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Kapitel 2

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Sobald die Scheinwerfer von oben weiße und blaue Säulen werfen und der Staub in der Luft flimmert, erwischt es mich. Ich schaue nicht mehr nach rechts oder links. Nehme nichts mehr anderes wahr. Ich bin das erste Mal seit Ewigkeiten richtig da. Bin so präsent, dass ich an nichts mehr denke. Nichts lenkt mich ab. Ich bin ganz leer.

Dieser Moment rollt über mich in einer Welle, die vielleicht zwei Sekunden dauert, vielleicht zwei Minuten. Ich bin leer, ich bin zeitlos, ich schwimme im Sound. Und dann stolpert die Frau neben mir in mich hinein und verschüttet ihr Getränk auf mir. Die Zeit läuft wieder.

Die Frau entschuldigt sich und will mir unbedingt ein Bier ausgeben. Ich sage, später. Ich will jetzt nicht abgelenkt werden, mich nicht bedanken müssen, ich will wieder in der Welle und hier sein. Die Frau brüllt mir ins Ohr, sie könnte mir auch was anderes ausgeben, nach dem Konzert. Ich nicke und hoffe, dass sie bis dahin noch jemand anderen nass macht und ihr Angebot vergisst.

Schnell drehe ich mich weg und hänge mich an die Stimme, die von der Bühne kommt, hänge mich daran wie an ein Seil, bring mich zurück, Stimme. Und der Sänger tut, was er immer tut. Er macht einen Salto ins Publikum, verschwindet zwischen Händen und Köpfen. Das Wogen bleibt unbestimmt, die Hysterie greifbar, ohne in eine bestimmte Richtung auszuschlagen. Doch dann kommt er näher. Er wird in meine Richtung getragen oder drückt sich selbst durch das Publikum, durch den massigen Körper, der immer höhere Wellen schlägt. Um mich herum fuchteln Telefone. Die Stimmung ist wie immer ausgelassen. Alle wollen ihn anfassen, sich an das Seil hängen und in die Welle gezogen werden, wie ich.

Ich aber will ihn nicht anfassen. Ich bin kein Fan.

Ich weiß jetzt, dass es eine Schnapsidee war, mich direkt vor der Bühne unter die harten Fans zu mischen. Ich habe das nur gemacht, weil Jesse nach jedem Konzert meint: „Das nächste Mal musst du dich ganz nach vorne stellen. In die Mitte. Nur da kriegst du es richtig mit.“ Er hat recht. Nur hier kriege ich mit, was ich mir von hinten gemütlich hätte anschauen können, weg vom Gedrängel und von enthusiastischen Betrunkenen, die rhythmisch in meinen Rücken wogen. Das hätte ich tun können, aber dann wäre ich nie in die Welle geraten. Die Welle gibt es nur zwischen den Fans direkt vor der Bühne. Wo die Energie mit einem Klatschen auf die nassen Gesichter der Pogo-Tänzer prallt, der Oben-ohne-Mädchen und der brüllenden Jungs, die ihre Haare schütteln, egal ob sie welche haben oder nicht.

Nur hier, inmitten der Begeisterung, erreicht mich die Kraft. Eine Keule, ein Sog, der mich ein- und aussaugt, ein Nebel, der überall hängen bleibt, vor allem in meinem Kopf. Ich schließe die Augen und lasse die Welle durch meine Schultern ziehen, durch den Bauch, die Beine und wieder zurück, bis mich das Kreischen um mich herum wieder herausreißt.

Als ich die Augen öffne, steht der Sänger vor mir. Um ihn herum hysterisch zuckende Hände, Arme, Beine. Ich stehe wie angewurzelt vor ihm. Ich bin da, ich bin so was von da, bis er lächelt. Im nächsten Moment ist er schon hinter mir. Der Druck seiner Hand auf meinem Oberarm brennt und ich drehe mich um, sehe, wie er verschwindet, Hände, Arme, Beine falten sich um ihn, kleine Wellen, die nach hinten auslaufen, über mich drüber.

Sein Lächeln: Er weiß, dass ich ein Freund von Jesse bin und den Platz hier ganz bewusst gewählt habe. Er weiß, dass ich wegen der Welle hier bin, nicht wegen ihm.


