ihm bewußt geworden, daß er Maria Berger begehrte, mehr als je eine Frau zuvor. Er hatte sich in sie verliebt und mußte sich eingestehen, daß das der wahre Grund war, warum er ihr gefolgt war.

*

Es dauerte eine Weile, ehe er das Chaos seiner Gefühle wieder in ruhigere Bahnen lenken konnte. Wolfgang stand auf und ging ins Bad, wo er sich kaltes Wasser über das Gesicht laufen ließ. Dann vergewisserte er sich, daß sein Handy eingeschaltet in der Tasche steckte, zog die Jacke über und verließ das Zimmer. In der Pension zu hocken und darauf zu warten, daß irgendwas passierte, hatte keinen Zweck. Er mußte sich im Ort umsehen und mit allem vertraut machen, untersuchen, wo Thorsten Gebhard eventuell unterkriechen konnte, wenn er tatsächlich die Absicht hatte, hierher zu kommen.

Und schlußendlich war ein Kriminalkommissar auch nur ein Mensch, der Hunger bekommen konnte, und den hatte Wolfgang Hellwig. Nach der überstürzten Abfahrt aus München hatte er nichts mehr gegessen oder getrunken, und jetzt knurrte ihm der Magen.

Außer dem Hotel, zu dem ein Restaurant und ein einfach gehaltenes Gasthaus gehörten, gab es in St. Johann sonst keine Möglichkeit, essen zu gehen, stellte er fest und betrat nach einem kurzen Spaziergang den Kaffeegarten. Martin Ernst hatte recht, der Ort war von Touristen geradezu überlaufen; kaum ein Tisch war noch frei. Wolfgang hatte jedoch Glück und fand einen, an dem gerade eine Familie mit zwei Kindern aufstand. Er nickte grüßend, nahm Platz und warf einen Blick in die Speisekarte. Mittag war noch nicht ganz vorüber, und er bestellte das Tagesgericht: Gebackenen Seelachs mit Salat und Kartoffeln. Dazu genehmigte er sich ein kleines Bier, orderte aber auch noch gleich ein Glas Mineralwasser. Während er auf Essen und Getränke wartete, überlegte er, was St. Johann wohl für die Urlauber so interessant machte, daß sie in Scharen herkamen. Besonderes gab es auf den ersten Blick nicht. Ganz im Gegenteil, es war ein ruhiges, kleines Dorf, in dem die Zeit stehengeblieben zu sein schien. Die Häuser mit ihren Lüftlmalereien strahlten einen gewissen Charme aus. Gemütlich war es, anheimelnd. Dazu kam, trotz der vielen Fremden, eine herrliche Ruhe. Niemand schien in Hast und Eile zu sein, wenn die Zeit schon nicht stehengeblieben war, dann ging sie in St. Johann jedenfalls anders, kam Wolfgang zum Schluß.

Das Essen war hervorragend, und er aß den ganzen Teller leer. Nachdem er auch noch eine Tasse Kaffee getrunken hatte, fühlte sich der Beamte rundum zufrieden.

Vielleicht mach’ ich wirklich mal Urlaub hier, dachte er, während er den Kaffeegarten wieder verließ. Fragt sich nur, wann ich ihn nehmen kann.

Da sie auf der Dienststelle chronisch unterbesetzt waren, hatten sich reichlich Überstunden angehäuft, die abzufeiern indes keine Gelegenheit war, eben weil dann wieder ein Mann fehlte. Seinen Jahresurlaub hatte Wolfgang im Frühjahr nehmen müssen, obwohl der Sommer ihm natürlich lieber gewesen wäre.

Eigentlich ist es kein richtiges Leben, dachte er. Seine Wohnung sah er eher sporadisch, als regelmäßig, oft kam es vor, daß er im Büro auf einem Feldbett übernachtete. Indes nahm er es mit stoischer Gelassenheit hin. Zu Hause wartete ohnehin niemand auf ihn, die Beziehungen zu einer Frau waren immer an der Tatsache gescheitert, daß Wolfgang wegen seines aufreibenden Dienstes nie Zeit für sie hatte. Irgendwann hatte er es dann ganz aufgegeben, sich nach jemandem umzusehen, mit dem er das Leben teilen konnte.

All diese Dinge gingen ihm durch den Kopf, als er den Kiesweg zur Kirche hinaufstapfte. Rechts sah er das Pfarrhaus, in dem Maria Berger zur Zeit wohnte, doch er ging durch die Tür in das Gotteshaus und blieb überrascht in dem Vorraum stehen.

So eine Pracht hatte er nicht erwartet.

Wolfgang Hellwig war zugegebenermaßen kein Kirchgänger. Ganz abgesehen davon, daß er meistens auch gar keine Zeit hatte, gehörte er zu den Menschen, die höchsten, an Feiertagen eine Messe besuchten. Was allerdings nicht heißen sollte, daß er nicht gläubig war. Es war eine andere Art Glaube, die ihn mit Gott verband, und manchmal, in auswegslosen Situationen, geschah es, daß Wolfgang Kraft und Trost im Gebet fand.

Langsam ging er durch die Kirche und sah sich um. Es war ein herrlicher Anblick, der sich ihm bot. Hellwig stand minutenlang vor dem Bild »Gethsemane« und konnte sich nicht davon losreißen. Erst als er Schritte vernahm, die den Gang herunterkamen, schaute er über die Schulter und erkannte Maria Berger.

Die junge Frau hatte ihn noch nicht gesehen, und der Kripobeamte drückte sich ein Stück tiefer in den Gang zwischen Sakristei und der Treppe, die zur Orgel hinaufführte. Er beobachtete, wie Maria sich in die Bank vor dem Altar setzte und den Kopf sinken ließ. Sekundenlang schien sie ins Gebet vertieft, dann richtete sie sich wieder auf und blickte, als habe sie das Gefühl, von jemandem angeschaut zu werden, hinter sich.

Wolfgang Hellwig wußte nicht, wie er sich verhalten sollte. Aus der Nische herauszukommen und sich ihr zu erkennen zu geben, erschien im genauso unmöglich, wie weiter in seinem Versteck zu verharren. Doch dann entschied er, sich ruhig zu verhalten und zu sehen, was sie als nächstes tat.

Ein irrsinniger Gedanke kam ihm plötzlich. Als er die Kirche betreten hatte, waren mehrere Besucher hiergewesen. Urlauber, augenscheinlich, wie man unschwer an den umgehängten Fotoapparaten und Videokameras erkennen konnte. Inzwischen waren sie gegangen, und einzig er und Maria Berger hielten sich noch hier auf.

Was, wenn plötzlich die Tür aufging, und Thorsten Gebhard hereinkam?

Vielleicht hatten die beiden ja die Kirche als Treffpunkt ausgemacht…

Wolfgang merkte, in welchem Zwiespalt er steckte. Nichts wünschte er sich sehnlicher, als den Verbrecher zur Strecke zu bringen. Auf der anderen Seite befürchtete er, daß sich genau das herausstellen würde, was er im ersten Moment seiner Ermittlungen geglaubt hatte, daß Maria Berger die Komplizin war.

Plötzlich stand sie auf und kam genau auf sein Versteck zu. Maria erschrak nicht, als sie den Beamten sah. Ihr Blick war eher erstaunt, als verängstigt.

»Ich hatte das Gefühl, beobachtet zu werden«, sagte sie mit der Stimme, die ihm schon bei ihrem ersten Gespräch so angenehm aufgefallen war.

»Entschuldigen Sie…, es… es war net meine Absicht…«, stotterte Wolfgang Hellwig.

»Sie entschuldigen sich bei mir?« fragte Maria. »Aber wieso? Sie tun doch nur Ihre Pflicht.«

Ein wenig erstaunte es ihn, daß sie nicht überrascht schien, ihn hier zu sehen. Aber gleich darauf bekam er die Erklärung dafür.

»Es war ja ohnehin nur eine Frage der Zeit, bis wir uns begegnen mußten«, fuhr die junge Frau fort. »Als ich erfahren habe, daß Sie auf dem Weg hierher sind, dachte ich allerdings net, daß es schon so bald sein würde. Sie sind aber net meinetwegen gekommen, net wahr?«

»Nein«, schüttelte er den Kopf.

»Wegen Thorsten«, sagte sie. »Glauben Sie wirklich, daß er es war, der in Österreich gesehen wurde?«

»Sie sind erstaunlich gut informiert«, stellte er fest.

»Sie vergessen, daß der Bruder meines Gastgebers ein Kollege von Ihnen ist. Als er heut’ morgen pflichtbewußt meine Anwesenheit nach München meldete, erfuhr er von Ihrem Mitarbeiter, daß Sie nach St. Johann unterwegs sind. Außerdem sind ja alle Dienststellen, an der Grenze zum Nachbarland, in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt worden.«

»Es ist nur eine Vermutung«, sagte Wolfgang und merkte, daß er sie die ganze Zeit fasziniert anstarrte.

Dieses anmutige Gesicht war ihm ins Gedächtnis gebrannt. Ihr sinnlicher Mund schrie geradezu danach, geküßt zu werden. Wolfgang fühlte, daß sein Herz lichterloh brannte, als er jetzt vor ihr stand, und es tat weh, in ihr immer noch eine Verdächtige sehen zu müssen.

»Vielleicht war es nicht Dr. Gebhard«, fuhr er mit rauher Stimme fort. »Aber man muß alle Möglichkeiten in Betracht ziehen.«

»Natürlich«, erwiderte Maria, die seinen seltsamen Blick bemerkte und sich keinen Reim darauf zu machen wußte. »Ich glaube indes nicht, daß Thorsten sich überhaupt noch in Europa aufhält. Sollte er sich jedoch wider Erwarten bei mir melden, werde ich Sie unverzüglich davon unterrichten.«

»Dann… dann haben Sie keine gefühlsmäßigen Bindungen mehr zu ihm?« fragte der Beamte.

Maria sah ihn an, als habe er ihr eine völlig unverständliche Frage gestellt.

»Natürlich net!« antwortete sie. »Wie können Sie so etwas auch nur denken? Dieser Mann hat mein Leben zerstört. Ich wünschte, ich wäre ihm niemals begegnet!«

Wolfgang atmete befreit auf. Nein, sie liebte Gebhard nicht mehr, und das konnte nur ein Beweis ihrer Unschuld sein.

Er lächelte sie an.

»Ich bin froh, daß wir uns unterhalten haben, Frau Berger«, sagte er. »Hoffen wir, daß Dr. Gebhard bald gefaßt wird, und Sie in aller Öffentlichkeit rehabilitiert werden.«

»Heißt das, daß Sie mir glauben?« fragte Maria überrascht.

Wolfgang Hellwig zuckte die Schultern.

»Sagen wir, der Verdacht gegen Sie schwächt sich ab«, entgegnete er.

*

Martin Ernst schaute seine Kollegen schmunzelnd an.

»Bingo«, sagte der stellvertretende Leiter der Sonderkommission. »Es sieht ganz so aus, als gäbe es eine Spur von unsrem Meisterdieb.«

Klaus Schober sprang förmlich von seinem Stuhl auf.

»Wirklich?«

Ernst nickte.

»Und sie führt tatsächlich nach Österreich. Der gute Dr. Gebhard hat uns ganz schön an der Nase herumgeführt. Während wir in der ganzen Welt nach ihm suchen, versteckt er sich praktisch gleich um die Ecke.«

»Und wie ist das herausgekommen?« wollte Jochen Brandner wissen.

»Ein Glücksfall und für uns mehr wert, als ein Sechser im Lotto«, erwiderte Martin. »Eigentlich sollte die Telefonüberwachung der Frau Berger eingestellt werden. Aber der Chef hatte im letzten Moment noch eine Idee. Was, wenn sie die Rufumleitung ihres Handys nutzt, und jeder, der sie zu Hause anruft, automatisch auf das Mobiltelefon weitergeleitet wird? Das haben wir uns gestern gefragt. Deshalb hat unser allwissender Vorgesetzter angeordnet, daß der Anschluß weiterhin überprüft werden soll, und er hat recht gehabt. Gestern abend wurde bei Maria Berger angerufen, da war sie ja schon in St. Johann. Die Umleitung dauert eine Weile, der Anrufer muß also dranbleiben, wenn er mit dem andren Teilnehmer sprechen will. Unsre Leute haben festgestellt, daß Dr. Gebhard, ich geh’ jedenfalls mal davon aus, daß es sich um ihn handelt, aus Österreich angerufen hat. Das Telefonat dauerte zwar nur ein paar Minuten, aber immer noch lang’ genug, daß die Experten herausfinden konnten, woher der Anruf kam. Und jetzt haltet euch fest, seit heute morgen hat er es noch sechsmal versucht, Maria Berger zu erreichen. Vermutlich hat sie ihr Handy net eingeschaltet, so daß er immer nur auf der Mailbox landet.«

»Mensch, das ist ja ein Ding!« stieß Schober hervor.

»Leider hat die Sache einen Haken«, schränkte Martin Ernst ein. »Was allerdings auch wieder für die Annahme spricht, daß es sich um unsren Mann handelt. Er scheint nämlich ständig unterwegs zu sein. Vorteil für uns ist dabei, daß er mit einem Handy telefoniert und die österreichischen Kollegen es orten konnten. Es handelt sich aller Wahrscheinlichkeit nach nicht um ein registriertes Gerät, sondern um eines, in das man eine gekaufte Karte steckt und den Betrag abtelefoniert.«

Die drei Beamten diskutierten die Neuigkeit eine Weile durch. Die Tatsache, daß Thorsten Gebhard immer von anderen Orten aus Österreich angerufen hatte, erschwerte es natürlich, ihn einzukreisen. Vermutlich war er mit einem Auto unterwegs, denn die Abstände, in denen er telefoniert hatte, waren immer größer geworden. Der Mann mußte ja damit rechnen, daß der Anschluß von Maria Berger abgehört wurde, und ging mit großer Vorsicht zu Werke.

»Das Beste wird es sein, wenn ich den Chef informiere«, sagte Martin Ernst schließlich und griff zum Telefon.

