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Kapitel 4
ОглавлениеAbends male ich an dem Alten Mann weiter. Ich drücke die Farben, dunkelblau, braun, grau, weiß in dicken langen Schlangen aus den Tuben. Dann fahre ich mit einem dünnen Pinsel wie ein kleiner Wurm durch die dicken Farbwülste, nehme immer mehr an Farbe und Energie auf, bis ich bereit bin, die Leinwand zu berühren. Der Alte sieht mich entsetzt an. Er ist es nicht gewohnt, fotografiert zu werden. Vor über hundert Jahren ängstigte es noch viele Menschen, ihr Gesicht auf einem Foto zu sehen. Ich habe das Entsetzen vom Originalfoto auf mein Bild übertragen. Doch etwas anderes hat sich mit übertragen. Über den verständlichen Argwohn vor neuer Technologie, einem vielleicht unangenehmen, aber schon damals immer alltäglicheren Eindringling, hat sich etwas anderes gelegt. Der Mann auf dem Foto wusste nicht, dass sich nach dem Entwickeln ein schattenhafter Körper schräg hinter ihm zeigen würde. Er hatte keine Ahnung, dass dieses Foto, sein namenloser Fotograf und er selbst in eine Sammlung anonymer „Geisterfotos“ eingehen würden. Auf meinem Bild hingegen weiß der Mann von dem monströsen Dunkel hinter sich. Er schaut nach vorne, doch sein Blick ist nicht mehr offen entsetzt. Er ist verschlossen. Die Panik lauert hinter den Pupillen. Der Schatten springt aus seinem Rücken, ist Teil des Mannes. Die schemenhafte Gestalt, vielleicht eine Erscheinung, vielleicht eine Spiegelung, eine Doppelprojektion oder ein Fehler im Abzug, gehört zu ihm. Er kann sie nicht abwischen.
Ich weiß, wie der Mann sich fühlt.
Ich male so lange, bis ich das Pfeifen in den Ohren höre, das Knistern der Blitze. Ich schüttle den Kopf und male weiter, bis sich das Bild vor mir aufbläst. In allem, was ich jetzt noch auf die Leinwand bekomme, wird sich ein nervöser Strich zeigen, eine fahrige Linie. Ich mache trotzdem weiter. Ich kann nicht anders. Etwas reitet mich. Nach einigen Minuten spüre ich den bekannten Druck, der vom Nacken über die rechte Seite nach oben kriecht. Erst sehe ich alles überdeutlich. Die Farbe wölbt sich nach vorne, bewegt sich auf meine Finger zu, an manchen Stellen verläuft sie. Dann kann ich meine Augen kaum noch auf den Mann fokussieren und mir wird bewusst, dass ich nicht mehr viel Zeit habe. Ich schaffe es aufzuhören, wasche die Pinsel aus, wasche die Hände, trinke ein Glas Wasser, nehme zwei Schmerztabletten. Als ich endlich auf dem Bett sitze, hat sich eine Hand von rechts in meinen Kopf hineingegraben. Ich lasse mich seitlich aufs Bett sinken. Das Telefon klingelt. Wahrscheinlich Larissa. Ich stelle mir vor, wie ich das Telefon hole, mich melde, mich entschuldige. Ihr schnippisches „Dann halt nicht!“ ertrage. Die Zeit hört auf. Das Klingeln ist keine Folge von Tönen mehr, sondern ein Licht sprühender Schlauch. Alles existiert gleichzeitig, nichts hört auf, nichts fängt an. Nur die Hand in meinem Kopf streckt die Finger aus, macht sie zur Faust, ohne Eile, ohne Gnade.
Bevor ich komplett abtauche, rieche ich den süßlichen schweren Duft. Etwas berührt mich an der Schulter. Ich reiße die Augen auf, sehe etwas Helles im Augenwinkel, aber ich kann den Kopf nicht mehr drehen und die Lider fallen mir zu, ohne dass ich mich wehren kann. Ich falle falle falle, bis die Berührung an der Schulter den ganzen Körper umfasst, bis ich aufhöre, meinen Körper zu spüren. Der Schmerz in meinem Kopf ein Anker, mit dem ich das Boot auf dem offenen Meer befestige.