# 1: 21. Dezember

Ich sollte nicht, aber ich schaue ihn immer wieder an, von weitem, versteckt hinter Leuten, hinter meinem Haar, das ich mir beim Trinken ins Gesicht fallen lasse, damit niemand sehen kann, wo mein Blick hingeht. Als würde es irgendwen interessieren. Wann immer ich ihn sehe, muss ich zu ihm hinüber schauen und mehr Alkohol trinken, als mir gut tut. Und gestern passierte es: Er schaute zurück. Er lächelte mich an – und das bildete ich mir nicht ein – er schaute mich an, so als würde er sich wirklich für mich interessieren. Nicht nur für die Schöne neben ihm, die durch mich hindurch sah, wie alle anderen in der Bar.

Als ich an ihm vorbei ging, hielt er mich fest und nahm meine Hand, drehte sie um und blickte in die Handfläche. Und er sagte, wenn du es nicht versuchst, weißt du nicht, ob du es kannst. Seine Stimme war genauso, wie ich sie mir vorgestellt habe, dunkel und heiser. Ziemlich sexy.

Die Schöne sah mich einen Moment lang an, fast interessiert, und mir fiel ein, wo ich sie schon einmal gesehen hatte. Vor ein paar Jahren fuhr Lysian auf sie ab, aber er hatte keine Chance. Jetzt ist sie da, wo sie gut hinpasst: an seinem Arm.

Sie war es dann auch, die ihn von mir wegriss. Er lächelte zum Abschied und sagte, bis bald.

Jesse ist der Bassist der Band und das ganze Konzert über nüchtern geblieben. „Anweisung von oben.“ Jetzt tut er alles, um schnell in seinen Normalzustand zu kommen. Mindestens fünf Leute sind abwechselnd mit ihm beschäftigt und er kommt nach jedem Ausflug glücklicher zurück. Sein Blick ist nicht mehr klar, aber noch halbwegs fokussiert, als er mich an der Schulter packt und beiseite zieht.

„Du musst dich heute um Maya kümmern“, flüstert er mir ins Ohr.

Ich schaue auf den Boden. Maya ist seine Freundin, mehr als meine.

Jesse kneift die Augen zusammen, formt mit der Hand einen Revolver und zielt auf eine Frau in der Nähe des Ausgangs. Sie sieht gut aus, vielleicht eine Spur zu nüchtern, aber sie ist nicht wegen eines romantischen Abends hier.

Ich winke ihr zu. „Die kenne ich von irgendwo her. Tanja?“

Jesse starrt mich an. „Woher?“

Ich habe die Frau noch nie gesehen, aber ich bin mir sicher, dass Jesse auch nicht weiß, wie sie heißt.

„Keine Ahnung. Von einer Party vielleicht? Oder der Bastille?“

Ich huste, damit er nicht merkt, dass ich lachen muss. Es spielt keine Rolle. Jesse merkt nicht mehr viel.

Er starrt sie weiter an, dann schweift sein Blick ab. „Wie ist sie?“

„Ich erinnere mich nicht mehr.“

Er schlägt mir mit der Faust auf den Oberarm.

„Sehr witzig. Du gehst nachher zu Maya, OK? Sag ihr, dass wir noch feiern. Dass es später wird. Ach, sag ihr, was du willst, Mann.“

Dann klopft er mir auf die Rücken und drängelt sich durch die Leute bis zu der Frau, die vielleicht Tanja heißt, aber wahrscheinlich nicht.

Maya kommt nur noch selten zu den Konzerten. Jesse schiebt es auf ein Problem, das sie mit der Band hat. Mir sagt sie, sie könne Jesse nach einer Show kaum ertragen. Ich weiß, was sie meint. Auch ich halte mich an diesem Abend von ihm fern. Als ich um drei bei ihr klingele, öffnet sie mit einem Glas Wein in der Hand. Sie hat mich erwartet.

Wir sprechen nicht viel und sie zieht mich auf das Sofa, wo wir so schnell und hektisch Sex haben, als könnte Jesse jeden Moment reinkommen. Als würde es ihn stören. Danach steht sie auf und geht ins Schlafzimmer. Während sie durch die Tür geht, gleitet ihre Hand an der Wand entlang und schaltet das Licht aus. Ich höre, wie sie eine Schublade öffnet und schließt. Dann kommt sie zurück und steht in der Tür, ein dunkler Schatten, in dem ich ihre Form erahne, die Kurve ihrer Rippen, die sich in den Körper hinein windet und an der Hüfte wieder heraus. Die Kurve, an der ich mich noch vor wenigen Minuten festgehalten habe.

