Читать книгу Überleben - Tsitsi Dangarembga - Страница 10

1. Kapitel

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Im Spiegel ist ein Fisch. Der Spiegel hängt über dem Waschbecken in der Ecke des Wohnheimzimmers. Der Wasserhahn, nur kaltes Wasser in den Zimmern, tropft. Du liegst noch im Bett, drehst dich auf den Rücken und starrst an die Zimmerdecke. Du merkst, dass dein Arm eingeschlafen ist, und bewegst ihn mit der guten Hand vor und zurück, bis Schmerz in einem Blitz aus Nadeln explodiert. Es ist der Tag des Vorstellungsgesprächs. Du solltest aufstehen. Du hebst den Kopf und lässt ihn zurück aufs Kissen fallen. Schließlich aber stehst du vor dem Waschbecken.

Dort starrt dich der Fisch aus violetten Augenhöhlen an, das Maul ist geöffnet, die Wangen hängen herunter, als lastete das Gewicht monströser Schuppen darauf. Du kannst dich nicht ansehen. Der tropfende Hahn ärgert dich, deswegen drehst du ihn erst fest zu, bevor du ihn wieder aufdrehst. Eine verdrehte Handlung. Dein Magen hebt sich vor träger Befriedigung.

»Los-los-los!«

Eine Frau klopft an deine Tür.

»Tambudzai«, sagt sie. »Kommst du?«

Es ist eine deiner Mitbewohnerinnen, Gertrude.

Schritte entfernen sich. Du stellst dir vor, dass sie seufzt, zumindest ein bisschen betrübt ist, weil du nicht geantwortet hast.

»Isabel«, ruft die Frau jetzt und wendet ihre Aufmerksamkeit einer anderen Mitbewohnerin zu.

»Ja, Gertrude«, antwortet Isabel.

Ein Knall sagt dir, dass du nicht aufgepasst hast. Dein Ellbogen ist beim Zähneputzen gegen den Spiegel gestoßen. Oder? Du bist nicht sicher. Du hast es nicht gespürt. Genauer gesagt, du kannst dir keine definitiven Schlussfolgerungen leisten, weil Gewissheit dich für schuldig erklärt. Du bemühst dich, die Regeln des Wohnheims zu befolgen, doch sie lachen dich nur aus. Mrs. May, die Heimleiterin, hat dich des Öfteren daran erinnert, dass du die Altersregel brichst. Jetzt ist der Spiegel wieder einmal von dem verbogenen Nagel an der Wand gerutscht und ins Waschbecken gefallen mit dem Ergebnis, dass er einen weiteren Sprung hat. Wenn er noch einmal fällt, werden alle Teile aus dem Rahmen springen. Du hebst ihn vorsichtig an, damit die einzelnen Teile an ihrem Platz bleiben, und überlegst dir eine Entschuldigung für die Heimleiterin.

»Also, was jetzt, was hast du damit gemacht?«, wird Mrs. May wissen wollen. »Du weißt doch, dass du dich an die Vereinbarungen halten sollst.«

Die Heimleiterin kämpft für dich, sagt sie. Sie erzählt dir oft, dass sich die Verwaltung beschwert. Nicht über dich als solche, sondern über dein Alter, sagt sie. Der Stadtrat wird die Genehmigung für das Wohnheim widerrufen, wenn er herausfindet, dass so altertümliche Frauen hier wohnen, Frauen, die die Altersgrenze um einiges überschritten haben, um noch im Twiss Hostel unterkommen zu dürfen.

Du hasst die Schlampen von der Verwaltung.

Ein Dreieck fällt aus dem Spiegel auf deinen Fuß, dann gleitet es auf den Boden und hinterlässt einen dunkelroten Fleck. Der Betonboden ist so graugrün wie ein schmutziger See. Du rechnest damit, dass auch die restlichen Fragmente herausfallen, aber sie halten.

Draußen im Flur versichern sich Gertrude und Isabel gegenseitig, dass sie lange und gut geschlafen haben. Mehrere andere Bewohnerinnen gesellen sich zu ihnen, und ihr endloses Geplapper beginnt.

Der Boden im Flur glänzt, obwohl er aus Zement ist und nicht aus Kuhdung. Du hast Broschüren in der Werbeagentur verfasst, aus der du vor vielen Monaten rausspaziert bist. In den Touristenbroschüren hast du geschrieben, dass die Dorfbewohnerinnen in deinem Land ihre Böden aus Kuhfladen so oft abreiben, bis sie glänzen wie Zementböden. Die Broschüren haben gelogen. In deiner Erinnerung glänzt nichts. Die Böden deiner Mutter haben nie geglänzt. Nichts hat geglitzert oder gefunkelt.

