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Erster Band
Siebentes Kapitel
ОглавлениеMr. Brock’s Gedächtniß wandte sich immer mehr und mehr der Gegenwart zu, und auf der dritten Station seiner Reise durch die Vergangenheit angelangt, hielt es zunächst beim Jahre achtzehnhunderts fünfzig an.
Die fünf Jahre, welche inzwischen verflossen waren, hatten in Allan’s Charakter wenig oder gar keine Veränderung hervorgebracht. Er war eben ganz einfach, um uns des Ausdrucks seines Lehrers zu bedienen, aus einem Knaben von sechzehn ein Knabe von einundzwanzig Jahren geworden, der noch immer so offen und unbefangen und noch immer ebenso gutherzig war und sich unbekümmert seinen Einfällen überließ, wohin dieselben ihn immer führen mochten. Seine Vorliebe für das Meer hatte mit den Jahren zugenommen. Vom Bauen eines Boots war er jetzt so weit vorgeschritten, daß er mit Hilfe zweier Schiffszimmergesellen ein verdecktes Schiff von fünfunddreißig – Tonnen zu bauen angefangen hatte. Mr. Brock hatte sich auf das gewissenhafteste bemüht, ihn zu höheren Bestrebungen zu leiten; er war mit ihm nach Oxford gegangen, um ihm das Universitätsleben zu zeigen; er war mit ihm nach London gereist, um durch den Anblick der gewaltigen Hauptstadt seinen Gesichtskreis zu erweitern. Die Abwechselung hatte Allan Unterhaltung gewährt, ihn jedoch nicht im mindesten verändert. Er war so hoch über allen weltlichen Ehrgeiz erhaben wie Diogenes selbst. »Was ist besser«, frug dieser unbewußte Philosoph, »daß man für sich selber entdeckt, wie man am glücklichsten ist, oder daß man Andere versuchen läßt, dies für uns zu entdecken?« Von diesem Augenblicke an unterließ Mr. Brock jeden weiteren Versuch, auf den Charakter seines Zöglings einzuwirken, und Allan widmete sich ununterbrochen dem Bau seiner Jacht.
Die Zeit, welche an dem Sohne so wenig Veränderung hervorgebracht, war an der Mutter nicht so spurlos vorübergegangen. Mrs. Armadales Gesundheit hatte bedeutend zu wanken angefangen, und in dem Grade, wie ihre Kräfte wichen, verschlimmerte sich ihre Laune; sie wurde immer reizbarer, gab sich immer mehr ihren krankhaften Ideen und Befürchtungen hin und war immer schwerer zu bewegen, ihr Schlafzimmer zu verlassen. Seit jene Annonce vor fünf Jahren in der Zeitung erschienen war, hatte sich nichts weiter ereignet, um ihrem Gedächtnisse jene schmerzlichen Umstände wieder aufzudringen, die mit ihrem Jugendleben in Verbindung standen. Es war zwischen ihr und dem Geistlichen kein Wort über den verpönten Gegenstand wieder erwähnt worden. Allan hatte noch immer keine Ahnung von dem Dasein eines Namensbruders; und obgleich sonach Mrs. Armadale nicht den geringsten Grund zu besonderer Besorgniß hatte, so war sie dennoch in den letzteren Jahren unaufhörlich von einer aufreibenden Angst um ihren Sohn erfüllt. Einmal beglückwünschte sie sich über die Vorliebe zum Schiffbau und Segeln, die ihn vor ihren eignen Augen in glücklicher und zufriedener Beschäftigung festhielt, und dann sprach sie wieder mit Grausen von seiner tief eingewurzelten Vorliebe für den falschen Ocean, in dem ihr Gatte den Tod, gefunden. Sie stellte die Langmuth ihres Sohnes bald auf diese, bald auf jene Weise auf die Probe, so daß Mr. Brock mehr als einmal befürchtete, daß es zu einer ernstlichen Veruneinigung zwischen ihnen kommen werde; doch Allan’s natürliche Sanftmuth, gepaart mit inniger Liebe zu seiner Mutter, trug ihn siegreich durch alle diese Prüfungen hindurch. Kein einziges unfreundliches, hartes Wort entschlüpfte ihm je in ihrer Gegenwart, kein unfreundlicher Blick kränkte sie je; er war bis zuletzt unveränderlich liebevoll und nachsichtig gegen sie.
In diesen Verhältnissen nun standen Sohn, Mutter und Freund zu einander, als sich das nächste bemerkenswerthe Ereigniß in dem Leben dieser Drei zutrug.
An einem düsteren Nachmittage zu Anfange des Monats November ward Mr. Brock durch den Besuch des Gastwirthes aus dem Dorfe in der Abfassung seiner Predigt gestört.