Jetzt sitze ich auf dem Sofa und bewundere sie. Ich höre ein Klicken, sehe eine Flamme vor ihrem Gesicht. In ihrem Mund ein perfekt gerollter Joint, so weit ich das erkennen kann, obwohl ich gar nicht genau hinschauen muss, denn ihre Joints sind immer perfekte, konisch schlanke Zweiblatt-Tüten, liebevoll gedreht mit ökologisch angebautem Tabak und Gras aus Krisengebieten. Sie kommt auf mich zu, ins Licht der Straßenlaternen, mit ihrem leuchtenden Körper und der Stille, die immer über sie kommt nach dem Sex. Auch ich bin still und hoffe, die Ruhe hält an. Hoffe, dass wir nicht mehr über Jesse reden müssen, über andere Themen, die ich heute Nacht gerne aussparen würde.

Wir rauchen in beinverschlungener Entspanntheit. Ich fahre mit dem Finger an ihren Rippen entlang, bis sie kichert. Sie bricht das Schweigen. Etwas in ihr nagt und kratzt, muss raus, muss immer raus, wenn wir zu lange zu entspannt waren. Sie muss das Gleichgewicht herstellen, die andere Seite der Waage beladen mit ihrer Frage, die nur darauf abzielt, mich aus meinem weichen, wohligen Embryonalzustand herauszuholen und in den Regen der Realität zu stellen.

„Was macht Jesse heute Abend? War er schon dicht, als du gegangen bist?“

Ich kann nicht lügen, also lege ich den Arm um sie, versuche, die Frage in einer Umarmung zu ersticken, aber sie lässt nicht locker.

„War er allein, als du gegangen bist?“

„Es waren ziemlich viele Leute da. Die feiern bestimmt noch.“

„Du weißt, was ich meine.“

Obwohl ich sie in dem gelben Licht der Straßenlaternen gut erkennen kann, fühle ich ihre Augen mehr, als dass ich sie sehe. Groß, dunkel, vorwurfsvoll. Ihr Blick bohrt sich in mich und ich schaue weg.

„Warum müssen wir immer über Jesse reden, wenn wir Sex hatten?“

„Warum nimmst du ihn immer in Schutz?“ Sie seufzt und ihre Stimme wird leiser: „Hat er mit jemandem herumgemacht?“

Jetzt seufze ich. „Nicht, solange ich da war“, rede ich mich heraus.

„Er hat gesagt, du sollst dich um mich kümmern, stimmt’s?“

„Habe ich mich schlecht gekümmert?“

Und so geht es weiter, ein Satz prallt auf den nächsten, Fragen haben keine Fragezeichen mehr, Vorwürfe treffen auf Gedankenstriche und ich überlege mir mehrere Minuten lang, ob ich nach Hause gehen soll. Dann werfe ich einen Blick auf Mayas halbsitzenden Körper neben mir auf dem Sofa. Beobachte, wie sie die Arme um die Beine schlingt, den Kopf auf die Knie legt und entscheide mich dagegen. Ich helfe ihr hoch und bringe sie ins Bett. Sie schwankt an meiner Hand, betrunkener oder bekiffter als ich dachte, und ich setze sie vorsichtig ab.

Bevor sie einschläft, haben wir noch einmal Sex. Ich versuche, Jesse aus ihren Gedanken zu stoßen, was mir insofern gelingt, dass ich selbst nicht mehr an ihn denken muss. Ich bin in einem Zustand zwischen Orgasmus und Traum und sehe nur noch verschwommen, wie Maya den Kopf auf die Seite dreht und die Augen schließt. Als ich meine Augen wieder öffne, bricht die Sonne hart durch die halb geschlossenen Jalousien. Ich ziehe mir die Decke über die Augen und höre, wie jemand die Tür aufschließt. Es ist nachmittags. Der Raum ist heiß und ich habe ein Kratzen im Hals. Auch in meiner Erinnerung kratzt etwas, mein schlechtes Gewissen. Ich habe meinen Termin mit Larissa verschlafen. Jetzt wird sich ihr Zeitfenster wieder für mindestens eine Woche schließen. Ich muss husten, aber das Kratzen werde ich nicht los. Das schlechte Gewissen auch nicht.

