Читать книгу Armadale - Уилки Коллинз, Elizabeth Cleghorn - Страница 11

Erster Band
Elftes Kapitel

Оглавление

Den letzten Worten der Erzählung Midwinter’s die wir im vorigen Kapitel berichtet haben, folgte ein kurzes Schweigen. Dann verließ Midwinter den Fenstersitz und kam mit dem Briefe aus Wildbad in der Hand an den Tisch zurück.

»Das Bekenntniß meines Vaters hat Ihnen gesagt, wer ich bin, und das meinige, welch ein Leben ich geführt habe«, sagte er zu Mr. Brock, ohne den Sitz anzunehmen, den der Pfarrer ihm mit der Hand andeutete. »Als ich um Erlaubniß bat, in dies Zimmer kommen zu dürfen, versprach ich, mir durch ein offenes Geständniß die Brust zu erleichtern. Habe ich Wort gehalten?«

»Es unterliegt dies keinem Zweifel«, erwiderte Mr. Brock »Sie haben Ihr Anrecht an mein Zutrauen und meine Theilnahme dargethan, und ich würde in der That ein gefühlloser Mensch sein, wenn ich, nachdem ich die Geschichte Ihrer Jugend gehört, für Allan’s Freund nicht etwas von Allan’s Freundschaft fühlte.«

»Ich danke Ihnen, Sir«, sagte Midwinter einfach und ernst. Dann setzte er sich zum ersten Male Mr. Brock gegenüber an den Tisch.

»In wenigen Stunden werden Sie diesen Ort verlassen haben«, fuhr er fort. »Falls ich dazu beitragen kann, daß Sie denselben mit beruhigtem Gemüthe verlassen, so will ich dies thun. Wir haben noch mehr mit einander zu sprechen; meine zukünftigen Beziehungen zu Mr. Armadale sind noch nicht festgestellt worden, und die ernste Frage, die in dem Briefe meines Vaters: aufgeworfen wird, ist noch nicht von uns in Erwägung gezogen worden.«

Er schwieg und blickte mit einer momentanen Ungeduld auf die im Morgengrauen noch immer auf dem Tische brennende Kerze. Der Kampf, mit vollkommener Fassung zu sprechen und seine eigenen Gefühle in stoischem Gleichmuth außer Betracht zu lassen, wurde ihm offenbar innner schwerer und schwerer.

»Sie werden vielleicht schneller zu einer Entscheidung kommen«, fuhr er fort, »wenn ich Ihnen erzähle, in welcher Weise ich, nachdem ich diesen Brief gelesen und mich hinreichend gesammelt hatte, um überhaupt wieder denken zu können, in Bezug auf die Namensgemeinschaft zwischen mir und Mr. Armadale gegen Letzteren zu handeln beschloß.« Er hielt inne und warf abermals einen ungeduldigen Blick auf die Kerze. »Wollen Sie die seltsame Grille eines seltsamen Menschen entschuldigen?« frug er mit einem matten Lächeln. »Ich möchte das Licht auslöschen – ich möchte von dem neuen Gegenstande bei neuem Lichte redete.«

Bei diesen Worten löschte er die Kerze aus und ließ das erste zarte Morgenlicht ins Zimmer strömen.

»Ich muß Sie nochmals um Ihre Geduld bitten«, fuhr er fort, »indem ich wieder auf einen Augenblick zu mir selbst und meinen Verhältnissen zurückkehre. Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß mein Stiefvater, einige Jahre nachdem ich die Schule in Schottland verlassen, Versuche machte, mich wiederzufinden. Er that diesen Schritt nicht etwa aus persönlicher Besorgniß oder Theilnahme für mich, sondern ganz einfach als Agent der Administratoren des Vermögens meines Vaters. Diese hatten, zur Zeit der Emancipation der Sklaven und des Ruins aller westindischen Besitzungen nach ihrem besten Dafürhalten die Güter auf der Insel Barbadoes um den Preis verkauft, den sie eben für dieselben erhalten konnten. Nachdem sie den Erlös angelegt, waren sie verpflichtet, eine jährliche Summe für meine Erziehung auszusetzen, und diese Verantwortlichkeit nöthigte sie zu dem Versuche, meine Spur zu entdecken – der, wie Sie bereits wissen, ein fruchtloser war. Ein wenig später wurde ich, wie ich seitdem erfahren habe, durch eine Zeitungsannonce die mir niemals zu Gesicht gekommen ist, aufgerufen, und noch später, als ich einundzwanzig Jahre alt war, erschien eine zweite Annonce in der Zeitung, welche ich selbst gelesen habe und die eine Belohnung für den Nachweis meines Todes bot. Falls ich am Leben war, hatte ich, sobald ich mündig geworden, Ansprüche an die Hälfte des Erlöses aus den verkauften Gütern; war ich aber todt, so fiel das Ganze meiner Mutter zu. Ich ging zu den Advokaten und erfuhr von diesen, was ich Ihnen soeben mitgetheilt habe. Nach einigen Schwierigkeiten, meine Identität zu beweisen, und nach einer Zusammenkunft mit meinem Stiefvater und einem Gruße von meiner Mutter, der uns hoffnungsloser denn je von einander getrennt hat – wurden meine Rechte anerkannt, und das Geld ist jetzt für mich unter dem Namen, der wirklich der meinige ist, in Staatspapieren angelegt.«