Nachdem der Wirth zunächst seine Entschuldigungen vorgebracht, erzählte er mit ziemlicher Kürze und Klarheit die dringende Angelegenheit, die ihn nach dem Pfarrhause geführt. Vor einigen Stunden hätten ein paar Feldarbeiter einen jungen Mann nach seinem Wirthshause gebracht, der in einem Zustande augenscheinlicher Geisteszerrüttung auf einem der Felder ihres Herrn umhergewandert war. Er, der Wirth, habe dem armen Geschöpfe Obdach gewährt und inzwischen nach ärztlichen Beistande ausgesandt; der Arzt aber habe, sobald er ihn gesehen, erklärt, daß er an einer Gehirnentzündung leide und daß seine Fortschaffung nach der nächsten Stadt, wo es ein Hospital oder Arbeitshaus zu seiner Aufnahme gebe, nicht räthlich erscheine. Nachdem er diesen Ausspruch vernommen und sich überzeugt habe, daß das einzige Gepäck des Fremden in einer Handtasche bestehe, die neben ihm auf dem Felde gefunden worden, habe er sich sofort aus den Weg gemacht, um den Pfarrer um seinen Rath zu ersuchen und ihn zu fragen, welches Verfahren er zunächst in dieser ernstlichen Verlegenheit einschlagen solle.
Mr. Brock war nicht nur der Geistliche, sondern auch zugleich der Magistratsherr des Bezirks, und das zunächst einzuschlagende Verfahren schien ihm klar genug. Er setzte seinen Hut auf und kehrte mit dem Wirthe nach dessen Hause zurück. An der Thür des Wirthshauses trafen sie Allan, der die Nachricht aus anderem Wege erfahren hatte und jetzt Mr. Brocks Ankunft abwartete, um dem Magistratsherrn zu folgen und sich den Fremden anzusehen. In demselben Augenblicke gesellte sich auch der Dorfarzt zu ihnen und die Vier gingen zusammen hinein.
Bei ihrem Eintreten erblickten sie den Sohn des Wirths an der einen, und den Stallknecht an der andern Seite des Mannes, den sie in seinem Sessel festzuhalten bemüht waren. Obgleich jung, schmächtig und unter mittlerer Größe, war er doch in diesem Augenblick stark genug, um den Beiden einige Mühe zu machen, ihn zu halten. Seine gelbliche Gesichtsfarbe, seine großen glänzenden braunen Augen und sein schwarzer Schnurr- und Backenbart gaben ihm ein fremdländisches Aussehen. Seine Kleidung war ein wenig abgetragen, aber seine Wäsche sauber. Seine bräunlichen Hände waren dünn und nervig und trugen an verschiedenen Stellen die gelblichen Narben alter Verletzungen. Die Zehen seines rechten Fußes, von dem er den Schuh abgeschleudert, klammerten sich um das Querholz des Stuhles, und zwar mit einer Kraft, wie man sie nur bei Leuten wahrnimmt, welche barfuß zu gehen gewohnt gewesen. Bei der Wuth, die sich seiner jetzt bemächtigt hatte, war es unmöglich, mehr als dies an ihm zu beobachten. Nach einer leise geführten Berathung mit Mr. Brock ließ der Arzt unter seiner persönlichen Aufsicht den Kranken nach einem ruhigen Schlafzimmer auf der Hinterseite des Hauses bringen. Bald darauf wurden seine Kleider und seine Handtasche hinunter gesandt und in Gegenwart des Magistratsherrn untersucht, um dadurch wo möglich einigen Aufschluß über seine Person und Verhältnisse zu erlangen und seine Angehörigen benachrichtigen zu können.
In der Handtasche befand sich nichts als ein einziger Anzug und zwei Bücher, Sophocles’ Tragödien in griechischen und Goethe’s Faust in deutscher Sprache. Beide Bücher waren durch häufiges Lesen stark mitgenommen, und auf dem ersten weißen Blatte derselben standen die Anfangsbuchstaben O. M. geschrieben. Dies war alles, was die Handtasche verrieth.
Sodann durchsuchte man die Kleider, die der Mann getragen, als er auf dem Felde gesunden worden war. Eine Börse, die einen Sovereign und ein paar Schillinge enthielt, eine Pfeife, ein Tabaksbeutel, ein Taschentuch und ein kleiner Trinkbecher von Horn wurden der Reihe nach zum Vorschein gebracht. Der letzte Gegenstand aber fand sich nachlässig zusammengedrückt in der Brusttasche des Rockes; es war ein geschriebenes Zeugnis datiert und unterzeichnet, doch fehlte die Adresse des Ausstellers. Die Geschichte des Fremden war, soweit dieses Document dieselbe erzählte, in der That eine traurige. Er war, wie es schien, eine kurze Zeit als Unterlehrer an einer Schule angestellt gewesen; da sich aber Spuren einer Krankheit bei ihm gezeigt hatten, von der man befürchtet, daß sie ansteckend sein und somit der Schule Schaden bringen könne, war er in die Welt hinausgestoßen worden. Es wurde ihm in seiner Amtsverwaltung nicht das geringste Mißverhalten zur Last gelegt; im Gegentheil, der Inhaber der Schule bezeugte dem Unterlehrer mit Vergnügen seine Fähigkeit und seine gute Aufführung und drückte seine aufrichtige Hoffnung aus, daß er mit Hilfe der Vorsehung bald in einem andern Hause seine Gesundheit wiederfinden möge.