Wolfgang Hellwig nahm das Gespräch sofort entgegen. Nach dem Zusammentreffen mit Maria Berger in der Kirche, war er in seine Pension zurückgegangen. Er mußte einen Augenblick Ruhe haben, um seine durcheinander gebrachten Gefühle wieder zu ordnen. Aber die Frau wollte ihm einfach nicht aus dem Sinn gehen.

»Mensch, Junge, jetzt bleib aber auf dem Teppich!« rief er sich zur Ordnung, als er auf dem Bett lag. »Das fehlte noch, daß du dich, als ermittelnder Beamter, in die Tatverdächtige eines Verbrechens verguckst!«

Indes mußte er sehr schnell feststellen, daß er gegen seine Gefühle machtlos war. Deshalb versuchte er, sich wieder auf seine Arbeit zu konzentrieren.

Was, fragte er sich, machte ihn eigentlich so sicher, daß Thorsten Gebhard tatsächlich nach St. Johann kommen würde?

Schließlich konnte er ja gar nicht wissen, daß Maria Berger in ihre alte Heimat gefahren war.

Und warum glaubte er, daß der Millionendieb überhaupt Kontakt mit ihr aufnehmen wollte? Um sich dann mit Maria doch noch irgendwohin abzusetzen, wo sie sicher waren und das Geld ausgeben konnten?

Bei nüchterner Überlegung wurde ihm klar, daß er keine Antwort auf diese Fragen wußte. Und einen sicheren Platz gab es nur scheinbar. Dreißig Millionen Euro, das war ein Betrag, der allerhand lichtscheues Gesindel anzog. Gebhard mußte sich unter Umständen darauf gefaßt machen, daß er einen ganzen Rattenschwanz von Gaunern hinter sich her zog, die nichts unversucht ließen, um ihm das Geld wieder abzunehmen.

Als sein Handy klingelte, schreckte der Beamte hoch. Er nahm den Anruf entgegen und hörte sich an, was Martin Ernst zu berichten hatte. Also doch! Auch wenn noch der letzte Beweis fehlte, es sah ganz danach aus, als wenn der Dieb versuchte, mit seiner – er scheute sich, diese Bezeichnung auch nur zu denken – Geliebten Kontakt aufzunehmen!

»Und jetzt, Chef?« fragte der Kollege in München.

»Natürlich wird der Anschluß weiterhin überwacht«, ordnete Hellwig an. »Und ich halte hier die Stellung. Gebt mir sofort Bescheid, wenn er sich wieder meldet, und versucht vor allem herauszufinden, von wo aus er anruft.«

»Geht klar«, verabschiedete Ernst.

Wolfgang legte das Mobiltelefon wieder auf den Tisch und fuhr sich müde über das Gesicht.

Was war zu tun?

Der Gedanke, daß Maria Berger ihr Handy nicht eingeschaltet hatte, lag auf der Hand. Deswegen versuchte Gebhard ja immer wieder, sie zu erreichen.

»Ich muß sie irgendwie dazu bringen, daß sie es einschaltet«, murmelte er vor sich hin.

Aber würde Maria es auch wirklich machen?

Kurz entschlossen griff er zu dem Verzeichnis, das er im Zimmer vorgefunden hatte. Darin stand unter anderem auch die Telefonnummer des Pfarrhauses. Sein Herz klopfte heftig, als er wählte.

*

»Ja, es war wirklich nur eine Frage der Zeit, bis du den Herrn Hellwig hier treffen mußtest«, nickte Sebastian Trenker, nachdem Maria ihm davon erzählt hatte. »Immerhin ist seine Aussage, daß sich der Verdacht gegen dich abschwächt, schon mal sehr positiv zu sehen.«

Die junge Frau schaute nachdenklich vor sich hin.

»Glauben Sie wirklich, daß Thorsten hierherkommen will?«

Der Geistliche zuckte die Schultern.

»Wenn er es denn ist, den man in Österreich erkannt zu haben glaubt«, erwiderte er. »Aber was sollte er hier? Für ihn wäre es doch wirklich besser, wenn er weiter geflohen wäre, als bis ins Nachbarland.«

Sie saßen im Wohnzimmer des Pfarrhauses. In der Küche war Sophie Tappert mit den Vorbereitungen für das Abendessen beschäftigt, und vor kurzem war Silke Brandner nach Hause gekommen.

»Weiß Thorsten, daß du aus St. Johann stammst?« fragte Sebastian.

Maria nickte.

»Ja, ich hab’ es ihm mal erzählt«, antwortete sie. »Und einmal hat er sogar vorgeschlagen, hierher zu fahren und sich alles anzuschauen. Aber irgendwie ist es dann doch net dazu gekommen.«

»Ich überlege, welche Motive er haben könnte, daß er sich der Gefahr aussetzt, hier geschnappt zu werden, als weit weg in Sicherheit zu sein«, fuhr der Bergpfarrer fort. »Und ich frage mich, ob er wohl inzwischen versucht hat, sich mit dir in Verbindung zu setzen. Ich bin überzeugt, daß sein Handeln etwas mit dir zu tun haben muß.«

»In München hat er’s jedenfalls net getan. Da haben immer nur aufdringliche Reporter angerufen. Ich bin ja nachher gar net mehr ans Telefon gegangen.«

»Und dein Handy?«

»Das ist seit Tagen net eingeschaltet.«

Draußen klingelte das Telefon. Ehe Sebastian aufspringen und hinausgehen konnte, stand seine Haushälterin schon in der Tür.

»Maria, Telefon für dich«, sagte Sophie Tappert.

Die junge Frau blickte den Geistlichen entsetzt an. Ihr war plötzlich heiß und kalt geworden.

»Wer… wer ist es denn?« fragte sie mit tonloser Stimme.

»Kommissar Hellwig, hat er gesagt.«

Maria atmete erleichtert auf. Für einen Moment hatte sie geglaubt, es könne Thorsten Gebhard sein. Aber das war eigentlich unmöglich. Er wußte ja nicht, daß sie sich hier im Pfarrhaus aufhielt.

Sebastian hatte indes dasselbe gedacht. Aber der Millionendieb hatte gar keine Veranlassung hier anzurufen. Vermutlich wußte er noch nicht einmal, daß Maria überhaupt nicht mehr in München war.

Sie nahm den Hörer, den Sophie Tappert daneben gelegt hatte, auf und nannte ihren Namen.

»Guten Abend, Frau Berger«, vernahm sie die Stimme Wolfgang Hellwigs. »Entschuldigen Sie bitte die Störung.«

»Keine Ursache«, entgegnete Maria. »Was gibt’s denn?«

Der Beamte räusperte sich.

»Tja… äh, also ich würde Sie gerne zum Essen einladen…«, sagte er stockend.

»Mich?« rief sie überrascht. »Dürfen Sie das überhaupt? Ich meine, wo ich doch verdächtigt werde…«

»Bitte, vergessen Sie das mal«, antwortete Wolfgang Hellwig. »Ich möchte mich gerne mit Ihnen unterhalten. Haben Sie Lust?«

»Ja…«, sagte sie, und es klang sehr zögerlich.

»Geht’s heut’ abend schon?«

Sie überlegte. Die Haushälterin hatte schon den Abendbrotstisch gedeckt, aber es wurde ohnehin kalt gegessen. Sophie Tappert hatte nicht gekocht.

»Also gut«, erwiderte sie.

»Dann um sieben vor dem Hotel?«

»In Ordnung, ich werde da sein.«

»Schön, Frau Berger. Ich freue mich.«

Es klickte in der Leitung, als er einhängte. Maria stand noch einen Moment nachdenklich am Telefon, ehe sie ins Wohnzimmer zurückging.

»Herr Hellwig hat mich zum Abendessen eingeladen«, sagte sie.

Sebastian war nicht weniger erstaunt als sie.

»Ich weiß nur net, warum«, fuhr Maria fort. »Will er auf diese Weise versuchen, etwas aus mir herauszubekommen?«

»Das glaub’ ich net«, schüttelte der gute Hirte von St. Johann den Kopf. »Wenn er sagt, daß sich der Verdacht gegen dich abschwächt, warum sollte er dann anders herum versuchen, Informationen aus dir herauszulocken? Abgesehen davon, daß du ihm ohnehin keine liefern kannst.«

Schritte erklangen im Flur, und Claudia Trenker trat ein.

»Grüß euch«, sagte die Journalistin. »Ich wollt’ mich bei euch zum Abendessen einladen. Max hat Nachtdienst. Die Grenze zu Österreich ist abgeriegelt, und da müssen alle Polizeibeamten ran.«

Sebastian lächelte seine Schwägerin an.

»Freilich kannst’ mit uns essen«, sagte er. »Max hat dir wahrscheinlich erzählt, daß Thorsten Gebhard dort gesehen wurde, oder?«

Claudia nickte.

»Offenbar ist der Mann ständig unterwegs«, berichtete sie und sah Maria an. »Einmal hieß es, er sei in der Nähe von Salzburg. Zuletzt allerdings kam eine Meldung aus Kufstein.«

»Ach, so nah ist er schon?«

Sebastian schüttelte den Kopf.

»Offenbar will er tatsächlich wieder nach Deutschland zurück. Aber warum ausgerechnet hierher?«

»Darüber können Max und seine Kollegen nur Mutmaßungen anstellen«, antwortete Claudia. »Aber wenn er es wirklich vorhat, dann wird es net einfach sein, ihn zu stellen.«

Der Geistliche nickte. Er wußte, was seine Schwägerin meinte. Am offiziellen Grenzübergang würde Thorsten Gebhard es bestimmt nicht versuchen. Aber wenn er auf der österreichischen Seite die Grenze entlang nach Süden fuhr, würde er irgendwann zum Kogler kommen, dem Berg, auf dessen anderer Seite St. Johann lag. Wollte er versuchen, dort nach Deutschland zu wechseln, würden es die Polizisten schwer haben. Der Kogler bot viele Möglichkeiten, sich zu verstecken. Selbst bei Tag war Thorsten Gebhard dort verhältnismäßig sicher.

Vorausgesetzt, er hatte die richtige Ausrüstung dabei.

*

Maria ging mit klopfendem Herzen zu der Verabredung. Wolfgang Hellwig wartete schon vor dem Hotel. Er freute sich offensichtlich, daß sie seiner Einladung gefolgt war.

»Ich habe einen Tisch in der Gaststube reserviert«, sagte er nach der Begrüßung.

Galant hielt er ihr die Tür auf. Eine Haustochter stand hinter dem Tresen und nickte ihnen zu. Der Beamte nannte seinen Namen, und das Madel führte sie zu einem Tisch, der in einer Ecke stand.

Maria war sicher, vor Aufregung keinen Bissen herunterzubekommen. Der Mann, der ihr jetzt gegenüber saß, hatte sie hart verhört und ihre Worte immer wieder als Lügen bezeichnet, mit denen sie sich und den flüchtigen Verbrecher schützen wollte.

Doch jetzt sah sie Wolfgang Hellwig in einem ganz anderen Licht. Zum ersten Mal betrachtete sie sein Gesicht. Im Polizeipräsidium war es ihr nicht halb so sympathisch vorgekommen wie jetzt. Die Haustochter brachte die Speisenkarten und erkundigte sich nach ihren Getränkewünschen. Der Beamte bestellte für sich ein Bier, während Maria ein Mineralwasser wählte. Essen wollte sie nur einen Salatteller, Wolfgang nahm eine kalte Platte.

»Was verschafft mir eigentlich die Ehre dieser Einladung?« fragte sie, nachdem die Bestellung aufgegeben war.

Er trank einen Schluck Bier und wischte sich den Schaum von den Lippen.

»Ich will ehrlich zu Ihnen sein, Frau Berger«, antwortete der Kriminalhauptkommissar. »Thorsten Gebhard versucht die Grenze nach Bayern zu überschreiten. Wir wissen es, weil er immer wieder versucht, Sie zu Hause in München telefonisch zu erreichen. Sein Handy wurde geortet. Gott sei Dank dauern die Gespräche immer so lange, weil Ihre Rufumleitung aktiviert ist, und wir, beziehungsweise die Kollegen in Österreich, Zeit genug haben, die Ortung durchzuführen. Zwar konnten wir seiner noch nicht habhaft werden, aber es besteht gar kein Zweifel mehr daran, daß es sich bei dem Anrufer um Thorsten Gebhard handelt. Wer sonst in Österreich sollte Sie so dringend sprechen wollen?«

»Ich kenne dort niemanden«, nickte Maria.

»Genau das haben wir überprüft«, fuhr Wolfgang fort. »Das Problem ist, daß es an der Grenze entlang genug Verstecke gibt, in denen sich Dr. Gebhard verkriechen kann. Es kann unter Umständen Tage, wenn nicht gar Wochen dauern, bis wir ihn fassen. Ich möchte Sie daher bitten, uns zu helfen.«

Maria sah ihn erstaunt an.

»Ich? Wie denn?«

»Indem Sie Ihr Handy einschalten und das Gespräch entgegennehmen, wenn er wieder anruft«, erklärte der Kripobeamte. »Noch weiß er ja nicht, daß Sie sich hier aufhalten, aber da er ständig auf der Mailbox landet, vermutet er zumindest, daß Sie nicht mehr zu Hause in München sind. Vielleicht denkt er, Sie wären in Urlaub gefahren. Jedenfalls will er mit Ihnen sprechen, und Sie würden uns einen großen Gefallen tun, wenn Sie das zuließen. Je eher er erfährt, daß Sie hier in St. Johann sind, um so eher wird er versuchen, herzukommen.«

»Schön und gut«, entgegnete Maria. »Nur verstehe ich net, warum er das tun sollte. Thorsten ist geflohen und hat mich zurückgelassen. Warum sollte er das Risiko eingehen und hierherkommen?«

Wolfgang Hellwig antwortete nicht sofort. Aber er sah sie offen an, und sein Blick schien sie zu durchdringen.

»Vielleicht liebt er Sie«, sagte er dann leise.

Maria unterdrückte den Impuls, aufzulachen.

