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Kapitel 6

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Der Mensch, halb vornübergebeugt auf dem Holzstuhl, kann Mann oder Frau sein. Ich habe mich bemüht, ihn so vage wie möglich aussehen zu lassen. Mehr eine Idee als eine Person. Ein Hintergrund für die Protagonisten des Bildes: die Tauben, die auf ihm, dem Stuhl und der Straßenlaterne sitzen und herumfliegen. Die Laterne die einzige sichtbare Lichtquelle. Es ist neblig auf dem Bild und die Vögel verlieren sich im Dunst. Manche von ihnen kann man in ihrer Bewegung nur erahnen. Lediglich die auf dem Stuhl, der Laterne und dem Menschen sitzenden Tauben haben feste Konturen, Leiber und Augen, die den Betrachter fixieren.

Es sind die Augen, die mir wichtig sind. Ich kann Stunden damit verbringen, den richtigen Ausdruck in Pupillen und Lidfalten zu legen. Meist entsteht er dann, wenn ich nicht mehr ganz bei mir bin. Wenn ich die Pinsel weglege und mit den Fingern über die Leinwand husche, weiße oder schwarze Flecken im Vorbeiwischen hinter mir lasse. Dann, wenn ich mir nicht mehr richtig bewusst bin, wie es aussehen soll, bekommt es sein Aussehen. Selten so, wie ich es mir wünsche. Aber immer so, dass es passt. Irgendwann.

Für Taubenaugen mache ich keine Ausnahme. Ich gebe ihnen gemeine, zärtliche, gelangweilte Blicke. Manche sind erregt oder blutrünstig. Andere vollkommen entspannt. Sie entsprechen den Gefühlen des Menschen, der auf dem Stuhl sitzt. Sie sind Pigmente seines Geistes. Es sind Geistertauben.

Die Idee zum Taubenstuhl ist eine freie Idee. Ich hatte sie im Traum und nun male ich sie, wie ich sie erinnere. Ich interpretiere kein Foto. Das Bild wächst aus mir heraus wie eine Wurzel, die sich irgendwo festhalten will, die neuen Boden unter sich sucht. Dieses Bild ist eines meiner Bodenbilder.

Die Bodenbilder zeigen Motive, die mir am nächsten sind. Motive, die mir Angst machen, für die ich eine große Leidenschaft entwickle. Sie basieren nicht auf Geisterfotografien, die inszenierte, unerklärliche, geglaubte oder beglaubigte Phänomene festhalten. Sie entstehen aus dem Bodensatz meiner Fantasien. Von dort kommt auch der Taubenstuhl. Er setzte sich eines Morgens nach dem Aufwachen auf mich drauf und ließ mich nicht mehr los, bis ich ihn skizzierte. Jetzt male ich ihn, um ihn endgültig los zu werden. Das bilde ich mir ein. Die Tauben wissen es besser.

Ich bekomme Hunger, aber ich kann nicht essen. Also hole ich mir ein Bier. Die Tauben stimmen nicht. Eine schaut mich spöttisch an. Ich schüttle den Kopf, schließe die Augen, schaue wieder hin. Sie hat sich verändert, seit ich in der Küche war. Sie sieht nicht mehr aus wie ein Vogel. Ihr Ausdruck ist anders. Viel zu menschlich, viel zu unverschämt. Ich ziehe mit dem dünnsten Pinsel, den ich habe, weiße Fäden um die obere Hälfte ihres linken Auges. Es wird praller, noch ausdrucksstärker und wölbt sich feucht über die grauen Federn darunter, wölbt sich aus dem wolkigen Gewebe heraus, wie grün schillerndes Öl. Das Telefon klingelt.

Fiat. Ich habe unsere Verabredung vergessen. Er erinnert mich freundlich daran, dass ich vor einer Stunde bei ihm sein wollte. Ich nicke den Tauben zu und verspreche ihm, dass ich sofort losgehe. Als ich die Pinsel und meine Hände reinige, spüre ich ihre Blicke, bohrend, belustigt. Sie wissen, ich haue ab. Ich weiche ihnen aus. Sie wissen auch, ich werde wieder zurückkommen und weiterkämpfen. Ich komme immer wieder zurück. Ich versuche zu fliehen, aber am Schluss lande ich immer da, wo sie mich haben wollen. Auf dem Rücken.

Als ich an der Tür stehe, drehe ich mich um. Ich weiß nicht, warum, aber ich ahne vage, dass ich irgendetwas kontrollieren muss, den Herd, den Wasserhahn, irgendeine Lampe, die noch angeschaltet sein könnte. Ich gehe zurück zum Bett und schaue zum Nachttisch. Funzi steht neben der Lampe und schimmert grünlich. Ich winke ihm zu und gehe hinaus.

