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Kapitel 3

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Am nächsten Morgen klingelt die Polizei bei mir. Zwei Beamte in Uniformen schauen mich bleiern an. Einer der beiden, ein grauhaariger Mann mit resolutem Mund, zeigt nach oben. Meine Nachbarin ist tot. Juliana. Die Frau aus dem zweiten Stock.

Der Mann tritt einen Schritt näher. „Ziehen Sie sich mal was über. Wir warten solange.“

Ich habe das Gefühl, dass ich die beiden hereinbitten muss, damit sie nicht denken, ich hätte etwas zu verbergen. Also mache ich eine vage Handbewegung in den Raum hinein. Der jüngere der beiden lächelt sofort und bedankt sich. Ich drehe mich um und höre, wie sie hinter mir eintreten, während ich nach einem T-Shirt suche.

„Das ist ja interessant. Sind Sie Maler?“, fragt der jüngere Beamte.

Ich huste und nicke. Auf dem Tisch beim Sofa liegt eine Tüte Gras.

„Wollen Sie ... einen Kaffee?“

Der jüngere Polizist schaut zu den Bildern, der Grauhaarige auf den Tisch. Sein Gesichtsausdruck bleibt stoisch. „Nein danke. Kannten Sie sich?“

Juliana. Ich schließe die Augen. Sehe sie in ihrem großen Parka. Höre ihre leise, hohe Stimme, mit der sie mich begrüßte.

„Nur vom Sehen“, antworte ich. „Was ist denn passiert?“

„Sie kannten sich also nicht?“

Ich zucke mit den Schultern, ohne es zu wollen. „Flüchtig.“

Der ältere Polizist blickt wieder auf den Tisch. Ich beiße mir auf die Unterlippe. Larissa sagt mir ständig, ich solle das Zeug wegräumen. Zu spät.

Der Mann macht einen Schritt auf den Tisch zu. Sein Blick noch immer auf dem Gras.

„Frau Narkos scheint im Haus zu niemandem Kontakt gehabt zu haben. Außer zum Vermieter. Können Sie das bestätigen?“, fragt er.

„Kann schon sein. Wie ist sie gestorben?“

„Es sieht so aus, als habe sie sich erhängt.“ Der Polizist schaut mich prüfend an.

„Suizid also.“

„Davon gehen wir im Augenblick noch aus.“

Ich zucke wieder zusammen. Der Polizist starrt mich an.

„Sie sind also Maler? Hier haben Sie nicht viel Licht“, stellt er fest.

„Ich male ... dunkle Sachen.“

„Das sehe ich“, sagt er, ohne bisher einen Blick auf die Bilder geworfen zu haben. Dafür geht der andere ein paar Schritte auf meine Atelierecke zu.

„Und es gibt genügend Licht“, erkläre ich und zeige auf die Leiste mit Lichtschaltern. Ich habe nicht vor, die Neonröhren anzumachen.

„Sie wohnen hier auch?“

„Ja.“

„Ich verstehe. Wo waren Sie gestern tagsüber?“

Ich halte den Atem an. Ein Verhör.

„Ich war zu Hause. Erst habe ich gemalt. Dann hatte ich Migräne.“

„Aha.“ Der Polizist sieht auf einmal nachdenklich aus.

„Ich denke, sie hat sich das Leben genommen?“, frage ich nach.

„Waren Sie allein?“

„Ja.“

„Sie haben also Migräne?“

Ich nicke. Der Polizist nickt auch. Wir nicken uns gegenseitig zu, bis sein Blick wieder auf die Tüte Gras fällt. Hinter uns klingelt ein Telefon. Der jüngere Polizist entschuldigt sich und geht zur Tür.

„Ich habe das manchmal und ...“, fange ich an zu erklären.

Der Polizist starrt mich an. „Und?“

„Und dann kann ich keinen Menschen um mich herum ertragen.“

Der Polizist starrt mich noch immer an. Mir wird heiß.