»Er soll mich noch lieben?« erwiderte sie. »Nach allem, was er getan, und besonders mir angetan hat, wird er wohl kaum damit rechnen, daß meine Gefühle für ihn immer noch die alten sind.«

»Das habe ich mir auch überlegt«, nickte Wolfgang Hellwig. »Wenn ich dabei bin, einen Fall aufzuklären, versuche ich immer, mich in die Person das Verbrechers hineinzudenken. Wie handelt er und warum, was geht ihm durch den Kopf.

Ich bin überzeugt davon, daß Thorsten Gebhard Sie immer noch liebt, Maria. Als er das Verbrechen plante, hatte er nicht den Mut, Sie einzuweihen. Aber ganz sicher war es seine Absicht, sich nach seiner Flucht irgendwie mit Ihnen in Verbindung zu setzen und Sie zu überreden, mit ihm zu gehen. Er konnte ja davon ausgehen, daß Ihnen eine Mittäterschaft nicht nachzuweisen sein wird.«

Seinen Ausführungen war Maria nur bis zu einem gewissen Punkt gefolgt, vielmehr beschäftigte sie, daß Wolfgang Hellwig sie gerade mit ihrem Vornamen angesprochen hatte…

»Er muß mich aber für sehr dumm halten, wenn er glaubt, daß ich mit ihm gehe«, sagte sie schließlich.

Der Beamte lächelte.

»Das ist genau der Satz, den ich hören wollte«, sagte er.

Inzwischen war längst das Essen aufgetragen worden. Doch bisher hatten sie nur ein paar Bissen davon genommen. Maria stocherte mit ihrer Gabel in dem Salat herum.

Diesen Satz hat er hören wollen, dachte sie.

Warum?

Irgendwie schafften sie es doch noch, während des Gespräches, sich ihrem Essen zu widmen. Von ganz alleine führte das Thema schließlich weg von Thorsten Gebhard.

»Ein hübscher Ort«, bemerkte Wolfgang einmal. »Haben Sie gerne hier gelebt?«

Maria zuckte die Schultern.

»Bis zum Tode meines Vaters schon«, antwortete sie. »Aber dann hatte ich niemanden mehr hier. Die Tischlerei konnt’ ich net übernehmen, und außerdem lockte die Großstadt. Mit dem, was ich gespart hatte, und durch das Geld aus dem Verkauf des Hauses und der Werkstatt hatte ich ja auch einen leichten Start.«

»Sind Sie nie wieder zurückgekommen? Auch nicht mal nur zu Besuch?« wollte er wissen.

»Es gab ja niemanden, den ich hier besuchen konnte«, erwiderte Maria. »Ich hatte alle Brücken hinter mir abgebrochen. Die einzige Bindung wäre das Grab meiner Eltern gewesen, aber ich hab’ die Pflege einer Gärtnerei übergeben. Es gab also keinen Grund für mich, herzukommen. Wenn man einen Menschen auch über den Tod hinaus liebt, braucht’s keine Äußerlichkeiten. Ich bewahr’ meine Eltern immer noch im Herzen.«

Einen kurzen Moment herrschte Schweigen.

»Wissen Sie, daß Sie eine faszinierende Frau sind, Maria«, sagte Wolfgang dann.

Sie lächelte. Nun hatte er sie schon zum zweiten Mal beim Vornamen genannt.

»Vielen Dank, Wolfgang«, antwortete sie.

Und er lächelte zurück.

*

»Ich bringe Sie selbstverständlich zum Pfarrhaus«, erklärte der Kripobeamte, als sie das Wirtshaus verließen.

»Aber das ist net nötig«, wollte sie abwehren.

Wolfgang machte ein verlegenes Gesicht.

»Ihr Handy – haben Sie es dabei?«

Maria verstand.

»Ach so«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Nein, das ist im Pfarrhaus. Ich hab’s noch net einmal aus der Tasche genommen.«

»Würden Sie das bitte gleich machen? Und… dürfte ich vielleicht dabeisein?«

»Natürlich«, antwortete sie.

Schweigend gingen sie nebeneinander her. Während Wolfgang Hellmann daran dachte, wie es wäre, jetzt seinen Arm um sie zu legen, überlegte Maria, daß er eigentlich ein ganz anderer Typ war, als den sie ihn kennengelernt hatte. Nichts war mehr von der Verbissenheit zu spüren, mit der er alles darangesetzt hatte, sie der Komplicenschaft zu Thorsten zu überführen. Richtig angenehm empfand sie seine Begleitung, und irgendwie wünschte sie sich, dieser Abend würde noch nicht zu Ende gehen.

Pfarrer Trenker hatte ihr einen Hausschlüssel gegeben, damit sie kommen und gehen konnte, wann sie wollte. Bisher hatte Maria davon noch keinen Gebrauch gemacht. Jetzt zog sie den Schlüssel hervor und öffnete.

»Einen Moment«, bat sie, »ich muß das Handy aus meinem Zimmer holen.«

Wolfgang nickte und sah sich wartend um. Gerade als Maria die Treppe hinaufgegangen war, öffnete sich eine Tür, und der Geistliche trat auf den Flur.

»Ach, hab’ ich mich doch net geirrt, als ich dachte, Stimmen zu hören«, sagte Sebastian. »Kommen S’ doch herein.«

»Ich möchte aber net stören«, erwiderte der Beamte. »Ich warte nur auf Frau Berger, die…«

»Unsinn, Sie stören net«, schüttelte der Bergpfarrer den Kopf. »Ich wollt’ mich ohnehin mit Ihnen unterhalten.«

Wolfgang Hellwig folgte ihm ins Wohnzimmer und setzte sich in den angebotenen Sessel.

»Mein Bruder hat Nachtschicht«, begann Sebastian die Unterhaltung. »Die Hatz ist also auf.«

Wolfgang räusperte sich.

»Ja, es gibt Hinweise, daß der Gesuchte tatsächlich versucht, nach Bayern überzutreten. Deshalb sind alle Dienststellen in Grenznähe in Alarmbereitschaft versetzt worden«, antwortete er.

»Ich weiß net, ob der Hase sich so leicht fangen läßt…«

»Ein bissel Glück gehört zu unsrem Beruf dazu.«

»Ja, da haben S’ recht«, nickte der Geistliche. »Was die Frau Berger betrifft, so haben S’ Ihre Meinung über sie inzwischen geändert?«

»Na ja, ich bin geneigt ihr zu glauben, daß sie mit der Unterschlagung nichts zu tun hat und auch sonst ahnungslos war.«

»Das freut mich zu hören.«

»Sie hat auch zugestimmt, als ich sie darum bat, ihr Handy einzuschalten.«

»Dann hoffen Sie, daß Thorsten Gebhard sich bei ihr meldet?«

»Ja, das ist im Moment unser einziger Trumpf«, bestätigte Wolfgang Hellwig. »Er ahnt ja net, daß ich hier bin, und daß Frau Berger sich zur Zusammenarbeit bereit erklärt hat.«

»Wir sind hier«, rief Sebastian in den Flur hinaus, als er Schritte auf der Treppe hörte.

Gleich darauf kam Maria herein. Sie hatte das Mobiltelefon in der Hand.

»Setz’ dich«, sagte Sebastian. »Kommissar Hellwig hat mir erzählt, worum es geht.«

»Ich schalte es jetzt also ein«, nickte die junge Frau und drückte ein paar Tasten.

Das Handy gab einen Ton von sich, der anzeigte, daß sie die richtige Geheimnummer eingegeben hatte. Dann ertönte ein Klingeln, und auf dem Display war zu lesen, daß Maria vierzehn Anrufe verpaßt hatte. Sie reichte das Handy an den Kripobeamten weiter. Wolfgang nahm es entgegen.

»Die Anrufe kamen von drei verschiedenen Mobiltelefonen«, sagte er nachdenklich. »Dr. Gebhard ist kein Dummkopf. Er hat jeweils einige Male telefoniert und dann die Karte gewechselt, daher die unterschiedlichen Nummern hier.«

Er gab das Gerät Maria zurück.

»Würden Sie bitte die Mailbox abhören«, bat er.

Maria drückte eine Taste und stellte anschließend die Lautsprecherfunktion ein. Dann lief es ihr eiskalt über den Rücken.

»Maria«, vernahm sie die Stimme des Mannes, den sie einmal geliebt hatte, »ich bin es. Du bist nicht zu Hause. Wo steckst du? Melde dich bitte, wenn du das hier abgehört hast.«

Noch dreizehn ähnlich klingende Nachrichten hatte der flüchtige Millionendieb hinterlassen. Jedesmal mit dem Hinweis, er würde sich wieder melden.

»Der letzte Anruf war heut’ abend um kurz nach acht«, sagte Wolfgang Hellmann und drückte eine Taste, um zurückzurufen, aber es kam keine Verbindung zustande.

»Jetzt können wir nur hoffen, daß er wieder anruft«, meinte Sebastian Trenker. »Nur was soll Frau Berger dann machen? Das Gespräch annehmen?«

»Das habe ich auch schon überlegt«, erwiderte der Beamte. »Ja, ich würd’s für das Beste halten. Versuchen S’ herauszubekommen, was er vorhat. Vielleicht bekommen wir dadurch einen Hinweis darauf, wo Gebhard jetzt steckt und wann er den Grenzübertritt wagen will.«

»Ist das net gefährlich?« wandte Sebastian ein. »Was ist, wenn er Verdacht schöpft?«

»Ich denk’ net, daß es für Frau Berger gefährlich werden könnt’«, schüttelte Wolfgang den Kopf. »Immerhin scheint Dr. Gebhard ja davon überzeugt zu sein, daß Maria ihn immer noch liebt und mit ihm gehen wird.«

Er schaute sie kurz an.

»Wenn es seine Absicht ist, Sie mitzunehmen.«

»Aber was soll ich ihm denn genau sagen?«

»Wichtig ist, daß Sie ihn hinhalten und das Gespräch so lang wie möglich führen. Dann haben unsre Leute die besten Chancen, seinen Standort schnell ausfindig zu machen.«

»Und wenn er tatsächlich herkommen will?« fragte sie.

»Dann ermutigen Sie ihn. Je sicherer er sich fühlt, um so größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß Dr. Gebhard einen Fehler macht.«

»Mir schmeckt das net so recht«, schüttelte Sebastian den Kopf. »Die Maria macht den Lockvogel für Sie, ich halte das net für so ungefährlich, wie Sie, Herr Hellwig.«

»Solange die beiden net aufeinandertreffen, besteht keine Gefahr«, erwiderte er und schüttelte den Kopf. »Natürlich müssen S’ mich sofort benachrichtigen, wenn er sich gemeldet hat.«

Maria nickte.

»Ich glaub’ auch net, daß Thorsten mir was tun würd’«, sagte sie.

Wolfgang Hellwig stand auf.

»Gut, dann möchte ich mich jetzt verabschieden.«

Maria erhob sich ebenfalls.

»Ich bring’ Sie noch.«

Vor der Tür reichte er ihr die Hand.

»Vielen Dank noch mal, daß Sie uns helfen.«

»In erster Linie will ich mir helfen und mich von dem fürchterlichen Verdacht reinwaschen«, erwiderte sie und schaute ihn ernst an.

Wolfgang hielt ihre Hand länger, als nötig. Sein Blick ruhte auf ihr, und eine warme Gefühlswelle ging durch seinen Körper.

»Ich glaube dir, Maria«, sagte er leise. »Du bist keine Verbrecherin. Das weiß ich, seit ich dich näher kenne. Verzeih’ mir, daß ich es überhaupt annehmen konnte.«

Er zuckte die Achseln.

»Es steckt nun mal in mir«, setzte er hinzu. »Ich bin von Berufs wegen mißtrauisch.«

Ihr Herz klopfte bis zum Hals hinauf, als er sie an sich zog und sanft küßte.

Was um alles in der Welt machst du, dachte sie, gestern noch war ich für dich die Komplizin eines Millionenräubers, und heute küßt du mich?

Aber es war ein herrlicher Kuß, süßer als jeder andere, den sie jemals empfangen hatte. Und Maria erwiderte ihn. Sie schlang ihre Arme um Wolfgangs Hals und drückte sich an ihn.

Dann sahen sie sich stumm an.

»Ich weiß net, ob es falsch oder richtig ist«, flüsterte er. »Aber ich konnt’ net anders. Seit gestern träume ich davon, dich in den Armen zu halten und zu küssen. Ich liebe dich, Maria. Auch, wenn’s vielleicht gegen jede Vernunft ist.«

Sie antwortete nicht, sagte auch nichts, als er ihr zunickte und den Kiesweg hinunterging. Sie schaute ihm nur hinterher und lauschte auf ihr Inneres.

*

Thorsten Gebhard hatte seine Flucht genauestens vorbereitet. Dann hatten sich allerdings die Ereignisse überschlagen. Ursprünglich hatte er vorgehabt, ganz normal Urlaub zu nehmen und mit Maria auf die Bahamas zu fliegen. Erst dort wollte er ihr von den Überweisungen erzählen, die er nach und nach getätigt hatte.

Mit allem hatte er gerechnet, aber nicht damit, daß man ihm schon vor seiner Abreise auf die Spur kommen würde. Irgend jemand mußte mißtrauisch geworden sein und heimlich seine Transaktionen überprüft haben. Als ihm mitgeteilt wurde, daß in der nächsten Woche eine Revision anstünde, schrillten bei dem Finanzdirektor der »Hillmann AG« sämtliche Alarmsirenen. Deshalb mußte er schnellstens umdisponieren und schon an dem bewußten Freitag verschwinden.

Dennoch gratulierte er sich zu seiner gelungenen Flucht. Wie die Polizei vermutete, war er tatsächlich in Rom aus dem Flugzeug gestiegen und mit einem Leihwagen, den er unter falschem Namen gemietet hatte, weitergefahren. Martin Becker nannte er sich jetzt, die Papiere hatte er sich schon vor geraumer Zeit besorgt, und sie hatten ihn eine schöne Stange Geld gekostet.

Er vermutete immer noch, daß die Kripo glaubte, er wäre tatsächlich nach Südafrika geflohen, und lachte über die vermeintliche Dummheit der Beamten. Das Geld würden sie ohnehin nicht finden. Dank der Segnungen, die das moderne Medienzeitalter mit sich brachte, hatte Gebhard die Millionen mittels onlinebanking immer weiter transferiert, so daß sich jede Spur im endlosen Internet verlor.