Der Schmerz meine ganze Welt. Nicht mehr, nicht weniger.
Die ersten Male versuchte ich es zu ignorieren. Es nervte, aber ich nahm es hin. Es passierte einfach. Inzwischen passiert es viel zu oft. Ärzte verschreiben mir Schmerzmittel. Verbieten mir Schokolade. Verbieten Rotwein und Käse. Zigaretten. Einer schlägt vor, in Zukunft nur noch mit Wasserfarben zu malen, „die stinken nicht so.“
Eine Ärztin mit hellen Augen schaut mich lange an. „Wissen Sie, Hildegard von Bingen hatte dasselbe Problem.“
„Aha.“
„Und Vincent van Gogh. Sind Sie nicht auch Maler?“
Ich starre sie an.
„Ich sage das nicht gerne, aber vielleicht müssen Sie einfach lernen, mit dem Schmerz umzugehen. Ihn für sich zu nützen. Wir wissen im Augenblick noch nicht genau, wie Migräne entsteht oder wie sie geheilt werden kann. Aber wir machen gute Fortschritte! Und bis es eine wirkungsvolle Therapie gibt, können Sie die Triggerfaktoren identifizieren und vermeiden, Sie wissen schon, Alkohol, Zigaretten, wenig Schlaf ...“
„Wetterumschwünge.“
„Ja“, lacht sie auf. „Soweit es eben geht. Aber das Wichtigste ist, dass Sie Ihren Zustand akzeptieren, dass Sie das Beste daraus machen, und bei Bedarf ein Schmerzmittel nehmen.“
Ich bedanke und verabschiede mich. Auf der Straße stecke ich mir eine Zigarette an und inhaliere tief. Ich gehe zum Fleischer und hole Schweinsohren. Dann schlendere ich zurück und werfe ein Ohr in den Arztbriefkasten. Das andere schenke ich Maya. Sie bedankt sich mit einem Artikel aus einem Frauenmagazin. Botox-Behandlungen, Biofeedback, Hormontherapie.
„Gegen Migräne kann man was tun. Hast du schon mal ein EEG machen lassen?“
„Ein Hirntumor ist es nicht. Enttäuscht?“
Maya zuckt mit den Schultern. „Du weißt ja, dass ich auf kranke Männer stehe. Ich würde dich gerne pflegen.“
Sie lacht ihr glucksendes Lachen und ich drücke mein Gesicht in ihren Bauch.
Es fängt mit einem Pochen an. Meistens auf der linken Seite, hinten. Etwas klopft von innen an den Schädel. Kurz darauf wird mir schlecht. Der Raum verzieht sich zu einer Röhre und wird heller. Zu hell. Wenn ich zu Hause bin, mache ich das Licht aus und lege mich hin. Ich versuche, die Augen offen zu halten, solange es geht. Ich will den Halt nicht verlieren. Dann konzentriere ich mich auf den Atem, bis alles einfriert. Töne verklumpen sich zu visuellen Reizen. Zucken wie Kugelblitze durch den Raum. Mein Atem wird zu einem dichten Nebel, hinter dem alles verschwimmt.
Ich darf die Augen nicht schließen. Der Schmerz will mich holen. Ich darf den Kontakt nicht verlieren. Wenn es von innen an den Schädel klopft, muss ich draußen bleiben. Der Schmerz darf mich nicht erwischen. Ich reiße die Augen auf, bis sie mir zufallen, und dann.
Dann passiert es.
Es ist, wie wenn ich vor mich hin kritzele, nur unangenehmer. Etwas klopft mir den Kopf auf. Dringt ein in Brust, Fußsohlen, Augenlider. Kommt von hinten angepirscht und stürzt mich mit steingefüllten Taschen in den Fluss. Wirft sich über mich wie ein Mantel, drückt mir die Luft ab, weicht stundenlang nicht mehr von mir. Nach den Feuern der Aura hängt es wie grauer Nebel vor mir. Das ist meine Migräne. Erst ein Gewitter, dann eine schwere Dunkelheit, die mir den Atem nimmt.