Du schlurfst vom Waschbecken zum Kleiderschrank und öffnest ihn. Der Fisch bläht sich im ölig weißen Anstrich der hölzernen Schrankverkleidung zu einem Flusspferd auf. Du wendest dich ab, weil du den schwerfälligen Schatten nicht sehen willst, der dein Spiegelbild ist.

Hinten im Schrank findest du den für ein Vorstellungsgespräch geeigneten Rock, den du erstanden hast, als du das Geld hattest, um eine Annäherung an die doppelseitigen Modeaufnahmen zu kaufen, die du in Zeitschriften eingehend studiert hast. Den Bleistiftrock mit dem dazu passenden Oberteil hast du geliebt. Sich jetzt hineinzuzwängen ist ein heftiger Angriff auf den Dickhäuter. Der Reißverschluss beißt mit heimtückischen Zähnen in deine Haut. Heimleiterin May hat dieses Vorstellungsgespräch organisiert, für das du dich jetzt anziehst. Es ist mit einer weißen Frau, die in Borrowdale lebt. Du bist besorgt, dass Blut deinen Rock fleckt. Doch es gerinnt rasch, wie die rote Linie auf deinem Fuß.

Gertrude und Konsorten poltern den Flur entlang. Du wartest, bis das Geplapper der jungen Frauen, die zum Frühstück gehen, verstummt ist, bevor du auf den Flur hinaustrittst.

»Ihr Leute! Ja, du«, murmelt die Putzfrau gerade laut genug, dass du es hören kannst. »Immer macht ihr noch mehr Dreck, bevor der Boden trocken ist.« Sie weicht dir aus, und der Eimer stößt gegen die Wand. Schmutziger Schaum schwappt heraus.

»Hat dir mein Eimer was getan?«, zischt sie leise deinem Rücken zu.

»Guten Morgen, Mrs. May«, rufst du.

Die Heimleiterin steht am Empfang in der Eingangshalle, rosa und gepudert; sie sieht aus wie ein großer flauschiger Kokon.

»Guten Morgen, Tahmbuudzahiie«, erwidert sie und blickt von dem Kreuzworträtsel im Zimbabwe Clarion auf, der vor ihr auf dem Schreibtisch liegt.

Sie lächelt, als du sagst: »Wie geht es Ihnen heute Morgen, Frau Heimleiterin? Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen. Und danke für alles.«

»Heute ist der große Tag, nicht wahr?«, sagt sie, ihre gute Laune steigert sich bei dem Gedanken an ein Leben, in dem sie wegen dir nicht mehr mit der Verwaltung würde streiten müssen. »Na dann, viel Glück! Denk dran, Mabel Riley an mich zu erinnern«, sagt sie. »Ich habe sie seit der Schule nicht mehr richtig gesehen, und dann haben wir beide geheiratet und waren mit unseren Familien beschäftigt. Grüße sie vielmals von mir. Ich habe mit ihrer Tochter gesprochen, und sie war ganz sicher, dass euch wegen des Häuschens was einfallen wird.«

Du zuckst vor der Begeisterung der Heimleiterin zurück. Sie neigt sich vor, hält den Glanz in deinen Augen für Wertschätzung. Du spürst ihn, aber du bist selbst nicht sicher, was dieser Glanz bedeutet, ob er echt ist oder etwas, das du herausforderst.

»Es wird bestimmt sehr gut gehen«, flüstert Heimleiterin May. »Mabs Riley war eine wunderbare Schülersprecherin. Ich war noch ganz jung, aber sie war absolut wunderbar.«

Puder rieselt von den bebenden Wangen.

»Danke, Mrs. May«, murmelst du.

Der »Gestern, heute und morgen«-Busch im Garten des Wohnheims pulsiert violett, weiß und zartlila. Bienen fliegen träge durch die Luft, um ihre Saugrüssel in die Spritzer aus Hell, Heller, am Hellsten zu schieben.

Du hältst mitten im Schritt neben dem Gebüsch inne, um einen waghalsigen, aber vom Glück begünstigten Käfer zu schonen. Dahinter wütet die Hibiskushecke scharlachrot. Jahre zuvor, du willst dich nicht erinnern, wie viele Jahre, hast du in die sandigen Mulden dieser dickbäuchigen Käfer geblasen, lachend und unbeschwert pustend. Als das Insekt frei dalag, hast du Ameisen in das Loch geworfen und zugesehen, wie die kleinen Gladiatoren kämpften und in den Kiefern ihres Peinigers umkamen.