„Warum fragen Sie mich das? Ich habe keine Ahnung, warum sie sich erhängt hat. Ich habe sie kaum gekannt.“

„Eine richtige Migräne? Oder ist das mehr so ein Spannungskopfschmerz?“

Der Polizist kneift die Augen zu.

Ich gebe auf. „Ist es deshalb?“

Ich zeige auf die Tüte Gras. Mir läuft der Schweiß den Rücken hinunter, mein Kopf dröhnt. Ich will, dass die Typen verschwinden.

Der Polizist seufzt demonstrativ. „Wie dem auch sei: Wir wären nicht hier, wenn die Leiche nicht unübliche Verletzungen aufweisen würde“, lenkt er ein.

„Was meinen Sie damit?“

Der andere Polizist kommt wieder zurück. „Wir müssen weiter“, sagt er.

„Eines ihrer Augen wurde ausgestochen. Glauben Sie, das hat sie sich selbst angetan?“ Sein älterer Kollege starrt mich an.

Mir wird schwindelig. Ich gehe auf den Tisch zu und stütze mich ab.

„Keine Ahnung. Hat sie irgendwas genommen?“

Der Polizist sieht auf einmal amüsiert aus. Er schaut neben meine Hand auf die Tüte Gras. „Was denken Sie?“

„Woher soll ich das wissen? Das ist Gras und da drüben ist Alkohol. Macht mich das zum Experten für Selbstmörder?“

Ich atme aus. Das Pulsieren im Kopf wird schlimmer.

„Haben Sie Frau Narkos jemals Drogen verschafft?“

„Nein. Ich kannte sie ja kaum. Außerdem. Ich bin kein Dealer.“

Der Polizist mit dem Telefon flüstert dem anderen etwas zu und zeigt auf die Bilder. Endlich sehen sie ein, dass ich nur ein erfolgloser Maler bin. Verwirrt vielleicht, aber harmlos. Dann fällt mir etwas ein.

Ich drehe mich um und schaue das Bild an. Das Bild, an dem ich bis letzte Woche gearbeitet habe. Eine blonde Frau in einem Autowrack. Ihr linkes Auge ist zugeschwollen, eine klaffende Wunde zieht sich von der Augenbraue zur Wange.

„Würden Sie bitte mitkommen? Wir haben noch ein paar Fragen an Sie.“

Julianas Foto weckt Erinnerungen. Vor ein paar Wochen hatte ich sie am Auto getroffen. Eine kleine, schüchterne Frau. Ihr blondes Haar fiel strähnig auf ihren dunkelgrünen Parka. Sie nickte mir zu und ich nickte zurück. Sie war eine der wenigen im Haus, die ich öfters sah, neben der Familie über mir und dem Anwalt von ganz oben, der früh morgens in seinen alten Porsche steigt und spät abends wieder nach Hause kommt. An dem Tag, als ich Juliana traf, war ich gut gelaunt. Ich suchte meinen Geldbeutel im Auto und hatte mich gerade damit abgefunden, dass ich ihn verloren hatte, aber es war mir egal. Und das machte mich glücklich. Als sie vorbeikam, erzählte ich ihr davon. Sie lachte und ich fragte, ob sie etwas trinken wollte. Wir gingen zu mir und sie schaute sich die Bilder an.

Ich drückte auf alle Lichtschalter. Die Neonröhren flackerten eine nach der anderen an, tauchten meine Höhle in ein grelles, kaltes Licht. Dennoch schien Juliana im Dunkeln zu stehen. Sie drehte sich um, die Hände in den Taschen ihres riesigen Parkas, und kam auf mich zu. Ich berührte sie am Arm. Einen Moment lang wollte ich sie an mich ziehen, trösten. Sie aus der Jacke retten, aus der Dunkelheit, Licht an ihre Haut lassen. Sie reichte mir den Joint, ohne mich anzusehen. Ich ließ sie los. Sie kratzte sich an der Nase, schaute auf den Boden, verfolgte mit ihrem Blick die Spuren der angetrockneten Farbkleckse, als wollte sie einen Code entziffern. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Sie verschwand vor mir, als würde ihr Parka sie einsaugen. Schließlich verabschiedete sie sich, ohne die Augen zu heben.