Nach dem Anfall muss ich malen, bis der Druck wieder verschwunden ist. Übermalen, unter Farbe vergraben, aus dem Bewusstsein verbannen. Irgendwann einmal habe ich begriffen, dass das am besten funktioniert, wenn ich Geister male. Inszenierte und erfundene Geister. Leichte Lichtwesen, erwachsen aus Doppelbelichtungen, Gazetüchern oder an den Körper geklebten Zeitungsausschnitten. Für meine Vorlagen bediene ich mich aus dem großartigen Werk der Geisterfotografie.
Es dauerte eine Weile, bis ich den Zusammenhang bemerkte. Plötzlich wurde es mir klar, nach Jahren, in denen ich mich durch die Migräne malte. Ich male falsche Geister, damit die echten keine feste Form annehmen, damit sie keine Macht erhalten. Ob es Geister jenseits meiner feuernden Nervenenden gibt, weiß ich nicht. In den Gewittern, die durch meinen Kopf ziehen, erahne ich etwas, eine Welt in der Welt, normalerweise verschlossen oder zu leise für die alltägliche Wahrnehmung. In der übermäßigen Erregung meiner Synapsen zeigt sich etwas, das ich nicht erklären kann. Oder will. Deshalb muss ich mich in einen Zustand malen, in dem mir das egal ist.
Ich male, bis mir der letzte Geist aus der Hand getropft ist. Ich halte mich an den gefälschten Geistern fest, bis sich das Migränephantom auflöst und ich den berühmten Schub kriege. Bis ich die Energie spüre, die Reinigung, das, was Larissa Männermenses genannt hat, als sie es noch gut mit mir meinte. Danach will ich nicht mehr malen, aber ich muss. Muss beenden, was ich angefangen habe. Und so wächst ein Bild ins nächste, vor der Migräne ist nach der Migräne.
Manchmal bin ich dankbar für diese Regelmäßigkeit.
Zwei Tage nach dem Migräneanfall ruft Moiras Assistentin mich an und berichtet, dass ein weiteres Bild von mir verkauft wurde, die Frau im Aquarium. Es ging an denselben Klienten, der vor einiger Zeit den Asthmatiker erstand. Das Bild, das Moira den Gehörnten nannte, weil der Kunde angeblich auf blöde Titel steht. Ich frage mich, wie sie die Frau im Aquarium vermarktet hat. Sirene aus dem Jenseits?
„Das ist mein Sommer“, rufe ich.
Die Frau am anderen Ende der Leitung schweigt. Vermutlich bin ich der Künstler in Moiras Galerie, der sich am schlechtesten verkauft.
Besser gelaunt rufe ich Larissa an und entschuldige mich, weil ich sie wieder versetzt habe. Zwei Minuten später klingelt das Telefon und Silvester fragt, ob er heute bei mir übernachten darf. Ich setze mich ins Auto und fahre los. Als ich ihn abholen will, zieht er mich in sein Zimmer und zeigt mir das neue Terrarium, das Larissas Freund gebaut hat. Polly ist nicht darin, sondern kriecht irgendwo im Zimmer herum. Ich achte darauf, wohin ich trete.
„Wie geht’s dem Mädchen?“
Silvester wirft einen Blick unters Bett, wo sie sich versteckt hat.
„Sie hat Schnupfen.“
„Wie hat sie denn das geschafft bei der Hitze?“
„Der Tierarzt sagt, sie hat einen Zug gekriegt. Ist nicht weiter schlimm.“
„Und jetzt?“
„Ich gebe ihr Vitamine und sage ihr jeden Abend, dass sie gesund wird. Mama meint, das hilft ihr.“
Er greift unters Bett und zieht die kleine Schildkröte hervor. Sie sieht aus wie immer.
