Читать книгу Zellgeflüster - Tons May - Страница 9
Kapitel 7
ОглавлениеAls es schon fast vorbei war zwischen uns, kam Larissa ins Atelier. Ich teilte mir damals ein Ladencafé in Neukölln, das ähnlich dunkel wie meine jetzige Wohnung war. Auch die Bilder wurden immer dunkler. Gegenständlicher und düsterer. Sie setzte sich an den Tisch und kratzte mit einem Pinselgriff auf der Tischplatte herum. Dann fragte sie mich, was ich da malte. Ich antwortete, eine Geisterséance. Sie lachte.
„Was ist daran so lustig?“, fragte ich.
Séancen sind natürlich an sich schon lustig, aber Larissa hatte Beschwörungen sonst immer „pathologisch“ und „gefährlich“ gefunden. Ihre Antwort überraschte mich: „Du glaubst doch gar nicht an ein Leben nach dem Tod.“
Ich zog den Pinsel über die Ecke eines rotstichigen Bildes, auf dem vier Leute um einen Tisch saßen. Einem von ihnen quoll weißes Zeug aus dem Mund. Einer meiner ersten Versuche, Ektoplasma darzustellen.
„Geister leben ja auch nicht. Sie sind ... einfach nur da, verstehst du?“ Ich drehte mich zu ihr um. „Keine Ahnung. Nimm das einfach nicht so ernst.“
Sie sah mich an und ich ahnte, es würde nicht mehr lange so weiter gehen. Ich fühlte mich auf einmal verloren. Gefangen in einer Zwischenzone. In einem Vakuum zwischen Lebensphasen, Geistern, Impulsen. Meine inneren Widersprüche waren zu meiner Welt geworden. Transparente Körper, Nebel, Ektoplasma. Ich griff zu jedem Mittel, um nicht selbst Form annehmen zu müssen. Ich wollte mich nicht entscheiden.
Also fällte Larissa die Entscheidung.
In der Woche nach der Trennung passierte es zum ersten Mal. Ich lag auf dem Sofa und drehte mich um. Auf einmal spürte ich ein Stechen in der linken Schulter. Der Schmerz durchzuckte mich bis in die Hand. Ich schloss die Augen und atmete in die Seite. Stellte mir vor, wie heilendes Wasser durch die Adern floss, wie mich flirrende leuchtende Vögel berührten und den Schmerz aussaugten. Aber nichts passierte. Der Schmerz wurde stärker und die Vögel langsamer und dunkel. Und dann spürte ich die kalte Welle.
Ohne meine Augen zu öffnen, sah ich, wie sich ein Schatten aus meiner Schulter löste, wie dunkler Nebel aus dem Arm sickerte und nach oben tropfte, in die falsche Richtung. Oder ich lag falsch. Ich hatte die Orientierung verloren. Der Schatten war in mir oder um mich herum und ich konnte mich nicht mehr bewegen.
Der Schatten hatte sich als Schmerz in meinem Körper manifestiert und kam nun langsam zum Vorschein, zog sich durch die verspannten Muskeln, durch die Haut. Von da an besuchte er mich regelmäßig oder ich ihn. Oder vielleicht war er auch schon immer da und jetzt erst bemerkte ich ihn. Ich konnte ihn nicht mehr ignorieren. Ich musste antworten.
Das erste Bild, das ich nach der Trennung malte, war die Somnambule, Magdeleine Guipet, die „Traumtänzerin“, die um die vorletzte Jahrhundertwende vor einem Publikum in Trance ging und einige Künstler der Münchner Secession inspirierte. Meine Magdeleine wurde zum Selbstportrait. Das dunkle Haar, das sie auf den meisten Fotos zusammengebunden trug, fiel ihr auf meinem Bild schwer ins Gesicht. Dunkle Flecken zogen sich ihre Hände und Arme entlang. Sie hatte meine Haltung, meinen unsicheren Blick. Halb entrückt und gleichzeitig festgenagelt in der Welt. Sie hatte meinen Schatten.
Seitdem trägt jedes meiner Bilder den Schatten. Ich kann ihn nicht abschütteln, egal, wie oft ich ihn male. Aber ich bilde mir ein, er wird leichter, wenn ich ihn auf viele Bilder verteile. Jeder Charakter trägt ein Stück davon. Und während ich ihn male, spüre ich ihn nicht.