Zuerst dachte ich, die Bilder hätten ihr Angst gemacht. Oder meine kurze Leidenschaft, die sofort wieder abflaute. Vielleicht war sie enttäuscht. Vielleicht hätte ich ihr nichts zu rauchen geben sollen. Dass sie Probleme hatte, ahnte ich. Die meisten Leute, die ich kenne, haben Probleme. Aber sie war anders als die meisten Leute, die ich kenne. Für einen Moment gestand ich mir ein, was ich sah, ihren verunsicherten Blick, ihre schmale Hand, ihren kleinen, weichen Mund, der so unbeteiligt im Gesicht hing. Ich hätte sie zerdrückt.

# 2: 06. Januar

Nachdem Lysian verschwand und mich auf der Rechnung sitzen ließ, ging ich aufs Klo. Ich setzte mich in eine der beiden Kabinen und starrte meine Schuhe an und die braunen Schlieren auf dem Stück Boden dazwischen. Ich blieb so lange, bis ich mich wieder beruhigt hatte, dann ging ich zum Waschbecken und spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht. Auf dem Weg zurück zum Tisch sah ich ihn, diesmal mit einer anderen Frau. Sie saßen an der Bar und er lächelte mich kurz an, auf eine Art, auf die ich reagieren oder die ich ignorieren konnte, freundlich, aber unverbindlicher als das letzte Mal. Mein erster Impuls war zurückzuwinken und vorbeizugehen, doch dann war mir alles egal und ich ging zu den beiden hin, mit verquollenen Augen, angetrunken, schlimmer geht’s nimmer.

Die Frau kicherte bei allem, was ich sagte auf eine nette, asiatische Art und ich musste auch lachen. Er gab mir eine Nummer, die ich anrufen kann, wenn ich das nächste Mal ‚zu viel Energie’ habe. Ich getraute mich nicht zu fragen, was er damit meinte, aber ich war ihm dankbar, dass er meine Hand berührte, dass er mich anschaute, dass seine Freundin mit mir lachte und dass er mir eine Telefonnummer gab. Obwohl mich das mit der Telefonnummer auch verunsicherte. War es seine? Wohl kaum. Ich bin mir sicher, ich werde nicht anrufen.

Der Polizei erzähle ich, dass sie tatsächlich einmal in meiner Wohnung war, um sich die Bilder anzuschauen. Ich hatte es vergessen. Und vielleicht hatten sich ihre Gesichtszüge so eingeprägt, dass ich sie Wochen später gemalt habe. Das war Zufall. Und das mit dem Auge auch. Auf der Wache zeige ich ihnen das Foto, das ich als Vorlage benutzt habe. Die abgebildete Frau sieht ihr tatsächlich ähnlich. Ich zeige ihnen das Bild des verletzten Auges, „aus dem Internet“. Beide Abbildungen lagen glücklicherweise noch oben auf dem Schreibtisch und ich musste nicht lange suchen. Die Polizisten sehen sich an. Und dann mich. Einer schiebt mit kritischem Blick die Bilder in eine Folie. Ich muss irgendetwas erklären, aber mir ist nicht klar, was genau.

Woher ich meine Inspirationen nehme?

„Ich bin meistens betrunken, wenn ich male.“

Der Polizist nickt mit einem wissenden Blick und ich muss mich zusammen reißen, um nicht wieder mitzunicken. Ich bin wie hypnotisiert. Sie haben mir Blut abgenommen und mich in einen Becher pinkeln lassen. Ich hoffe, sie nehmen mir den Führerschein nicht ab. Der Polizist nickt weiter und öffnet eine Mappe, die vor ihm liegt. Er zieht ein Foto heraus, legt es mit der Vorderseite nach unten auf den Tisch und schiebt es zu mir her. Während ich es aufdecke, beobachtet er mich mit gesenktem Kopf.