Das geschriebene Zeugniß, welches ihnen diesen flüchtigen Blick in die Geschichte des Mannes gestattete, leistete zugleich noch einen andern Dienst. Aus diesem Zeugniß nämlich, in Verbindung mit den Anfangsbuchstaben in den Büchern, ersahen der Magistratsherr und der Gastwirth wenigstens so viel, daß der Mann den eigenthümlich häßlichen Namen Ozias Midwinter führe.
Mr. Brock legte das Zeugniß bei Seite; er vermuthete, daß der Schulinhaber absichtlich seine Adresse hinzuzufügen unterlassen, um im Falle des Todes seines Unterlehrers aller Verantwortlichkeit zu entgehen. Jedenfalls war es unter den obwaltenden Umständen offenbar nutzlos, die Angehörigen des unglücklichen Kranken ermitteln zu wollen, falls er deren überhaupt besaß. Er war einmal nach dem Wirthshause gebracht worden, und die Menschlichkeit forderte, daß er vor der Hand dort gelassen werde. Die Kosten konnten, falls das Schlimmste zum Schlimmen kam, vielleicht durch mitdthätige Beiträge der Nachbarn oder durch eine Kirchencollecte nach der Predigt aufgebracht werden. Indem er dem Gastwirthe die Versicherung gab, daß er diesen Theil der Frage in Erwägung ziehen und ihn dann von dem Erfolge unterrichten wolle, verließ Mr. Brock das Wirthshaus, ohne sich in dem Augenblicke daran zu erinnern, daß er seinen Zögling dort zurückgelassen.
Noch ehe er fünfzig Schritte vom Hause entfernt war, holte Allan ihn ein. Dieser war während der ganzen Untersuchung im Wirthshause ungewöhnlich ernst und schweigsam gewesen, doch hatte er jetzt seine ganze natürliche Lebhaftigkeit wiedergefunden. Ein Fremder würde ihn vielleicht eines Mangels an Mitgefühl beschuldigt haben.
»Dies ist eine traurige Geschichte«, begann der Pfarrer. »Ich weiß wirklich nicht, was ich eigentlich für jenen unglücklichen Menschen thun soll«
»Sie dürfen sich darüber vollkommen beruhigen, Sir«, entgegnete der junge Armadale in seiner unbekümmerten Weise. »Ich habe vor einer Minute alles mit dem Wirthe abgemacht.«
»Du!« rief Mr. Brock im höchsten Erstaunen.
»Ich habe ihm bloß einige einfache Instructionen gegeben«, fuhr Allan fort. »Unser Freund, der Unterlehrer, soll mit allem versehen werden, dessen er bedarf, und dazu wie ein Prinz behandelt werden; und wenn der Arzt und der Wirth ihr Geld verlangen, so sollen sie zu mir kommen«
»Mein lieber Allan!« sagte Mr. Brock in sanft vorstellendem Tone. »Wann wirst Du nur lernen zu überlegen, ehe Du Deinen großmüthigen Eingebungen folgst? Du giebst bereits für Deinen Schiffbau mehr Geld aus, als Dir —«
»Ja, denken Sie nur! Wir haben vorgestern die ersten Planken des Verdecks gelegt«, sagte Allan, in seiner gewohnten leichtfüßigen Manier zu dem neue Gegenstande übergehend. »Es sind gerade genug Planken gelegt, daß man darauf gehen kann, wenn man nicht zum Schwindel geneigt ist. Ich will Ihnen die Leiter hinauf helfen, Mr. Brock, wenn Sie nur mitkommen und es versuchen wollen.«
»Höre mich an«, versetzte der Pfarrer. »Ich rede jetzt nicht von der Jacht. Das heißt, ich erwähne der Jacht bloß als einer Illustration —«
»Und zwar eine sehr hübsche Illustration«,« bemerkte der unverbesserliche Allan. »Wenn Sie mir in ganz England ein hübscheres kleines Fahrzeug von ihrer Größe finden können, so will ich morgen den Schiffbau für immer aufgeben. Aber, wo waren wir in unserer Unterhaltung, Sir? Ich fürchte fast, wir haben den Faden verloren.«
»Ich fürchte fast, daß einer von uns beiden die Gewohnheit hat, jedes mal den Faden zu verlieren, sobald er die Lippen öffnet«, entgegnete Mr. Brock. »Komm, komm, Allan, dies ist eine ernste Sache. Du hast Dich für Kosten verantwortlich gemacht, die Du vielleicht nicht zu bestreiten im Stande sein magst. Ich bin weit entfernt, das laß Dir gesagt sein, Dich wegen Deines freundlichen Mitgefühls für diesen armen freundlosen Menschen zu tadeln —«
»Machen Sie sich keine Gedanken um ihn, Sir; er wird schon durchkommen – in einer Woche oder zweien wird er schon wieder auf den Beinen sein. Ein vortrefflicher Bursche, das bezweifle ich keinen Augenblick. Gesetzt, Sie lüden ihn zu Tische ein, Mr. Brock, sobald er wieder genesen ist? Ich möchte wohl, wenn wir alle Drei gemüthlich und freundschaftlich beim Weine sitzen, wissen Sie, aus ihm herausbekommen, wie er zu seinem unerhörten Namen kam. Ozias Midwinter! Beim Himmel, sein Vater sollte sich schämen!«