Mr. Brock rückte begierig näher an den Tisch. Er sah, daß der Sprechende sich jetzt dem Ende näherte.

»Zweimal des Jahres «, fuhr Midwinter fort, »bin ich genöthigt, meinen eignen Namen zu unterzeichnen, um mein Einkommen zu erhalten. Zu allen andern Zeiten und unter allen andern Umständen darf ich unter jedem mir beliebigen Namen meine Identität verbergen. Mr. Armadale machte meine Bekanntschaft als Ozias Midwinter und als Ozias Midwinter soll er mich bis zum letzten Tage meines Lebens kennen. Welcher Art der Erfolg dieser Unterredung immer sei – ob ich Ihr Vertrauen gewinne oder verliere – so dürfen Sie sich wenigstens einer Sache versichert halten: Ihr Zögling soll nie das gräßliche Geheimniß erfahren, welches ich Ihnen anvertraut habe. Dies ist kein außerordentlicher Entschluß, denn es kostet mich, wie Sie bereits wissen, keine besondere Ueberwindung, meinen angenommenen Namen beizubehalten. Andrerseits liegt in diesem Verfahren durchaus nichts Ruhm würdiges; dasselbe ist die ganz natürliche Folge der Dankbarkeit eines erkenntlichen Mannes. Ueberlegen Sie sich die Verhältnisse, Sir, und lassen Sie mein persönliches Grauen vor einer Offenbarung derselben gegen Mr. Armadale außer Frage. Falls die Geschichte der Namen je erzählt wird, so kann dieselbe nicht auf die Enthüllung des Verbrechens meines Vaters beschränkt bleiben; es würde die Mittheilung der Geschichte von Mrs. Armadales Heirath bedingen. Ich habe ihren Sohn von ihr reden hören; ich weiß, wie sehr er ihr Andenken liebt. So wahr Gott mein Zeuge ist, dasselbe soll ihm durch mich nie minder theuer gemacht werden!«

Ungeachtet der Einfachheit, mit der diese Worte gesprochen wurden, berührten dieselben doch die zartesten Saiten in der Natur des Pfarrers; sie führten seine Gedanken an Mrs. Armadale’s Sterbelager zurück. Dort saß der Mann, vor dem sie ihn im Interesse ihres Sohnes gewarnt hatte, ohne ihn zu kennen – und dieser Mann hatte aus freien Stücken die Verpflichtung auf sich genommen, um ihres Sohnes willen ihr Geheimniß zu achten! Die Erinnerung an seine eigenen früheren Bemühungen der Freundschaft ein Ende zu machen, aus der dieser Entschluß entsprang, erhob sich vor seinem Geiste und machte Mr. Brock bittere Vorwürfe. Er reichte Midwinter zum ersten Male die Hand. »Ich danke Ihnen«, sagte er mit Wärme, »in ihrem Namen und im Namen ihres Sohnes.«

Midwinter legte, ohne etwas zu erwidern, das Bekenntniß offen auf den Tisch.

»Ich glaube alles gesagt zu haben, was zu sagen meine Pflicht war, ehe ich zu den Betrachtungen in Bezug auf diesen Brief überging«, fuhr er fort. »Was Ihnen in meinem Benehmen gegen Sie und Mr. Armadale seltsam erschienen ist, wird sich jetzt leicht von selbst erklären. Sie werden leicht begreifen, daß ich mich der Enthüllung unserer Namensgleichheit nur deshalb enthielt, weil ich meiner Stellung nicht schaden mochte – wenigstens in Ihrer Meinung, wenn auch nicht in der seinigen – indem ich bekannte, daß ich mich unter einem angenommenen Namen bei Ihnen eingeführt. Und nach allem, was Sie soeben über mein Vagabondenleben und meinen niedrigen Umgang erfahren haben, werden Sie sich kaum über das hartnäckige Schweigen verwundern, das ich zu einer Zeit über mich selber bewahrte, wo ich noch nicht die Verantwortlichkeit fühlte, die meines Vaters Bekenntniß mir auferlegt hat. Wir können, falls Sie es wünschen, ein andermal zu diesen unbedeutenden persönlichen Angelegenheiten zurückkehren; dieselben dürfen uns nicht von den wichtigeren Dingen abhalten, über die wir entscheiden müssen, ehe Sie diesen Ort verlassen. Wir müssen jetzt —« seine Stimme bebte, und er wandte plötzlich das Gesicht dem Fenster zu, so daß der Pfarrer dasselbe nicht sehen konnte. »Wir müssen jetzt«, wiederholte er, und seine Hand, die den Brief hielt, zitterte sichtlich, »zu dem Morde an Bord des Holzschiffes und der Warnung kommen, die mir aus dem Grabe meines Vaters gefolgt ist.«