Du betrittst die Herbert Chitepo Avenue. Die Straßenkinder halten dich für eine Dame und betteln um milde Gaben.

»Tambu! Tambu!«, ruft eine Stimme.

Du kennst die Stimme. Du wünschst, du hättest den Käfer zertreten.

Gertrude wankt auf ihren Stilettos zu dir, Isabel im Schlepptau.

»Wir haben denselben Weg«, sagt Gertrude, die sich selbst Gertie nennt. »Jetzt haben wir Gelegenheit, guten Morgen zu sagen und endlich herauszufinden, wie du geschlafen hast. Isabel und ich wollen zu Sam Levy’s.«

»Guten Morgen«, murmelst du, hältst Distanz.

Sie nehmen dich in die Zange wie zwei Polizistinnen. Ihr federnder Gang irritiert dich.

»Ach, das wusste ich nicht«, sagt Isabel eilig, als ob für sie dem Sprechen kein Gedanke vorausgehen muss. Das gestattet dir ein gewisses Amüsement, und du lächelst. Die junge Frau fühlt sich ermutigt.

»Du willst auch zu Sam Levy’s. Du liebst die Sonderangebote, genau wie wir. Ich wusste gar nicht, dass alte Leute sich für Mode interessieren.«

Die Brüste der Mädchen ragen nach vorn, als sie die Schultern nach hinten drücken, um das meiste aus ihrem Busen herauszuholen.

»Ich will nicht zu Sam Levy’s«, sagst du. Sie schauen an dir vorbei, blicken prüfend zu den Autos auf der Straße und den Männern mittleren Alters, die sie fahren.

»Meine Tante wohnt dort«, erklärst du. »Ich fahre zu ihrem Haus in Borrowdale.«

Die jungen Frauen wenden dir wieder ihre Aufmerksamkeit zu.

»Borrowdale«, sagt Gertrude. Du weißt nicht, ob sie staunt, weil du eine Tante hast, oder weil eine Verwandte von dir in Borrowdale lebt. Zum ersten Mal zufrieden an diesem Morgen, erlaubst du dir ein Lächeln, das bis zu den Augen reicht.

»Was ist daran erstaunlich?« Isabel zuckt die Achseln. Sie zieht den roten BH-Träger hoch, der an ihrem Arm heruntergerutscht ist. »Mein babamunini, der Bruder meines Vaters, hatte ein Haus dort. Aber er hat es verloren, weil er nicht dafür zahlen konnte. Sie haben gesagt, dass es wegen der Zinsen ist oder so. Deswegen ist er nach Mosambik gegangen, mit Diamanten, glaube ich.« Sie zieht die Nase hoch. »Jetzt sitzt er dort im Gefängnis. Nur solche Leute gehen nach Borrowdale. Alte!«

»Wer ist diese Verwandte, Tambudzai?«, fragt Gertrude.

»Ich meine nicht dich, Sisi Tambu«, unterbricht Isabel. »Ich meine wirklich alte Leute.«

An der Ecke Borrowdale Road und Seventh Street stehen die Leute bis an den Bordstein.

»Vabereki, vabereki«, ruft ein junger Mann aus der verbeulten Tür eines Kombi.

Das Fahrzeug schwingt zum Bordstein. Alle ziehen Arme, Beine und Köpfe ein. Du weichst mit der Menge zurück. Einen Augenblick später drängst du mit allen anderen nach vorn, stößt mit den Ellbogen aggressiv so viele Personen wie möglich aus dem Weg. Doch es ist falscher Alarm.

»Eltern, wir nehmen euch nicht mit«, schreit der jugendliche Kombi-Schaffner grinsend. »Wir sind voll. Habt ihr verstanden? Voll.«

Der Fahrer grinst. Krähen flattern im Zickzack aus den Flamboyant-Bäumen an der Straße und fliehen krächzend vor der Rußwolke, die der Bauch des Kombis ausrülpst.

Bald darauf schlurfen alle wieder nach vorn. Blech und Gummi kreischen, als der Fahrer eines anderen Minibusses auf die Bremse tritt. Räder stoßen gegen den Bordstein. Junge Männer kämpfen sich mit den Ellbogen nach vorn und springen auf. Du duckst dich unter Armen durch und zwängst dich an Körpern vorbei.