Nachdem ich Fiat ein Foto von dem aktuellen Stand von Hydesville auf dem Telefon gezeigt habe, will er wissen, wie es mit dem Klarträumen klappt. Ich erzähle ihm von dem Spiegeltraum und der Geruchshalluzination, die mich zurück in die Kindheit transportierte.

„Das waren interessante Zustände, aber ich kann nicht behaupten, dass ich irgendwas beeinflussen konnte.“

Er macht ein nachdenkliches Gesicht, dann dreht er sich um und geht zum Bücherregal. An der Zielstrebigkeit, mit der er das Buch herauszieht, erkenne ich, dass er eine neue Strategie verfolgt. Fiat, der Mann für flexible Lösungen.

„Ich glaube nicht, dass das ein Zufall ist.“ Er hält mir ein Buch vors Gesicht und macht mit der anderen Hand Spiralen in die Luft. Ich kann den Titel nicht lesen.

„Die Alpträume, deine Vorahnungen, die Bilder, die du seit Jahren malst, Herrgott, Beat, merkst du es nicht?“

„Ich mag Geister, was ist dabei?“

„Du magst Geister?“ Fiats Stimme wird lauter. „Du magst Geister? Du bist besessen, mein Freund!“ Seine Stimme dröhnt wie die eines Exorzisten.

„Was hast du gesagt?“, brülle ich zurück.

„OK, OK“, er wird leiser, „dann stelle dir mal vor, dass jemand versucht, zu dir Kontakt aufzunehmen. Derjenige ist aber, wie soll ich sagen, kein Mensch aus Fleisch und Blut. Wie würde es dieses Wesen anstellen, dass du ihm zuhörst?“

Ich muss lachen. „Hm, knifflige Frage. Es schickt mir eine Mail?“

Fiat wirft mir einen langen Blick zu.

Ich beiße mir auf die Lippe. „Was willst du mir sagen? Dass ein Geist bei mir spukt? Der Geist meines Vormieters?“

Er schüttelt den Kopf und faltet die Hände. „Du erzählst mir schon seit Jahren von merkwürdigen Träumen und Vorahnungen. Das hat nichts mit deiner Wohnung zu tun.“

Ich werde nachdenklich. Vielleicht ist etwas dran an dem, was er sagt. Die Vorahnungen und Zufälle, das Interesse für Geister, die merkwürdigen Erscheinungen haben vor vielen Jahren angefangen. Sie haben vielleicht wirklich nichts mit dem Ort zu tun. Obwohl sie sich in meiner aktuellen Wohnung am besten zu manifestieren scheinen. Wahrscheinlich weil ich dort meistens allein bin. Weil ich dort offen bin. Ich greife nach der Jacke, um nicht weiterdenken zu müssen. Fiat hält mir das Buch hin.

„Lies einfach mal rein und überlege dir, was das mit dir zu tun haben könnte.“

Ich sehe den Titel: Daimones.

„Was ist das, ein Grimoire?“

Fiat winkt ab. „Nein, nein. Das Buch ist von einer Psychologin. Da geht es um Archetypen und so. Vielleicht bringt dich das auf neue Ideen.“

# 5: 20. Januar

Eigentlich wollte ich Lysian nichts von der Party erzählen, aber dann bekam ich doch Muffensausen und hinterließ eine Nachricht auf seiner Mailbox. Er rief eine Stunde später zurück und tat so, als würde ihn das alles nicht interessieren, aber ich merkte trotzdem, er war total scharf darauf, auf die Leute, die dort sein würden, das ganze Volk von Musikern und Künstlern, und ich bereute es, ihn eingeweiht zu haben, denn ich wollte aus einem anderen Grund dahin gehen, nicht wegen der Drogen oder der coolen Leute oder der Musik, aber das konnte ich ihm nicht sagen. Um zehn holte er mich ab. Er kam nicht nach oben, sondern wartete im Taxi. Im Treppenhaus stand mein Nachbar vor den Briefkästen und telefonierte. Er winkte mir zu und ich winkte zurück. Ich mag ihn, aber ich glaube, er hat noch mehr Probleme als ich.

Als wir ankamen, war ich sehr aufgeregt. Er war nicht da und ich stritt mich mit Lysian, weil ich ein kurzärmeliges Oberteil anhatte. Er meinte, ich würde extra so was anziehen, damit man die Narben sieht. Weil ich es nötig hätte und andere damit aufgeilen wollte. Klar. Ich schmiss das Glas auf den Boden und ging aufs Klo, wo ich gefühlte Stunden damit verbrachte, an mir herum zu kratzen und meine schmutzigen Schuhe und den Dreck zwischen den Füßen anzustarren. Als ich wieder rauskam, war Lysian weg und ich betrank mich. Er hatte mir nicht mal eine Nachricht hinterlassen. Egal.