Leise, wie wenn er fürchtete, daß dieselben bis zu Allan dringen könnten, der im anstoßenden Zimmer schlief – las er die letzten fürchterlichen Worte, welche die Feder des Schotten zu Wildbad niedergeschrieben hatte, wie dieselben von den Lippen seines Vaters gekommen waren.

«Meide die Wittwe des Mannes, den ich getödtet habe, falls sie noch am Leben ist. Meide das Mädchen, dessen gottlose Hand den Pfad zu ihrer Heirath ebnete, falls dieses Mädchen noch in ihrem Dienste ist. Und vor allem meide den Mann, dessen Name auch der Deinige ist. Beleidige Deinen besten Wohlthäter, falls der Einfluß dieses Wohlthäters Euch mit einander in Berührung gebracht hat. Verlasse das Weib, das Dich liebt, falls dieses Weib ein Verbindungsglied zwischen ihm und Dir ist. Verbirg Dich vor ihm unter einem falschen Namen. Mögen Gebirge und Meere Dich von ihm trennen. Sei undankbar, sei unversöhnlich; sei, ehe Du mit jenem Manne unter demselben Dache wohnst oder dieselbe Luft athmest, lieber alles, was Deiner besseren Natur am meisten zuwider ist. Laß die beiden Allan Armadale einander nie in dieser Welt begegnen; nie, nie, nie!«

Nachdem er diese Zeilen gelesen, schob er, ohne aufzublicken, das Manuskript von sich. Die unglückselige Zurückhaltung, die er vor wenigen Minuten so glücklich zu überwinden angefangen, bemächtigte sich seiner wieder. Seine Augen wurden abermals unstät und seine Stimme sank. Ein Fremder, der seine Geschichte gehört und ihn jetzt gesehen hätte, würde gesagt haben, sein Blick sei falsch, sein Wesen schlecht; er sei Zoll für Zoll der echte Sohn seines Vaters.

»Ich wünsche eine Frage an Sie zu richten«, sagte Mr. Brock, seinerseits das Schweigen brechend. »Warum haben Sie soeben jene Stelle in dem Briefe Ihres Vaters gelesen?«

»Um mich zu zwingen, die Wahrheit zu reden«, war die Antwort. »Ehe Sie mir gestatten, Mr. Armadale’s Freund zu sein, müssen Sie wissen, wie viel mir von meinem Vater anhaftet. Ich erhielt meinen Brief gestern früh, und von einer geheimen Ahnung ergriffen, ging ich allein nach dem Meeresstrand hinunter, ehe ich das Siegel erbrach. Glauben Sie, daß die Todten in die Welt zurückkehren können, in der sie einst gelebt haben? Ich glaube, daß mein Vater in diesem hellen Morgenlichte, beim Glanze jenes funkelnden Sonnenscheins und dem Gebrüll der freudig rauschenden Meereswogen zu mir kam und mich beobachtete, während ich las. Als ich zu den Worten kam, die ich Ihnen soeben vorlas, und als ich wußte, daß das Ende, welches er in seiner Sterbestunde befürchtet hatte, wirklich gekommen war – da fühlte ich, wie mich dasselbe Grausen beschlich, das auch ihn in seinen letzten Augenblicken ergriffen hatte. Ich kämpfte gegen mich selber, wie er es von mir verlangte, und versuchte alles zu sein, was meiner besseren Natur am meisten zuwider war; ich versuchte, ohne dem Mitleid Raum zu geben, darüber nachzudenken, auf welchem Wege ich es dahin bringen könnte, daß Meere und Berge mich von dem Manne trennten, der meinen Namen führt. Es vergingen viele Stunden, ehe ich es über mich vermochte, zurückzukehren und mich der Gefahr eines Begegnens mit Allan Armadale in diesem Hause auszusetzen. Als ich endlich zurückkam und er mir auf der Treppe begegnete, war mirs, als blickte ich ihm ins Gesicht, wie mein Vater dem seinigen ins Gesicht geblickt, als die Kajütenthür sich zwischen ihnen geschlossen hatte. Ziehen Sie Ihre eigenen Schlüsse, Sir«, sagen Sie, wenn Sie wollen, daß ich meines Vaters heidnischen Aberglauben an ein Schicksal geerbt habe. Ich will dies nicht bestreiten; ich will es nicht leugnen, daß während des ganzen gestrigen Tages sein Aberglaube auch der meinige war. Die Nacht war hereingebrochen, ehe ich den Weg zu ruhigeren und besseren Gedanken finden konnte. Aber ich fand denselben endlich. Sie dürfen es mir als etwas anrechnen, daß ich mich endlich von dem Einflusse dieses fürchterlichen Briefes freimachte. Wissen Sie, was mir dazu behilflich war?«