»Eltern, einsteigen. Einsteigen, einsteigen, Eltern!«, ruft der neue Schaffner.

Er schirmt mit seinem Körper ein halbes Dutzend Schulkinder ab, die im Fußraum über dem Motor sitzen. Du drängst dich an ihm vorbei, dein Bein streift seine Genitalien, du schämst dich für die Berührung. Er grinst.

»Au, mai! Meine Mutter!«, kreischt ein kleines Mädchen.

Du bist ihr auf die Zehen gestiegen mit deinen zweifarbigen Lady-Di-Pumps, richtige europäische Lederschuhe, ein Geschenk, das du vor ein paar Jahren von deiner Cousine bekommen hast, die im Ausland studiert hat.

Tränen sickern aus den Augen des Kindes. Als sich das Mädchen vorbeugt, um ihren Zeh zu massieren, stößt sie mit dem Kopf gegen den Hintern des Schaffners.

»Ha, ihr Leute, vana hwindi«, sagt deine Mitbewohnerin Gertrude affektiert. Sie steht mit einem Fuß auf dem Trittbrett des Kombis. Ihre Stimme ist weich und zuversichtlich.

»Das sind doch kleine Kinder. Warst du nie ein Kind? Wir nennen sie Sprösslinge, aber unsere Kinder sind nicht wie die von Bäumen«, sagt sie in dem gleichen matten Tonfall.

»Wenn du dich um Kinder kümmern willst, dann von mir aus, aber nicht hier. Willst du, dass wir zu spät kommen?«, ruft ein Mann hinten im Bus.

»Hat sie was zu jemandem von euch gesagt?«, fragt Isabel, die nach dir eingestiegen ist.

Beleidigte Fahrgäste murren über deine Begleiterinnen.

»Mädchen, die nicht wissen, wovon sie reden.«

»Junge Leute, die keine Ahnung von nichts haben. Sie wissen nicht, dass Gott ihnen einen Kopf zum Denken und Mundhalten gegeben hat.«

Froh, dich auf einen Sitz gezwängt zu haben, sagst du erst einmal nichts.

»Vielleicht bitten unsere jungen Frauen um etwas«, sagt der Mann hinten. »Bitten, dass man ihnen etwas beibringt. Und wenn sie nicht aufpassen, wird es ihnen jemand beibringen, und sie werden es lernen müssen.«

»Diese Kinder sollten ihre Füße einziehen«, sagst du kurz darauf. Denn du gehörst zu dieser Masse, die im Kombi ist.

Isabel sagt nichts mehr und findet einen Sitz. Gertrude hört auch auf, sich für die Kinder einzusetzen, und zieht sich hoch. Sie tätschelt den Kopf des kleinen Mädchens, als sie sich auf den letzten freien Platz gegenüber dem Schaffner setzt.

»Sie ist die Beste«, sagt der Schuljunge, der neben dem Mädchen sitzt, zu Gertrude. »Sie wird beim Sportfest laufen. Wenn ihr nichts wehtut, gewinnen wir immer.«

Er senkt enttäuscht den Kopf.

Alles ist unbequem. Es sind zu viele Personen im Kombi, zu eng gedrängt. Der Motor kocht unter den Hintern der Kinder. Der Geruch nach heißem Öl schwebt in der Luft. Schweiß rinnt aus deinen Achselhöhlen.

Kurz darauf sammelt der Schaffner Geld ein und ruft die Haltestellen aus: »Tongogara Avenue. Luftwaffe. Die Roboter.«

»Wechselgeld«, fleht eine Frau in der Churchill Avenue. »Ich habe dir einen Dollar gegeben.« Sie hat eine Brust wie eine Matratze, ist die Sorte Frau, die anzumachen sich nicht einmal Männer trauen.

»Fünfzig Cents«, bittet die Frau und schaut den jungen Schaffner an. Sie gehört zu denen, die über die Scherze des jungen Manns gelacht haben.

Der Junge blickt sie finster an. »Woher soll ich Wechselgeld nehmen, Mutter?«

»Ist denn niemand mit fünfzig Cent im Wagen?«, sagt die Frau, als sie aussteigt. »Ich kann meine fünfzig Cent nicht dalassen.« Doch der Schaffner hat gegen das Dach geschlagen, und der Kombi fährt an. Die Frau verschwindet in einer Explosion von schwarzen Abgasen.