Und dann sah ich ihn. Er lächelte mich an, aber kam nicht zu mir her und ich merkte, wie mir übel wurde, als ich den Kopf hob und zurück lächelte. Also ging ich wieder aufs Klo kotzen. Als ich zurückkam, lächelte er noch immer und ich ging zu ihm hin, immer noch betrunken, aber auf eine angenehmere Art. Die unfreundliche schöne Frau stand in einer Ecke, die kichernde Frau in einer anderen Ecke. Er lehnte mit einem großen dünnen Mann an der Bar, vor sich ein großes Glas Wasser oder Wodka.

Sein Freund sah durch mich hindurch, wie fast alle anderen auf der Party, aber er lächelte mich an und umarmte mich, als würden wir uns kennen. Dann nahm er meine Hände und schaute sich meine Arme an. Er fragte mich, wer macht das? Und ich antwortete, ich. Und er sagte, es gibt bessere Wege. Dann gab er mir eine Visitenkarte von einer ‚Alchemistin’. Auf der einen Seite der Karte entdeckte ich eine Zeichnung von zwei Figuren mit Kronen, die nebeneinander in einer Kiste liegen. Ich fragte ihn, was ist das, Alchemie?

Er sah mich einen Moment lang an, sie ist Hypnotherapeutin. Wenn du willst, kann sie dir helfen. Ich fragte weiter, brauche ich denn Hilfe? Er zuckte mit den Achseln, was denkst du? Er hörte auf zu lächeln und ich bemerkte zum ersten Mal, dass seine Augen nicht braun waren, obwohl ich ihn schon hundert Mal angeschaut hatte.

Ich war so betrunken, dass ich gerne mit ihm herumgemacht hätte oder mit seinem Freund, der mich ignorierte und eine Zigarette nach der anderen rauchte und klare Schnäpse mit knappen Handbewegungen bestellte. Ich war so betrunken, dass ich das Gefühl hatte, ich könnte aus meinem Körper heraustreten, ohne dass es weh tut, ich könnte einfach hinaus in die Welt gehen, meine Zunge in andere Menschen stecken, glücklich sein, leicht sein, sichtbar sein, ohne dass es weh tut.

Er flüsterte seinem Freund etwas ins Ohr. Der schaute mich auf einmal an und hielt mir ein volles Schnapsglas hin. Ich leerte es auf einen Zug. Er verabschiedete sich mit den Worten, es kann auch anders sein. Ich blieb bei seinem Freund stehen und war bald so betrunken, dass ich mich auf einen Barhocker setzen musste.

An den Rest des Abend erinnere ich mich nicht mehr, außer, dass ich später im Regen stand und mit dem dünnen langen Typen herumknutschte. Ich fiel fast um dabei. Ich wollte seine Nummer haben und er steckte mir einen Zettel zu und setzte mich, glaube ich, in ein Taxi. Später musste ich noch einmal kotzen und war froh, dass er nicht mehr mitgekommen war.

Als ich den Zettel am nächsten Morgen in meiner Tasche fand, klopfte mein Herz wie verrückt. Aber es war nicht seine Nummer, sondern ein kryptischer Flyer für eine Veranstaltung in einem ‚Reptilienhaus’. Enttäuscht zerknüllte ich den Flyer, dann glättete ich ihn wieder und versteckte ihn unter einer Tasse. Was immer das Reptilienhaus ist, hingehen werde ich garantiert nicht.

Zu Hause lege ich das Buch erst auf den Tisch, dann neben das Bett, dann ins Regal. Ich will es nicht zu nahe bei mir haben. Ich überlege für einen Moment, Funzi als Wächter davor zu stellen und schäme mich sofort dafür. Das Gespräch mit Fiat hat mich nervös gemacht. Ich beginne zu zeichnen.

Ich skizziere eine Idee für das nächste Bild. Eine Frau mit zwei Kindern in einem Garten. Ich verschiebe die Gruppe nach rechts, nach links, bis ich begreife, dass ich sie anschneiden muss. Das zweite Kind, das kleine Mädchen, das die Frau an der Hand hält, muss aus dem Bild ragen. Es muss aus dem Bild heraus gezogen werden. Die Frau verliert ihr Kind in der trügerischen Idylle des Gartens. Während sie noch in den Sonnenstrahlen leuchtet, die von links auf sie und ihren Sohn fallen, liegt die rechte Seite im Schatten. Das kleine Mädchen verschwindet nicht einfach nur so in der Dunkelheit. Es wird regelrecht davon aufgesogen, verschluckt, bis es nur noch schwach zu sehen ist.

