Читать книгу Zellgeflüster - Tons May - Страница 7
Kapitel 5
Оглавление„Und? Haben sich die Bullen nochmal bei dir gemeldet?“ Jesse zieht an seiner Zigarette und starrt die Frau zwei Tische weiter an.
„Die Bullen?“
„Wegen deiner Nachbarin, Mann.“
Ich kratze am Flaschenetikett. Die Frau starrt zurück. Er dreht den Kopf zu mir, zieht eine Augenbraue nach oben, zieht an der Zigarette, bis seine Wangenknochen Schatten werfen und bläst mir den Rauch ins Gesicht. Ich will nach Hause.
„Nein.“
„Nein?“
„Sie haben nicht mehr angerufen.“
„Du wirst nicht mehr verdächtigt?“ Er grinst breit.
Ich schaue an ihm vorbei und sehe, wie die Frau aufsteht, auf uns zugeht. Sie senkt den Kopf und nimmt uns ins Visier, erst ihn, dann mich. Eine Maus, die sich für die Katze hält. Jesse zieht scheinbar entspannt an seiner Zigarette, aber seine Augen verraten ihn.
Ich lehne mich über den Tisch. „Hier kommt deine Beute.“
Jesse dreht sich zu ihr um. Sie wirft ihm einen tiefen Blick zu und geht an uns vorbei in Richtung Klo. Er starrt ihr hinterher.
Ich räuspere mich. „Es war wohl wirklich Suizid. Ich bin raus.“
Er sieht für einen Moment enttäuscht aus und ich habe Lust, ihn zu treten. Aber ich weiß, das macht ihn an und lasse es bleiben. Ich fühle mich matt.
Er nimmt einen letzten Zug und nickt mir zu. „Wartest du auf mich? Dauert nicht lange.“
Ich schließe die Augen und stelle mir vor, wie ich zu Hause im Sessel sitze. Ganz allein. Mit einem Glas Wein. Einem Joint. Musik. Frieden.
Warum ich nicht zu Hause geblieben bin: Den ganzen Tag über hat mich ein ungutes Gefühl geritten. Doch passiert ist nichts. Abends stritt ich mich mit Maya und fuhr darauf in Jesses Stammbar. Er war tatsächlich da und schien sich eine halbe Minute lang über mich zu freuen. Dann zeigte er auf eine Gruppe Touristinnen und fragte: „Rot oder blond?“
Seitdem frage ich mich, warum ich überhaupt aus dem Haus gegangen bin. Ich sehne mich nach Ruhe und Dunkelheit. Ein typischer Anfall von Ambivalenz, der mich an manchen Tagen stundenlang lähmt. Heute nicht. Ich trinke mein Bier aus, schalte mein Telefon aus und gehe nach Hause.
Die Polizei hat sich tatsächlich nicht mehr gemeldet. Soll ich beim Vermieter nachfragen? Ich verwerfe den Gedanken sofort wieder. Wenn ich von der Sache nichts mehr höre, ist wohl alles in Ordnung. Ich lasse mich in den Sessel fallen, kratze mich am Kopf. Mein Haar stinkt, obwohl ich es gestern gewaschen habe. Nichts ist in Ordnung. Juliana stach sich ein Auge aus und erhängte sich. Kurz nachdem ich sie malte. Und in ihrem Notizbuch steckte ein Foto von mir. Ich stehe auf und gehe nach hinten. Dort, wo das Licht der Neonröhren nicht mehr hundertprozentig hinreicht, stehen die fertigen Bilder. Als ich den Unfall hervorziehe, höre ich ein Geräusch in der Küche. Mein Magen zieht sich zusammen, aber ich schaue nicht nach. Langsam schiebe ich das Bild ins Licht.
Ich könnte es zerstören. Zerschneiden, zerreißen, zerfetzen, verbrennen. Oder einfach nur übermalen. Ich suche nach dem inneren Impuls, dem manischen Feuer, das den Schritt rechtfertigen würde, und trete einen Schritt zurück. Ich finde das Bild nicht besser oder schlechter als andere Bilder von mir. Es ist fertig und ich hänge nicht mehr sonderlich daran. Ein fertiges Bild muss für sich stehen. Sobald ich es abgeschlossen habe, bin ich auch emotional damit fertig. Nerven kosten mich nur die Arbeiten, die kein Ende finden. Oder die, die ich nie anfange.