»Ah-ah! Hat sie nicht gehört, dass es kein Wechselgeld gibt?«, sagt der Mann hinten. Sein Mund ist ein amüsierter Sichelmond.

Deine Mitbewohnerinnen steigen bei den Borrowdale-Geschäften aus.

Du fährst weiter bis Borrowdale-Polizei und gehst zwischen der BP- und der Total-Tankstelle durch. Neben der Straße ziehst du deine Lady Dis aus. Du holst deine schwarzen Bata-Turnschuhe heraus und steckst die Pumps in die Tasche.

Dir graut davor, dass dich die Leute in diesem feinen Viertel in Stoffschuhen sehen, vor allem weil du ein viel besseres Paar Schuhe in der Tasche trägst. Deswegen bist du erleichtert, als du vor 9 Walsh Road ankommst, wo die Witwe Riley wohnt, ohne Bekannten zu begegnen. Du setzt dich auf das Abflussrohr neben dem Zaun, um deine Füße wieder in die Pumps zu zwängen.

Zuerst siehst du nur Lippen und bist zu Tode erschrocken. Die geschwollenen Füße in die Lady Dis gequetscht, springst du auf. Die Lippen sind entlang gelber Zähne zu einem Knurren arrangiert. Sie gehören einem kleinen struppigen Terrier.

»Wau! Wau!«, kläfft der Hund, außer sich aufgrund deiner Anwesenheit.

»Wer bist du?« Eine hohe Stimme zittert sich durch die Morgenluft. »Ndiwe ani?«, wiederholt die Frau. Sie benutzt den Singular, die vertrauliche Form, um dich anzusprechen. Da eine Person, die etwas wert ist, mit der Höflichkeitsform angesprochen wird, ist sich die Frau mit dem Hund einig, was deinen Wert betrifft.

»Denk bloß nicht daran, dich zu rühren oder näher zu kommen«, warnt sie. »Wenn er dich zu fassen kriegt, wird er dich fressen, wirklich. Bleib dort!«

Ihre Worte treiben den Schwanz des Hundes in die Höhe. Er galoppiert neben dem Zaun hin und her. Seine Schnauze ist mit Schaum gesprenkelt. Seine Zunge hängt heraus, und zwischendurch rast er davon und umkreist die Sprecherin, die sich vom Haus nähert.

Gut im Fleisch, eiförmig, tritt die Frau hinter einer Kaktusfeige hervor. Sie watschelt den mit Ziegelsteinen ausgelegten Pfad entlang.

»Bleib, wo du bist, wie ich gesagt habe«, sagt sie.

Sie öffnet die Bänder ihrer baumwollenen Dienstmädchenschürze und zurrt sie fest, als sie sich dir nähert. Der Terrier fixiert sie mit dem einen Auge, dich mit dem anderen, und begnügt sich mit einem gutturalen Knurren.

»Was willst du?«, fragt die Frau und sieht dich durch den Zaun an.

»Frag die Gärtnerjungen in den Straßen hier«, fährt sie fort, ohne dir eine Antwort zu erlauben. »Wenn du sie fragst, wirst du merken, dass ich es nicht schlecht mit dir meine. Ich warne dich zu deinem eigenen Besten. Wenn du die Gärtnerjungen fragst, wirst du herausfinden, wie vielen dieses kleine Tier ein Stück herausgerissen hat.«

Sie mustert dich weiterhin. Du schaust sie nicht an. Ihr Auftreten ist so imposant, dass du wieder zu dem Mädchen vom Land geworden bist, das vor einem Mambo oder Dorfvorsteher steht.

Die Frau ist dank deines Schweigens besänftigt.

»Sogar mich hat er gebissen, nga, einfach so, als wollte er mich fressen«, sagt sie freundlicher.

»Also, was willst du? Madam Mbuya Riley, sie hat gesagt, dass jemand kommt. Hat dich Großmutter Rileys Tochter geschickt?«

Du nickst, deine Stimmung hebt sich.

»Die Witwe versteht sich nicht mit ihrer Tochter«, sagt die Frau. »Die Madam Tochter Edie lügt die ganze Zeit. Wir kommen zurecht, Madam Mbuya Riley und ich. Ich bin es, die hier arbeitet, und wir brauchen niemand.«

Du nimmst die kleine Anzeige aus der Tasche, die Mrs. May dir gegeben hat.