Die Frau bemerkt nicht, wie sich ihr Kind in den Schatten verliert, selber zum Schatten wird. Sie wird es erst bemerken, wenn es schon zu spät ist. Als mir das bewusst wird, hebe ich den Kopf. Und dann wird mir noch etwas anderes bewusst. Etwas steht hinter mir. Würde ich mich umdrehen, könnte ich es sehen. Ich weiß, dass es hinter mir ist, dass es den Boden berührt, dass es eine gewisse Dichte und Form hat. Dass es Augen hat, mit denen es mich sehen kann. Ich spüre seinen Blick am Hinterkopf. Es wartet.

Ich warte auch, starr vor Angst. Es könnte näher kommen. Mich berühren. Es könnte von hinten in meinen Rücken greifen. Mein Herz zum Stillstand bringen. Es könnte mich anhauchen und ich würde umkippen. Mein Kreislauf würde kollabieren, ohne dass es sich zu erkennen gegeben hat. Ich könnte ohnmächtig werden, ohne meinen Angreifer gesehen zu haben. Diese Idee ist noch unerträglicher, als ihn nicht zu sehen. Ich drehe mich um.

Ich bin allein. Nichts steht hinter mir außer einem Stuhl, auf dem Kleider liegen. Und dennoch weiß ich, dass es da war. Ich schüttle mich und beginne eine neue Skizze.

Gegen Morgen schlafe ich ein und träume von der Wohnung meiner Kindheit. Diesmal hilft mir meine Mutter beim Suchen der Papiere. Sie rennt hinter mir her und murmelt vor sich hin.

Ich verstehe nur: „Wo hat er sie versteckt, wo hat er sie nur versteckt?“

Als ich sie frage, von wem sie spricht, lächelt sie abwesend und antwortet, „Von dir natürlich. Wem sonst?“

Ich erwidere, ohne zu wissen, warum: „Ich dachte, du meinst Onkel Hans.“

An den Rest des Traums erinnere ich mich nicht mehr, aber ich bin mir sicher, dass wir nicht fanden, wonach wir suchten. Als ich aufwache, versuche ich mich an einen Onkel Hans zu erinnern. Ich gehe alle Brüder, Cousins und weiteren Verwandten meiner Eltern durch, aber keiner heißt Hans und keiner entspricht dem Bild, das ich im Kopf habe: ein älterer Mann mit Silberblick.

Als ich das Telefon am nächsten Mittag anmache, habe ich zwei Anrufe. Einen von Jesse und einen von der Polizei. Jesse beschimpft mich und verabschiedet sich mit den Worten: „Melde dich oder ich komm dich holen.“ Sein Lachen geht in ein Husten über und er legt auf. Die Polizei bittet um einen Rückruf. Ich nehme das Telefon in die Hand, überlege mir, was ich tun soll, lege es wieder hin, mache mir einen Kaffee, nehme das Telefon wieder in die Hand, lege es wieder hin, gehe aufs Klo, gehe duschen, sehe, wie das Telefon aufleuchtet, wieder ein Anruf, den ich unter der Dusche verpasst habe, mit klopfendem Herzen sehe ich die Nummer. Larissa. Ich atme aus.

Ich rufe zurück und sie informiert mich, wann sie Silvester vorbei bringen wird. Der Bann ist gebrochen. Ich rufe bei der Polizei an und werde zu einem Herrn Stiller durchgestellt. Ich erkenne seine Stimme. Er ist einer der beiden Typen, die bei mir zu Hause waren. Er fragt mich, ob ich ein paar von Julianas Bekannten identifizieren könnte. Ich verneine, überwinde mich und frage nach dem Stand der Ermittlungen. Eine Autopsie hat die Selbsttötung bestätigt. Man fand keine Drogen im Blut und die Polizei geht nicht von einer „Fremdeinwirkung“ aus. Die Sache mit meinem Bild und dem Foto scheint vergessen zu sein. Das bedeutet vermutlich, dass keine anderen Fotos von mir gefunden wurden. Ich werde ruhiger.

Die Stimme des Mannes wird verschwörerisch. „Sagt Ihnen der Name Raphaela Lavalle etwas?“

„Nie gehört.“

„Diese Dame war wohl eine gute Bekannte von Frau Narkos. Sie haben Sie nie getroffen?“

„Nein.“

„Wie dem auch sei: Frau Lavalle scheint ihr Geld als Medium zu verdienen.“

„Medium?“

„Ja, sie liest wohl aus Karten und organisiert Geister-Séancen oder so was in der Art. Wir denken, sie könnte einen gewissen Einfluss auf Frau Narkos gehabt haben. Sie hat diese Frau nie erwähnt?“

Ich verneine.