»Willst Du mir eine Frage beantworten, ehe ich hineingehe?« sagte der Pfarrer, verzweiflungsvoll vor seinem Gartenpförtchen stillstehend »Die Rechnung dieses Mannes für Logis und ärztliche Behandlung mag sich, ehe er wieder gesund ist – falls er überhaupt wieder genesen sollte – auf zwanzig bis dreißig Pfund Sterling belaufen. Wie willst Du dies bezahlen?«
»Wie sagt doch gleich der Großkanzler der Schatzkammer, wenn er mit seinen Rechnungen in eine Klemme gerathen ist, aus der er keinen Ausweg sieht?« frug Allan. »Er unterrichtet seinen ehrenwerthen Freund stets, daß er völlig bereit ist, einen – wie heißt es gleich —«
»Einen Rand?« ergänzte Mr. Brock.
»Ganz recht! Ich habe große Aehnlichkeit mit dem Großkanzler der Schatzkammer. Ich bin voll kommen bereit, »einen Rand zu lassen.« Die Jacht, Gott segne sie, verschlingt nicht alles. Falls ich um ein paar Pfund zu kurz komme, so machen Sie sich keine Sorgen, Sir! Ich bin nicht stolz; ich will das Fehlende mit dem Hute in der Hand in der Nachbarschaft sammeln. Der Henker hole die Pfunde, Schillinge und Pence! Ich wollte, sie könnten sich alle drei, gleich den Beduinenbrüdern in der Schaubude, gegenseitig aufessen! Erinnern Sie sich nicht der Beduinenbrüder, Mr. Brock? »Ali wird eine brennende Fackel nehmen und in den Hals seines Bruders Muli hinunterspringen, Muli wird eine brennende Fackel nehmen und in den Hals seines Bruders Hassan hinunterspringen, Hassan aber wird die dritte brennende Fackel nehmen und zum Schlusse der Vorstellung in seinen eignen Hals hinunterspringen und die Zuschauer in totaler Finsternis; zurücklassen!« Vortrefflich das – das nenne ich echten Witz! Warten Sie einen Augenblick! Wo waren wir gleich? Wir haben abermals den Faden verloren. O, ich erinnere mich – Geld! Eine Sache«, schloß Allan, der gar nicht daran dachte, daß er einem Geistlichen socialistische Lehren predigte, »eine Sache, die ich mir nicht in meinen dicken Kopf hineinzutrommeln vermag, ist das Aufheben, das stets gemacht wird, wenn Jemand Geld weggiebt. Warum können nicht die Leute, die Geld übrig haben, dasselbe denjenigen geben, die keines übrig haben, und es dadurch in der ganzen Welt hübsch und gemüthlich machen? Sie empfehlen mir stets, Ideen zu kultivieren, Mr. Brock. Da haben Sie eine Idee, und beim Himmel, es scheint mir keine schlechte zu sein«
Mr. Brock stieß seinen Zögling gutmüthig mit seinem Stocke in die Rippen. »Geh zu Deiner Jacht zurück«, sagte er. »Das ganze Bißchen Klugheit, das Du in Deinem leichtsinnigen Kopfe besitzest, ist in Deinem Geschirrkasten an Bord geblieben. – Wie dies enden soll«, sprach der Pfarrer bei sich, sobald er allein war, »ist mir unbegreiflich. Ich wollte fast, ich hätte nie die Verantwortlichkeit für ihn auf mich genommen.«
Es vergingen drei Wochen, ehe der Fremde mit dem häßlichen Namen sich auf dem Wege der Genesung befand. Während dieses Zeitraumes hatte Allan sich regelmäßig in dem Wirthshause nach seinem Befinden erkundigt, und sobald es dem Kranken gestattet war, Besuche anzunehmen, war Allan der Erste, der an seinem Bette erschien. Bis dahin hatte Mr. Brock’s Zögling ein nicht mehr als natürliches Interesse an einem der wenigen romantischen Ereignisse seines einförmigen Landlebens gezeigt; er hatte keine Unvorsichtigkeit begangen und sich keinerlei Tadel zugezogen. Doch wie die Tage vergingen, wurden die Besuche des jungen Armadale in dem Wirthshause immer länger, und der Arzt, ein vorsichtiger ältlicher Mann, gab dem Pfarrer heimlich einen Wink, daß er sich ins Mittel lege. Mr. Brock folgte diesem Winke augenblicklich und machte die Entdeckung, daß Allan auf seine gewohnte unbekümmerte Weise seinen Eingebungen gefolgt war. Er hatte eine heftige Zuneigung zu dem von der Welt verlassenen Unterlehrer gefaßt und Ozias Midwinter den Vorschlag gemacht, sich unter dem neuen und interessanten Titel seines Busenfreundes für immer in der Nachbarschaft niederzulassen.