*****
Als die Tür hinter Jesse zufällt, zittern mir die Beine. Es ist so, als würde schlagartig alle Kraft aus mir weichen. Ich setze mich aufs Bett und lasse mich nach hinten fallen. Ich weiß nicht mehr im Detail, was in den letzten Stunden passiert ist, aber es war anders als sonst. Jesse wirkte die meiste Zeit, als sei er weggetreten. Doch machte er immer weiter, wie ferngesteuert. Ich verlor einen Witz darüber, auf den er nicht reagierte. Und dann.
Und dann überrascht er mich. Er lässt sich auf mich fallen und bleibt schwer auf mir liegen. Ich kann mich nicht mehr wegdrehen, kann mich nicht mehr bewegen. Bekomme keine Luft mehr. Er schiebt mir etwas in den Mund, klein und glatt. Ich schlucke, bis mir schwarz wird vor Augen. Das letzte, was ich spüre, ist ein Brennen am Steißbein und sein Atem an meinem Ohr. An beiden Ohren gleichzeitig. Dann bin ich weg.
Als ich wieder zu mir komme, höre ich ihn flüstern. Ich verstehe nicht, was er sagt, und öffne die Augen. Er sitzt auf meinem Bauch und schaut mich an mit einem nüchternen, abschätzenden Blick. Unter seiner weißen Haut pulsieren blaue Flecken, die größer und kleiner zu werden scheinen. Morsezeichen, die ich genauso wenig verstehe wie sein Murmeln. Er lacht und hustet, immer lauter, bis ich ihm eine Ohrfeige gebe.
Und dann muss auch ich lachen. Ich fühle mich dabei seltsam schwerelos, als würde mein Gehirn in Helium schwimmen. Ich lache, bis mir die Tränen kommen, bis ich Jesse nicht mehr sehen kann. Bis die Leichtigkeit zu einer tiefen Schwere wird, die sich über mich legt, mich in die Matratze drückt. Das nächste, was ich erkenne: Jesse beugt sich über mich. Seine großen schwarzen Augen sind aufgerissen und ich kann mich für einen Moment darin spiegeln (gleichzeitig weiß ich, dass das nicht möglich ist), fühle wie der Druck nachlässt, der Schmerz nebensächlich wird und treibe weg, immer weiter hinaus, sehe mich von oben, sehe, wie ich in einer großen stahlgrauen Wassermasse schwimme, ein kleiner heller Fleck in der Dunkelheit, schiffbrüchig, werde immer kleiner, während eine Stimme in mir summt. Die Stimme.
Es muss aufhören. Aber es tropft und tropft und tropft in den nächsten endlosen Augenblick. Wie ein weiches schwarzes Meer, in dem sich die Zeit ausdehnt. In Wellen, nur wahrnehmbar, wenn sie an der Küste brechen, die Küste zur nächsten Welt, die hinter dem Augenblick lauert, hinter der nicht enden wollenden Gegenwart. In einer ausgefransten Schleife, einer Acht aus Algen, Strudeln, verblassenden Farben. Hier taucht man ein, um nie wieder aufzutauchen. Es hätte schon längst vorbei sein sollen.
Ich merke oder bilde mir ein, dass ich schlafe und nicht aufwachen kann. Oder dass ich nicht schlafe und trotzdem nicht aufwachen kann. Ich träume, dass ich schlafe, ohne zu schlafen, dass ich immer schlafe, mein ganzes Leben lang, bis in den Tod hinein, und plötzlich erinnere ich mich an ein Versprechen: erst Farben, Strudel davon, Gewitter gar, und dann: Dunkelheit.
Das war die Vereinbarung.
Ich gleite durch Bilder und Blitze, fahre direkt in den Sturm hinein, ins gleisende Licht, und ich weiß, dahinter ist das Nichts. Ich segele hinein, in den längsten Moment, den Höhepunkt, treibe ins Gewitter, Wellen, so hoch wie mein Haus, wie alle meine Häuser, eins über dem anderen, eine Wellenstadt voller Türen und Fenster, halbe Gesichter hinter Vorhängen, winkende Hände, Füße auf Treppenstufen. Glitzernde, flackernde Erinnerungen, während sich das Gehirn reinigt, während das Gedächtnis alles abruft, bevor es sich löscht, sich immer wieder überschreibt, bis nichts übrig bleibt, das ersehnte Nichts, sich überschreibt, mich überschreibt und irgendetwas dazwischen, das mit mir zu tun hat, aber etwas anderes ist, schwimmt in der Welle, obenauf, ein Stück Treibholz, ich bin es, ein Stück Erinnerung, das sich gerade auflöst, alles nach Plan, alles, wie versprochen. Ich schwimme in einem Bardo, mein Haus zerbirst, eine Schwesterwelle nach der anderen wirft es wie Treibholz nach oben, nach unten, ins Nichts, ohne loszulassen, ich lasse nicht los, es lässt mich nicht los, ich fliege im Sturm, mein Kopf eine Flagge, mein Körper das Holz, an dem ich mich festhalte, in die Dunkelheit, die Dunkelheit, die große, schwere Dunkelheit.