»Vernunftgründe?«

»Mit Vernunftgründen vermag ich nichts wider meine Gefühle auszurichten.«

»Beruhigten Sie Ihr Gemüth durch Gebet?«

»Ich war nicht in einem Zustande, um zu beten.«

»Und dennoch führte Sie etwas zu dem besseren Gefühle und der richtigeren Ansicht?«

»Ja – etwas.«

»Was war es?«

»Meine Liebe zu Allan Armadale.«

Indem er diese Antwort gab, warf er einen zweifelhaften, fast furchtsamen Blick auf Mr. Brock und kehrte, plötzlich vom Tische aufstehend, an den Fenstersitz zurück.

»Habe ich nicht das Recht, in dieser Weise von ihm zu reden«, frug er, dem Pfarrer sein Gesicht verbergend. »Kenne ich ihn noch nicht lange genug? Habe ich noch nicht genug für ihn gethan? Erinnern Sie sich, welcher Art meine Erinnerungen von andern Leuten waren, als er mir zuerst seine Hand entgegenstreckte, als ich zum ersten Male in meinem Krankenzimmer seine Stimme hörte? Welcher Art waren von meiner Kindheit an meine Erfahrungen in Bezug auf Fremde gewesen? Ich hatte dieselben nur als Menschen kennen gelernt, die ihre Hände erhoben, um mir zu drohen oder mich zu schlagen. Aber seine Hand glättete das Kissen unter meinem Haupte und klopfte mich sanft auf die Schulter und reichte mir Speise und Trank. Was waren meine Erfahrungen von anderer Leute Stimmen, als ich selbst zum Manne herangewachsen war? Ich hatte nur Stimmen gekannt, welche meiner spotteten, die mir fluchten, Stimmen, die schmachvolles Mißtrauen gegen mich ausstreuten. Seine Stimme dagegen sprach zu mir: »Frohen Muth, Midwinter! Wir wollen Sie bald wieder auf die Beine bringen. In einer Woche werden Sie kräftig genug sein, um in unsern hübschen Alleen von Sommersetshire mit mir spazieren zu fahren.«

Erinnern Sie sich des Zigeunerprügels; erinnern Sie sich jener Teufel, die über mich lachten, als ich, meinen kleinen todten Hund im Arme tragend, an ihrem Fenster vorüberging; erinnern Sie sich des Herrn, der mich auf seinem Sterbebette um meinen Monatslohn betrog – und dann fragen Sie ihr eigenes Herz, ob der elende Wicht, den Allan Armadale als seinen Freund und Seinesgleichen behandelt, zu viel gesagt hat, wenn er sagt, daß er ihn liebt? Ich liebe ihn! Es muß heraus; ich kann es nicht unterdrücken. Ich liebe den Boden, den sein Fuß berührt; ich würde mein Leben hingeben – ja, dieses Leben, das mir jetzt kostbar ist, seitdem seine Güte dasselbe glücklich gemacht hat – ich sage Ihnen, ich würde mein Leben —«

Die letzten Worte erstarben auf seinen Lippen; eine heftige krampfhafte Leidenschaft überwältigte ihn. Er streckte seine Hand mit einer wilden, flehenden Gebärde gegen Mr. Brock aus; sein Haupt sank auf das Fensterbrett und er brach in Thränen aus.

Doch die harte Disciplin seines Lebens machte sich selbst hier geltend. Er erwartete keine Theilnahme; er rechnete auf keine mitleidsvolle menschliche Achtung für seine menschliche Schwachheit Die grausame Nothwendigkeit der Selbstbeherrschung war seinem Geiste gegenwärtig, während ihm die Thränen über die Wangen strömten. »Gestatten Sie mir eine Minute«, sagte er mit schwacher Stimme. »Ich werde es in einer Minute überwunden haben und will Sie nicht wieder in dieser Weise betrüben.«

Seinem Entschlusse getreu, hatte er es in der That in einer Minute überwunden; und dann vermochte er mit Fassung weiter zu reden.