Doch ist dieses Bild wirklich fertig? Mir fällt auf, dass es eine merkwürdige Stimmung hat. Keine, die ich beabsichtigt hatte. So etwas passiert öfters. Ich male etwas, ohne zu ahnen, wie es schließlich als Endprodukt wirken wird. Die Räume verselbstständigen sich. Die Charaktere bekommen Charakter. Die Farben verändern sich, ohne dass mir das beim Malen bewusst wird. Ich bin ein ziemlich stumpfer Demiurg in meiner Welt. Die meiste Zeit weiß ich nicht, was ich tu. Was entsteht, entsteht. Was nicht, kann später noch hinein interpretiert werden.
Eigentlich war das Bild vor zwei Wochen fertig. Ich erklärte es für gelungen und schob es weg. Jetzt stehe ich vor dem Unfall und sehe Details, die mir vorher nicht aufgefallen sind. Die verletzte Frau, gerade dem Tod entronnen und weggetreten, sieht anders aus. Anders als auf dem Foto und anders, als ich sie malen wollte. In meiner Erinnerung war ihr Blick unfokussiert. Das gesunde rechte Auge halbgeschlossen, das geschwollene linke Auge im Schatten, ihr blutüberströmtes Gesicht weich, fast schlaftrunken. Und jetzt? Sie schaut mich an, das halbgeöffnete Auge ist eindeutig auf den Betrachter fixiert. Sie sieht vorwurfsvoll aus. Einäugig vorwurfsvoll. Ich fahre mir mit der Hand über mein linkes Auge und merke, dass ich schwitze. Mir ist flau im Magen. Ich sollte etwas essen.
Das habe ich nicht gemalt. Oder doch? Manchmal bin ich so breit, dass ich mich nicht mehr erinnern kann. Und das Ergebnis ist dementsprechend. Früher habe ich so immer wieder Arbeiten verhunzt. Deshalb male ich an Bildern im Endstadium nur noch nüchtern, höchstens angetrunken. Meistens jedenfalls. Aber hier? Ich trete noch einen Schritt zurück. Die Frau schaut mich an, keine Frage. Und dann passiert etwas Merkwürdiges: Während ich sie betrachte und den Hintergrund, das zusammen geschobene Metall, den Rauch, die Nacht dahinter, entdecke ich neben ihr auf dem Beifahrersitz das Phänomen. Ich weiß, dass es da ist, ich habe es gemalt, doch ursprünglich sah es anders aus. Es war nur vage zu erkennen, ein zweiter Körper, ohne Kopf, angegurtet. Und jetzt? Je länger ich hinschaue, desto besser kann ich es sehen. Als würde es aus dem verrußten Sitz wachsen. Das Phänomen hat auf einmal einen Kopf. Schemenhaft zwar, aber unverkennbar. Ich kann Augen wahrnehmen, Nase, Mund. Das Gesicht kommt mir bekannt vor. Ich schaue genauer. Komme näher. Gehe einen Schritt zurück. Unverkennbar. Mir wird übel.
Als ich in die Küche gehe, habe ich das Geräusch schon vergessen. Und dann sehe ich es. Die grüne Salatschüssel, die Larissa mir geliehen hat, liegt auf dem Boden. Sie ist in zwei Teile gebrochen. Ich bücke mich und dann fällt es mir ein.
Ich hatte ihr die Schüssel zurückgegeben. Vor über zwei Wochen. Ich steckte sie in eine Tüte und gab sie Silvester mit, als er aus dem Auto stieg. Larissa nahm sie ihm mit einer Hand ab und fuhr ihm mit der anderen durchs Haar. Dann winkte sie mir zu. Ich erinnere mich genau.
Ich brachte Silvester zurück und fuhr wieder nach Hause. Danach malte ich die ganze Nacht über. Am Unfall. Eine Straße in Nordengland. Frühe 1960er. Ein hellgrüner Cortina, aber das erkennen nur noch Profis. Die Frau am Steuer in einem hellblauen Kleid, das Blut schon eingetrocknet an manchen Stellen. Überlebte sie den Unfall? Das Foto, das ich als Vorlage benutzte, zeigt neben ihr auf dem Sitz einen menschengroßen Fleck. Vermutlich retuschiert oder doppelt belichtet. Vielleicht ist es ein Schatten. Vielleicht eine Erscheinung. Das Foto legt sich nicht fest, aber das Archiv, in dem ich es gefunden habe, schon. Dort heißt es: Verstorbener Bruder erscheint neben Unfallopfer.