Über Südtirol gelangte er nach Österreich. Seine Absicht war es, auf irgendeinen Weg nach München zurückzukehren und mit Maria Kontakt aufzunehmen.

Ein Risiko, gewiß. Aber er liebte sie nun einmal und konnte sich ein Leben ohne sie nicht vorstellen. Schließlich hatte er das alles nur für sie getan.

Davon, daß man ihn in dem oberösterreichischen Hotel erkannt hatte, ahnte er nichts. Inzwischen hatte Gebhard auch sein Äußeres verändert, das Haar war ganz kurz geschnitten und schwarz gefärbt. Er selbst hatte das auf der Toilette einer Raststätte bewerkstelligt und war dabei, sich zusätzlich einen Bart stehen lassen. Den Leihwagen hatte er schon in Bozen zurückgegeben und sich dort auch neu eingekleidet. Da er nur wenig Gepäck brauchte, war ein Rucksack alles, was er mit sich führte. Darin steckten die falschen Ausweispapiere und Führerschein, ein wenig Wäsche zum Wechseln, und eine Karte, so daß er ganz den Eindruck eines Wanderers machte, der zu Fuß dabei war, die Schönheiten Tirols zu erkunden.

Unterwegs übernachtete er meist in einfachen Gasthäusern und mied größere Ortschaften. Seine Tarnung schien perfekt, niemand erkannte ihn.

Das einzige, was schief lief, war, daß er keinen Kontakt zu Maria bekam. Zu Hause ging sie nicht ans Telefon. Gebhard hatte schon vor Wochen ein neues Handy gekauft und telefonierte mit einer Karte, deren Guthaben man wieder aufladen lassen konnte. Indes verzichtete er darauf, sondern warf nach ein paar Gesprächen die Karte fort und besorgte sich eine neue. So glaubte er sicher zu sein, alle Spuren beseitigt zu haben, die zu ihm führen konnten.

Nachdem er gestern ein letztes Mal versucht hatte, mit Maria zu sprechen, warf er das Handy unterwegs in einen See und suchte sich dann ein Lager für die Nacht.

Als er an diesem Morgen aufwachte, war es noch empfindlich kalt. Doch die Temperaturen machten Thorsten Gebhard nichts aus, denn bei dem Gedanken an dreißig Millionen Euro, die ihm gehörten, wurde ihm gleich warm.

Wenn es ihm bloß gelänge, Maria zu sprechen!

Da seine Anrufe immer auf ihr Handy umgeleitet wurden, vermutete er, daß sie ihre Wohnung verlassen hatte und irgendwohin geflüchtet war, wo sie niemand kannte. Intensiv dachte er darüber nach, wo das sein könnte. Aber es wollte ihm kein passender Ort einfallen.

Ein Mann in seiner Position hatte viele Freunde und Bekannte, die natürlich auch Marias Freunde waren. Indes vermutete Thorsten nicht, daß sie bei einem von ihnen untergekommen sein könnte. Sie würden sich wahrscheinlich erschreckt von ihnen beiden distanziert haben, als sie von der Unterschlagung gehört hatten.

Blieb eigentlich nur noch Marias Geburtsort. Sie hatte ihm von dem Dorf erzählt, in dem sie aufgewachsen war. Thorsten hatte vorgeschlagen, mal nach St. Johann zu fahren und sich den Ort anzusehen. Aber irgendwie war es nie dazu gekommen.

Doch würde Maria ausgerechnet dorthin zurückgehen, wo sie jeder kannte?

Eigentlich konnte er es sich nicht vorstellen, trotzdem mußte er auch diese Möglichkeit in Betracht ziehen.

Nachdem er sich an einem Bachlauf gewaschen und die Zähne geputzt hatte, aß der flüchtige Millionendieb etwas von dem Brot und der Dauerwurst aus seinem Rucksack.

Ein opulentes Frühstück, mit Kaviar und Champagner, wäre ihm lieber gewesen, aber das würde noch früh genug kommen. Einstweilen mußte er sich mit diesem frugalen Mahl zufriedengeben.

Nachdem er gegessen hatte, zog Gebhard die Karte heraus und schlug sie auf. Sie zeigte Teile Österreichs, Norditaliens und des südlichen Bayerns. Inzwischen befand er sich nahe der österreichisch-deutschen Grenze, und als er feststellte, daß es bis zu diesem Ort, St. Johann, kaum mehr als ein Katzensprung war, stand sein Entschluß fest.

Er würde die Grenze hier irgendwo überqueren und sich dann weiter durchschlagen. Ein neues Handy mußte her, aber vielleicht fand er unterwegs auch eine andere Möglichkeit, mit Maria zu telefonieren.

Und hoffentlich nahm sie dann das Gespräch auch an!

*

Maria wachte nach einer unruhigen Nacht müde und zerschlagen auf. Sie hatte verschiedene, wirre Träume gehabt, an die sie sich kaum noch erinnerte, aber in jedem, das wußte sie noch, waren Thorsten Gebhard und Wolfgang Hellwig vorgekommen.

Nachdem der Polizeibeamte gegangen war, hatte sie noch lange am Zaun gestanden und über das nachgedacht, was gerade geschehen war. Der Kuß hatte sie erschreckt, aber gleichzeitig war er auch etwas Wundervolles gewesen. Wolfgangs überraschende Liebeserklärung hatte sie durcheinandergebracht, aber auch ein Gefühl in ihr geweckt, das durch die Geschehnisse in München in ihr gestorben zu sein schien.

War es Liebe?

Sie hatte Thorsten geliebt, innig und aufrichtig. Sie waren das perfekte Paar gewesen, und Maria hätte sich ein Leben ohne ihn niemals vorstellen können. Daß dies nun alles auf so brutale und schmerzhafte Weise zerstört worden war, ließ diese Liebe in ihr sterben, und sie war sicher gewesen, nie wieder die Zärtlichkeiten eines Mannes ertragen zu können – geschweige denn, sie zu erwidern.

Und doch fühlte sie so etwas wie Glück, als sie sich den Moment in Erinnerung rief, in dem Wolfgang sie in seine Arme nahm.

»Hier bist du«, sagte eine Stimme neben ihr.

Pfarrer Trenker war herausgekommen und sah sie fragend an.

»Alles in Ordnung?«

Maria nickte.

»Du bist net verpflichtet, der Bitte des Kommissars, den Lockvogel zu spielen, nachzukommen«, erklärte der Bergpfarrer.

»Das ist es net, was mich beschäftigt«, antwortete sie und erzählte, was geschehen war.

Pfarrer Trenker schmunzelte.

»Ich hab’ mir schon so was gedacht«, meinte er. »Während unsrer Unterhaltung hab’ ich den Herrn Hellwig beobachtet. Die Blicke, die er dir zuwarf, waren net anders zu deuten.«

Maria zog fröstelnd die Schultern zusammen.

»Komm herein«, sagte Sebastian. »Es ist alles ein bissel zuviel für dich. Am besten versuchst zu schlafen.«

Das tat sie, aber nur mit mäßigem Erfolg. Erst in den frühen Morgenstunden schlief sie ein und träumte unruhig.

Jetzt stand sie auf. Zuerst schaute Maria auf ihr Handy. Es hatte die ganze Nacht neben ihr auf dem Nachtkästchen gelegen. Thorsten hatte nicht wieder angerufen. Als sie zum Frühstück herunterkam, saßen der Geistliche und seine Haushälterin schon in der Küche am Tisch. Sophie Tappert schenkte Maria Kaffee ein und versorgte sie mit einer Semmel. Nicht lange danach kam Max ins Pfarrhaus.

»Ach, Frühstück, herrlich!« sagte er und rieb sich die Hände. »Mensch, war das kalt heut’ nacht.«

Er setzte sich an den Tisch und genoß den heißen Kaffee.

»Das war ein schöner Reinfall«, erzählte er. »Net einmal einen Fuchs haben wir geseh’n, gar net zu reden von einem flüchtigen Millionenräuber.«

Trotzdem würden die Beamten weiterhin in Alarmbereitschaft gehalten, berichtete der Bruder des Bergpfarrers. Heute abend müsse er schon wieder ran.

»Und auch sonst gibt’s keinen Hinweis?« fragte Sebastian.

Sein Bruder schüttelte den Kopf.

»Net den kleinsten«, erwiderte er. »Und wenn ihr mich fragt, dann ist das alles für die Katz’. Dr. Gebhard sitzt bestimmt schon irgendwo im Süden und läßt sich die warme Sonne auf den Bauch scheinen, während wir hier im Gebüsch hocken und nach ihm Ausschau halten.«

»Wenn du dich da mal net täuschst«, entgegnete der Geistliche und erzählte von gestern abend. »Es schaut alles danach aus, daß Thorsten Gebhard sich tatsächlich in der Nähe der Grenze befindet.«

»Na, dann kann man ja wirklich nur hoffen, daß er anruft«, sagte Max.

Maria hob das Handy hoch.

»Ich hab’s Tag und Nacht bei mir.«

Der junge Polizist aß mit Behagen drei Semmeln und trank mehrere Tassen Kaffee dazu. Anschließend verabschiedete er sich.

»Ich muß erst mal ein paar Stunden schlafen, damit ich heut’ abend wieder fit bin.«

Zur selben Zeit saß Wolfgang Hellwig ebenfalls beim Frühstück, indes war er schon geraume Zeit auf den Beinen. Nach dem Duschen und Rasieren hatte er gleich in München angerufen und sich über das Ergebnis der nächtlichen Aktion informieren lassen.

»Auch wenn Gebhard gestern net aufgetaucht ist, wird die Operation aufrecht erhalten«, bestimmte der Hauptkommissar.

»Das werden S’ aber mit dem Polizeipräsidenten abstimmen müssen«, meinte Klaus Schober, der am Apparat war.

»Keine Sorge, darum kümmre ich mich schon«, antwortete der Beamte. »Noch was, ich habe gestern abend mit Frau Berger verabredet, daß sie ihr Handy eingeschaltet läßt. Sollte sich Gebhard wieder bei ihr melden, wird sie versuchen, herauszubekommen, was er vorhat. Ich bin immer noch davon überzeugt, daß er sich mit ihr treffen will. Warum sonst geht er das Risiko ein, sich noch in Europa aufzuhalten, wenn er schon ganz woanders sein könnt’?«

»Das haben S’ sicher recht«, stimmte der Kollege zu. »Sollten wir dann net besser zu Ihnen stoßen, Chef?«

»Darüber entscheide ich, wenn’s soweit ist. Gebhard wird sicher net anrufen und im nächsten Moment hier in St. Johann erscheinen. Haltet euch auf jeden Fall bereit, jederzeit kurzfristig hier herzukommen.«

»Geht klar«, erwiderte Schober.

Wolfgang Hellwig beendete die Verbindung und wählte die Nummer des Münchener Polizeipräsidenten. Er wurde sofort durchgestellt.

»Wie sieht’s aus?« wollte sein oberster Vorgesetzter sofort wissen.

»Im Moment tut sich nix«, erwiderte der Beamte. »Aber ich habe die Hoffnung, daß Dr. Gebhard sich früher oder später bei Frau Berger meldet. Ich habe mit ihr gesprochen, und sie ist zur Zusammenarbeit bereit. Frau Berger läßt ihr Mobiltelefon Tag und Nacht eingeschaltet. Gestern waren es vierzehn Anrufe, von drei verschiedenen Kartenhandys. Der Mann hat also einen bestimmten Grund, daß er sie sprechen will. Daher ist es wichtig, daß der Grenzverlauf weiter kontrolliert wird. Vor allem in den Abend- und Nachtstunden.«

Der Polizeipräsident stöhnte auf.

»Mensch, Hellwig, wissen Sie, was das kostet? Wenn ich alleine an die Überstunden denke!«

»Ich weiß«, antwortete der Hauptkommissar, »aber dennoch muß ich darauf bestehen. Ich bin überzeugt, daß eine entscheidende Phase bevorsteht, und nur wenn wir an den markanten Punkten präsent sind, haben wir eine Chance, daß der Flüchtige uns nicht durch die Lappen geht.«

»Also gut«, bekam Wolfgang Hellwig zur Antwort, »ich werde alles Nötige veranlassen.«

»Vielen Dank«, verabschiedete sich der Beamte und legte auf.

Einen Moment lang saß er da und schaute nachdenklich aus dem Fenster. Das, was er gestern abend getan hatte, war spontan geschehen und hatte ihn selbst überrascht. Aber Wolfgang bereute es nicht, Maria seine Liebe gestanden zu haben. Man konnte sich eben nicht gegen seine Gefühle wehren. Jetzt dachte er voller Zärtlichkeit an die junge Frau, die er zuerst eines Verbrechens verdächtigt hatte, und die ihn, wie er inzwischen wußte, vom ersten Augenblick an verzaubert hatte.

*

Ria Stubler brachte einen Korb frischer Semmeln und Brot. Auf dem Tisch standen schon eine Aufschnittplatte und kleine Töpfe mit hausgemachter Marmelade und Honig, dazu eine Kanne Kaffee.

Die Wirtin wußte zwar, daß ihr Gast Beamter bei der Münchener Kriminalpolizei war, aber Wolfgang Hellwig hatte nicht durchblicken lassen, ob er sich dienstlich oder privat in St. Johann aufhielt.

Indes konnte Ria eins und eins zusammenzählen. Im Dorf hatte es längst die Runde gemacht, daß Maria Berger, die Geliebte des geflüchteten Millionenräubers, nach Hause zurückgekehrt war. Dabei waren die Meinungen zweigeteilt. Die einen flüsterten unter der Hand, daß Maria nicht so ganz unschuldig sei, wie es in der Zeitung gestanden hatte, die anderen nahmen sie rigoros in Schutz. Es waren vor allem diejenigen, die sie von früher her besonders gut kannten. Dazu gehörte auch Christel Hofer, eine frühere Klassenkameradin. Mit ihr hatte sich Ria Stubler am vergangenen Tag unterhalten, und Christel hatte Maria vehement gegen alle Angriffe verteidigt. Der Wirtin war also klar, daß ihr Pensionsgast keinen Urlaub machte. Dennoch fragte sie sich, was Wolfgang Hellwig hier wollte.