»Wir wollen zu jenen besseren Gedanken zurückkehren, Sir, die mich gestern Abend nach Ihrem Zimmer führten«, fuhr er fort. »Ich kann nur wiederholen, daß ich die Gewalt, mit welcher dieser Brief mich gepackt hatte, nimmer abzuschütteln im Stande gewesen wäre, wenn ich nicht Allan Armadale mit der ganzen Bruderliebe geliebt hätte, deren meine Natur fähig ist. Ich sprach zu mir: »Wenn der Gedanke, ihn zu verlassen, mir das Herz bricht, so ist dieser Gedanke ein unrechter!« Dies war vor einigen Stunden, und ich bin noch immer derselben Ansicht Ich kann und will nicht glauben, daß eine Freundschaft, die lediglich der Güte auf der einen Seite und der Dankbarkeit auf der andern ihren Ursprung verdankt, zu einem bösen Ende zu führen bestimmt ist. Ich unterschätze die seltsamen Umstände, die uns zu Namensbrüdern gemacht haben, nicht; auch nicht die seltsamen Umstände, die uns zusammengeführt und einander werth gemacht haben; noch die seltsamen Dinge, die sich seitdem für uns beide ereignet haben. Dieselben mögen sich in meinen Gedanken alle an einander reihen, und sie thun dies; aber sie sollen mich nicht abschrecken. Ich will eben nicht glauben, daß diese Ereignisse eine Fügung des Schicksals und ein schlechtes Ende zu nehmen bestimmt sind, sondern vielmehr, daß sie eine Fügung Gottes sind und zum Guten führen sollen. Entscheiden Sie, der Sie ein Geistlicher sind, zwischen dem todten Vater, dessen Worte in diesen Blättern stehen, und dem lebenden Sohne, dessen Worte Sie jetzt von seinen Lippen hören! Was bin ich, jetzt, da die beiden Allan Armadale in einer zweiten Generation zusammengeführt worden sind? Ein Werkzeug in den Händen des blinden Schicksals oder ein Werkzeug in den Händen der Vorsehung? Welches ist meine Ausgabe, jetzt da ich mit dem Sohne des Mannes, den mein Vater tödtete, dieselbe. Luft athme und dasselbe Obdach theils? Soll ich das Verbrechen meines Vaters fortsetzen, indem ich ihm tödtliches Unrecht zufüge, oder soll ich das Verbrechen meines Vaters wieder gut machen, indem ich ihm mein ganzes Leben widme? Diese letztere Ueberzeugung ist die meinige und soll die meinige bleiben, was sich immer ereignen möge. In dieser festen bessern Ueberzeugung bin ich zu Ihnen gekommen, um Ihnen das Geheimniß meines Vaters anzuvertrauen und Ihnen die elende Geschichte meines Lebens mitzutheilen. In dieser festen besseren Ueberzeugung kann ich entschlossen mit der offenen Frage vor Sie hintreten, welche sich auf den Endzweck meiner ganzen Unterredung mit Ihnen bezieht.

»Und diese Frage ist —?« Ihr Zögling befindet sich beim Eintritt in seine neuen Lebensverhältnisse in einer merkwürdigen Lage: Er ist ohne Freunde. Sein größtes Bedürfniß ist das eines Gefährten seines Alters, auf den er sich verlassen kann. Der Augenblick ist da, Sir, zu entscheiden, ob ich dieser Gefährte sein soll oder nicht. Sagen Sie mir offen, ob Sie nach allem, was Sie über Ozias Midwinter gehört haben, ihm trauen und ihm gestatten wollen, Allan Armadale’s Freund zu sein?«

Mr. Brock beantwortete diese furchtlos an ihn gerichtete offene Frage mit derselben furchtlosen Offenheit.

»Ich glaube, daß Sie Allan lieben«, erwiderte er; »ich glaube auch, daß Sie die Wahrheit gesprochen haben. Ein Mann, der einen solchen Eindruck auf mich gemacht hat, ist ein Mann, dem ich mein Vertrauen schuldig bin. Ich vertraue Ihnen.«

Midwinter sprang auf und sein braunes Gesicht erglühte tief; seine Augen waren endlich klar und fest auf das Gesicht des Pfarrers geheftet.»Ein Licht!« rief er aus, indem er den Brief seines Vaters Blatt für Blatt von dem Faden riß, der das Manuskript zusammenhielt. »Lassen Sie uns das letzte Glied der Kette vernichten, die uns mit der fürchterlichen Vergangenheit verbindet! Lassen Sie uns, ehe wir von einander scheiden, aus diesem Bekenntnisse einen Aschenhaufen machen!«

»Warten Sie!« sagte Mr. Brock »Es giebt Gründe, dasselbe noch einmal durchzusehen, ehe Sie es verbrennen.«

Midwinter ließ die abgerissenen Blätter fallen. Mr. Brock nahm dieselben auf und ordnete sie sorgfältig bis zu der letzten Seite.