In meinem Bild bin ich der Bruder. An den Rest des Abends kann ich mich nicht mehr erinnern.
*****
Wann habe ich angefangen, Geister zu malen? Anfangs waren es für mich keine Geister. Es waren „Phänomene“. Fehler in der Wahrnehmung. Löcher im System. Larissa war die erste, die von Geistern sprach. Sie stand im Atelier und schaute sich die Bilder schweigend an. Sie war schwanger und ich ließ sie in Ruhe.
Schließlich drehte sie sich um und schüttelte den Kopf. „Geister? Warum Geister?“
Ich weiß nicht mehr, was ich darauf antwortete. Ob ich irgendetwas antwortete. Aber es blieb hängen. Wir würden ein Kind kriegen. Und ich malte Geister. Das eine hatte mit dem anderen nichts zu tun, bis Larissa die Verbindung herstellte. Sie sagte es nicht, doch ich hörte es: Hör auf mit den Geistern und kümmere dich um uns. Der Vorwurf schwang mit: Hätte ich nicht nur Geister gemalt, wäre ich erfolgreicher geworden. Wer will sich schon „Phänomene“ ins Wohnzimmer hängen?
Heute weiß ich, dass ich keine Wahl hatte.
Damals wusste ich das noch nicht und meine Erklärungsversuche richteten sich sowohl an sie als auch an mich. Warum Geister? Ich sehe mich, wie ich vor ihr stehe, in der Ateliergemeinschaft in Treptow, in hellen, zugigen Räumen, die sich kaum beheizen lassen. Ich habe mehrere Jacken an und male in Handschuhen mit abgeschnittenen Fingern. Larissa findet das albern und zieht mich damit auf.
„Du bist so ein Spitzweg geworden. Der arme, lungenkranke Maler im kalten Osten.“ Sie lacht, aber ihr Lachen ist nicht freundlich.
Ich lache auch und sage, dass ich mir kein Atelier im warmen Westen leisten kann. Außerdem mag ich die Leute, mit denen ich mir die Räume teile, alle Spitzwegs wie ich. Ich erwähne nicht, dass ich eine Frau lieber mag als die anderen. Diese Frau und ihre ofenbeheizte Wohnung in Neukölln sind der Grund, warum ich mir in dem Winter damals keine Lungenentzündung hole. Wenn Larissa etwas davon ahnt, zeigt sie es nicht. Man könnte behaupten, unsere Kommunikation läuft nicht ideal.
Und da ich es nicht mehr gewohnt bin, mit Larissa über Dinge zu sprechen, die mir nahe gehen, werden unsere Unterhaltungen zunehmend komplizierter. Ich mache vage Handbewegungen, mit denen ich mir die Worte aus dem Mund ziehen möchte. Worte, die nicht von allein kommen. Am liebsten würde ich es in Ektoplasma sagen. Und anstatt mit der Wahrheit, irgendeiner Wahrheit herauszurücken, sage ich etwas Verkopftes. Meine Hoffnung: Je abgehobener die Erklärung, desto schwieriger wird es für Larissa, sich mit einer Frage einzuklinken. Also sage ich, dass es mir nicht um die „Realität von pararealen Phänomenen“ geht. Sie zieht die Augenbrauen zusammen. Ich fahre fort, dass es nicht die Geister an sich sind, ihre Existenz oder Nichtexistenz, die mich interessieren. Es geht nicht um den Nachweis für ein Leben nach dem Tod, um Zwischenzonen oder Zeitparadoxe. Das sage ich.
Larissa runzelt die Stirn.
Ich sage, dass ich Fälschungen male. Das ist zumindest technisch gesehen die Wahrheit. Ich erzähle von Manipulationen, die das Leben für manche von uns leichter machen. Simulationen einer Parallelwelt, die verlockend erscheint, weil sie anders ist und dennoch unserer Welt nicht so unähnlich. Ich erzähle vom Ort der Projektionen, dem Ort, wo Ängste Namen haben und deshalb beherrschbar erscheinen.