„Schade. Aber wie dem auch sei: Wenn Sie sich an irgendetwas erinnern – oder an irgendwen, den Frau Narkos mal erwähnt haben sollte, rufen Sie mich bitte an, ja?“

„Klar.“

„Und noch etwas. Sie haben einen minderjährigen Sohn, oder?“

Ich beiße mir auf die Unterlippe.

„Sie sollten illegale Substanzen nicht so offen herumliegen lassen. Das wissen Sie doch. Schönen Tag noch.“

Nach dem Anruf schenke ich mir einen doppelten Rum ein und rolle mir eine Tüte. Madame Lavalle. Ich muss lachen. Fiats Ex-Frau ist unter die Geisterbeschwörer gegangen. Davon hat er mir nie etwas erzählt. Ich drehe mich zu dem Autounfall um. Juliana schaut mich anklagend an. Und neben ihr sitzt mein Selbstportrait. Ich habe keine Ahnung, wie es dahin gekommen ist. Ob es schon da war, als die Polizei bei mir war.

Ich rufe bei Jesse zu Hause an und Maya meldet sich. Ich entschuldige mich dafür, dass ich am Vortag „so komisch“ gewesen war und mir wegen der „Psychogeschichten von Alice“ Sorgen gemacht habe. Es gibt keinen Anlass zur Sorge. Maya geht’s prächtig.

Sie kommt gleich zur Sache. „Wann kommst du vorbei?“

Wir verabreden uns für den nächsten Tag. Sie fragt nicht nach Jesse und ich frage nicht, ob er inzwischen nach Hause gekommen ist. Während sie mir von einer Auseinandersetzung in der U-Bahn berichtet, in die sie verwickelt war, kratze ich an der Farbe an meinen Nägeln herum. Violett. Ich habe keine Ahnung, wann ich das letzte Mal diese Farbe benutzt habe und gehe in Gedanken die letzten Bilder durch, während mir Maya von dem Mann berichtet, der sie mehrfach ‚Fotze’ genannt und bespuckt hat.

„Und bei jedem Mal Fffotze hat er mir seine Speichelfäden ins Gesicht geschleudert. Seine tödlichen Fffotze-Fäden. Die hat er auf mich abgeschossen wie Spiderman mit Tourette-Syndrom. Und das Beste: Niemand hat mir geholfen. Alle haben weggeschaut. Ich musste dann zwei Stationen früher aussteigen, weil der Typ echt nicht zu ertragen war.“

Ihre Stimme klingt gleichzeitig empört und amüsiert. Ich versuche mir vorzustellen, wie jemand diese Frau anspuckt. Es gelingt mir nicht. Ich stehe auf und gehe zu den Bildern. Drehe mit einer Hand den Unfall zur Wand. Jetzt schauen mich die Rückseiten von zwei Leinwänden an. Sofort geht es mir besser.

Nach dem Gespräch rauche ich noch einen und lege mich mit Fiats Lektüre ins Bett. Im Vorwort beschreibt die Autorin Halluzinationen und Synchronizitäten, die sie dazu gebracht haben, das Buch zu schreiben. Sie interpretiert diese inneren Bilder und Zufälle als Dämonen, die sich zeigen wollen. Nach neun Seiten bin ich zu müde, um weiter zu lesen. Am liebsten wäre mir, der Text würde durch meine Haut diffundieren. Vorbei am Gehirn und direkt ins Blut.

Als das Telefon klingelt, wache ich auf. Jesse. Im Hintergrund ist es laut. Er will, dass ich sofort vorbei komme, wo auch immer er ist (er weiß es nicht), sonst würde er zu mir kommen. Ich höre eine Frau im Hintergrund lachen, dann ein Zischen.

Er flüstert heiser: „Die Frau bringt mich noch um, Mann, hol mich hier raus.“ Und noch leiser: „Bitte.“

Ich lache, lege auf und schlafe sofort wieder ein. Keine Träume vom Meer, kein süßer Duft, keine Hand auf der Stirn lassen mich aufwachen. Zumindest kann ich mich danach an nichts mehr erinnern.

Am nächsten Morgen verschütte ich meinen Kaffee, als es im Hausflur poltert. Einen Moment denke ich, es ist die Polizei und schleiche mich an die Tür, um durch den Spion zu sehen. Der Spion ist genauso blind wie das Fenster daneben und ich kann nichts erkennen, aber ich mache das immer. Vielleicht, weil ich hoffe, ich könnte die Person auf der anderen Seite der Tür „erspüren“.

Bevor ich etwas erspüren kann, brüllt Jesse meinen Namen. Ich öffne die Tür. An seinem Blick kann ich erkennen, dass er schon länger nicht mehr geschlafen hat.