Ehe Mr. Brock in dieser Verlegenheit zu einem Entschlusse kommen konnte, erhielt er ein Billet von Allan’s Mutter, in welchem diese ihn bat, von seinem Privilegium als alter Freund Gebrauch zu machen und sie auf ihrem Krankenzimmer zu besuchen. Er fand Mrs. Armadale in einer heftigen nervösen Gemüthsbewegung, die ihr einzig und allein eine kürzlich gehabte Unterredung mit ihrem Sohne verursacht hatte. Allan hatte den ganzen Morgen bei ihr gesessen und von nichts Anderem als seinem neuen Freunde gesprochen. Der Mann mit dem entsetzlichen Namen, wie die arme Mrs. Armadale ihn nannte, hatte Allan auf eine merkwürdig neugierige Weise über ihn selbst und seine Familie ausgefragt, seine eigne Geschichte dagegen vollkommen in Dunkel gehüllt. In seinen früheren Lebensjahren war er ans Meer und ans Umher segeln gewöhnt gewesen. Dies hatte Allan unglücklicherweise entdeckt, und somit hatte sich alsbald ein Anknüpfungspunkt zu seiner Freundschaft gefunden. Mit einem unbarmherzigen Argwohne gegen den Fremden, der Mr. Brock als ziemlich unverständig erschien, flehte Mrs. Armadale den Pfarrer an, ohne einen Augenblick zu verlieren nach dem Wirthshause zu gehen und nicht eher zu ruhen, als bis er den Mann zu einer befriedigenden Auskunft über sich gebracht habe. »Lassen Sie sich alles über seine Eltern mittheilen!« rief sie in ihrer ungestümen Frauenweise »Vergewissern Sie sich, ehe Sie ihn verlassen, daß er kein Vagabond ist, der unter einem angenommenen Namen im Lande umherstreicht.«
»Meine liebe Lady«, erwiderte der Pfarrer, indem er gehorsam seinen Hut aufnahm, »wie sehr wir auch sonst in Ungewißheit über ihn sein mögen, so glaube ich doch wirklich, daß wir uns über den Namen des Mannes keine Zweifel zu machen brauchen. Denn derselbe ist in der That so außerordentlich häßlich, daß er echt sein muß. Kein Mensch würde bei gesundem Verstande einen solchen Namen wie Ozias Midwinter annehmen.«
»Sie haben vielleicht Recht und ich Unrecht; aber ich bitte Sie, gehen Sie zu ihm und schonen Sie ihn nicht, Mr. Brock! Wie können wir wissen, ob er sich nicht zu irgendeinem Zwecke bloß krank gestellt hat?«
Es war unnütz, ihr Vorstellungen zu machen. Der ganze Sanitätsrath hätte die Krankheit des Mannes bezeugen können und doch würde Mrs. Armadale in ihrem gegenwärtigen Gemüthszustande keinem einzigen seiner Mitglieder Glauben geschenkt haben. Mr. Brock schlug daher den verständigsten Weg ein, indem er nichts erwiderte, sondern sofort nach dem Wirthshause ging. Jedermann, der Ozias Midwinter zum ersten Mal sah, wie er sich jetzt von seiner Gehirnentzündung erholte, mußte bei seinem Anblicke zurückschrecken. Sein rasierter Kopf, um den er nachlässig ein altes gelbseidenes Taschentuch geschlungen, seine gelben, eingesunkenen Wangen; seine glänzenden, braunen Augen, die unnatürlich groß und wild erschienen; sein unordentlicher schwarzer Bart; seine langen, sehnigen, gelenkigen Finger, die durch die Krankheit so abgemagert waren, daß sie wie Krallen aussahen – alles dies zusammen war geeignet, den Pfarrer gleich zu Anfang seines Besuches außer Fassung zu bringen. Als er das erste Gefühl des Erstaunens überwunden hatte, war der zunächst folgende Eindruck kein angenehmer. Mr. Brock konnte sich nicht verhehlen, daß das Wesen dieses Mannes gegen ihn spreche. Man pflegt allgemein anzunehmen, ein