Larissa Blick wird ungeduldig.
„Geister sind ein dankbares Sujet, weil sie alles sein können.“ Ich rede schneller. „Wir haben nicht nur einen Geist, jeder von uns ist eine potenzielle Geistererscheinung. Wir sind das unerklärliche Zeug, vor dem wir uns fürchten.“
Larissa blickt mich verständnislos an.
Ich zeige auf das Portrait des toten Jungen mit dem Fisch im Mund, ein kleines Bild für meine jetzigen Verhältnisse und schwarzweiß.
„Was fühlst du, wenn du ihn siehst?“
Ich hasse es über die Bilder zu reden. Für meine Frau mache ich eine Ausnahme.
Sie legt den Kopf schief. „Ich bekomme Angst. Ich weiß nicht, wovor, aber ich schaue nicht gerne hin. Obwohl es ... Obwohl es auch eine gewisse Faszination hat.“
Sie denkt, ich möchte das hören. Am liebsten würde ich meinen Vortrag abbrechen. Es geht weiter. Worte, die wie aus Versehen aus meinem Mund stolpern. Hände, die in der Luft rudern. Kein Geisterschaum, der mir aus der Nase tropft. Nur Sätze, die sich nicht zu einem Konzept verdichten wollen. Ich bin konzeptlos. Das Schlimmste, das einem Künstler passieren kann.
„Angst ist wichtig. Sie hilft dir beim Überleben. Du siehst etwas Totes. Oder etwas scheinbar Totes. Und du hast Angst.“
„Freud?“, fragt sie leise.
„Nein. Ich meine ja, vielleicht. Du merkst, du bist noch nicht tot, du bist noch nicht an diesem Punkt angekommen. Du fühlst dich lebendig.“
Ich werfe einen Blick auf ihren Bauch, in dem Silvester Tag für Tag größer wird.
„Aber du hast auch Angst, weil ein bisschen Tod schon in dir steckt. Wenn du das nicht in dir erkennen würdest, hätte es keine Wirkung auf dich. Das Unheimliche ist, dass du vielleicht selbst ein Geist bist. Dass es eine Kontinuität zwischen dem Tod da ...“ Ich zeige auf das Bild des Jungen, „und dir gibt.“
Larissa schaut an sich herunter. Sie muss es nicht sagen, aber sie sagt es trotzdem. „Da ist Leben drin, Beat. Nicht Tod.“
„Wo Leben ist, ist auch Tod. Aber darum geht es mir nicht.“
„Um was geht es dir dann?“
Sie sieht mich mit ihren langgezogenen grauen Augen an, mit einem Ausdruck, den sie in den Wochen zuvor perfektioniert hat. Der sich selbst genügende, auf sich selbst zurückgeworfene Blick einer Schwangeren. Ich bin empfindlich geworden.
„Ich kann nicht anders. Ich muss. Nein, ich will. Ich möchte ...“ Ich breche ab. Ich kann es nicht erklären.
Damals, kurz vor Silvesters Geburt, konnte ich ihr nicht erklären, warum ich Geister male. Ich wusste es selbst nicht. Ich war fasziniert von dem Thema und es ließ mich nicht mehr los. Was ich auch nicht erklären konnte vor elf Jahren: Die Faszination begann zu einer Obsession zu werden. Ich war meinem Sujet immer mehr ausgeliefert. Und ich fing an, dieses Gefühl, diese Unausweichlichkeit meines thematischen Zwangs zu genießen. Ich ließ mich davon völlig ergreifen. Und diese Selbstaufgabe hat bis heute angehalten. Ich werde die Geister nicht mehr los.
Vielleicht ist es die Migräne, vielleicht mein Hang zur Hingabe: In dem Moment, in dem die Geister nach mir greifen, lasse ich los. Ich gebe meinen Widerstand auf, nicht weil ich denke, dass Abwehr nichts bringt (sie bringt nichts), sondern weil etwas tief in mir kitzelt. Ein kaum wahrgenommener, aber mächtiger Reiz, der mich zum Kratzen zwingt. Ich will, dass es mich ergreift. Dass etwas Fremdes in mir lebendig wird, mit mir verschmelzt. Dass ich zum Wirt werde, zur Petrischale, zur organischen Hülle für ein anorganisches Experiment.