Ein Foto von mir und Jesse. Wir stehen an einer Bar, um uns herum Leute. Wir schauen uns an, ich halte mich an einem Bier fest, Jesse gestikuliert mit einer Zigarette in der Hand. Offensichtlich bemerken wir nicht, dass wir fotografiert werden. Ich versuche zu erkennen, in welchem Laden das Foto aufgenommen wurde, aber der Tresen, das Personal und die Leute um uns herum kommen mir nicht bekannt vor. Dann sehe ich die ausgestopften Hirsch- und Wildschweinköpfe hinter dem Tresen. Toms neue Bar. Ich war letzte Woche dort. Langsam schiebe ich das Foto wieder zurück und schaue den Beamten fragend an.

„Kennen Sie das Foto?“

Ich schüttle den Kopf.

„Haben Sie eine Ahnung, warum Ihre Nachbarin dieses Foto hatte?“

„Nein.“

„Wissen Sie, wann es gemacht wurde?“

Ich schüttle wieder den Kopf. Die Schläfen pochen.

„Und wer ist das da?“ Er zeigt auf Jesse.

„Ein Bekannter.“ Ich erfinde einen Namen. „Ich glaube, er lebt inzwischen wieder in Spanien.“

„Sie wissen nicht, wie Frau Narkos zu dem Foto gekommen ist?“

„Keine Ahnung.“

„Sie wissen auch nicht, wo es entstanden ist?“

„Ich kann mich an den Laden ... oder die Situation ...“, ich gestikuliere fahrig in die Richtung des Fotos „nicht erinnern.“

„Und Sie wissen nicht, wer das Foto gemacht hat? Frau Narkos selbst vielleicht?“

Mein Blick fällt auf die Wand hinter dem Kopf des Polizisten. Sie ist gelblich vergilbt und kahl. Am Übergang zur Decke wird sie weiß. Wenn der Beamte den Mund öffnet, haben seine Zähne denselben Ton. Ich schüttle den Gedanken ab.

„Warum sollte sie mich fotografieren? Wir kannten uns kaum.“

Die Polizisten werfen sich einen Blick zu. Sie glauben mir nicht. Der eine fragt weiter. „Wissen Sie, wo wir das Foto gefunden haben?“

Ich hebe die Hände. „Auf ihrem Schreibtisch?“

„Waren Sie schon einmal in der Wohnung von Frau Narkos?“

„Nein.“

„Es gibt keinen Schreibtisch in ihrer Wohnung. Es gibt überhaupt keinen Tisch oder irgendwelche anderen Möbel. Nur eine Matratze. Ist das nicht merkwürdig?“

Der Mann schaut mich an, als könnte ich dieses Rätsel lösen. Ich starre zurück.

„Und neben der Matratze haben wir ein Notizbuch gefunden“, fährt er fort. „Eine Art Tagebuch. Da drin steckte das Foto. Sie wissen nicht, wie es dahin gekommen ist?“

„Vielleicht steht es in dem Notizbuch?“

Der Polizist lehnt sich wieder zurück. „Leider können wir mit den Einträgen nicht viel anfangen. Ein paar Experten schauen sich das gerade genauer an.“

„Was für Experten?“

„Experten für Hexerei und Satanismus.“ Der Polizist lächelt säuerlich.

Ich lächle zurück.

# 3: 14. Januar

Ich weiß nicht mehr genau, wann es wieder angefangen hat, ob der Streit mit Lysian daran schuld ist oder ob die Medikamente nicht mehr wirken. Seit über einer Woche bin ich jeden Abend an dem Punkt, wo es nicht mehr weitergeht. Dann hole ich die Schere. Inzwischen setze ich mich nicht mal mehr in die Badewanne.