*****

Der Pinsel sinkt ein und hinterlässt ein weißes Dreieck in der Pupille. Hier zeigt sich der Angreifer. Er spiegelt sich winzig klein, in einer Bewegungsunschärfe. Doch er ist keineswegs unscharf. Sein Opfer ist mein Opfer: die Frau vor der Treppe. Vor zwei Wochen fing ich mit ihr an und kam anfangs nur langsam voran. Die wiederkehrende Angst vor der leeren Leinwand. Die ersten anstrengenden Schritte und Fehltritte. Dann nahm die Arbeit an Fahrt auf und Treppe und Hintergrund sind nun fast fertig. Der Schatten hinter ihr hat die richtige Form und Kontur. Vage genug, um jederzeit wieder im Bild zu verschwinden. Dunkel genug, um die Fantasie anzuregen. Glänzend wie eine Flüssigkeit. Am wichtigsten jedoch ist der Ausdruck der Frau. Noch ist sie nur verwirrt. Doch die Panik zerrt schon an ihr. Ihre Augen sind glasig, ihr Körper angespannt. Im nächsten Augenblick wird sie aufschreien. Ihre Muskeln werden zusammenzucken, durchschossen von Hormonen und widersprüchlichen Fluchtreflexen.

Das Bild zeigt den Moment vor dem Moment.

Zitternd setze ich zarte, helle Blitze auf die Reflektion in der Pupille, darauf kommen schwarze Punkte. Ich türme das Grauen Strich um Strich auf. Ich sehe, was der potenzielle Angreifer sieht. Mit jeder Bewegung des Pinsels wird das, auf was sie schaut, unerträglicher, ihre Angst fassbarer. Meine Augen brennen und ich blinzle, um den Fokus wieder scharf zu stellen. Ich kann nicht aufhören. Ihr Ausdruck stimmt noch nicht, etwas fehlt. Der Horror geht nicht tief genug, erfasst sie noch nicht komplett. Meine Hand zittert, die Schulter schmerzt, aber die Farben erreichen ihr Ziel. Sie wird lebendiger. Der Schock umgibt sie wie ein magnetisches Feld, in das der Pinsel hineinfährt, langsam, wie in Zeitlupe. Minute um Minute nimmt sie Form an, ihre Angst.

Und dann passiert es.

Ich berühre mit dem kleinen Finger einen Winkel ihres Mundes, zärtlich, und streichele ihr eine leichte Falte über die Lippen, kurz bevor sich der Mund in einen Schrei wölbt. In diesem Augenblick rieche ich es. Ein fremder Geruch, ein Duft, den ich hier noch nie wahrgenommen habe. Ich bin irritiert. Ich kenne diesen Duft. Eine Schublade in meinem Gedächtnis öffnet sich, weckt Erinnerungen. Ich drehe mich um und schaue in den Raum hinein. Die Deckenlichter sind angeschaltet, ein gnadenloses Neonlicht liegt auf allen Oberflächen. Ein Licht, unter dem sich die Schatten nur mit Fantasie halten. Ich kann in die Küche sehen, erkenne die Hälfte des Tisches, einen Stuhl, meine Jacke auf dem Stuhl, Geschirr und Gläser vom Abendessen.

Neben der Küche ist der Schlafbereich. Hier stehen das Bett, die Kleiderstange und die alte braune Kommode mit dem Spiegel, den ich mit einem Tuch verhänge, wenn ich ihn nicht brauche. Daneben die Tür in den Raum, in dem Silvester schlafen soll, wenn er mich besucht. Da er sich weigert, woanders als in meinem Bett zu schlafen, benütze ich das Zimmer als Lager für meine fertigen Bilder. Auf der anderen Seite der Küche befinden sich die Tür zum Bad und der Schreibtisch. Regale an der Wand, Lautsprecherboxen, ein Sofa, ein kleiner Tisch und Leinwände. Überall stehen Leinwände, zwischen und hinter Möbeln, sie lehnen an drei Seiten des Raums. Leinwände, die ich auslagern sollte, aber nie die Zeit dazu finde. Alles sieht aus wie immer.