Wenn Maria nicht mehr verdächtigt wurde, warum heftete er sich dann auf ihre Spur?

»Es ist wieder ein herrliches Wetter heut’«, sagte Ria, als sie den Brotkorb abgestellt hatte. »Hätten S’ net Lust, mal eine kleine Wanderung zu machen? Ich könnt’ Ihnen eine Karte geben, und eine Brotzeit machen S’ sich selbst. Es ist ja genug da.«

Wolfgang lächelte. Bisher hatte er mit der Pensionsinhaberin nur wenige Worte gewechselt, aber die hatten schon genügt, um ihn wissen zu lassen, daß Ria Stubler eine patente Frau war, die das Herz auf dem rechten Fleck hatte.

»Leider hab’ ich keine Zeit für eine Wanderung«, erwiderte er und hob die Hände. »Was eigentlich schad’ ist, denn das Wenige, was ich bisher gesehen hab’, hat mir recht gut gefallen.«

Die anderen Gäste hatten schon gefrühstückt und die Pension verlassen. Ria hatte also Zeit für ein kleines Schwätzchen. Sie blieb am Tisch stehen und sah den Kommissar nachdenklich an.

»Man darf net immer nur an die Arbeit denken«, sagte sie. »Schließlich muß man sich sein Leben lang plagen.«

Wolfgang schmunzelte.

»Ja, das ist wohl wahr«, nickte er. »Aber manchmal gibt’s Dinge, die eben Vorrang vor allem andren haben.«

»Sie sind wegen der Maria hier, net wahr?« fragte die Wirtin frei heraus.

Der Kripobeamte war keineswegs überrascht.

»Ja«, bestätigte er, »Frau Berger ist tatsächlich der Grund für meine Anwesenheit hier.«

Er deutete auf den Stuhl gegenüber.

»Setzen S’ sich doch und leisten S’ mir ein bissel Gesellschaft«, forderte er sie auf.

Das ließ sich Ria nicht zweimal sagen.

»Also, die Maria hat mit der ganzen Sache nix zu tun«, sagte sie sofort. »Für die leg’ ich meine Hand ins Feuer!«

»Vorsicht!« lachte Wolfgang Hellwig. »Da hat sich schon so mancher die Finger verbrannt.«

Er schüttelte den Kopf.

»Aber ich kann Sie beruhigen, Frau Stubler«, fuhr er fort. »Frau Berger steht längst net mehr im Verdacht, an der Unterschlagung beteiligt zu sein.«

»Und warum sind S’ dann hier?« fragte Ria. »Wenn S’ das Madel net mehr verdächtigen, haben S’ auch keinen Grund, es zu beschatten.«

»Ich beschatte sie ja gar net«, schmunzelte er und freute sich darüber, wie vehement sich die Frau für Maria Berger einsetzte. »Freilich hat meine Anwesenheit etwas mit der Angelegenheit zu tun, aber mehr darf ich net darüber verraten. Dienstgeheimnis, wenn Sie verstehen.«

»Freilich«, nickte die Wirtin. »Aber Sie sollten sich meinen Vorschlag mal überlegen. Es gibt viele hübsche Flecken hier in der Gegend, die es lohnen, sie aufzusuchen.«

»Ich werd’s mir durch den Kopf gehen lassen«, nickte er und trank seine Tasse leer. »Vielen Dank, Frau Stubler, für das Frühstück. Es war wieder sehr lecker.«

Er stand auf, und während die Wirtin den Tisch abräumte, ging Wolfgang Hellwig wieder in sein Zimmer hinauf. Es war schon wieder sehr warm, obwohl es noch nicht einmal zehn Uhr geschlagen hatte, und er beschloß, sein langärmeliges Hemd gegen eines mit kurzen Ärmeln einzutauschen. Zehn Minuten später verließ der Beamte die Pension und schlug den Weg zum Pfarrhaus ein.

Der Geistliche öffnete ihm.

»Die Maria ist im Garten«, sagte Sebastian nach der Begrüßung. Mich müssen S’ leider entschuldigen, aber ich würd’ mich freuen, wenn S’ heut’ mittag mit uns essen würden.«

»Sehr gern’«, nickte Wolfgang, »vielen Dank.«

»Dann geh’n S’ nur geradeaus, durchs Wohnzimmer«, wies der Bergpfarrer ihm den Weg.

Er sah Maria draußen auf der Terrasse sitzen und verharrte einen Moment hinter der Tür.

Im Licht der Morgensonne sah sie noch bezaubernder aus. Alles in ihm drängte danach, hinauszugehen und sie in seine Arme zu schließen, aber Wolfgang war unsicher.

Würde sie ihm verzeihen, daß er sie gestern abend praktisch überfallen hatte?

Er zögerte einen Moment, da drehte sie den Kopf. Offenbar hatte Maria bemerkt, daß sie beobachtet wurde. Sie stand auf und kam ihm entgegen. Wolfgang stieß die Tür auf und trat hinaus.

»Guten Morgen«, sagt er mit belegter Stimme.

»Guten Morgen«, erwiderte sie lächelnd.

Ein Lächeln, das ihm den Mut wiedergab.

»Hast du gut geschlafen?« fragte der Kripobeamte und blieb wie selbstverständlich bei der vertrauten Anrede.

»Es ging so«, antwortete Maria.

Er spürte dieselbe Verlegenheit bei ihr, wie kurz zuvor noch bei sich selbst.

»Wegen gestern abend...«, begann er.

Doch sie unterbrach ihn mit einem Kopfschütteln.

»Du mußt dich net entschuldigen«, sagte die junge Frau.

»Aber ich hätt’ mich besser in der Gewalt haben müssen«, gab er sich zerknirscht. »Was ich getan hab’, war unverzeihlich.«

»Aber warum? Wenn man einen Menschen gern hat, dann kann man es ihm doch sagen.«

»Dann bist du mir net bös’?« fragte er, immer noch zaghaft.

»Nein, natürlich net«, lächelte Maria.

Wieder standen sie sich ganz nahe gegenüber. Etwas zögernd griff Wolfgang nach ihrer Hand und hielt sie fest.

»Und du?« wollte er wissen. »Magst du mich auch?«

Sie schaute ihn ernst an.

»Gestern abend hast du gesagt, du könntest net anders, auch wenn’s gegen jede Vernunft ist?« fragte sie, ohne auf seine Frage einzugehen.

Er holte tief Luft.

»Als Polizeibeamter ist es mir untersagt, persönlichen Kontakt zu einer Person zu haben, gegen die ermittelt wurde, oder die sonstwie Gegenstand einer Untersuchung ist«, erklärte Wolfgang. »Auch wenn ich von deiner Unschuld überzeugt bin, wird dein Name net eher aus den Akten gestrichen, bis die Angelegenheit abgeschlossen ist. Wenn herauskäme, daß ich dich liebe, würde man mich von dem Fall abziehen und wahrscheinlich sogar erst einmal vom Dienst suspendieren. Daß ich es aber dennoch gewagt hab’, dir meine Liebe zu gestehen, mag dir vielleicht zeigen, wie ernst es mir damit ist.«

Maria nickte verstehend. Wolfgang sah sie immer noch fragend an.

»Du hast meine Frage aber net beantwortet...«

»Ich mag dich auch, Wolfgang«, bekannte sie. »Auch wenn ich dich zuerst gehaßt habe, weil du so grob mit mir umgegangen bist.«

Er hob beschwörend die Hände.

»Es tut mir leid!«

»Ja, schon gut. Inzwischen weiß ich ja, daß du net anders konntest«, sagte Maria. »Aber ich bitt’ dich, net von mir zu erwarten, daß ich dir sage, ich würd’ dich lieben. Es ist net einmal eine Woche her, daß ich von dem Mann, den ich für den großartigsten Menschen hielt, bitter enttäuscht wurde. Thorsten hat meine Liebe verraten, und ich hoff’, du verstehst, daß ich mich erst einmal damit abfinden muß und net so schnell wieder vertrauen kann.«

»Natürlich verstehe ich das«, erwiderte er schnell. »Und ich laß dir die Zeit, die du brauchst. Ich hoff’, daß wir das alles hier ganz schnell hinter uns bringen werden und ins normale Leben zurückkehren können.«

»Bisher hat er sich net gemeldet«, wechselte Maria das Thema.

»Wir können nix anderes tun, als abzuwarten.«

Er blickte einen Moment vor sich hin.

»Pfarrer Trenker hat mich zum Mittagessen eingeladen«, sagte Wolfgang dann. »Wollen wir solange einen Spaziergang machen? Du könntest mir ein bissel von der Gegend zeigen.«

»Gern«, nickte Maria, und ihr Lächeln stimmte ihn zuversichtlich.

*

Thorsten Gebhard lag auf einem Hügel und sah auf das Dorf, das in einem kleinen Tal zwischen den hohen Bergen eingebettet war. Seit über einer Stunde war er schon auf dem Beobachtungsposten. Es war Mittagsstunde, und die Sonne brannte erbarmungslos auf ihn herab. Dennoch blieb der Millionendieb liegen und ließ seinen Blick schweifen. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, daß er die letzte Brotscheibe verzehrt hatte. Den Durst konnte er zwischendurch löschen. An einem Bachlauf hatte er die Mineralwasserflasche aufgefüllt, aber davon verstummte das Knurren in seinem Magen auch nicht.

Endlich war er sicher, in seiner Tarnung als Wanderer in das Dorf hinabsteigen zu können, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Vor einigen Stunden glaubte er, die Sirene eines Polizeiwagens zu hören und war ins Gebüsch gesprungen, das zwischen dem Waldrand und der Straße stand. Mit klopfendem Herzen wartete er ab, doch das Auto der österreichischen Gendarmerie war weitergefahren, und Thorsten Gebhard nahm an, daß dieser Einsatz nicht ihm galt. Trotzdem ließ er Vorsicht walten und marschierte durch den Wald weiter, wobei er sich dennoch in der Nähe der Straße hielt, um die Richtung nicht zu verfehlen. Vorsichtig verhielt er sich auch, als er die Almwiese hinaufstieg und von dort aus zum Dorf schaute.

Schließlich rappelte er sich auf und stieg hinunter. Eigentlich fühlte er sich einigermaßen sicher. Zugegeben, der Polizeiwagen vorhin hatte ihn schon erschreckt. Aber seine Tarnung müßte schon noch funktionieren. Durch seine Flucht ins Gebüsch wollte er lediglich verhindern, daß die Beamten vielleicht angehalten und ihn kontrolliert hätten. Auch wenn seine falschen Papiere wasserdicht waren – immerhin hatte er sie von einem Mann anfertigen lassen, der als As in seinem Fach galt – wollte er doch kein Risiko eingehen. Immerhin stand ja auch zu vermuten, daß die deutschen Behörden Marias Telefonanschluß abhörten, um ihm so auf die Spur zu kommen. Aus diesem Grund hatte er es vermieden, die gekauften Karten für das Handy bis zum letzten Cent zu vertelefonieren. Die verschiedenen Nummern hatten die Polizei bestimmt verunsichert.

Alles in allem fühlte der Mann, der als einziger wußte, wohin die dreißig Millionen Euro verschwunden waren, sich sehr sicher.

Er klopfte sich den Schmutz von der Kleidung, ordnete das Haar und marschierte ins Dorf hinein. Gleich nachdem er die ersten Häuser passiert hatte, sah Gebhard das Schild eines Wirtshauses. Davor standen Tische und Stühle, und er beschloß draußen zu essen, um nicht vielleicht von dem Wirt in ein Gespräch gezogen zu werden. Kaum hatte er sich gesetzt, kam auch schon ein junges Madel und brachte eine Speisekarte. Gebhard bestellte ein großes Glas Apfelschorle, das Wasser in seiner Flasche war fast alle. Zudem war es warm geworden und schmeckte ohnehin nicht mehr. Auf der Tageskarte standen nur wenige Gerichte, und er wählte ein Wiener Schnitzel, das mit Kartoffelsalat gereicht wurde. Als das Essen kam, verzehrte Gebhard es mit Behagen und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und trank noch einen Kaffee. Der Ort schien nicht von Touristen überlaufen zu sein. Außer ihm saß sonst niemand im Straßenlokal, und durch die geöffneten Fenster hatte er zuvor gesehen, daß der Gastraum nur mäßig besucht war.

Gerne hätte er ein wenig geschlafen und überlegte, ob er das Risiko eingehen konnte, nach einem Fremdenzimmer zu fragen. Doch dann entschied er sich dagegen. Er mußte zusehen, daß er Verbindung mit Maria bekam und nach Deutschland wechselte. Natürlich würde es zu einer Aussprache mit ihr kommen, das war ihm klar, genauso, wie er zu wissen glaubte, daß Maria nicht mit Vorwürfen sparen würde. Aber er war auch davon überzeugt, daß sie mit ihm gehen würde, wenn er ihr erst einmal schmackhaft gemacht hatte, was man mit so viel Geld alles anfangen konnte.

Freilich hätt’ ich schon längst fort sein können, dachte Thorsten Gebhard. Aber so eine Frau, wie die Maria, die trifft man nur einmal im Leben, und die gibt man nicht auf!

Er verlangte nach der Rechnung und zahlte. Das Trinkgeld fiel nicht zu üppig aus, aber er zeigte sich auch nicht knauserig damit. Das Madel wünschte ihm noch einen guten Tag und räumte sein leeres Glas ab. Thorsten Gebhard war sicher, daß sich die junge Frau später nicht mehr an ihn erinnern würde.

In einer Seitenstraße fand er einen Krämerladen. Als die ältere Frau, die gerade einkaufte, bezahlt hatte und nach draußen kam, ging er hinein. Der Laden schien aus dem letzten Jahrhundert zu stammen. Hier wurde noch am Tresen bedient. Gebhard erstand eine Dauerwurst, ein Stück Hartkäse, etwas Brot und zwei Flaschen Wasser. Der alte Mann, der ihn bediente, schien zu einem Schwätzchen aufgelegt und erkundigte sich nach dem Woher und Wohin. Der Millionendieb machte gute Miene zum bösen Spiel und erzählte, daß er von Süden heraufgekommen wäre und weiter nach Salzburg wollte.