Wie hätte ich das meiner schwangeren Frau erklären können?
Also lenkte ich ab und zeigte ihr die Fotos, die ich als Vorlage benutze. Die gefälschten Phänomene und fantasierten Besucher aus anderen Welten. Doppelbelichtungen. Manipulationen in der Dunkelkammer. Inszenierungen mit unsichtbaren Fäden, an denen Stoffe durch den Raum schweben. Nägel und Holzstücke, die unter weißen Kleidern verborgen werden. Wachs, das aus Mundwinkeln tropft. Kleine Mädchen, die mit Poltergeistern spielen. Viktorianisch zugeknöpfte Damen mit entrücktem Blick. Körperlose Hände, kopflose Körper, schwebende Köpfe, Gespenstergewänder aus Fleisch und Blut. Fotos, auf denen man die Erscheinungen suchen muss, Spiegelungen in Fenstern, Lichtflecken neben Grabsteinen, dickflüssige Nebelschwaden, die sich um Stuhlbeine und Treppenstufen wickeln. Verwackelte, unscharfe, beschädigte Fotos, die mehr verbergen als zeigen. Geistertheater, festgehalten von Aura-Amateuren und Spiritismus-Spezialisten. Eine faszinierende Welt, in der Kunst und Trickbetrug, meist ungewollt und selten ironisch zusammenkommen. Das okkulte Blut unserer Gesellschaft: Aberglaube, Liebe, Hoffnung.
In diesen zufälligen Momentaufnahmen von Geisteraktivität wie auch in der akribischen Dokumentation von Séancen und Ritualen werden die Toten oder eingebildeten Toten aus dem Nebel der Vergesslichkeit gezogen. Sie dürfen ihre halb erinnerte Form in Rauch, Blut, Ektoplasma oder Speichel gießen. Solange der Tod, die Dunkelheit, das Zwielicht mit Geistern bevölkert sind, gibt es Hoffnung. Dann ist das Schattenreich nicht leer und sinnlos. Er ist voller Versprechungen. Es deutet über sich hinaus.
Diese Versprechungen interessieren mich. Ich sammle sie, ich male sie. Versprechungen, die der Welt ein letztes Geheimnis lassen. Sie machen letztendlich für mich den Reiz von Gespenstergeschichten aus: Geister sind ein Tor ins Unendliche. In unbegreifliche, körperlose Welten jenseits der Gesellschaft. Jenseits eines zu kleinen, zu anstrengenden Lebens, das von Anfang an zäh anläuft und nur die Perspektive auf ein noch anstrengenderes Erwachsenenleben mit noch komplexeren Problemen zulässt. Geister sind die Perspektive hinter der Perspektive. Das eigentliche Ziel, wenn alle vorherigen Ziele sich als sinnlos herausgestellt haben. Sie bevölkern nicht nur den Tod und machen ihn so erträglicher, sie stehen stellvertretend für alle Abschiede. Denn neben Besuchern aus anderen Dimensionen und Parallelwelten sind sie auch eine Erinnerung an vergangene Phasen, abgetrennte Identitätsteile, an die Vergangenheit.
Larissa erklärte ich schließlich, dass es mir um die Hoffnung geht, um den Hunger nach Leben und das gepflegte Gruseln, das man zwischen den Mahlzeiten braucht, um zu verdauen und wieder hungrig zu werden. Ich sage ihr, dass mich Geister an meine Kindheit erinnern und ich mich damit zu meinen Wurzeln begebe, zu den mehrdeutigen Geschichten sadistischer Verwandter. Dass ich diese Rückversicherung meiner Ursprünge brauche, um mich konstanter zu fühlen, fester und stabiler.
„Geistergeschichten gehören zu meiner Identität. Ich bin damit aufgewachsen.“
Larissa legt den Kopf schief und schiebt die Hand auf den Bauch. Dann dreht sie sich weg. Sie lässt den Kopf hängen. Ihr blondes Haar fällt nach unten, damals trug sie es noch lang und offen, und ich hebe die Hand, möchte hineinfassen, sie zurückziehen. Doch dann lasse ich die Hand wieder fallen. Man könnte sagen, ich habe es ihr nicht leicht gemacht. Wir haben es uns beide nicht leicht gemacht.