Auch die Ecke zwischen Bett und Eingang, in der ich male und die ich „Atelier“ nenne, wenn ich lustig sein will, wirkt wie immer. Eigentlich wollte ich Wände einziehen, damit der Bereich vom Wohnraum abgetrennt ist, aber ich habe es bis jetzt nicht geschafft. Und eigentlich wollte ich auch schon längst ausgezogen sein oder mir irgendwo einen Atelierraum besorgt haben. Aber bis jetzt kam immer etwas dazwischen und ich stecke weiterhin in meiner dunklen, aber immerhin großen Zweizimmerwohnung im Parterre fest.

Der Duft wird stärker und ich erinnere mich daran, wie meine Mutter abends im Bad vor dem Spiegel steht und sich schminkt. Hellbraune Korkwände ziehen sich bis an die Decke. Über dem Spiegel hängt eine Leiste halbversilberter Glühbirnen. Sie steht barfüßig auf den dunkelbraunen Kacheln und trägt ein hellbraunes kurzärmeliges Kleid, das wie eine logische Fortsetzung ihrer gebräunten Arme und Beine und der Korkwände wirkt. Ihr Haar fällt in dunklen Locken auf den Rücken. Sie lächelt mich schief im Spiegel an, während sie einen dunkelroten Lippenstift über ihre geschwungenen Lippen zieht, um die großen, geraden Zähne ihres vollen Mundes herum. Dann presst sie die Lippen aufeinander, steckt die Kappe auf den Lippenstift und dreht sich um. Sie beugt sich zu mir hinunter und nimmt mich in die Arme. Vor dem Spiegel sehe ich die braune Flasche, auf der in goldenen Buchstaben OPIUM steht. Das Lieblingsparfüm meiner Mutter.

Einige Jahre später wechselte meine Mutter das Parfüm und ich habe es seitdem nicht mehr gerochen. Jetzt überfällt mich der anachronistische Duft mit voller Wucht und schickt mich in eine andere Zeit. Ich bin wieder das Kind, das auf den Babysitter wartet, während sich meine Eltern zum Ausgehen bereit machen. Der Babysitter kommt nicht und ich krieche ängstlich ins Bett, rutsche bis zum Haaransatz unter die Decke und stelle mich schlafend, aus Angst vor dem Dunklen Mann. Ich bete zu Gott oder was ich dafür halte, dass mich der Dunkle Mann verschont. Ein kurzatmiges Mantra gegen das, was in den Schatten und Träumen lauert, das Gefühl, ausgeliefert zu sein. Meine Eltern wissen nichts von diesen Gebeten. Der Dunkle Mann ist eine effektive Erziehungsmaßnahme. Er wirkt immer. So auch in dieser Nacht.

Jetzt, über 30 Jahre später, ist er zurückgekehrt. Ich erkenne ihn am Geruch. An der blitzartigen Erinnerung an eine Zeit, als ich nicht anders konnte, als Angst zu haben. Auch wenn ich nicht mehr an ihn glaube, ist die Wirkung dieselbe. Das Herz schlägt schneller. Mir wird heiß. Ich will mich sofort ins Bett legen und mir die Decke über den Kopf ziehen. Ich ertappe mich dabei, wie ich den Atem anhalte, um kein Geräusch zu machen. Er ist nah. Mein Angreifer.

Ich lege den Pinsel auf den Tisch neben der Leinwand und gehe in die Küche, um mir die Hände zu reinigen. Der Duft des Parfüms ist schwächer hier und ich schütte mir Terpentinersatz über die Haut. Der scharfe Lösungsmittelgeruch lenkt mich ab. Aus der Küche heraus sehe ich die Frau vor der Treppe. Ihr Ausdruck ist jetzt richtig. Und mir fällt noch etwas anderes auf. Ihre Nase ist gekräuselt, ihre Augenbrauen zusammengezogen. Die Frau sieht ihren Angreifer nicht nur – sie kann ihn auch riechen.

Ich weiß, dass der Geruchssinn der älteste und archaischste unserer Sinne ist. Er beeinflusst direkt den Teil des Gehirns, der uns überlebenswichtige Impulse gibt. Flucht, Hunger, Geilheit. Wir erkennen am Geruch, was gut für uns ist und was uns schadet. Ich merke intuitiv, dass das, was ich rieche, nicht gut für mich ist. Und tatsächlich: Ich stehe noch in der Küche, als ich das Ziehen im Hinterkopf spüre. Es ist soweit.