„Willst du einen Kaffee?“

Jesse verzieht den Mund zu einem Grinsen und lässt den Kopf hängen. Er hält sich an der Tür fest und fixiert mich mit wölfischer Miene. Seine linke Gesichtshälfte ist dunkel verfärbt.

„Guten Morgen, altes Haus!“

Er ist viel zu laut und ich flüchte in die Küche. Dort halte ich meine verbrühte Hand unter das kalte Wasser und frage: „Hast du noch was übrig von deiner guten Laune?“

Jesse brüllt zurück, „Beat, was du brauchst, ist eine Frau, die auf dich aufpasst!“

Ich überlege mir, wie viel Kaffee ich trinken muss, um auf sein Niveau zu kommen. Als ich zurückkomme, steht er vor dem Bild von der Frau vor der Treppe. Er hat den Kopf schief gelegt und zieht an einer abgebrannten Zigarette. „Das ist Maya.“

„Ist es nicht.“

„Doch, das ist Maya. Nachdem du sie gefickt hast. Danach sieht sie immer so aus.“ Er macht beschreibende Handbewegungen.

Ich setze mich aufs Bett, schließe die Augen. Ich kann mich nicht daran erinnern, das Bild wieder umgedreht zu haben. Ich wünsche, ich hätte es nicht getan. Oder war ich das gar nicht? Jetzt ist es zu spät und ich weiß, es ist sinnlos, mit ihm zu diskutieren. Die Frau auf dem Bild ist ungefähr zwanzig Jahre älter als Maya und nach der Mode der Zeit gekleidet. Sie steht starr vor einer Treppe, mit einem panischen Gesichtsausdruck. Hinter ihr tropft ein Schatten in einer dunklen Lache die Stufen hinunter. Im Holz zeigt sich der Umriss eines Menschen. Auf dem Foto, von dem ich sie abgemalt habe, wirkt sie nicht halb so panisch. Und auch hier hat sie nicht viel Ähnlichkeit mit Maya. Ich zeige mit der Hand auf die Vorlage, ein Ausdruck in schwarzweiß, der links oben auf der Leinwand klebt. Es ist sinnlos. Jesses Augen werden zu Schlitzen.

„Sie war hier, oder?“

„Vor einer Woche. Mit dir.“

„Nein, letzte Nacht.“

„Leider nicht. Willst du ein Bier?“

„Mann, sag mir die Wahrheit, war sie hier?“

„Nein. Willst du was rauchen?“ Ich überlege krampfhaft, was ihn herunterbringen könnte. Migränemedikamente? Schlafmittel?

„Lüge mich nicht an, verdammt. Sie war hier, oder?“ Er steht vor mir, beugt sich nach unten, holt aus. Auf einmal weiß ich, warum ich das Bild nicht mehr anrühren wollte.

Es dämmert, als ich wieder aufwache. Ich rolle mich an den Rand des Bettes und mache das Licht an. Einer von uns hat geblutet. Jesse liegt neben mir auf dem Bauch. Die langen Kratzer auf seinem Rücken sehen aus wie Schaltkreise. Meridiane, an deren Schnittstellen ich die letzten Stunden rekonstruieren könnte. Wenn ich wollte. Ich will nicht. Ich ziehe mich an den Heizungsrohren hoch und gehe ins Bad. Spucke ins Waschbecken. Kein Blut im Speichel. Meine rechte Augenbraue ist verkrustet. Ich spritze mir kaltes Wasser ins Gesicht.

Maya meldet sich nach dem ersten Klingeln. Ich sage ihr, dass ich es heute nicht mehr schaffe. Ich höre, wie sie ausatmet.

Und dann stellt sie die Frage, die seit unserem letzten Telefonat durch den Raum geistert: „Hast du was von Jesse gehört?“

Ich würde gern antworten, das ist schon ein paar Tage her, warum? Aber ich kann nicht. „Er ist hier. Schläft seinen Rausch aus. Ich schmeiße ihn raus, wenn er wach ist, OK?“

„Ach, weißt du was? Behalte ihn einfach. Ich brauche ihn nicht mehr.“ Sie legt auf.

Ich frage mich, ob das auch für mich gilt.

Ich male an der Frau vor der Treppe, als Jesse aufwacht. Seine Reaktion hat mir die Zweifel an dem Bild genommen. Vielleicht habe ich unbewusst geahnt, was es auslösen würde. Jetzt kommt mir nichts mehr merkwürdig daran vor. Im Gegenteil, die Stimmung ist genauso, wie ich sie haben möchte. Die Angst ist in Panik umgeschlagen. Der Angreifer hat angegriffen. Jetzt ist die Luft rein. Wer das allerdings entschieden hat, ich oder das Bild oder irgendetwas anderes, weiß ich nicht. Ich weiß auch nicht, wer das Bild umgedreht hat. Aber ich weiß, ich kann mir wunderbar selbst aus dem Weg gehen.