Ich beuge mich zu ihr herunter. „Hallo Polly. Was machst du für Sachen, altes Haus?“
„Polly ist doch noch gar nicht alt. Erst zwei. Sie kann über vierzig werden. Älter als du, Papa!“
„Ich dachte, Schildkröten werden über 100.“
„Polly nicht. Die Rasse wird nicht so alt. Ist ja auch besser so bei einem Haustier.“
Er macht ein vernünftiges Gesicht und setzt sie zurück auf den Boden. Wir beobachten, wie sie langsam unter das Bett kriecht. Mir fällt auf, dass Silvester wieder ein Stück älter aussieht, erwachsener. Seine dicken, braunen Haare fallen ihm in die Augen. Seit einiger Zeit will er sie nicht mehr schneiden lassen. Larissa macht mich und meinen „Pennerlook“ dafür verantwortlich.
„Möchtest du sie nicht ins Terrarium setzen, wenn du über Nacht weg bist?“
„Ach nö, das kann Mama machen.“
Ich muss lachen. Larissas Freund baut extra ein Terrarium, damit die Schildkröte nicht überall hin kackt und Silvester benützt es nicht.
Als wir losgehen, steht Larissa mit verschränkten Armen an der Tür. „Was macht ihr heute noch?“
„Wir gehen in den Zooooo“, ruft Silvester aus dem Treppenhaus.
„Schon wieder?“ Larissa schaut ihm hinterher. Sie sieht blass aus.
Ich gehe Silvester hinterher. „Mal sehen. Vielleicht fahren wir auch an den See.“
„Nee. Zooooo!“
Silvester ist schon eine Treppe nach unten gerannt.
„Du meldest dich morgen, ja?“ Larissa schaut mich mit besorgter Miene an.
Ob es an mir liegt oder ob sie generell besorgt ist, kann ich nicht sagen. Ich gebe ihr einen Kuss und renne meinem Sohn hinterher.
Im Supermarkt treffen wir auf Mayas Schwester. Während Silvester nach den „richtigen Cornflakes“ sucht, erzählt sie mir, dass Maya gerade bei ihr übernachtet.
„Jesse war mal wieder verschollen und sie schläft momentan so schlecht. Alpträume.“
Alice wirft mir einen bedeutungsvollen Blick zu, dann wendet sie sich dem Regal neben uns zu. Das Wort „Alpträume“ hängt unheilschwanger in der Luft. Am liebsten würde ich sie in den Arm nehmen, aber das mag sie nicht. Sie wird nicht gerne von anderen Leuten berührt. Vor allem nicht von Rauchern und Leuten mit Bart. Ihre spröde Ernsthaftigkeit sorgt immer wieder für Erheiterung bei Maya und Jesse. Mich hingegen zieht sie runter.
Während Alice mit mir spricht, sieht sie sich ganz konzentriert die Nudeln an. Zum hundertsten Mal wundere ich mich darüber, wie sehr sich die Schwestern gleichen und gleichzeitig so unterschiedlich aussehen. Alice hat dieselbe Haar- und Augenfarbe wie Maya, denselben gelblichen Hautton, dieselbe runde Gesichtsform. Aber sie wirkt älter, härter und ängstlicher. Um ihren Mund hat sie einen besorgten Ausdruck, den ich von Maya nur kenne, wenn sie verkatert ist. Alice ist etwas größer und dünner als ihre Schwester. Meistens verschränkt sie ihre Beine oder Arme. Noch nie habe ich sie entspannt gesehen. Auch jetzt sind ihre Augenbrauen zusammengezogen und sie schaut mich skeptisch an. Ich habe das Gefühl, sie vermutet, ich stecke mit Jesse unter einer Decke. Heute jedoch bin ich unschuldig. Auch ich habe seit Tagen nichts mehr von ihm gehört.
„Was für Alpträume?“ Ich bereue die Frage schon während ich sie stelle.
„Alpträume halt. Wilde Jagden. Jemand versucht sie zu erwürgen. Niemand hilft ihr.“
Jetzt sieht Alice mich direkt an. Ihr Blick ist nicht freundlich.