Migräne.

Bevor mich der Schmerz komplett lähmt, suche ich nach den Tabletten. Ich finde nur leere Packungen und verfluche mich selbst. Dann schlucke ich eine Handvoll Paracetamol-Pillen, die nicht wirken werden, mir aber das Gefühl geben, mich gewehrt zu haben, und halte ein Handtuch unter das Wasser. Ich schaffe es noch aufs Bett und spüre, wie ein Teil von mir immer tiefer in die Matratze versinkt, während ein anderer Teil an der Stirn klebt, unter dem feuchten Handtuch, so weit wie möglich weg von dem Ziehen im Hinterkopf, das langsam lange, knochige Finger nach vorne ausstreckt. Das Lid meines linken Auges beginnt zu flattern. Grelle Lichtblitze knistern bis in den Hals. Ein Schlüssel dreht sich.

Ein heller Spalt, eine Tür öffnet sich, etwas schlüpft hinein. In mich hinein. Klopft mir von innen an die Brust. Begrüßt mich. Dann dreht sich wieder alles. Ich schlüpfe irgendwo hinein. Um mich herum ein Sturm. Ich bin im Zentrum eines Wirbelwinds. Im pulsierenden Auge eines Orkans. Ich bin so tief im Schmerz, dass alles nur noch in einem Punkt stattfindet. Dann: Eine Vision unterhöhlt den Schmerz, schenkt mir kurz frische Luft, wenn auch mehr mental als körperlich. Ich bin mitten im Meer, ein Sturm tobt um mich und nichts, überhaupt nichts kann mich retten. Das gibt mir ein Gefühl unglaublicher Ruhe. Nichts kann mir mehr schaden. Nichts kann mir Angst machen. Es ist alles schon passiert.

Ich höre ein Weinen in der Ferne, ein Lachen. Es sind nur Möwen. Wellen. Gischt. Ein kleines Mädchen, das durch die Luft fliegt. Die Arme weit ausgestreckt. Sie verschwindet hinter Wolken. Nichts kann mir mehr passieren, es ist alles schon geschehen. Es ist vorbei.

Als ich aufwache, habe ich Halsschmerzen. Ich habe mich so oft übergeben, dass ich Muskelkater im Kiefer habe. Das Licht ist an und ich weiß für einen Moment nicht, ob es Tag oder Nacht ist. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass ich meinen Termin mit Silvester verpasst habe. Ich hätte ihn um zwei Uhr mittags abholen sollen. Jetzt bin ich mindestens zwei Stunden zu spät dran. Ich suche das Telefon, um Larissa anzurufen. Auf dem Küchentisch, unter einer Zeitung finde ich es. Mehrere Anrufe in Abwesenheit. Ich wähle Larissas Nummer. Bevor ich mich entschuldigen kann, explodiert sie. Offenbar habe ich mich um einen ganzen Tag verspätet.

„Warst du feiern?“

Ihre Stimme wird leiser. Wahrscheinlich ist Silvester gerade ins Zimmer gekommen.

„Migräne. Ich hatte keine Tabletten mehr.“

„Und du konntest nicht mehr absagen?“

„Leider nicht. Kann ich ihn heute sehen?“

„Er übernachtet bei Paul. Darauf freut er sich schon die ganze Woche. Und ehrlich gesagt ...“

Wer ist Paul? Ich frage besser nicht nach. Auch wenn sie es nicht ausspricht, weiß ich, was sie mir sagen will: Wie kannst du dich um Silvester kümmern, wenn du dich um dich selbst nicht kümmern kannst? Sie schluckt den Rest des Satzes hinunter und wird freundlicher.

Wir machen aus, dass ich Silvester in zwei Tagen abhole. Ich stehe auf und hole mir ein Glas Wasser. Wie immer nach einem Anfall bin ich verwundert, wie schnell die Energie zurückkommt. Sie sprudelt in mich hinein und ich male weiter an Hydesville. Die Frau vor der Treppe drehe ich um, so dass mich die Leinwand von hinten anschaut. Die Frau macht mich nervös.

Zellgeflüster

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