»Und das alles zu Fuß«, sagte der Ladenbesitzer und nickte anerkennend. »Respekt!«

Gebhard verabschiedete sich und ging weiter. Vergeblich hielt er nach einem Postamt Ausschau. Ein Geschäft zu finden, in dem er ein neues Handy kaufen konnte, darauf hoffte er ohnehin nicht. Nicht in dieser Gegend. Endlich sah er das Gebäude, in dem die Post untergebracht war. Sie hatte zwar über Mittag geschlossen, aber immerhin konnte man den Fernsprecher benutzen, der gleich neben der Tür angebracht war. Gebhard suchte nach Kleingeld und warf ein paar Münzen ein. Seine Hände zitterten ein wenig, als er die Nummer wählte. Indes verzichtete er darauf, in Marias Wohnung anzurufen, und versuchte es gleich auf ihrem Handy.

Es dauerte eine Weile. Von seinen vorherigen Versuchen wußte er, daß es mindestens sechsmal läutete, bevor die Mobilbox ansprang. Hoffentlich ging sie jetzt ran. Hatte er die anderen Male die Botschaft hinterlassen, Maria solle die angezeigte Nummer zurückrufen, so hatte er diesmal nicht die Möglichkeit dazu. Sein Mobiltelefon schwamm in einem See.

Nach dem fünften Klingeln klickte es in der Leitung, und er hörte Marias Stimme.

*

Sie spazierten durch das Dorf, und Maria zeigte Wolfgang das Haus, in dem sie aufgewachsen war. Auch jetzt kehrten viele Kindheitserinnerungen wieder zurück. Manchmal begegneten ihnen Leute, die sie grüßten. Die junge Frau erwiderte die Grüße durch ein Lächeln und Kopfnicken, aber sie blieb nicht stehen, um mit den Menschen zu reden. Nachdem sie ihre Runde gedreht hatten, lenkten sie ihre Schritte zum Dorf hinaus. Eine prächtige Kulisse bot sich ihnen, als sie eine Wiese hinaufstiegen. Zum Greifen nahe schienen die Berge zu sein.

»Bist schon mal da oben gewesen?« fragte Wolfgang und deutete auf die Zwillingsgipfel »Himmelsspitz« und »Wintermaid«.

»Oft«, entgegnete Maria. »Pfarrer Trenker ist sehr viel mit uns aufgestiegen, als wir noch Jugendliche waren.«

»Er scheint mir sehr sportlich zu sein«, bemerkte der Beamte. »Irgendwie entspricht er so gar nicht dem Bild, das man gemeinhin von einem Landpfarrer hat.«

Sie lachte.

»Nein, wirklich net. Weißt du, wie man ihn nennt? Den Bergpfarrer. Schon in frühester Jugend ist er auf die Berge geklettert. Sein Studium hat er finanziert, indem er als Bergführer arbeitete, und da droben kennt sich niemand besser aus, als er.«

Sie setzten sich auf eine Bank, die am Wegesrand stand. Einen Moment lang schwiegen sie, dann ergriff Wolfgang das Wort.

»Wenn das alles hier vorüber ist, dann würd’ ich dich gern’ besser kennenlernen«, sagte er.

Maria nickte.

»Ja, das möcht’ ich auch«, antwortete sie.

»Weißt du, manchmal frage ich mich, ob es überhaupt der richtige Beruf ist, den ich ergriffen habe«, sinnierte er. »Abgesehen von dem ganzen Elend, das ich im Laufe der Jahre gesehen hab’, die vielen kleinen und großen Verbrechen, mit denen ich konfrontiert wurde, fühle ich, daß mein Mißtrauen den Menschen gegenüber immer mehr gewachsen ist. Und das ist kein schönes Gefühl.«

Maria verstand, was er damit sagen wollte. Wahrscheinlich kam bei jedem Menschen irgendwann der Punkt, an dem er sich die Frage stellte, ob wirklich alles richtig war, was er machte.

»Du weißt ja nix von mir«, fuhr er fort. »Aber vielleicht interessiert es dich, daß ich eigentlich net der Mensch bin, der ein geselliges Privatleben führt. Manchmal denk’ ich, ich sei mit meinem Beruf verheiratet. Es gab ein paar Beziehungen, die letztendlich daran gescheitert sind, daß ich ständig im Dienst bin, jederzeit abrufbar. Während andere am Wochenende in ihrem Garten arbeiten oder einen Ausflug ins Grüne unternehmen, sitz’ ich zu Hause und warte darauf, daß vielleicht das Telefon klingelt und ich zu einem Tatort gerufen werde.«

Bitterkeit und Resignation schwang in seinen Worten mit. Maria griff unversehens nach seiner Hand und drückte sie. Sie schauten sich an, und es war ganz selbstverständlich, daß sich ihre Gesichter näherten.

Der Kuß war liebevoll, und als sie sich anschauten, da mußten beide lächeln.

»Eigentlich müßt’ ich mir wünschen, daß Thorsten Gebhard nie anruft«, sagte Wolfgang leise. »Dann könnt’ ich hier immer mit dir sitzen.«

»Mir wäre es aber lieber, er meldete sich endlich«, erwiderte Maria. »Diese Warterei zerrt an den Nerven. Warum bist du dir eigentlich so sicher, daß er es tun wird?«

»Weil er es immerhin schon mehrmals versucht hat.«

»Aber muß er nicht davon ausgehen, daß ich ihm einen Korb gebe, wenn er mich zu überreden versucht?«

»Dieses Risiko wird er eingehen, Maria«, antwortete Wolfgang ernst. »Der Mann liebt dich, vergiß das net, und er ist dazu bereit, alles auf eine Karte zu setzen. Selbst wenn wir ihn fassen, bedeutet das noch lang’ net, daß wir auch an das Geld kommen. Thorsten Gebhard wird zwar vor Gericht gestellt werden, doch wenn er schweigt und verurteilt ist, sitzt er seine Strafe ab und verläßt in einigen Jahren das Gefängnis als freier Mann.«

»Dann müßt ich also net nur so tun, als würd’ ich mit ihm geh’n, sondern auch aus ihm herausbekommen, wo die Millionen sind.«

Der Kripobeamte schüttelte hastig den Kopf.

»Nein, dieses Risiko will ich auf gar keinen Fall eingehen«, sagte Wolfgang Hellwig. »Du wirst nur am Telefon mit ihm sprechen, ihm aber net gegenüberstehen!«

Maria fühlte nach dem Handy, das in der linken Tasche ihrer Jacke steckte.

»Wenn er doch endlich anrufen würde!«

»Ich bin sicher, daß er es machen wird.«

Aus dem Dorf erklangen die Kirchenglocken.

»Mittagsstunde«, sagte Maria. »Wir sollten zum Pfarrhaus zurückkehren.«

Wolfgang nahm ihre Hand und hielt sie fest, bis sie die ersten Häuser des Dorfes erreichten. Erst da ließ er sie wieder los.

Im Pfarrhaus hatte die Haushälterin den Tisch im Eßzimmer gedeckt. Es gab Semmelknödel mit Schwammerlgulasch und Salat. Sebastian begrüßte den Hauptkommissar noch einmal und hieß ihn herzlich willkommen.

»Gibt’s schon was Neues?« erkundigte sich der Bergpfarrer.

Wolfgang Hellwig schüttelte den Kopf.

»Wir können nur abwarten«, erklärte er.

Kurz darauf kam Max herein. Der junge Polizist sah noch etwas verschlafen aus. Als er den Kollegen aus München am Tisch sitzen sah, grinste er.

»Ihnen hab’ ich also zu verdanken, daß ich die ganze Nacht im Freien zubringen mußte«, meinte er.

»Tut mir leid, Herr Trenker«, antwortete der Beamte schulterzuckend, »aber es läßt sich leider net ändern.«

»Der Franz Haberland, der mich drüben auf dem Revier vertritt, hat gerad’ eine Meldung hereinbekommen, daß der Dr. Gebhard bisher nirgendwo gesehen wurde«, erzählte der Bruder des Geistlichen. »Wie’s scheint, ist er wie vom Erdboden verschwunden.«

»Ja, es ist wie verhext«, nickte Wolfgang Hellwig. »Aber ich bin sicher, daß er sich früher oder später bei Maria melden wird.«

Sie ließen sich erst einmal das Essen schmecken, und der Münchener Kripobeamte staunte nicht schlecht, als er sah, welche Mengen sein junger Kollege verschlingen konnte. Dabei war Max schlank und durchtrainiert. An seinem Körper war nicht ein einziges Gramm überflüssiges Fett zu sehen.

»Mir schmeckt’s halt so gut«, schmunzelte er.

»Herr Trenker«, wandte sich Wolfgang an ihn, als sie mit dem Essen fertig waren, »wenn Sie an Thorsten Gebhards Stelle wären und die Grenze überqueren wollten, wo würden Sie es versuchen?«

»Da brauch’ ich net lang’ zu überlegen«, antwortete Max sofort. »Vorausgesetzt, ich wollt’ hierher, nach St. Johann, würd’ ich drüben den Kogler ersteigen und auf dieser Seite wieder hinunter. Es gibt einige Stellen, die unzugänglich sind, andere aber eignen sich hervorragend. Was meinst du, Sebastian?«

Der Bergpfarrer nickte.

»Du hast recht, Max«, erwiderte er. »Besonders am Geißenpaß ist’s recht einfach, auch für einen, der eher ungeübt im Klettern ist.«

Wolfgang sah Maria an.

»Dann solltest du Dr. Gebhard vorschlagen, es dort zu versuchen«, sagte er.

Maria nickte. Sie kannte die Stelle, von der Pfarrer Trenker gesprochen hatte. Früher war sie oft selbst dort oben gewesen, wenn sie eine Klettertour machen wollte.

»Und wir werden unsre Leute genau an diesem Paß konzentrieren«, setzte der Kommissar hinzu.

Dann klingelte plötzlich Marias Handy.

*

Maria Berger blickte die anderen unsicher an, während das Mobiltelefon in ihrer Hand klingelte. Wolfgang nickte ihr aufmunternd zu, und sie drückte den Knopf, um das Gespräch entgegenzunehmen und schaltete den Lautsprecher ein.

»Berger...?«

»Maria!« vernahmen sie Thorstens Stimme. »Gott sei Dank, daß ich dich endlich erreiche. Wo bist du eigentlich?«

»In St. Johann, meinem Geburtsort.«

Aufatmen am anderen Ende.

»Das habe ich mir gedacht, nachdem ich vergeblich versucht habe, dich in deiner Wohnung anzurufen«, sagte der flüchtige Millionendieb. »Hör’ mir bitte ganz genau zu. Ich kann nicht lange sprechen, aber was ich dir zu sagen habe, ist wichtig. Als erstes sollst du wissen, daß ich dich sehr liebe und alles nur für dich getan habe.«

Maria zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen.

Wie konnte Thorsten noch von Liebe reden? Glaubte er allen Ernstes, sie würde mit ihm gemeinsame Sache machen?

»Wo steckst du überhaupt?« fragte sie.

»Das ist jetzt unwichtig«, erwiderte er. »Auf jeden Fall auf dem Weg zu dir. Wir müssen uns unbedingt sehen.«

»Aber wo?«

»Ich komme zu dir. Halte bitte dein Handy bereit, damit ich dich erreichen kann, wenn es soweit ist.«

»Thorsten, hör mir zu«, rief sie verzweifelt, weil sie glaubte, daß er das Gespräch beenden wollte, »ich weiß net, ob ich das noch lang’ aushalte. Dieser Verdacht lastet schrecklich auf mir. Wann werden wir uns treffen?«

»Ich weiß, daß es im Moment schwer für dich ist«, antwortete Dr. Gebhard. »Doch glaube mir, wenn alles glatt geht, dann werden wir schon bald an einem schönen Plätzchen leben und unser Glück genießen können. Ich melde mich am Nachmittag noch mal, dann kann ich dir den Treffpunkt sagen.«

Es klickte kurz, dann war das Gespräch beendet.

Wolfgang Hellwig griff sofort zu seinem Handy und rief in München an.

»Habt’ ihr was?« fragte er.

»Nee, Chef«, erwiderte Martin Ernst. »Das war leider viel zu kurz. Vermutlich hat er von einem öffentlichen Fernsprecher aus telefoniert, das war das einzige, was unsre Leute feststellen konnten.«

Wolfgang unterdrückte einen Fluch.

»Er will sich heute nachmittag wieder bei Frau Berger melden«, sagte er. »Bis dahin bleibt alles in Alarmbereitschaft.«

Er steckte das Handy in die Tasche zurück.

»Und jetzt?« fragte Maria.

»Abwarten«, entgegnete er. »Wir müssen abwarten.«

»Ich hab’ über etwas nachgedacht«, sagte Sebastian Trenker. »Der Geißenpaß ist zwar ideal zum Überklettern, aber leider gibt’s da oben nur wenige Möglichkeiten sich zu verstecken. Ich fürcht’, wenn man dort mit einer ganzen Hundertschaft anrückt, wird Dr. Gebhard den Braten riechen und gleich wieder den Rückzug antreten. Dann wird’s richtig schwierig, ihn zu fassen. Auf der österreichischen Seite des Koglers gibt’s Hunderte von Höhlen und Verstecke, in denen er sich verkriechen kann. Man könnt’ tagelang nach ihm suchen und würd’ ihn net finden.«

»Genau«, nickte Max. »Vor allem, wenn er net gefunden werden will.«

Wolfgang Hellwig stöhnte auf.

»Dabei hab’ ich tatsächlich schon mit dem Gedanken gespielt, meine Kollegen aus München herzubeordern und die Beamten der umliegenden Reviere hier zusammenzuziehen.«

»Davon würd’ ich unter den gegebenen Umständen abraten«, schüttelte der Geistliche den Kopf. »Mehr, als drei, vier Leute sollten es net sein.«

Der Kripobeamte sah ihn zweifelnd an.