ehrlicher Mann gebe sich als solcher dadurch zu erkennen, daß er, wenn er mit seinen Mitmenschen redet, ihnen gerade ins Gesicht blickt. Wenn dieser Mann wirklich ehrlich war, so zeigten seine Augen allerdings einen merkwürdigen Eigensinn, indem sie sich beständig abwandten und ihm dadurch jene Eigenschaft absprachen. Es mochte sein, daß dieselben unter einer nervösen Unruhe litten, die in seiner Organisation lag und sich bis in jede Fiber seines hageren, geschmeidigen Körpers erstreckte. Jede zufällige Bewegung der gelenkigen braunen Finger des Schullehrers und jede flüchtige Verzerrung seines abgezehrten gelben Gesichts verursachte dem Pfarrer in seiner gesunden angelsächsischen Haut einen Schauder. »Gott verzeih mir!« dachte Mr. Brock, im Geiste mit Allan und Allan’s Mutter beschäftigt, »ich wollte, ich sähe ein Mittel, um Mr. Ozias Midwinter wieder in die Welt hinaus zusenden!«
Die Unterhaltung, die zwischen den beiden Männern stattfand, ward mit großer Behutsamkeit geführt. Mr. Brock ging sehr zartfühlend zu Werke, doch sah er sich, er mochte es anfangen wie er wollte, immer auf die höflichste Weise im Dunkeln gelassen. Der Mann wich von Anfang an mit einer wilden Scheu jeder Berührung des Geistlichen aus. Er machte den Anfang mit einer Angabe, der man bei seinem Anblicke unmöglich Glauben schenken konnte – er behauptete, er sei erst zwanzig Jahre alt. Alles, was in Bezug auf die Schule aus ihm herauszubringen war, beschränkte sich daraus, daß die bloße Erinnerung an dieselbe ihm ein Gräuel sei. Er habe die Stelle eines Unterlehrers nur zehn Tage innegehabt, als die ersten Anzeichen seiner Krankheit ihm seine Entlassung zuzogen. In welcher Weise er in das Feld gelangt sei, wo man ihn gefunden, vermöge er nicht zu sagen. Er erinnere sich, daß er in einer gewissen Absicht, auf die er sich jetzt nicht mehr besinnen könne, eine lange Reise auf der Eisenbahn zurückgelegt habe, und dann – er wisse nicht, ob den ganzen Tag oder die ganze Nacht der Küste zugewandert sei. Das Meer habe ihm im Sinne gelegen, als sein Verstand zu wanken angefangen. Schon als Knabe sei er auf dem Meere beschäftigt gewesen, habe aber später eine Stelle bei einem Buchhändler in einer Provinzialstadt angenommen. Nachdem er den Buchhändler wieder verlassen, habe er es in einer Schule versucht, und jetzt, da die Schule ihn verstoßen, müsse er etwas Anderes versuchen. Es sei einerlei, sagte er, was er versuche – es müsse stets früher oder später ein unglückliches Ende nehmen, wofür indessen Niemand zu tadeln sei als er selbst. Freunde, die ihm zu Hilfe kommen könnten, besitze er nicht, und er bitte, ihn zu entschuldigen, wenn er von seinen Verwandten nicht sprechen möge. Er wisse so wenig von ihnen, daß sie immerhin gestorben sein möchten, und ebenso sei er für sie todt. Es lasse sich nicht leugnen, daß dies für einen Menschen in seinem Alter ein trauriges Bekenntniß sei. Dasselbe könne ihm in der Meinung Anderer schaden – und nehme ohne Zweifel den Herrn, mit dem er sich in diesem Augenblicke zu unterhalten die Ehre habe, gegen ihn ein.
Diese seltsamen Antworten gab er in einem Tone und in einer Manier, die ebenso weit von aller Bitterkeit als von Gleichgültigkeit entfernt waren. Ozias Midwinter sprach in seinem zwanzigsten Jahre von seinem Leben, wie er etwa im siebzigsten hätte sprechen dürfen.