Als Lysian das letzte Mal da war, schrie er mich an. Er meinte, er kommt erst wieder vorbei, wenn ich damit aufhöre. Ich gab zurück, dass er gar nicht mehr vorbeikommen muss. Danach ging’s mir zwei Sekunden lang besser.

Nach dem Sex haute er sofort wieder ab und seitdem geht er nicht mehr ans Telefon. Ich habe seine Sachen in einer Plastiktüte gesammelt und stelle mir vor, wie ich sie im Wald verbrenne. Und dann stelle ich mir vor, wie sich mein Leben verändert, wie ich mich endlich wieder mit Sylvia oder Des verabrede, wieder an die Uni gehe, einen Job finde und mit meiner Mutter telefoniere. An dieser Stelle hört meine Fantasie auf und ich rufe ihn zum hundertsten Mal an und atme auf seine Mailbox.

Als ich auf der Straße stehe, fängt es an zu nieseln. Ein warmer, weicher Sommerregen. Ich lege den Kopf in den Nacken und frage mich, warum ich Juliana – oder eine Frau, die ihr ähnlich sieht – in einem Autounfall gemalt habe. Hatte ich mir irgendetwas dabei gedacht? Blöde Frage. Ich denke nie beim Malen. Ich blinzle und fühle, wie der Regen den Hals hinunter ins T-Shirt läuft. Hatte ich an dem Autounfall schon gearbeitet, als sie bei mir war? Hatte ich der Frau nachträglich ihre Züge gegeben? Ich lasse den Kopf nach vorne fallen und sehe, wie Tropfen aus dem Haar in die Jacke perlen. Wenn ich die Augen zusammenkneife, sind die Tropfen bunt, gefüllt mit kleinen, zitternden Tieren. Ich reiße die Augen auf, bevor die Tiere zu groß werden und schüttle den Kopf.

Warum hatte Juliana ein Foto von mir? Fotografierte sie mich heimlich? Gab ihr jemand anderes das Foto? War es das einzige Foto, das die Polizisten bei ihr von mir fanden? Verfolgte sie mich? Ich versuche mir alle Begegnungen mit ihr in den letzten Wochen in den Kopf zu rufen. Verhielt sie sich jemals merkwürdig mir gegenüber? Ich kann mich nicht erinnern. Sie wirkte nicht so, als sei sie interessiert an mir. Wie eine Satanistin wirkte sie auch nicht, aber wer kann das schon beurteilen?

Ich mache mich zu Fuß auf den Heimweg, bis mir der Geruch von letzter Nacht einfällt. Ich will nicht allein sein.

Erst rufe ich Jesse an. Er geht nicht ans Telefon, also versuche ich es bei Maya. Ich erzähle irgendetwas Unzusammenhängendes. Meine Nachbarin, komische Zufälle, die Polizei. Maya sagt, sie sitze mit einer Freundin im Café. Aber Jesse sei zu Hause. Ich rufe wieder bei ihm an und lasse es bis zur Mailbox klingeln. Immer wieder. Schließlich nimmt er ab. Seine Stimme ist heiser. Bevor er sich beschweren kann, sage ich ihm, dass ich vorbeikommen muss, weil es bei mir spukt.

„Scheiße, Mann, bei dir spukt’s immer.“

Ich nicke und warte. Ich bin mir sicher, dass Jesse mein Nicken und Warten hören kann.

