Читать книгу Schulsozialarbeit in der Schweiz (E-Book) - Ueli Hostettler - Страница 5
1.2 Stand der Forschung
ОглавлениеMit dem Ausbau von schulsozialarbeiterischen Angeboten seit den 1970er-Jahren hat sich eine intensive Forschungstätigkeit im Bereich der Schulsozialarbeit etabliert (Baier, 2011a; Speck, Olk, 2010a). Die bisherige Forschung konzentrierte sich vor allem auf Fragen der Implementation und Evaluation und ist mehrheitlich anwendungsorientiert und primär politisch initiierten Projekten zuzuordnen (Olk, 2005). Die Studien zielen auf die Messung der von der Schulsozialarbeit erbrachten Leistungen (Baier, Heeg, 2011), die Zufriedenheit der beteiligten Akteurinnen und Akteuren sowie auf subjektive Wirkungseinschätzungen; sie beziehen sich oft auf konkrete Projekte an einzelnen Schulen (Fabian, Drilling, Müller, Galliker Schrott, Egger-Suetsugu, 2008; Neuenschwander, Iseli, Stohler, Fuchs, 2007; Pfiffner, Lienhard, Neuenschwander, 2011; Stohler, Neuenschwander, 2009; Stohler, Neuenschwander, Huwiler, Fuchs, 2008).
Ein Grossteil der theoretisch ausgerichteten Arbeiten befasst sich mit verschiedenen Profilen, Positionierungen und Zuständigkeitsbereichen der Schulsozialarbeit (aktuell z.B. Ahmed, Baier, Fischer, 2018; Chiapparini, Stohler, Bussmann, 2018). Es werden unter anderem arbeitsweltbezogene (Rademacker, 2002), integrierte (Hartnuß, Maykus, 2004), sozialraumorientierte (Deinet, 2011), lebensweltorientierte (Ahmed, 2011), integrationsorientierte (Drilling, Fabian, 2010) sowie ganzheitlich bildungsorientierte Ansätze (Baier, 2011c) entwickelt und vertreten. Gemeinsam ist diesen Programmatiken, dass sie kaum auf empirischen Beobachtungen realer Praxisformen beruhen.
Ein weiterer Strang der Auseinandersetzung mit der Schulsozialarbeit lässt sich der Nutzerinnen- und Nutzerforschung zuordnen (Oelerich, 2010); diese Studien konzentrieren sich auf die Frage, wie das Angebot der Schulsozialarbeit von den unmittelbaren Nutzerinnen und Nutzern wahrgenommen, angeeignet und beurteilt wird. Dabei wird betont, dass sich die Leistungspräferenzen und Nutzungsstrukturen der Adressatinnen und Adressaten vor dem Hintergrund individueller Lebenslagen herausbilden und unterscheiden (Graßhoff, 2013; Schaarschuch, Oelerich, 2005). Bei diesen eher individualistisch orientierten Ansätzen finden sozialstrukturelle Fragestellungen kaum Platz.
Im letzten Jahrzehnt haben sich einige Studien mit Kooperationen zwischen Schulen und Institutionen der Jugendhilfe befasst (Bauer, 2005; Becker, 2001; Behr-Heintze, Lipski, 2005; Blandow, 2001; Coelen, 2008; Hartnuß, Maykus, 2004; Hollenstein, 2000; Kugler, 2012; Maykus, 2011; Olk, 2005; Stickelmann, Will, 2004; Vogel, 2006). Dabei fokussieren die theoretischen Arbeiten auf das grundsätzliche Verhältnis von Jugendhilfe und Schule, deren (getrennte) historische Entwicklung (Greese, 2004; Olk, Bathke, Hartnuß, 2000; Thole, 2012) und aktuelle Einbettung in kommunale oder regionale Bildungslandschaften (Spies, 2013). Auf der empirischen Ebene im Rahmen von Evaluationen einzelner Schulen oder Projekte werden zudem Formen der Kooperation zwischen Schule und verschiedenen Institutionen der Jugendhilfe analysiert. Darüber hinaus hat unseres Wissens nur eine mittlerweile ältere deutsche Studie von Raab, Rademacker und Winzen (1987) die Kooperationen zwischen den Akteuren verschiedener Institutionen empirisch untersucht.