Als ich ein Geräusch höre, drehe ich mich um. Jesse setzt sich langsam auf. Sein normalerweise ausdrucksloses Gesicht wirkt kurz gequält, aber er fängt sich wieder. Ich bemerke, dass nicht nur sein Gesicht, sondern auch sein Oberkörper geprellt und zerkratzt ist. Mehr als meiner. Dann sehe ich die blutigen Kreise zwischen seinen Brustwarzen. Davor waren sie mir nicht aufgefallen.

Ich mache einen Witz. „Hast du dir was von Robert Fludd einritzen lassen?“

Er schaut mich mit roten Augen an. Dann hustet er, zuckt mit den Schultern und steht auf. Er geht ins Bad und ich kann hören, wie er sich übergibt. Danach höre ich die Dusche, mehr Kotzen, den Wasserhahn. Er kommt zurück, wickelt sich in die Decke und schaut mir beim Malen zu. Ich mache die Musik lauter und male weiter. Ich bin mir sicher, er wird sich gleich über die Musik beschweren. Wenn er das tut, kontere ich mit Wagner.

Doch er bleibt still. Als ich mich umdrehe, blättert er in einem Buch. Ich drehe den Ton herunter. „Was liest du da?“

Er hält das Buch von Fiat hoch. Verdammt.

Ohne etwas zu sagen, blättert er weiter darin herum. Ich ahne Böses, aber ich drehe mich um und arbeite an dem Hut der Frau. Ich möchte, dass sie durchscheinend wird, so als sei sie der Geist, nicht die Erscheinung vor ihr oder der Schatten auf der Treppe.

Auf einmal spüre ich ihn direkt hinter mir.

„Woher hast du dieses Buch?“

„Keine Ahnung.“

„Du hast es von Fiat, oder?“

„Fiat ist ein alter Freund.“

„Fiat war mit Pernath unterwegs. Er ist nicht ganz dicht.“

Der sagenumwobene Pernath? Auf diese Diskussion lasse ich mich nicht ein. Stattdessen zeige ich auf das Bild. „Was denkst du? Sieht sie wirklich aus wie Maya?“

„Lass dir keine Bücher von ihm aufdrängen. Er denkt, er hat einen Auftrag.“

„Was für einen Auftrag?“

„Ich war bei einem dieser Treffen, die er organisiert. Das sind Psychopathen. Die haben nicht locker gelassen, haben ständig genervt. Wie eine Sekte, Mann. Lass dich darauf nicht ein.“

Ich atme aus. „Schon gut. Da besteht keine Gefahr. Ich bin kein Gruppenmensch.“

Er starrt mich einen Moment lang an. Dann geht er zurück zum Bett, sucht seine Klamotten, seine Zigaretten. Als er merkt, dass ich zu ihm hinüberschaue, sieht er mich herausfordernd an. „Was?“

„Bist du in Ordnung? Was sollen diese Kreise da ...“ Ich zeige mit dem Finger auf seine Brust.

Er grinst, steckt sich eine an und hustet. „Das war dieses Mädchen. Die kleine Blonde. Von neulich?“

Ich schüttle den Kopf.

„Die war ziemlich wild.“ Er zieht sich an. „Scheiße, ich muss ins Studio. Vasili dreht durch, wenn ich nicht aufkreuze.“

„Es ist halb zwei.“

„Und?“

„Es ist mitten in der Nacht, Jesse. Entspanne dich.“

„Die beste Zeit, um zu arbeiten.“

„Maya hat nach dir gefragt. Ich habe ihr gesagt, dass du hier bist.“

Jesse steht unschlüssig im Raum, Hände in der Jacke vergraben und schaut sich um. „Ich sehe sie morgen.“

„Sie ist ziemlich sauer.“

Er kratzt sich am Kopf. „Sie wird sich schon beruhigen. Ich muss los.“

„Sie macht sich Sorgen.“ Ich drehe mich um und kratze am Hut der Frau herum. „Nicht zu Unrecht.“

Er umarmt mich von hinten, überraschend fest, und ich merke, wie müde ich bin. Ich werfe den Pinsel auf den Tisch, während er mir ins Ohr flüstert: „Komm bald vorbei. Maya vermisst dich.“


# 6: 08. Februar

Es dauerte ewig, bis ich dort war, Pendelverkehr, dann lief ich in die falsche Richtung. Als ich ankam, war ich zwanzig Minuten zu spät. Eine verschleierte Frau öffnete mir die Tür, ich sagte, ich möchte ins Reptilienhaus und sie zog mich in einen rot beleuchteten Gang. Dort streifte ich die Schuhe ab und sie gab mir ein Gewand, das ich mir überzog und das mich wie eine Burka von oben bis unten bedeckte.