»Wenn ich Ihren Bruder mitnehme, sind wir nur zu zweit.«

»Ich werd’ selbstverständlich auch dabeisein«, sagte Sebastian sofort.

»Als Zivilist?« antwortete Wolfgang und schüttelte den Kopf, »das kann ich net erlauben.«

»Mein Bruder kennt sich am

Kogler aus«, intervenierte Max. »Ich bin sicher, daß er uns da oben mehr nützen kann, als einige Dutzend Polizeibeamte, die vielleicht noch net einmal bergfest sind.«

Sein Münchener Kollege schien zu überlegen. Tatsächlich hatte Maria ja schon erzählt, daß Pfarrer Trenker ein begeisterter Kletterer und Wanderer war. Wenn er sich zurückhielt...

»Das werd’ ich ohnehin tun«, stellte Sebastian klar, nachdem Kommissar Hellwig seine Überlegungen hatte laut werden lassen. »Aber eine andere Frage. Sind Sie eigentlich für eine Bergtour ausgerüstet?«

Wolfgang schüttelte den Kopf. An die Möglichkeit, unter Umständen in den Bergen herumklettern zu müssen, hatte er während seiner Abreise aus München überhaupt nicht gedacht.

»Dann sollten wir uns schleunigst darum kümmern«, sagte der Bergpfarrer.

Zehn Minuten später trug der Beamte wetterfeste Kleidung und Bergstiefel. Max war zwischendurch nach Hause gegangen und hatte sich ebenfalls umgezogen. Über der warmen Jacke trug er eine Weste, auf deren Rückenteil in großen Buchstaben »POLIZEI« stand.

Auch Sebastian hatte seine Sachen zurechtgelegt. Indes waren sie davon überzeugt, daß es bis zum Abend dauern würde, ehe sie aufbrechen mußten. Den Aufstieg würden sie in der Dämmerung bewältigen. Immerhin war es dann noch so hell, daß sie genug sahen. Der Geistliche hatte im Flur schon Rucksäcke bereitgestellt, in denen Thermoskannen mit warmen Getränken und belegte Brote transportiert werden sollten. Niemand konnte sagen, wie lange sie auf dem Geißenpaß würden ausharren müssen. Taschenlampen, Rettungsleinen und andere nützliche Dinge lagen ebenfalls parat.

Wolfgang Hellwig blieb im Pfarrhaus. Sophie Tappert servierte Kuchen und Kaffee, und der Beamte lobte überschwenglich das gute Essen, das ihm serviert worden war.

»Ein bissel komm’ ich mir doch vor wie im Urlaub«, meinte er zu Pfarrer Trenker, als sie einen Moment alleine waren.

Sebastian nutzte die Gelegenheit.

»Ich hab’ das Gefühl, daß die Maria Ihnen net ganz gleichgültig ist«, sagte er und beobachtete die Miene seines Gegenübers.

Wolfgang lächelte.

»Sieht man das so deutlich?«

»Ja, zumindest seh’ ich es.«

»Ich wünschte, ich hätte Maria unter anderen Umständen kennengelernt«, sagte Wolfgang und schaute nachdenklich vor sich hin. »Sie ist eine wunderbare Frau, und ich bedaure es aufrichtig, daß ich sie verdächtigt habe, Dr. Gebhards Komplizin zu sein. Sie haben recht, Hochwürden, Maria ist mir net gleichgültig. Im Gegenteil, ich liebe sie. Als ich das bemerkt habe, war mir klar, daß es eigentlich unmöglich ist. Ein Kripobeamter darf sich net zu solchen Gefühlen gegenüber einer Person, die im Verdacht steht, eine Straftat begangen zu haben, hinreißen lassen. Aber ich konnte net dagegen ankämpfen. Maria stellt für mich alles dar, was ich mir von einer Frau wünsche. Ich hoffe, daß sie, wenn das hier vorüber ist, ähnlich für mich empfindet.«

»Da können Sie sicher sein«, schmunzelte der gute Hirte von St. Johann. »Maria liebt Sie nämlich ebenfalls so sehr, wie Sie Maria lieben.«

»Sie liebt mich genauso? Hat sie Ihnen das gesagt?«

»Das brauchte sie gar net«, schüttelte Sebastian den Kopf. »Es war ja überhaupt net zu übersehen.«

Wenig später kam Maria zurück, in ihrer Hand hielt sie das klingelnde Mobiltelefon.

*

»Wo genau in St. Johann bist du?« wollte Thorsten Gebhard wissen.

»Ich wohne hier im Pfarrhaus«, antwortete Maria.

Sie hatten abgesprochen, daß sie es ihm nicht verschweigen sollte.

»Es klingt glaubwürdig«, hatte Wolfgang Hellwig gesagt. »Gebhard wird keinen Verdacht schöpfen.«

»Ist dir etwas aufgefallen?« fragte der Millionendieb. »Was ist mit der Polizei?«

»Ich melde mich jeden Tag auf dem Revier«, erklärte sie. »Das war die Auflage, daß ich München überhaupt verlassen durfte.«

»Aber sonst ist nichts Auffälliges zu bemerken?« fragte er. »Kein großes Polizeiaufgebot?«

»Nein, überhaupt net. Aber jetzt sag’ mir endlich, was du vorhast.«

»Paß auf, es wird bald dunkel«, erwiderte Thorsten. »Ich bin ganz in der Nähe der Grenze. Noch befinde ich mich auf der österreichischen Seite, aber sobald die Gelegenheit günstig ist, werde ich rüberkommen. Kennst du einen Weg, der sicher ist? Du bist doch hier geboren.«

»Über den Kogler, glaub’ ich«, antwortete Maria und sah Wolfgang an, der ihr aufmunternd zunickte. »Das gibt es eine Stelle, die heißt Geißenpaß.«

»Gut, ich habe eine Karte und seh’s mir später an. Maria, wir müssen uns in der kommenden Nacht unbedingt treffen. Kannst du mich dort oben erwarten?«

»Ich denk’ schon. Aber was genau hast du dann vor?«

»Wir beide werden zusammen fortgehen. Dorthin, wo uns niemand kennt. Aber zuerst brauchen wir neue Papiere für dich. Ich habe eine Adresse, wo wir sie bekommen können. Doch das muß schnell passieren. Ich denke zwar, daß ich einigermaßen sicher bin, aber je eher wir Deutschland verlassen, um so besser. Also hör’ zu. Ich werde in ein paar Stunden den Aufstieg wagen. Wir treffen uns gegen Mitternacht auf der deutschen Seite. Besorg’ dir eine Taschenlampe. Wenn ich dir meine Ankunft signalisiert habe, mußt du mir antworten, damit ich weiß, an welcher Stelle ich dich finde. Hast du alles verstanden?«

»Ja.«

»Du klingst so merkwürdig«, stellte er plötzlich fest. »Ist alles in Ordnung?«

»Ja, ja, natürlich«, antwortete Maria hastig. »Es ist nur... ich bin ein bissel durcheinander und kann’s noch gar net glauben. Ich dachte, du wärst längst ins Ausland verschwunden.«

»Ohne dich? Maria, ich kann ohne dich nicht leben. Nur darum bin ich immer noch hier. Weil ich dich mitnehmen will, in ein neues Leben. Also, Liebling, mach alles so, wie ich es dir gesagt habe, und paß auf, daß der Pfarrer nichts bemerkt. Niemand darf wissen, was wir vorhaben.«

»Ja, mach ich«, antwortete Maria, aber da hatte Thorsten Gebhard das Gespräch schon beendet.

»Na also«, sagte Wolfgang zufrieden. »Jetzt wissen wir Bescheid.«

»Bis wir los müssen, ist noch Zeit«, bemerkte Sebastian. »Ich schlage vor, daß wir diese Zeit nutzen, uns die Karte anzuschauen. Frau Tappert wird uns ein gutes Abendessen machen, bevor wir aufbrechen.«

Max sah auf die Uhr.

»Ich geh’ noch mal rüber«, erklärte er. »Claudia wird jeden Moment nach Hause kommen.«

Während der Bruder des Bergpfarrers das Haus verließ, schauten Wolfgang Hellwig und Sebastian auf die Karte, die das Grenzgebiet und vor allem den Kogler zeigte.

Der Geistliche wies den Beamten auf einige Besonderheiten hin, vor allem auf Höhlen und Hütten, in denen man sich verstecken konnte.

»Wenn Gebhard uns entwischen sollte, müssen diese Verstecke durchsucht werden.«

Wolfgang nickte. Er überlegte, ob er nicht doch noch die Münchener Kollegen hinzuziehen sollte. Aber inzwischen war es so spät, daß sie kaum mehr pünktlich in St. Johann ankommen würden. Also verwarf der Hauptkommissar den Gedanken wieder.

Bald darauf kehrte Max zurück. Er hatte seine Frau beruhigen müssen, daß der Einsatz nicht gefährlich sein würde.

»Wir gehen net davon aus, daß Gebhard bewaffnet ist«, sagte er.

Immerhin war es für Claudia ein gutes Gefühl zu wissen, daß ihr Schwager bei dem Aufstieg dabeisein würde.

Während des Abendessens drehte sich das Gespräch natürlich um ihr Vorhaben. Immer wieder sprachen sie davon, daß der Millionendieb recht gewieft vorging. Auch das Gespräch am späten Nachmittag hatte nicht zurückverfolgt werden können. Immerhin wußten sie ja, daß der Flüchtige in unmittelbarer Nähe war.

Endlich war es soweit, und als es losging, legte sich ihre Nervosität. Maria stand an der Tür und sah Wolfgang an.

»Paß auf dich auf«, sagte sie leise.

Er nahm ihre Hand und hielt sie fest.

»Ganz bestimmt«, versprach Wolfgang. »Ich hab’ nämlich noch viel in meinem Leben vor. Vor allem mit dir, Maria.«

Er sah ihr tief in die Augen.

»Ich liebe dich«, flüsterte er.

»Ja, Wolfgang«, erwiderte sie. »Ich weiß und ich glaube, ich liebe dich auch.«

Strahlend zog er sie in seine Arme und küßte sie.

»Es wird Zeit«, ließ sich der Bergpfarrer vernehmen. »Wir melden uns, wenn wir oben angekommen sind.«

Nur widerwillig riß Wolfgang sich los und folgte den Trenkerbrüdern den Kiesweg hinunter. Maria stand mit klopfendem Herzen vor dem Pfarrhaus und blickte ihnen nach.

*

Thorsten Gebhard hielt sich im Schutze des Waldes auf. Während er Wurst und Brot verzehrte, dachte er über das Gespräch nach, das er mit Maria geführt hatte. Irgendwas stimmte nicht mit ihr. Sie hatte so merkwürdig geklungen, und der Millionendieb überlegte, was es sein konnte.

Eine Falle?

Maria hatte sehr schnell einen Weg vorgeschlagen, als er sie danach gefragt hatte. Die Antwort war so parat gewesen, als wäre sie abgesprochen worden.

Thorsten hatte sich die Karte angesehen. Über den Geißenpaß war es wirklich die einzige mögliche Stelle, hinüberzugelangen, wenn man nicht den früheren, offiziellen Grenzübergang benutzen würde, der am Berg vorbeiführte. Doch der schied ohnehin aus. Gebhard hatte während seiner Flucht bei jeder Gelegenheit in einer Zeitung gelesen und wußte, daß man ihn in aller Welt suchte. Dennoch war er davon überzeugt, daß die Polizei auch in Deutschland nach ihm fahndete. Und dazu gehörte nun mal, daß an den Grenzübergängen, kontrolliert wurde, was zwar im vereinten Europa weitgehend überflüssig geworden war, in diesem Fall aber bestimmt nicht versäumt wurde.

Entgegen seiner Ankündigung, den Berg später zu erklimmen, machte er sich jetzt schon auf den Weg. Was ihn zu dieser Änderung seines Planes veranlaßte, vermochte er nicht einmal zu sagen. Vielleicht war es das Mißtrauen, das er Maria gegenüber plötzlich empfand. Nachdem das Brot verzehrt war, schulterte er den Rucksack und stapfte los. Keine Menschenseele begegnete ihm, als er sich an den Aufstieg machte. Thorsten Gebhard war zwar ein Büromensch, er hatte aber immer darauf geachtet, Sport zu treiben, um fit zu bleiben. Das kam ihm jetzt zugute, denn er merkte sehr bald, daß eine Bergwanderung alles andere als ein Spaziergang war.

Doch er kam gut voran. Drei Stunden brauchte er, bis er auf dem Geißenpaß stand, da war es noch nicht einmal acht Uhr. Er setzte sich an einen Felsen und schaute sich den Sonnenuntergang an. Da er keine Ahnung hatte, wie lange er für den Abstieg brauchte, machte er sich schon nach kurzer Pause daran, einen Pfad zu suchen, der ins Tal führte. Einmal kam er an ein Schild, das den Weg zur Streusachhütte wies. Es handelte sich um ein Ausflugslokal, stand darunter geschrieben. Gebhard verzichtete jedoch darauf, die Hütte anzusteuern. Er hatte auf seiner Flucht bisher unverschämtes Glück gehabt und wollte nicht riskieren, daß doch noch etwas schiefging.

Nach einer guten Stunden kam er an eine Klamm. Mit lautem Tosen stürzte der Gebirgsfluß in die Schlucht hinunter. Inzwischen war es dunkler geworden, und der Millionendieb suchte nach der Taschenlampe, die im Rucksack steckte. Nachdem er sie gefunden hatte, wollte er sie einschalten, um den Pfad auszuleuchten. Im letzten Moment zog er den Finger von der Taste zurück. Unter ihm leuchteten drei Lichter in der Dunkelheit auf, und Thorsten Gebhard verbarg sich hastig zwischen den Büschen, die am Abgrund standen. Dort wartete er mit klopfendem Herzen ab. Langsam näherten sich Schritte, und er vernahm gedämpfte Unterhaltung.

So spät noch Bergwanderer?

Er mochte es nicht glauben. Etwas stimmte hier nicht. Instinktiv spürte er, daß die Männer seinetwegen unterwegs waren.

Maria hatte ihn also verraten!

Plötzlich war es still. Die Leute waren stehengeblieben, die Lampen erloschen. Gebhard verhielt sich weiter still, er hatte gar keine andere Wahl, als abzuwarten.