»Ich bin für ein Vorstellungsgespräch gekommen«, erklärst du. »Ich habe eine Empfehlung.«

»Aber es gibt hier keine Arbeit«, sagt die Frau. Ein Funke Misstrauen blitzt in ihren Augen auf. »Es findet kein Vorstellungsgespräch statt. Versuch es am Ende der Straße. Sie suchen jemand für den Gemüseanbau. Kartoffeln, vielleicht Süßkartoffeln. Und auf der anderen Straßenseite hat jemand eine Hühnerfarm.«

Jetzt bist du an der Reihe, dich aufzuregen. »Für so eine Arbeit bin ich nicht gekommen. Ich habe einen Termin«, sagst du langsam.

»Wozu ein Vorstellungsgespräch?« Die Frau grinst. »Da geht es um Arbeit, oder? Mit Lügen kommst du hier nicht rein.«

Der Hund knurrt.

»Wenn du nur weitergehen würdest«, sagt die Frau. »Der Hund ist verrückt. Jeder Hund, den Madam Mbuya Riley seit dem Krieg gehabt hat, war so. Und Mbuya Riley im Haus ist genauso wie der Hund, wenn nicht verrückter. Also, geh weiter!«

Die Schlangen, von denen dir deine Großmutter erzählt hat, als du klein warst und sie die Dinge gefragt hast, die du deine Mutter nicht fragen konntest, die Schlangen, die deinen Bauch festhalten, öffnen bei der Erwähnung des Kriegs ihre Kiefer. Der Inhalt deines Bauchs gleitet nach unten, als hätten die Schlangen alles losgelassen, als sie die Kiefer öffneten. Dein Bauch löst sich in Wasser auf. Du stehst da und hast keine Kraft mehr.

Ein Loch öffnet sich im Netz der Efeuranken, die das Haus am Ende des Wegs strangulieren. Die Frau, die mit dir spricht, macht einen Schritt nach vorn. Sie packt das Zaungeländer. Angst strömt aus ihr, so stark wie der Geist eines Vorfahren.

Witwe Riley, die Frau, die du treffen sollst, nähert sich. Ihr Rücken ist bucklig. Knochen und Haut sind morsch, spröde und durchscheinend wie Muscheln. Sie wankt über den unebenen Ziegelweg.

Der Hund kläfft und rennt zu seinem Frauchen.

»Also was soll ich der Madam sagen?«, flüstert die Frau vor dir. Sie spricht jetzt vertraulich wie zu einer Freundin.

»Schau! Jetzt glaubt sie, dass du eine Verwandte bist. Von mir. Das dürfen wir nicht, überhaupt nicht, nicht einmal, wenn wir freihaben. Und jetzt ist der schlechteste Zeitpunkt, weil ich erst am Wochenende freihabe.«

»Ein Gespräch. Für eine Unterkunft«, flüsterst du. »Wo ich wohnen kann.« Du bist so verzweifelt, dass deine Stimme hoch in deine Kehle steigt.

»Sie wird weinen«, zischt die Haushaltshilfe von Mbuya Riley. »Sie wird behaupten, dass ich meine Verwandten anschleppe, damit sie sie umbringen. Wenn ihre Tochter kommt, reden sie so. So ist es seit dem Krieg. Das ist das Einzige, wo sie sich einig sind.«

»Es gibt ein Häuschen«, sagst du. »Die Heimleiterin hat gesagt, dass sie was vereinbart hat. Es ist nicht teuer.«

»Hörst du nicht, was ich sage?«, fährt Mbuya Rileys Dienstmädchen fort. »Es ist unmöglich, wenn sie weint. Ich muss sie füttern, oder sie macht den Mund zu und isst nichts. Wie ein Baby! Geh jetzt.«

Der Hund kläfft am Ende des Wegs. Die gebrechliche alte Frau sinkt zu Boden. Ihr Kopf mit seinem Heiligenschein aus weichem weißem Haar liegt auf dem Pflaster wie eine riesige Pusteblume. Sie streckt dir und der Frau in Uniform den Arm entgegen.

»Da!«, beschwert sich das Dienstmädchen. »Jetzt muss ich mich vorbeugen und sie tragen, obwohl mein eigener Rücken am Brechen ist.«

Sie hastet den Weg entlang, wirft dir über die Schulter Vorwürfe zu.

»Geh weg von der Nummer 9. Denn wenn du nicht gehst, mache ich das Tor auf, und wenn du diesen hier abschütteln kannst, wird es auch nichts nützen, weil ich dann den Großen rauslasse.«

Die Frau beugt sich zu ihrer Herrin hinunter. Der kleine Terrier wimmert, leckt den Arm der Witwe.

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