Ausführlichere Forschungsergebnisse, Modelle und Entwicklungshinweise gibt es zur Kooperation zwischen Lehrpersonen und Schulsozialarbeitenden (Ahmed et al., 2018; Krause, 2002; Prüß, Bettmer, Hartnuß, Maykus, 2001). Sie verweisen auf Verständnis- und Informationsdefizite, welche die Kooperation auf beiden Seiten erschweren (Olk et al., 2000, S. 133ff.). Speck (2009, S. 100 ff.) nennt als Gründe für die Kooperationsprobleme zwischen Lehrpersonen und Schulsozialarbeitenden die historisch getrennte Entwicklung des Bildungswesens und der Jugendhilfe, unterschiedliche Organisationsstrukturen, Zielgruppen- und Aufgabenüberschneidungen, berufskulturelle Unterschiede, die ungleiche Ausstattung mit Macht, Informationsdefizite und verzerrte Interpretationen. Fragen der Zusammenarbeit der Schulleitung mit der Schulsozialarbeit werden dagegen seltener untersucht. Hinsichtlich der Zusammenarbeit von Schulsozialarbeit und Lehrpersonen wurden in der Fachliteratur unterschiedliche Kooperationsmodelle identifiziert, etwa das Distanz-, das Subordinations- und das Kooperationsmodell (Drilling, 2004; Elsner, 2001; Iseli, Grossenbacher, 2013; Neuenschwander et al., 2007; Seithe, 1998; Wulfers, 1996; siehe auch Abschnitt 1.3). Nur in Letzterem verstehen sich laut diesen Untersuchungen Lehrpersonen und Schulsozialarbeitende als gleichberechtigte Partnerinnen und Partner, die auf verschiedenen Ebenen kooperieren. Dagegen, so der Tenor der Einschätzungen, gelingt es der Schulsozialarbeit im Subordinationsmodell aufgrund ihrer hierarchischen Unterordnung nicht, ein eigenständiges Profil zu entwickeln und die Methoden der Sozialen Arbeit auf das System Schule zu adaptieren (Drilling, 2004). Im Distanzmodell operieren die beiden Akteure weitgehend unabhängig voneinander.
Ein weiterer Teil der Forschung zur Schulsozialarbeit beschäftigt sich mit ihren Themenfeldern und den durch sie bearbeiteten Problematiken (z.B. zur Rolle der Beratung Baier, 2018). Gemäss Vögeli-Mantovani und Grossenbacher sind es zu Beginn der Expansion der Schulsozialarbeit oft «Schulen mit besonderen sozialen Belastungen», die Schulsozialarbeit einführen. Die Probleme können entweder innerschulisch bedingt sein (z.B. Absentismus) oder vom Schulumfeld (z.B. «ungünstige soziale und kulturelle Zusammensetzung der Bevölkerung in einem Quartier») ausgehen (2005, S. 42f.). Die am häufigsten in der Literatur genannten Themen sind Gewalt, Mobbing, Schulverweigerung oder -absentismus, überforderte Schulleitungen und Lehrpersonen (Baier, 2008; Drilling, 2009; Drilling, Müller, Fabian, 2006) sowie Verhaltensauffälligkeiten und psychosoziale Probleme bei Schülerinnen und Schülern (Baier, 2008; Neuenschwander et al., 2007).
Über die eigentlichen Nutzerinnen und Nutzer der Schulsozialarbeit ist sehr wenig bekannt. Manchmal werden Geschlecht und Migrationshintergrund erfasst: Drilling zeigt, dass sich die Beratungsinhalte/Problematiken nach Geschlecht unterscheiden. Mädchen werden öfter in Bezug auf ihre Gesundheit oder auf Gewalterfahrungen beraten, Jungen eher aufgrund ihres Verhaltens in der Schule (Drilling, 2009). Baier und Heeg stellen zudem fest, dass Mädchen die Schulsozialarbeit häufiger freiwillig aufsuchen, während Jungen eher von Lehrpersonen zur Schulsozialarbeit geschickt werden (Baier, Heeg, 2011, S. 28; Fabian, Müller, 2007). In Bezug auf die soziale Herkunft konnten Baier und Heeg (2011) keine spezifischen Unterschiede feststellen. Gemäss Fabian et al. (2008) sind ausländische Schülerinnen und Schüler hingegen übervertreten. Zum selben Ergebnis kommen auch Stohler et al. (2008).