»Ich theile Ihre Ansicht über den Aberglauben Ihres Vaters vollkommen«, sagte der Pfarrer. »Doch steht hier eine Warnung, die Sie um Allan’s und Ihrer selbst willen wohl beachten sollten. Das letzte Glied der Verbindungskette zwischen uns und der Vergangenheit ist noch nicht zerstört, wenn Sie diese Blätter verbrannt haben. Eine der Personen in dieser Geschichte von Falschheit und Mord ist noch nicht todt. Lesen Sie diese Worte!«

Er schob das Blatt über den Tisch hin, während er mit dem Finger eine Stelle aus demselben bezeichnete. Midwinter’s Gemüthsbewegung ließ ihn ein Versehen machen und er las: »Meide die Wittwe des Mannes, den ich getödtet habe, falls die Wittwe noch am Leben ist.«

»Nicht jene Stelle«, sagte der Pfarrer. »Die nächste!«

Midwinter las dieselbe: »Meide das Mädchen, deren gottlose Hand den Pfad zu dieser Heirath ebnete, falls dieses Mädchen noch in ihrem Dienste ist.«

»Das Mädchen und ihre Herrin«, sagte Mr. Brock, »schieden zur Zeit der Heirath von einander. Das Mädchen und ihre Herrin kamen voriges Jahr in Mrs. Armadale’s Wohnung in Sommersetshire wieder zusammen. Ich selbst begegnete dem Mädchen im Dorfe, und ich weiß, daß ihr Besuch Mrs. Armadale’s Tod beschleunigte. Warten Sie ein wenig und fassen Sie sich. Ich sehe, ich habe Sie überrascht.«

Er wartete, wie ihm geheißen worden, während die frohe Gluth in seinem Gesichte sich in eine graue Blässe verwandelte und das Licht in seinen klaren braunen Augen langsam erlosch. Das, was der Pfarrer gesagt, hatte nicht blos einen flüchtigen Eindruck auf ihn gemacht; es lag etwas mehr als Zweifel, es lag Bestürzung in seinen Zügen, wie er in Gedanken versunken dasaß. Kehrte etwa der Kampf vom vergangenen Abend schon wieder zurück? Fühlte er sich wieder von dem Grausen seines ererbten Aberglaubens beschlichen?

»Können Sie mir dazu behilflich sein, daß ich jenem Frauenzimmer gegenüber auf meiner Hut bin?« frug er nach einem langen Schweigen. »Können Sie mir den Namen dieser Person sagen?«

»Ich kann Ihnen nur das sagen, was ich von Mrs. Armadale erfahren habe«, war die Antwort. »Die Person gestand, daß sie sich, seit sie und ihre Herrin einander zuletzt gesehen, verheirathet habe. Doch ließ sie sich weiter kein Wort über ihr vergangenes Leben entschlüpfen. Sie kam zu Mrs. Armadale, um sie unter dem Vorwand der Bedürftigkeit um Geld zu bitten. Sie erhielt das Geld und verließ das Haus, nachdem sie sich entschieden geweigert hatte, ihren jetzigen Namen anzugeben.«

»Sie haben sie selbst im Dorfe gesehen. Können Sie mir ihr Gesicht beschreiben?«

»Nein; denn sie war dicht verschleiert.«

»Aber Sie können das beschreiben, was Sie an ihr sahen?«

»Das versteht sich. Ich sah, als sie zu mir herankam, daß ihre Bewegungen auffallend anmuthig und ihre Gestalt schön und etwas über mittlerer Größe war. Als sie mich anredete und um den Weg nach Mrs. Armadales Hause fragte, bemerkte ich, daß ihre Manieren die einer gebildeten Dame waren und daß ihre Stimme etwas auffallend Sanftes und Einnehmendes hatte. Schließlich erinnerte ich mich später, daß sie einen dichten schwarzen Schleier, einen schwarzen Hut, ein schwarz seidenes Kleid und einen rothen gewirkten Shawl trug. Ich fühle vollkommen, wie wichtig es für Sie ist, bessere Auskunft zu erlangen, um sie identificiren zu können. Unglücklicherweise aber —«

Er hielt inne. Midwinter beugte sich eifrig über den Tisch und legte plötzlich seine Hand auf den Arm des Pfarrers.