Dann waren die Stimmen wieder zu hören. Aber die Männer unterhielten sich so leise, daß es unmöglich war, zu verstehen, was sie sagten. Der Verbrecher verfluchte seine Lage. Hätte er sich nur einen anderen Weg ausgedacht. Jetzt war ihm auch klar, warum Maria so schnell auf den Kogler und den Geißenpaß hingewiesen hatte. Ganz klar, sie arbeitete mit der Polizei zusammen. Man hörte ihr Telefon ab und war ihm dadurch auf die Spur gekommen. Auch wenn sie nicht genau wußten wo, die Beamten der Kripo ahnten zumindest, daß er sich in Österreich aufhielt, und seit heute nachmittag auch, was er vorhatte.

Enttäuschung machte sich in ihm breit. Thorsten Gebhard hatte wirklich darauf vertraut, daß Maria zu ihm halte und mit ihm gehen würde. Andererseits hatte er sich selbst in diese Lage gebracht. Wäre er gar nicht erst auf den Gedanken gekommen, in Europa zu bleiben, hätte er jetzt nicht dieses Problem am Hals.

Ungeduldig wartete er darauf, daß die Männer, von denen er annahm, sie seien Polizeibeamte, weitergingen. Doch unter ihm tat sich nichts. Dafür überfiel ihn ein schrecklicher Gedanke. Vielleicht, nein, ganz bestimmt sogar, waren es nicht die einzigen, die hier auf ihn warteten. Wahrscheinlich war der ganze Berg inzwischen von Polizisten regelrecht umzingelt. Der Weg nach unten war ihm versperrt. Er hatte gar keine andere Wahl, als wieder hinaufzusteigen und sich einen anderen Fluchtweg zu suchen.

Doch dazu mußte er erst einmal sicher sein, daß er ungehört und ungesehen aus seinem Versteck verschwinden konnte.

Thorsten Gebhard wartete schwitzend und nervös darauf, daß sich etwas ergab. Irgendwas mußte doch geschehen. Die konnten doch nicht die ganze Nacht unter ihm bleiben.

Plötzlich schien sich tatsächlich was zu regen. Die Stimmen redeten durcheinander, dann glaubte er zu hören, wie jemand Marias Namen sagte.

Der Gesuchte richtete sich auf.

Hatte da wirklich jemand gerufen: »Maria, was willst du denn hier?«

*

Nicht einmal eine Stunde hatte sie es ausgehalten. Dann war Maria in den Keller des Pfarrhauses gegangen und hatte nach dem Raum gesucht, in dem die Wanderausrüstungen gelagert wurden. Pfarrer Trenker hatte immer wieder Sachen gesammelt und aufbewahrt, die andere nicht mehr haben wollten. Er war sicher, eines Tages dafür noch Verwendung zu finden.

Maria suchte etwas Passendes heraus und zog sich um. Leise schlich sie wieder nach oben. Sophie Tappert sollte auf keinen Fall mitbekommen, was sie vorhatte. Gewiß würde die Haushälterin versuchen, sie davon abzubringen. Unbemerkt verließ Maria das Pfarrhaus. Unter den Dingen, die sie vorgefunden hatte, war auch eine Taschenlampe gewesen, die ihr gute Dienste leisten würde. Den Weg zum Geißenpaß kannte sie von unzähligen Aufstiegen, und Furcht, daß ihr etwas passieren könnte, hatte sie nicht. Sie war sogar sicher, zu wissen, wie weit voraus ihr Wolfgang, Max und Pfarrer Trenker waren. Aber sie schritt nicht schneller aus, denn, würde sie zu früh auf sie treffen, würden die Männer sie umgehend wieder zurückschicken.

Schon bald hörte sie das Rauschen, mit der sich die Kachlach in die Klamm ergoß. Maria erreichte die Brücke und überquerte sie. Weiter oben sprang der Fluß über die Felsen, aber dort war es bei weitem nicht so laut, wie hier unten. Schon gleich nachdem sie die hölzerne Konstruktion hinter sich gelassen hatte, wurde es leiser um sie.

Nach einigen hundert Metern wurde der Pfad schmaler, und es ging steil bergan. Sie stieg an der »Kleinen Wand« entlang, die ein beliebter Felsen für Kletterer war und ihren Namen eigentlich nicht verdiente, denn sie war recht hoch.

Maria hatte die Taschenlampe eingeschaltet, denn inzwischen war es recht dunkel geworden. Vor den Mond hatten sich ein paar Wolken geschoben, so daß sein Licht kaum mehr auf die Erde fiel.

Plötzlich tauchte vor ihr eine Gestalt auf, und ein eisiger Schreck durchfuhr sie. Maria preßte die Hand vor den Mund, um nicht laut loszuschreien, und atmete erleichtert auf, als sie Pfarrer Trenkers Stimme hörte.

»Maria, was willst du denn hier?« rief der Geistliche. »Ist was im Pfarrhaus geschehen?«

»Nein, nein«, antwortete sie schnell und zuckte die Schultern. »Ich hab’s bloß net ausgehalten...«

Inzwischen waren Max und Wolfgang in den Lichtschein der Taschenlampen getreten. Der Beamte sah Maria ungläubig an.

»Um Gottes willen, Maria, du darfst net hier sein!«

Die Männer sahen sich an.

»Zur Umkehr ist’s zu spät«, sagte Max. »Da müßt’ schon jemand mitgehen.«

»Was machen wir denn jetzt?« fragte Wolfgang Hellwig.

Im selben Moment ertönte auf dem Pfad über ihnen ein Geräusch. Zweige knackten, und Schritte, die sich rasch entfernten, waren zu hören.

»Das kann nur Gebhard sein!« rief der Bruder des Bergpfarrers. »Wer sonst sollte sich um diese Zeit hier aufhalten!«

»Hinterher!« brüllte der Kripobeamte und rannte auch schon los.

Die anderen folgten ihnen. Trotz ihrer Taschenlampen mußten sie aufpassen, daß sie nicht vom Weg abkamen. Das Geröll unter ihren Schuhen war locker und rutschig, und jetzt setzte zu allem Überfluß auch noch Regen ein.

Der Flüchtende vor ihnen war im Schein der Lampen zu sehen. Er hetzte den Pfad hinauf, ohne sich umzudrehen.

»Wir dürfen ihn net entwischen lassen«, keuchte Wolfgang.

Maria ahnte mehr, als daß es ihr bewußt war, daß sie ins Rutschen kam. Mit einem Aufschrei fiel sie zu Boden und rollte in gefährliche Nähe des Abhangs. Sofort waren Sebastian und Max bei ihr, während Wolfgang Thorsten Gebhard weiter verfolgte.

Ich kriege dich, dachte der Beamte, wild entschlossen, den Verbrecher nicht entkommen zu lassen.

Vor ihm tat sich ein kleines Plateau auf. Wolfgang blieb stehen und sah sich um, dabei ließ er immer wieder die Taschenlampe kreisen, um alles auszuleuchten.

Gebhard schien wie vom Erdboden verschwunden!

»Verdammt«, knirschte er, »wo steckst du?«

Immer wieder sah er sich um.

»Dr. Gebhard, das Spiel ist aus«, rief Wolfgang Hellwig.

»Geben Sie auf. Sie können nicht entkommen!«

Plötzlich verspürte er einen Stoß im Rücken und stürzte zu Boden. Jemand packte ihn am Kragen und versuchte ihm die Luft abzudrücken. Der Kripobeamte merkte, wie ihm die Sinne schwanden und schlug verzweifelt zu.

Er traf das Gesicht des Angreifers, bei dem es sich nur um Thorsten Gebhard handeln konnte. Der stieß einen Schmerzenslaut aus, ließ aber nicht locker. Die beiden Männer rollten eng umschlungen über das Plateau.

Inzwischen hatten Sebastian und Max Maria gestützt. Sie hatte sich bei dem Sturz das Knie aufgeschlagen und konnte sich nur humpelnd vorwärts bewegen. Von oben her hörten sie das Keuchen der Kämpfenden. Als sie das Plateau erreichten, sahen sie mit Entsetzen, daß die beiden Männer auf das Ende zurollte, an dem es mehrere hundert Meter in die Tiefe ging.

Sebastian lief zu ihnen und wollte zupacken, doch da stürzten Wolfgang Hellwig und Thorsten Gebhard in den Abgrund.

*

Maria wollte schreien, aber aus ihrer Kehle löste sich kein Ton. Max ließ sich vorsichtig zu Boden gleiten und rannte zu seinem Bruder, der am Abhang stand und in die Tiefe leuchtete.

»Kannst du sie sehen?«

Der Bergpfarrer schüttelte den Kopf.

»So weit reichen die Lampen net hinunter.«

»Glaubst’, daß sie... tot sind?« fragte der Polizist beklommen.

»Ich will’s net hoffen, aber verletzt werden s’ bestimmt sein. Ruf’ die Bergwacht, Max«, sagte Sebastian.

Zwanzig Minuten bangen Wartens vergingen, dann hörten sie das Geräusch des Hubschraubers in der Luft. Wenig später kreiste er über dem Plateau, und die Männer stiegen über eine Hängeleiter aus.

Sebastian und Max begrüßten Xaver Anreuther, den Leiter der Bergungsaktion und schilderten, was sich ereignet hatte. Zur Ausrüstung der Bergwacht gehörten auch leistungsstarke Handscheinwerfer, mit deren Hilfe sie in die Schlucht leuchteten.

»Ich glaub’, ich seh’ einen«, meldete einer der Männer. »Ja, hier unten, in fünfzig Metern Tiefe etwa.«

»Und da ist der and’re«, rief jemand.

Der Einsatzleiter nahm mit einem Funkgerät Verbindung zum Piloten auf, der immer noch über ihnen kreiste. Der Hubschrauber verfügte über einen Suchscheinwerfer, der, als er eingeschaltet wurde, das Plateau beinahe taghell erleuchtete. Xaver Anreuther dirigierte ihn zu der Stelle, und dann konnten sie die beiden Männer sehen.

»Sechs Mann machen sich zum Abstieg fertig«, befahl Xaver.

»Ich geh’ mit«, entschied Sebastian und setzte den Helm auf, den ein Mann ihm reichte.

Maria hatte die ganze Zeit wie betäubt zugeschaut. Sie stand unter Schock und war nicht fähig, etwas zu sagen. Max legte eine warme Decke um sie und reichte ihr einen Becher heißen Tee.

»Wir haben sie gefunden«, sagte er. »Jetzt müssen sie nur noch geborgen werden. Aber die Männer von der Bergwacht schaffen das. Sie haben solch eine Rettung schon hundertmal geübt.«

Endlich gab Maria ein Lebenszeichen von sich und nickte schwach. Max blieb bei ihr und redete ihr gut zu.

Unterdessen stiegen Sebastian und die anderen Männer den Abhang hinunter. Wie sich gezeigt hatte, waren Wolfgang Hellwig und Thorsten Gebhard im dichten Buschwerk der Wand hängen geblieben. Jetzt galt es schnell zu handeln, denn niemand konnte sagen, wie lange diese »Bremse« noch hielt.

Der Bergpfarrer und einer der Retter hielten neben dem Kripobeamten. Wolfgang Hellwig blutete aus einer Wunde an der Stirn, außerdem hatte er Hautabschürfungen im Gesicht, und die Hose war zerrissen. Aber – Gott sei Dank, schickte der Geistliche ein Stoßgebet zum Himmel – er atmete noch.

»Wahrscheinlich mehrere Brüche, aber er lebt«, hörten sie einen der Männer sagen, die zu Thorsten Gebhard vorgedrungen waren.

Wie sie es unzählige Male geübt hatten, brachten die Retter die Verletzten nach oben. Der Notarzt, der jedesmal dabei war, untersuchte sie. Wie eine erste Diagnose ergab, hatte Wolfgang sich nichts gebrochen. Zwar würde er im Krankenhaus noch geröntgt werden, aber im jetzigen Zustand ging es ihm einigermaßen gut. Er war inzwischen aus seiner Ohnmacht erwacht.

»Haben wir ihn erwischt?« fragte er Sebastian mit schwacher Stimme.

»Ja«, nickte der Geistliche, »und jetzt kann er auch net mehr weg.«

Ein zufriedenes Lächeln glitt über Wolfgangs Gesicht.

Anders sah es bei dem Millionendieb aus. Thorsten Gebhard hatte mehrere Brüche davongetragen. Der Arzt entschied, daß er zuerst an Bord des Hubschraubers geholt werden solle. Während die Aktion startete, stand Maria bei Wolfgang und hielt seine Hand.

»Ich hatte solche Angst um dich«, sagte sie durch den Lärm des Hubschraubers und wischte sich die Tränen aus den Augen.

Er drückte ihre Hand.

»Und ich erst um dich«, antwortete er. »Ich dachte, ich werd’ verrückt, als ich dich da plötzlich sah.«

»Ich konnt’ net im Pfarrhaus bleiben«, entgegnete Maria beinahe entschuldigend. »Irgendwie hatte ich das Gefühl, es würd’ was Schreckliches passieren.«

»Eigentlich war es doch ganz gut«, meinte er. »Offenbar hatte Gebhard seinen ursprünglichen Plan aufgegeben und war schon längst hier oben. Er muß uns gehört und sich versteckt haben. Wenn du net gekommen wärst, wären wir an ihm vorbeigegangen, ohne ihn zu bemerken. Aber so hat er wohl gemerkt, daß er keine Chance mehr bei dir hat, und versuchte zu flüchten.«

»Na, Herr Hauptkommissar«, ließ sich Sebastian vernehmen, der neben sie getreten war, »sind S’ schon dabei, die letzten Ereignisse zu analysieren?«

Er schüttelte den Kopf.

»Jetzt geht’s erst mal ins Krankenhaus. Alles andere hat Zeit.«

Wolfgang sah Maria an, sie lächelte.

»Ja, Pfarrer Trenker hat recht«, sagte sie und gab ihm einen liebevollen Kuß. »Wir haben noch viel Zeit!«

Der Bergpfarrer Paket 4 – Heimatroman

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