Ich nicke das Nudelregal an. „Ich werde mich bei ihr melden.“
„Beat, ich weiß nicht, was ihr da macht und was das Ganze soll ...“ Alice sucht nach Worten, nach Nudeln, „Aber es geht ihr echt nicht gut, und vielleicht könntest du mal mit Jesse reden, oder dich selber kümmern ...“ Sie greift nach einer Packung Penne, schaut sie an, „Vielleicht mal etwas ernsthafter kümmern ...“ Sie legt die Penne zurück, greift nach den Rigatoni, schüttelt sie. Dann seufzt sie, setzt wieder an. „Ich habe ja keine Ahnung, was ihr da tut, wie das funktioniert, aber wenn es nur Sex ist, unverbindlich oder was weiß ich ...“ Sie bricht ab, sucht weiter im Regal, vielleicht nach noch dickeren Nudeln, um ihre Rede zu unterstreichen, „Dann lass doch bitte meine Schwester in Ruhe. Ich verstehe das nicht. Entweder du kümmerst dich oder du kümmerst dich nicht. Was ist denn daran so schwer?“ Sie hat ihren Punkt gemacht, greift nach den Farfalle und wirft sie in ihren Wagen.
„Schmetterlinge.“
„Was?“ Sie dreht sich um und sieht Silvester hinter sich stehen.
Er zeigt auf die Nudeln.
„Du kaufst die Schmetterlinge. Die mag ich auch. Aber die sind noch besser.“ Er zieht eine Packung mit Bärennudeln heraus.
Alice zieht die Augenbrauen hoch. „Bist du für die nicht schon zu groß?“
„Er mag Tiere.“
Ich spiele den Vater-Bonus aus. Mein Ausdruck gibt ihr zu verstehen: Man muss das Kind grundsätzlich in seinen Interessen unterstützen, damit es sich entfalten kann. Und du bist zu kinderlos, um dazu eine Meinung zu haben.
Alice sieht mich verwirrt an. Sie weiß, dass irgendwo ein Kind von mir existiert, aber sie weiß auch, dass ich zu viel trinke und ihre Schwester zu oft versetze. Dann nickt sie langsam. „Ich sage Maya, dass du dich melden wirst.“
Sie winkt mir zu, wirft einen kurzen Blick auf Silvester und schiebt ihren Wagen den Gang hinunter. Ich muss sofort aus dem Supermarkt raus. Der Vater-Bonus fühlt sich plötzlich schal an und ich mache mir Vorwürfe wegen Maya. Ich hätte sie schon längst anrufen sollen. Dass Jesse seit Tagen unterwegs ist, überrascht mich nicht. Aber dass Maya bei ihrer Schwester übernachtet, gibt mir zu denken. Bei Alice hätte ich auch Alpträume. In ihren Fenstern hängen viel zu viele Dreamcatcher und Windspiele.
Wir fahren die Einkäufe zu mir und danach zum Zoo. Als Silvester im Reptilienhaus verschwindet, rufe ich Maya an und hinterlasse eine Nachricht. Dann rufe ich bei Jesse an. Keine Antwort, keine Mailbox. Ich stecke das Telefon in die Hosentasche und meine Hand hinterher, voller Unruhe, die ich mir selbst nicht erklären kann.
Nachdem Silvester eingeschlafen ist, arbeite ich wieder an dem Alten Mann. Ich möchte ihn fertig kriegen. Er geht mir auf die Nerven. Sein Blick wird jeden Tag anklagender. Er will die Bürde nicht auf sich nehmen, die ihm aus dem Rücken quillt. Er will sie loswerden, auf mich übertragen. Das ist dein Problem, nicht meines, scheint er zu sagen. Ich ignoriere ihn, ignoriere den süßlichen Geruch, den ich seit dem Abendessen nicht mehr aus der Nase kriege. Ich habe Kopfhörer auf, um Silvester nicht zu stören und male mich Strich um Strich aus dem Bild heraus. Der Alte Mann will mir seinen Schatten überstülpen. Ich aber weiß: Der Schatten wird wieder von allein zu mir zurückkommen. Sie alle kommen zu mir zurück, alle Schatten, die ich jemals irgendwo hinterlassen habe. Ich höre die Stimmen in meinen Kopf, seine leise und brüchig, meine aufbrausend und schnell. Ich rechtfertige mich einem Bild gegenüber, während ich darüber nachdenke, wie sinnlos das ist. Aber ich kann damit nicht aufhören. Ich muss es ihm erklären.