Zwei Umstände sprachen entschieden gegen das blinde Mißtrauen, das Mr. Brock in seiner Unschlüssigkeit gegen ihn hegte. Er hatte nämlich an eine Sparkasse in einem entlegenen Theile von England um sein Geld geschrieben und sodann mit demselben den Arzt und den Gastwirth bezahlt. Ein Mann von niedriger Sinnesart würde, nachdem er in dieser Weise gehandelt und seine Rechnungen bezahlt, seine Verpflichtungen gegen Andere leicht genommen haben. Ozias Midwinter aber sprach von seinen Verpflichtungen – und namentlich von seinen Verpflichtungen gegen Allan – mit einer Gluth der Dankbarkeit, die nicht allein überraschend, sondern förmlich peinlich anzuhören war. Er war förmlich erstaunt darüber, daß er in einem christlichen Lande mit der gewöhnlichsten christlichen Barmherzigkeit behandelt worden war, und sprach von der Art und Weise, in der Allan alle Verantwortlichkeit für die Kosten seines Obdachs, seiner Pflege und Wiederherstellung auf sich genommen, mit einem wilden Entzücken von Dankbarkeit und Erstaunen, das wie ein wahrer Blitz aus ihm hervorleuchtete »Gott sei mir gnädig!« rief der von der Welt verstoßene Unterlehrer, »seinesgleichen ist mir niemals vorgekommen; ich habe nie von seinesgleichen gehört!« Im nächsten Augenblicke aber war dieser eine Lichtstrahl, den er auf seine leidenschaftliche Natur hatte fallen lassen, wieder völlig erloschen. Seine unstäten Augen kehrten zu ihrem alten widerwärtigen Spiele zurück und wandten sich unruhig wieder von Mr. Brock ab; auch seine Stimme versank wieder in ihre unnatürliche Sicherheit und Ruhe des Tones. »Ich bitte Sie um Vergebung, Sir«, sagte er, »ich bin gewohnt gewesen, gehetzt und betrogen und ausgehungert zu werden. Alles Andere erscheint mir seltsam.« Halb angezogen, halb abgestoßen von dem Manne, bot Mr. Brock ihm zum Abschied die Hand; allein von einem plötzlichen Zweifel überfallen, zog er sie verlegen wieder zurück »Das war freundlich gemeint«, sagte Ozias Midwinter, seine eigenen Hände schnell entschlossen hinterrücks verschränkend. »Ich beklage mich nicht darüber, daß Sie sich eines Besseren besannen. Ein Mann, der keine befriedigende Auskunft über sich zu geben im Stande ist, ist nicht der Mann, dem ein Herr in Ihrer Stellung die Hand bieten kann.«
Mr. Brock verließ in gründlicher Verwirrung das Wirthshaus. Ehe er zu Mrs. Armadale zurückkehrte, ließ er ihren Sohn zu sich kommen. Es war ja Aussicht vorhanden, daß der Fremde seine Zunge in der Unterhaltung mit Allan nicht so strenge bewacht hatte; und bei Allan’s Offenheit stand es nicht zu befürchten, daß er dem Pfarrer irgendetwas verhehlen werde, das sich zwischen ihm und dem Fremden zugetragen.
Doch auch hier erzielte Mr. Brock’s Diplomatie keine großen Resultate. Sowie die Rede einmal auf Ozias Midwinter gekommen war, schwatzte Allan in seiner gewohnten leichten, unbekümmerten Weise von seinem neuen Freunde in einem Zuge. Doch hatte er wirklich nichts von Wichtigkeit mitzutheilen, denn er selbst hatte nichts Wichtiges erfahren. Sie hatten sich stundenlang vom Schiffbau und vom Segeln unterhalten, und Allan hatte manche nützliche Winke aufgefangen; insbesondere hatten sie sich mit einander über das ernste Ereigniß des bevorstehenden Von-Stapel-laufens der Jacht berathen. Bei andern Gelegenheiten waren sie auf andere Gegenstände abgeschweift, deren Allan sich im Augenblicke nicht zu erinnern vermochte. Aber hatte Midwinter im Flusse dieser freundschaftlichen Unterhaltungen nichts über seine Familie fallen lassen? Nichts, außer daß dieselbe nicht gut gegen ihn gehandelt – zum Henker mit seiner Familie! War er in Bezug auf seinen eigenthümlichen Namen irgendwie empfindlich? Nicht im geringsten; er war, als ein vernünftiger Bursche, seinem Freunde mit einem guten Beispiele vorangegangen, indem er selbst darüber lachte – zum Henker mit seinem Namen; derselbe war gut genug, sobald man sich einmal an ihn gewöhnt! Was hatte Allan an ihm gefunden, um eine so große Zuneigung zu ihm zu fassen? Allan hatte das an ihm gefunden, was er an andern Leuten zu finden nicht gewohnt war. Er glich den übrigen jungen Leuten in der Nachbarschaft nicht im mindesten. Alle diese Bursche waren nach demselben Muster zugeschnitten. Jeder Einzelne von ihnen war so gesund, muskulös, geräuschvoll, hartköpfig, reingewaschen und roh wie der Andere; sie tranken alle, Einer wie der Andere, dieselbe Quantität Bier, rauchten den ganzen Tag dieselben kurzen Thonpfeifen, ritten die besten Pferde, nahmen den besten Hund auf die Hühnerjagd und stellten Abends die beste Flasche Wein auf ihren Tisch; jeder Einzelne von ihnen nahm jeden Morgen sein kaltes Bad und rühmte sich dessen an frostigen Wintertagen; jeder von ihnen sah einen herrlichen Scherz im Schuldenmachen und hielt das Wetten bei Pferderennen für eine der verdienstvollsten Handlungen, deren ein menschliches Wesen fähig ist. Sie waren ohne Zweifel auf ihre Weise vortreffliche Leute; aber leider einander alle völlig gleich. Es sei ein wahres Glück, meinte Allan, einen Mann wie Midwinter zu finden, einen Mann, der nicht nach dem einförmigen Muster dieser Gegend zugeschnitten sei und dessen Art und Weise den einen großen Vorzug besaß, seine ihm eigenthümliche zu sein.