Sie legte den Finger auf die Lippen und schob mich in den nächsten Raum, in einen großen, mit Kerzen beleuchteten Saal. Es roch nach Weihrauch und ich konnte nicht erkennen, wie viele Leute da waren. Meine neue Bekanntschaft konnte ich auch nicht sehen und ich wollte nicht nach ihm fragen.

Alle um mich herum waren in dunkle Gewänder gehüllt. Lediglich ein Mann in der Mitte trug einen ganz normalen Anzug und eine Sonnenbrille, obwohl es viel zu dunkel dafür war. Er stand in einem Kreis Kerzen neben einem hüfthohen Granitblock, aus dem eine Stange ragte, an der sich zwei Schlangen empor rankten. Meine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit und ich konnte die Details langsam erkennen.

Von Anfang an war ich mir ziemlich sicher, dass in den Gewändern Frauen und Männer steckten, obwohl niemand redete und alle ganz still standen. Vor dem Mann in der Mitte saßen zwei Menschen auf dem Boden. Die anderen standen um den Lichtkreis und atmeten tief.

Der Mann im Anzug war der einzige, der sprach. Je länger ich hinsah, desto älter wirkte er. Er hatte weißes, nach hinten gekämmtes Haar und seine Stimme war überraschend hoch und brüchig. Mit den Händen zeigte er uns, in welchem Rhythmus wir ein- und ausatmen sollten, dabei verlangsamten sich die Gesten und damit die Atemzüge zunehmend. Ich versuchte mitzuhalten, bis mir schwindelig wurde. Als ich zu früh einatmete, war mir so, als würde er in meine Richtung sehen. Als würde er merken, dass ich den kollektiven Rhythmus durchbrach und nicht mehr im Takt war.

Nach einer gefühlten Stunde machte er eine neue Handbewegung und die beiden, die vor ihm saßen, zogen ihre Gewänder aus. Es waren zwei Männer, der eine klein und dünn, der andere etwas größer und sehr muskulös. Sie waren nackt und legten sich nebeneinander vor ihm auf den Boden. Ich reckte mich leicht, um nichts zu verpassen. Inzwischen konnte ich erkennen, dass außer mir und den drei Männern in der Mitte 20 bis 30 weitere Leute da waren. Alle außer mir standen bewegungslos um den Kreis herum und atmeten tief im selben Takt ein und aus.

Auf einmal kamen zwei verhüllte Gestalten in die Mitte und setzten sich auf die Nackten am Boden. Eine weitere Gestalt in einem roten Gewand trat hinter dem Mann im Anzug hervor. Sie hielt ein metallisches Gerät in der Hand, das so aussah wie ein Zirkel. Die beiden, die auf den Nackten saßen, bewegten sich rhythmisch. Es war kein Laut zu hören außer dem regelmäßigen einstimmigen Atem um mich herum. Die rotgewandete Gestalt beugte sich nach unten und setzte den Zirkel auf die Brust des Mannes, der links von mir aus auf dem Boden lag. Sie zog den Zirkel einmal herum und ich sah, wie sich ein dünner roter Kreis bildete. An dem Zirkel war ein kleines Messer oder Skalpell befestigt. Dann verkleinerte sie den Durchmesser und zog einen weiteren Kreis. Und noch einen.

Danach reinigte sie den Zirkel und wandte sich dem Mann rechts von mir zu. Außer dem Atem und dem Rascheln der Gewänder war nichts zu hören. Die beiden, die auf den Nackten saßen, regten sich nicht mehr, um den Zirkelhalter nicht zu stören. Ich konnte nicht genau erkennen, was passierte, aber ich vermutete, dass auch der zweite Nackte drei Kreise in die Brust geschnitten bekam. Als die Gestalt in dem roten Gewand damit fertig war, stand sie auf und verschwand hinter dem Mann im Anzug. Er machte eine Geste und die beiden Verschleierten auf den Männern standen auch auf, traten hinter die Männer, zogen sie nach oben und drehten sie mehrfach um sich selbst, so dass alle sie von vorne sehen konnten. Die Kreise begannen stärker zu bluten und ein dünnes rotes Rinnsal zog sich von den Brustwarzen bis zum Bauch hinunter.

Alle um mich herum fingen an zu jubeln und ich stimmte mit ein, ohne zu wissen, warum.

Zellgeflüster

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