Ich träume, dass ich die Augen öffne und keine mehr habe. Alles ist grau. Ich sehe mich selbst, auch ohne Augen, erkenne mich in den Wolken, in den Wellen, hebe mich aus dem Wasser, schaue auf die Oberfläche, die jetzt ganz ruhig ist und spiegelglatt, erkenne mein Gesicht, das nasse Haar wie Algen auf der Stirn, wie Schlamm, spüre, dass es vorbei ist und
Nachdem Jesse gegangen ist, nehme ich mein Notizbuch und schreibe los. Ich kann mich nicht mehr an alle Einzelheiten erinnern, aber der Traum schreibt sich von selbst auf die Seiten, rekonstruiert sich, während meine Handschrift immer unleserlicher wird. Ich weiß nur eins: Ich war in einem Gewitter und habe mich langsam aufgelöst. In viele einzelne Teile, die jeder für sich weitergeträumt haben. Es noch jetzt tun.
Und jeder Teil badete in einer dunklen, klebrigen Flüssigkeit, die organisch roch und voller Zellen war. Voller kleiner Lebewesen, die ständig ihren Zustand wechselten, aufleuchteten, sich vereinten, sich lösten, abstarben, in einem Raunen verschwanden, während ich nicht verschwinden konnte. Ich konnte einfach nicht loslassen.
Der Traum hinterlässt eine Unruhe, die mich an den Zustand vor der Migräne erinnert. Ich klappe das Notizbuch zu und verstecke es unter der Matratze. Vielleicht, weil mich Tagebuchschreiben an meine Pubertät erinnert. Ich selbst habe nie Tagebuch geschrieben, aber ich habe die Tagebücher von anderen gelesen und darin herumgekritzelt. Mit kleinen Zeichnungen die immer gleichen Dramen illustriert. Wer in der Schule neben wem sitzt, wer wen nicht beachtet, wer mit wem raucht und wer in der Pause allein bleibt. Ich stehe auf und gehe einkaufen.
Choco Crispies und Milch für Silvester. Gemüse und anderes Zeug, das ich ihm vorsetzen werde und das er nicht essen wird. Bier, Wein, Tabak und Brot für mich. Ich lasse mich durch die Gänge des Supermarktes treiben und überlege mir, was ich noch alles kaufen könnte. Ich könnte vieles brauchen, aber es ist mir zu anstrengend, die Packungen aus dem Regal zu ziehen und nach Hause zu schleppen.
An der Kasse fange ich an zu husten.
Ich schaffe es noch bis nach Hause und lasse die Tüten fallen. Die Milch muss in den Kühlschrank, das meiste andere Zeug wahrscheinlich auch, aber ich kann mich kaum noch auf den Beinen halten. Ein Hustenanfall schüttelt mich minutenlang und ich krieche ins Bett. Mir ist kalt, ich habe Durst, aber der Weg in die Küche ist zu lang. Der Weg zu der Wolldecke auf der Couch auch. Ich liege unter zwei Decken, zittere und huste.
Es beginnt schleichend, kriecht lautlos von hinten heran wie ein geruchloses Tier. Leichtfüßig, tödlich. In der ersten Phase fühlst du die Schwäche in den Gliedern. Ein leises Räuspern in der Brust. Der Atem wird kürzer, rasselt hinter Rippengittern. Die Augen brennen, der Kopf pulsiert, Lichtreflexe bohren sich hinter geschlossene Lider. Alles ist zu eng und du ziehst dich noch weiter in dich zurück, weil dir kalt ist. Phase zwei: Dir ist so kalt, dass du dir an- und überziehen kannst, was du willst. Dir wird nicht wärmer. Die berühmte Eiseskälte der viralen Erscheinung macht es dir unmöglich, dich zu bewegen. Du erstarrst. Erst wenn du im Bett liegst und langsam eindöst, beginnt die Glut in dir zu schwelen. Die Hitze deines Bluts, das Antikörper produziert und immer schneller fließt, gepumpt von einem unregelmäßigen Herzschlag. Dir wird unglaublich heiß. Der Kopf glüht. Die Augen tränen. Die Nase läuft. Der Hals brennt. Fieber. Alles, was starr war, wird jetzt flüssig. Nun beginnt die dritte Phase.