Plötzlich berührt mich etwas am Ärmel.
Ich zucke zusammen und drehe mich um. Silvester steht vor mir, reibt sich mit der Hand im Auge. Er weint. Ich nehme ihn in die Arme.
„Ich hab Angst, Papa.“
„Warum denn? Ich bin doch da.“
„Ich habe nach dir gerufen. Aber du bist nicht gekommen. Papa.“
Er weint immer stärker, sein Schluchzen wird kürzer, abgehackter.
„Silvi, ich hatte Kopfhörer auf. Was ist denn los?“
„Papa, hier spukt’s.“
Nach einer halben Stunde habe ich Silvester beruhigt und wieder ins Bett gebracht. Als ich ihn zudecke, schaut er mich an und flüstert: „Du kennst ihn auch, oder?“
Er meint den Jungen mit den Hasenohren. Den Quälgeist seiner Alpträume.
Ich schüttle den Kopf. „Ich glaube nicht, mein Schatz.“
Dass mein Kind seit Monaten von einem bösartigen Wesen träumt, immer wieder von demselben, ist wahrscheinlich kein gutes Zeichen für seine Entwicklung. Ich sollte mit Larissa darüber reden, aber ich weiß schon jetzt, was sie sagen wird: Dass er die Alpträume nur bei mir hat und dass sie mit den Bildern zusammenhängen. Obwohl ich noch nie einen Jungen mit Hasenohren gemalt habe. Ich beschließe, am nächsten Morgen mit ihm darüber zu reden. Wenn es hell ist und wir beide keine Angst haben müssen.
Als ich das Licht neben dem Bett ausmachen will, zucke ich zusammen. Auf dem Nachttisch steht ein kleines Plastikgespenst. Ich nehme es in die Hand und mache das Licht aus. Es leuchtet grünlich.
„Woher hast du das?“
Silvester antwortet mit verschlafener Stimme. „Das ist Funzi. Er beschützt mich.“
„Ja, aber wo hast du ihn gefunden?“ Ich bereue meine Frage sofort. Ich sollte ihn schlafen lassen.
Er nimmt mir das Gespenst aus der Hand und dreht sich um. „Funzi lag auf dem Kopfkissen. Der ist für mich, oder?“
Ich reiße mich zusammen. „Klar ist der für dich, Schatz. Schlaf gut.“
Ich weiß nicht, wie lange ich neben ihm auf dem Bett sitzen bleibe. Zusammengesunken starre ich in die Dunkelheit und frage mich, wie der Inhalt eines Überraschungseis, das mir jemand in die Tüte am Fahrrad gesteckt hat, in meine Wohnung kommt. Als ich die Augen öffne, dämmert es. Silvester schläft tief, eine geballte Faust neben seinem blau schimmernden Gesicht auf dem Kopfkissen. Funzi leuchtet grün aus der Faust. Sein Schutz gegen die Geister, die ich rufe. Sein Geist gegen meine Geister. Mir wird schwindelig, als ich aufstehe.
# 4: 18. Januar
Gestern rief ich die Nummer an, weil mir nichts mehr anderes einfiel. Ich dachte nicht, dass ich mich dazu überwinden würde, aber ich war betrunken und hatte die Schere schon zweimal in der Hand und immer noch zu viel Energie übrig, also rief ich an.
Eine Frau meldete sich und ich wollte sofort wieder auflegen, aber dann fragte ich doch nach ihm. Sie meinte, dass er nicht da sei und ich hinterließ meine Nummer. Heute Morgen rief sie mich zurück und lud mich auf eine Party ein, morgen Abend. Er würde auch da sein und sich freuen, wenn ich käme.
Erst als ich auflegte, war ich aufgeregt. Keine Ahnung, warum ich denke, dass ausgerechnet dieser Mann mir helfen kann, aber mir würde es schon reichen, wenn er meine Hand nimmt und mich anschaut oder wenn seine Freundin mit mir kichert, als könnte man gut mit mir kichern. Besser als ein weiterer Abend zu Hause, an dem das Telefon nicht klingelt.