Er gähnt. „Dann komm halt vorbei. Kannst du was mitbringen?“

„Ich war gerade bei den Bullen und habe nichts dabei.“

Auf einmal klingt er wach. „Was machst du bei den Bullen?“

Ich kaufe im Park überteuertes Gras und stehe eine halbe Stunde später vor Jesses Tür. Er macht mir in Mayas Bademantel auf. Sie versinkt in dem flauschigen blaugrünen Frottee, während der Mantel an seinem Körper wie an einer Vogelscheuche hängt. Der Stoff riecht nach ihrem Parfüm. Leicht, frisch, mädchenhaft. Nichts an diesem Duft ist braun, schwer oder erinnert an die Siebziger. Ich habe sofort ein Gefühl von Geborgenheit, auch wenn ich weiß, dass es der Wolf ist, der mir die Tür öffnet, nicht Rotkäppchen. Ich halte ihm die kleine Tüte vor die Nase und er lächelt langsam. Dann zieht er mich ins Schlafzimmer und stößt die Tür mit dem Fuß zu.

„Was ist das für eine Geschichte? Die Bullen waren bei dir?“

„Anscheinend hat sich meine Nachbarin umgebracht.“

Jesse lässt den Bademantel auf den Boden fallen und setzt sich aufs Bett. Sein langer, dünner Körper wirkt wie immer krank, zerbrechlich. Der erste Eindruck täuscht. Wenn er krank ist, dann nur, weil er das will. Ich setze mich daneben.

„Kanntest du sie?“ Seine Stimme ist immer noch heiser, der Husten hinter den Stimmbändern erahnbar.

„Flüchtig.“

Ich bemerke lange Kratzspuren auf seinem linken Arm.

„Sie hat sich angeblich vorher ein Auge ausgestochen.“

Jesse reißt die Augen auf und reibt sich das Haar aus dem Gesicht. „Krass.“

Er riecht nach kaltem Rauch und Kater, säuerlich. Ich lasse mich aufs Bett fallen und schaue an die Decke. Mein Blick fällt auf seinen Rücken, auf die Liebe Frau von Guadalupe, die ihre Hände über seiner Wirbelsäule faltet. Ich fahre mit meinem Finger die Konturen des Engels auf seinen Nieren ab, während er sich nach unten beugt und nach einem Aschenbecher sucht. Er wehrt sich nicht.

„Was auch krass ist, ich habe sie letzte Woche gemalt. Mit einem fehlenden Auge.“

Jesse dreht sich um. „Du hast was gemacht?“

„Ich habe eine Frau gemalt, die ihr ähnlich sieht. Die Frau liegt in einem Autowrack und hat nur noch ein Auge.“

Er starrt mich an. „Schon wieder. Mann, das kann kein Zufall sein.“

Ich zwicke ihn in die Hüfte, suche vergebens nach Fett.

Er schlägt meine Hand weg. „Lass den Scheiß.“

Ich erzähle ihm von dem Verhör. Von dem Bild, das ich gemalt habe. Das Foto lasse ich weg. Ich will ihn nicht paranoid machen. Stattdessen rede ich auf einmal von der Party, der Frau und dem Verfolger. Jesse rollt einen Joint und zündet ihn an, ohne mich zu unterbrechen. Als ich fertig bin, hält er ihn mir hin.

„Glaubst du, das sind alles Zufälle?“

„Nein, Jesse, ich habe das Zweite Gesicht.“

„Und wo hast du dein erstes gelassen?“

Meistens überhört er meine Ironie, aber manchmal überrascht er mich.

„OK, keine Zufälle. Alles von langer Hand von irgendwem geplant. Was soll ich tun?“

„Du hast dir also den Typ gegriffen und dann?“

„Was dann? Ich habe ihm eine reingehauen und bin zurück zum Fahrrad.“

„Du haust dem Typ eine rein, ohne zu fragen, was er will?“

Meine Geschichte hat offensichtlich so viele Löcher, dass selbst Jesse merkt, dass was faul ist.