Diese knappe Übersicht und Einschätzung des Forschungsstands der noch relativ jungen und wenig auf Grundlagenforschung ausgerichteten Forschungstradition zur Schulsozialarbeit lässt verschiedene Einschränkungen erkennen und verweist auf Forschungslücken für eine stärker vergleichende, grundlagenorientierte quantitative Forschung in mindestens vier Bereichen:
(1) Es existiert ein Verallgemeinerungsdefizit von schul- oder projektbezogenen, teilweise regionalen Implementations- und Evaluationsstudien. Da komparative, projektübergreifende Abbildungen realer Praxisformen weitgehend fehlen, bleiben die zahlreichen Einzelbefunde zu den Leistungen, Kooperationsformen, Nutzungen und zum Grad der Zielerreichung fragmentiert und kaum auf eine übergeordnete Fragestellung hin verwertbar. Zwar gibt es mittlerweile erste kantonale Bestandsaufnahmen (Drilling et al., 2006; Fabian, 2012; Neuenschwander et al., 2007; Pfiffner, Hofer, Iseli, 2013). Für die gesamte Schweiz liegt unseres Wissens nur eine einzige Bestandsaufnahme vor (Gschwind, 2014).
(2) Die mehrheitlich deskriptiv ausgerichtete und weniger hypothesenprüfende Evaluationsforschung weist auf ein Explikationsdefizit hin. So vermögen die vorwiegend pragmatisch ausgerichteten Untersuchungsdesigns keine theoretisch bedeutenden Wirkungszusammenhänge zu erklären. Insbesondere bleibt der Einfluss der Kontextbedingungen auf verschiedene Untersuchungsdimensionen (Angebot, Kooperation, Nutzung und Zielerreichung) weitgehend im Dunkeln, und das Interesse an den organisatorischen Rahmenbedingungen der Schulsozialarbeit (z.B. Fragen der Trägeranbindung, Organisation und Aufsicht) entwickelt sich in der Anfangsphase erst allmählich (Hollenstein, 2000).
(3) Nach Drilling und Fabian (2010) ist die Evaluationsforschung in der Schweiz primär auf die Wirkungen der psychosozialen Beratung auf die Zielgruppe ausgerichtet, was hauptsächlich Ergebnisse auf Einzelfallebene produziert. Grössere Einheiten wie Klassen oder die Organisationen (z.B. Schulen, Gemeinden) kommen dabei kaum in den Blick. In der Schweiz hat sich zudem bisher keine Studie mit dem Einfluss der Kooperationsformen auf Leistungserbringung und Nutzungsstrukturen beschäftigt.
(4) Die bestehende Forschung zu den Nutzerinnen und Nutzern der Schulsozialarbeit fokussiert entweder auf die subjektive Zufriedenheit verschiedener Zielgruppen mit dem Leistungsangebot der Schulsozialarbeit oder – in konzeptionell anspruchsvolleren qualitativen Forschungsarbeiten – auf die Rekonstruktion des individuellen Nutzens und die Analyse von Aneignungs- und Interaktionsprozessen in der Schulsozialarbeit (Oelerich, 2010; Schaarschuch, Oelerich, 2005). Weniger Wissen besteht dagegen zu den daraus resultierenden Nutzungsformen und -strukturen in den verschiedenen Angeboten und Schulen. Kaum systematisch erfasst werden beispielsweise die Lebensbedingungen, Problemlagen und Bedarfe der Kinder und Jugendlichen, die die Schulsozialarbeit nutzen. Damit bleibt auch weitgehend ungeklärt, welchen Einfluss die unterschiedlichen Lebenssituationen auf die Leistungspräferenzen und Nutzungsformen der Schülerinnen und Schüler haben. Zudem besteht vor dem Hintergrund dieser Forschungslücke Unsicherheit darüber, welche Kinder und Jugendlichen von der Schulsozialarbeit tatsächlich erreicht werden und wo allfällige Barrieren der Nutzung und des Nutzens bestehen. Schliesslich wird in der Praxis immer wieder auf die grosse Bedeutung des Vertrauens von Schülerinnen und Schülern in die Schulsozialarbeit hingewiesen. Trotzdem gibt es bisher nur wenige systematische Versuche zur Erfassung des Vertrauens und von dessen Voraussetzungen und Folgen für die Nutzung und den Nutzen von Schulsozialarbeit.