»Ist es möglich, daß Sie die Frau kennen?« frug Mr. Brock, erstaunt über die plötzliche Veränderung in seinem Wesen.

»Nein.«

»Was habe ich gesagt, das Sie so bewegt hat!«

»Erinnern Sie sich der Frau, die sich von dem Flußdampfboote ins Wasser stürzte?« fragte der Andere; »der Frau, welche die Ursache jener Reihe von Todesfällen war, infolge deren Allan Armadale die Güter von Thorpe-Ambrose zufielen?«

»Ich erinnere mich der Beschreibung, welche die Polizeiberichte von ihr gaben«, antwortete der Pfarrer.

»Jene Frau«, fuhr Midwinter fort, »bewegte sich anmuthig und besaß eine schöne Gestalt; jene Frau trug einen schwarzen Schleier, einen schwarzen Hut, ein schwarzes Kleid und einen rothen gewirkten Shawl —« Er schwieg, ließ Mr. Brocks Arm los und kehrte plötzlich zu seinem Sitze zurück. »Kann sie dieselbe sein?« sprach er flüsternd zu sich selber. »Giebt es wirklich ein Verhängnis das den Menschen im Dunkeln verfolgt? Und verfolgt dasselbe uns in den Schritten jenes Weibes?«

War diese Muthmaßung eine richtige, so mußte das eine Ereigniß in der Vergangenheit, welches mit den anderen, ihm vorausgegangenen, anscheinend durchaus in gar keiner Verbindung gestanden, das einzige fehlende Glied sein, welches die Kette vollständig machte. Mr. Brocks gesunder, einfacher Sinn wies diese außerordentliche Folgerung instinctmäßig zurück. Er sah Midwinter mit einem mitleidsvollen Lächeln an.

»Mein junger Freund«, sagte er mit gütiger Stimme; »haben Sie sich wohl so vollkommen allen Aberglaubens entchlagen, wie Sie glauben? Ist das, was Sie soeben gesagt haben, wohl jenes besseren Entschlusses würdig, den Sie gestern Abend gefaßt haben?«

Midwinter ließ den Kopf auf die Brust sinken; es verbreitete sich eine schnelle Röthe über sein Gesicht und er seufzte bitterlich.

»Sie fangen an meiner Aufrichtigkeit zu zweifeln an«, sagte er. »Ich kann Sie nicht dafür tadeln.«

»Ich glaube noch so fest wie je an Ihre Aufrichtigkeit«, erwiderte Mr. Brock. »Nur bezweifle ich,ob Sie die schwachen Stellen in Ihrer Natur so stark befestigt haben, wie Sie selber es annehmen. Es hat schon Mancher in dem Kampfe mit sich selbst weit häufigere Niederlagen erlitten als Sie, und dennoch zuletzt den Sieg davongetragen. Ich tadele Sie nicht; ich mißtraue Ihnen nicht. Ich erwähne bloß dessen, was sich ereignet hat, um Sie vor sich selbst zu Warnen. Kommen Sie, kommen Sie! Nehmen Sie Ihren eigenen vortrefflichen Verstand zu Hilfe, und Sie werden bald mit mir übereinstimmen, daß wirklich kein Beweis vorliegt, der den Argwohn rechtfertigt, daß die Frau, die ich in Sommersetshire sah, und die Frau, welche in London einen Selbstmord versuchte, eine und dieselbe Person sind. Braucht ein alter Mann wie. ich einen jungen Mann daran zu erinnern, daß es in England Tausende von Frauen mit schönen Gestalten giebt – Tausende von Frauen, die einfach schwarze Seide und gewirkte Shawls tragen?«

Midwinter fing die Idee begierig auf; zu begierig, wie ein schärferer Beurtheiler der Menschen, als Mr. Brock war, vielleicht gedacht haben würde.

»Sie haben vollkommen Recht, Sir«, sagte er, »und ich Unrecht. Zehntausende von Frauen entsprechen jener Beschreibung wie Sie sagen. Ich habe mit meinen müßigen Grillen die Zeit vergeudet, die ich zum sorgfältigen Sammeln von Thatsachen hätte verwenden sollen. Falls diese Frau jemals den Weg zu Allan zu finden versucht, muß ich darauf vorbereitet sein, sie hieran zu hindern.« Er fing hastig zwischen den Blättern des Manuscripts zu suchen an, welche auf dem Tische zerstreut lagen, hielt bei einem derselben an und heftete aufmerksam die Blicke auf die darauf geschriebenen Worte. »Dies verhilft mir zu etwas Positivem«, fuhr er fort; »es klärt mich über ihr Alter auf. Sie war zur Zeit von Mrs. Armadale’s Heirath zwölf Jahre alt; fügen wir ein Jahr hinzu, so macht dies dreizehn; fügen wir dann Allan’s Alter (zweiundzwanzig Jahre) hinzu, so muß sie jetzt eine Frau von fünfunddreißig Jahren sein. Ich kenne ihr Alter und weiß auch, daß sie ihre Gründe hat, um über ihr eheliches Leben zu schweigen. Dies ist etwas für den Anfang und es mag mit der Zeit zu Mehrerem führen.« Er sah abermals mit erheitertem Gesicht zu Mr. Brock empor. »Bin ich jetzt auf dem rechten Wege, Sir? Thue ich mein Möglichstes, um von der Warnung zu profitieren, die Sie so gütig waren mir zu ertheilen?«