Du bist auf einmal ganz bei dir. Die Welt so groß wie dein Kopf, der sich aufbläht, das Bett, das ganze Zimmer, die Wohnung umfasst und sich dann wieder zusammenzieht, in die Größe einer Walnuss. Du bist in deiner Welt und alles ist gleichzeitig nah und weit entfernt. Du siehst Dinge, die sich nicht gerne zeigen, sprichst mit Piraten und Priestern, mit immer abstrakteren Formen, die trotz ihrer fehlenden festen Konturen zunehmend an Kraft gewinnen, zu nahe kommen, verschwinden, wieder auftauchen, in dich hineintauchen, in deine tränenden Augen, laufende Nase, dröhnenden Ohren, durch deine schweißnasse Haut eindringen und dich noch kranker machen, das Blut noch schneller werden lassen, mehr Holz in dein Fieber legen, es zum Lodern bringen, bis an die Decke, an die erkennbare Grenze deiner Welt, die sich mit jedem Atemzug weiter ausdehnt oder verschwindet, je nachdem, wie offen du bist.
Du legst den Kopf in den Nacken und genießt den Tanz der Fieberfunken. Spürst, wie du leichter, weicher, transparenter wirst, spürst, wie die Viren an Fahrt gewinnen, während dein Körper immer mehr Flüssigkeit nach außen abgibt. Du merkst, du bist ein Wirt und wirst bewohnt von Dingen, die du nicht sehen kannst. Wer alles ist, ist Wirt. Du bist alles, alles wohnt in dir. Du bist eine Handpuppe, die von anderen geschüttelt wird. Du willst wieder die Kontrolle zurückgewinnen, nimmst Ibuprofen, Vitamin C und Zink, um die ungebetenen Gäste hinauszubefördern. Du versuchst die Infektion zu ignorieren. Sie lässt sich nicht ignorieren. Sie drängt dir ihre Information auf.
Manche Informationen bleiben unsichtbar, unterhalb der Wahrnehmungsschwelle. Doch ist man erst einmal von fremden Organismen befallen, trägt man ihre Botschaften unwiderruflich in sich. Manche zeigen sich noch Jahre später im Blutbild, in vernarbten Organen, in irrationalen Ängsten und Allergien. Man schleppt sie mit sich herum, somatischer Ballast, bis man nicht mehr zwischen sich und „ihnen“ unterscheiden kann. Man wird selbst zur Botschaft. Zum Medium für etwas anderes, Fremdes. Die Information des Phänomens schlüpft in die DNA und verändert die Zellen.
Das Telefon klingelt. Ich nehme ab und erkläre Larissa, dass ich zwar krank bin, aber alles in Ordnung ist. Es klingelt weiter und ich sehe, das Telefon liegt auf dem Tisch und damit zu weit weg. Eine Armee von Wikingern kommt herein und einer von ihnen, ein kleiner rotgesichtiger Mann, steht vor mir und reicht mir etwas, aber ich kriege es nicht zu fassen. Es schwebt direkt vor mir, doch immer wenn ich danach greife, ist es zu weit weg. Das Klingeln hört auf und die Wikinger erzählen mir Witze, über die ich lachen muss. Mein Lachen klingt wie Husten und tut weh, aber die Witze sind so gut, dass ich nicht will, dass die Wikinger damit aufhören. Ich will, dass sie bei mir bleiben. Der kleine Mann kommt näher und wird ganz groß. Ich kann ihn an meiner Stirn spüren. Ich setze mich hin und sehe ihn hinter dem Tisch.
„Wo sind die anderen?“, frage ich ihn.
„Welche anderen?“ Seine Stimme kommt von hinten rechts, aber das irritiert mich nicht.
„Der Rest deiner Truppe. Die ganzen Typen, die gerade hier waren.“
Er steht direkt vor mir und lacht ein dreckiges Wikingerlachen.„Wir sind alle hier.“
Und dann pocht er mir auf die Brust und ich muss husten, bis ich dunkelrot aufs Kissen spucke, lange Schlieren, die ganz nah erscheinen, aber unendlich weit weg sind.
„Und Cenobio?“, frage ich weiter.
Ich höre Jesses Stimme, wie von weit weg: „Der alte Romantiker denkt an Fludd und Böhme. Und sieht nicht, wie die Ratten aus dem Klo kriechen. Spitzweg kann natürlich auch ganz sexy sein.“ Jesses Stimme geht in ein Husten über.
Ich halte mir die Ohren zu und summe vor mich hin.