„Er hat angefangen.“

„Mit was?“

„Er hat mich verfolgt. Und dann hat er mich in diesen Hinterhof gelockt. Und dann.“

Ich mache eine vage Handbewegung. Jesse scheint zu verstehen, was ich meine. Besser als ich selbst. Ihm passieren ständig Dinge, die unerklärlich bleiben. Ein Zustand tropft in den nächsten, ohne dass er begreift, warum. Jesses Welt: permanentes Vorsprechen im Vorzimmer der Bewusstlosigkeit. Er gibt sich mit meiner Handbewegung zufrieden. Dann beugt er sich über mich. Er fährt mir mit der Hand über den Hinterkopf und ich spüre den Stich.

„Fette Beule. Hat er dich da erwischt?“

„Kann mich nicht mehr erinnern.“

Amnesie ist auch etwas, das er verstehen kann. Amnesie gehört zu seinem täglichen Leben.

„Und was hast du jetzt vor?“

„Ich habe keine Ahnung. Die Bullen denken, ich habe damit was zu tun. Dass ich irgendwie mitschuldig bin an ihrer Psychose. Dass ich ihr Drogen gegeben habe. Dass sie ausgerastet ist wegen meiner Bilder.“

„Das haben sie gesagt?“

„Angedeutet. Ich glaube, die halten mich für einen Spinner.“

„Du bist ein Spinner.“ Er schubst mich zurück aufs Bett, drückt mich nach unten mit einer Energie, die ich ihm nicht zugetraut hätte. Als er mein Hemd nach oben zieht, greife ich nach dem Joint und ziehe den Rauch tief in meine Lungen. Der Rauch legt sich über meine Schleimhäute wie eine zweite Haut. Ich tu so, als würde ich mich wehren, aber ich will, dass er weitermacht, will mich in diese perfekte Balance zwischen Abwehr und Kapitulation bringen. Ich warte auf die Welle, die mich wegreißen wird.

Dann spüre ich seinen Husten an meinem Hals, den Biss in die Stelle zwischen Hals und Schulter, bevor ich seine Haare zu fassen kriege, bevor ich seinen Kopf wegreißen kann. Ich lasse los und schiebe die Schuld auf die Bullen, auf Juliana, den warmen Sommerregen, das Gras, überteuert und stark. Ich lass mich von ihm in die Vorbewusstlosigkeit tragen, in den Moment vor dem Moment und darüber hinaus. Die Behauptung, dass Jesse mein bester Freund ist oder der feste Freund meiner nicht so festen Freundin, ist nur eine Wahrheit. Die andere Wahrheit ist: Ich habe keine Ahnung, was wir hier tun.

Ich wache auf, als ich den Schlüssel im Schloss höre. Maya kommt zurück. Sie öffnet die Tür zum Schlafzimmer, sieht mich und lächelt. „Hast du dich um den Trunkenbold gekümmert?“

Ich mache ein Geräusch, das nicht nach mir klingt.

Sie öffnet das Fenster, beugt sich hinunter, streichelt mir über den Kopf.

„Hunger?“

Ich drehe mich auf die Seite und rolle mich zusammen. „Wie war der Film?“

Sie zuckt mit den Schultern. „Was für ein Film?“

Auf dem Weg zur Tür fragt sie: „Vitamine oder Pizza?“

Ich drehe mich auf den Rücken, strecke meinen Arm aus. Jesse ist weg.

„Mir egal. Kann ich heute Nacht hier bleiben?“

Als ich am nächsten Morgen nach Hause gehe, habe ich Juliana, meinen Verfolger und die Party-Bekanntschaft fast vergessen. Ich habe auch vergessen, dass ich einen Termin mit Larissa hatte und finde eine böse Nachricht auf der Mailbox. Ich setze mich in die Küche, rauche zwei Joints und schreibe ihr einen Brief. Bald fehlen mir die Worte und ich kritzele vor mich hin, kleine Igel und Hasen, die sich gegenseitig über das Papier jagen. Nach einem Bier zerreiße ich den Brief, nach dem zweiten rufe ich sie an und entschuldige mich bei ihrer Mailbox.

Zellgeflüster

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