»Sie rechtfertigen Ihr eigenes besseres Urtheil«, erwiderte der Pfarrer, um ihn zu ermuthigen, daß er seiner Einbildungskraft nicht die Zügel schießen lasse. »Sie bahnen sich den Weg zu einem glücklicheren Leben.«

»Meinen Sie das?« sagte der Andere gedankenvoll. Er suchte nochmals unter den Papieren nach und hielt bei einem andern der zerstreuten Blätter inne.

»Das Schiff!« rief er plötzlich aus, indem er abermals die Farbe wechselte und sein Wesen sich augenblicklich veränderte.

»Welches Schiff?« frug der Pfarrer.

»Das Schiff, auf welchem die That geschah«, erwiderte Midwinter mit den ersten Anzeichen der Ungeduld; »das Schiff, auf dem die mörderische Hand meines Vaters den Schlüssel in der Kajütenthür umdrehte.«

»Was soll es damit?« frug Mr. Brock.

Er schien die Frage nicht zu hören; seine Augen waren begierig auf die Zeilen geheftet, die er zu lesen beschäftigt war.

»Ein französisches Schiff, das zum Holzhandel verwendet wurde«, sagte er, zu sich selber redend; »ein französisches Schiff, welches La Gráce de Dieu hieß. Wäre der Glaube meines Vaters begründet gewesen; hätte das Verhängnis; mich Schritt für Schritt vom Grabe meines Vaters an verfolgt, so würde ich auf einer oder der andern meiner Fahrten auf jenes Schiff gestoßen sein.« Er schaute abermals zu Mr. Brock auf. »Ich bin mir dessen jetzt völlig gewiß«, sagte er.»Jene beiden Frauen sind nicht eine und dieselbe Person.«

Mr. Brock schüttelte den Kopf.

»Ich freue mich, daß Sie zu diesem Schlusse gekommen sind«, sagte er; »aber ich wollte, Sie wären auf einem andern Wege zu demselben gelangt.«

Midwinter sprang Ungestüm von seinem Sitze auf, ergriff mit beiden Händen die Blätter des Manuscripts und warf dieselben in den leeren Kamin.

»Ich bitte Sie um Gottes willen, lassen Sie mich die Blätter verbrennen!« rief er. »Solange noch eine Seite davon vorhanden ist, werde ich dieselben zu lesen fortfahren. Und solange ich lese, behält mein Vater wider meinen Willen die Oberhand über mich!«

Mr. Brock wies auf die Zündhölzchenschachtel. Im nächsten Augenblicke war das Bekenntniß ein Raub der Flammen. Als das Feuer das letzte Stückchen Papier verzehrt hatte, athmete Midwinter tief auf. Dann rief er mit einer fieberhaften Fröhlichkeit. »Ich darf mit Macbeth sagen: »Jetzt, da es geschehen, bin ich wieder ein Mann!« Sie sehen ermüdet aus, Sir, und dies ist nicht zum Verwundern«, fügte er mit leiserer Stimme hinzu. »Ich habe Sie zu lange von Ihrer Nachtruhe abgehalten – ich will Sie nicht länger stören. Verlassen Sie sich darauf, daß ich mich dessen erinnern werde, was Sie mir gesagt haben; verlassen Sie sich darauf, daß ich mich zwischen Allan und jeden Feind stellen werde, der ihm nahe kommt, sei derselbe Mann oder Weib. Ich danke Ihnen, Mr. Brock, ich danke Ihnen tausend, tausendmal! Ich kam als das unglücklichste aller lebenden Wesen in dieses Zimmer; ich verlasse dasselbe so glücklich wie die Vögel, die im Garten singen!«

Wie er sich der Thür zuwandte, strömten die Strahlen der aufgehenden Sonne durch das Fenster herein und fielen auf den Aschenhaufen, der schwarz auf dem schwarzen Herde lag.

»Sehen Sie!« rief er froh. »Die Verheißung einer schöneren Zukunft, die die Asche der Vergangenheit verklärt!«

Armadale

Подняться наверх