Der Pfarrer verschob alle ferneren Vorstellungen bis zu einer passenderen Gelegenheit und kehrte zu Mrs. Armadale zurück. Er konnte sich nicht verhehlen, daß eigentlich Allan’s Mutter diejenige« Person sei, die für Allan’s unkluges Benehmen gegen den Fremden verantwortlich war. Denn hätte der junge Bursche etwas weniger von den kleinen Gutsherrschaften der Umgegend und dafür etwas mehr von der großen Außenwelt in der Heimath und im Auslande gesehen, so würde das Vergnügen, das er in Ozias Midwinters Gesellschaft fand, vielleicht ein geringeres gewesen sein.
In dem Bewußtsein des unbefriedigenden Resultats seines Besuches im Wirthshause war Mr. Brock, als er sich abermals mit Mrs. Armadale allein befand, ein wenig besorgt über die Aufnahme, die sein Bericht finden würde. Seine Ahnungen bestätigten sich bald. Wie er die Sache immer zu beschönigen versuchte, Mrs. Armadale hielt sich an das eine verdächtige Factum, daß der Unterlehrer ein so entschlossenes Schweigen über sich selbst bewahrte – ein Factum, das sie ihrer Ansicht nach zu den strengsten Maßregeln berechtigte, um ihren Sohn von ihm zu trennen. Für den Fall, daß der Pfarrer sich weigere, sich ferner in die Sache zu mischen, erklärte sie, selbst an Ozias Midwinter schreiben zu wollen. Mr. Brock’s Gegenvorstellungen reizten sie in dem Grade, daß sie ihn durch die Erwähnung jenes verbotenen Gegenstandes überraschte, indem sie ihn an die Unterhaltung erinnerte, die vor fünf Jahren zwischen ihnen stattgefunden hatte, als er jene Annonce in der Zeitung entdeckt gehabt. Sie erklärte mit großer Heftigkeit, daß, was immer dagegen zusprechen scheine, der in der Annonce aufgerufene Landstreicher Armadale vielleicht derselbe Landstreicher sei, der sich jetzt unter dem Namen Ozias Midwinter in der Dorfschenke aufhalte. Der Pfarrer wiederholte vergebens seine Ueberzeugung, daß dieser Name der aller unwahrscheinlichste sei, den ein Mensch, und zumal ein junger Mensch, annehmen würde. Nichts vermochte Mrs. Armadale zu beruhigen, als absolute Ergebung in ihren Willen. Da er die Folgen befürchtete, wenn er sich ihr bei ihrem gegenwärtigen schwachen Gesundheitszustande noch ferner widersetzte und außerdem eine ernstliche Veruneinigung zwischen Mutter und Sohn besorgte, falls Erstere sich persönlich in die Sache mischte, so unterzog Mr. Brock sich der Aufgabe, Midwinter nochmals auszusuchen und ihm ganz offen zu erklären, daß er entweder eine befriedigende Auskunft über sich geben oder seinen vertrauten Umgang mit Allan abbrechen müsse. Die einzigen Gegenbedingungen, die Mr. Brock dafür Mrs. Armadale auferlegte, waren erstens, daß sie geduldig warten solle, bis der Arzt erklärt haben werde, daß der Mann so weit wiederhergestellt sei, um seine Reise fortzusetzen, und zweitens, daß sie den Gegenstand inzwischen in keiner Weise gegen ihren Sohn erwähne.
Nach Verlauf einer Woche war Midwinter wohl genug, um sich von Allan in dem Ponywagen des Wirthshauses ausfahren lassen zu können; und nach zehn Tagen erklärte der Arzt gegen Mr. Brock, daß Midwinter’s Zustand ihm erlaube, weiter zu reisen. An jenem zehnten Tage begegnete Mr. Brock Allan mit seinem neuen Freunde in einer der landeinwärts führenden Allem, wo sie die letzten Strahlen der Wintersonne genossen. Er wartete, bis die Beiden von einander geschieden waren, und folgte dann dem Unterlehrer auf seinem Heimwege nach dem Wirthshause.
Des Pfarrers Entschluß, gerade heraus und ohne Mitleid zu sprechen, war in Gefahr, wankend zu werden, als er dem freundlosen Manne näher kam und sah, wie schwach noch immer sein Gang war, wie lose sein Rock an ihm herabhing und wie schwer er sich auf seinen Stock stützte. In seinem humanen Widerstreben, die entscheidenden Worte zu früh zu sprechen, versuchte Mr. Brock zuerst ein kleines Kompliment über seine ausgedehnten Kenntnisse auf die sich aus den beiden Büchern, dem Bande von Sophocles und dem von Goethe, schließen lasse, welche man in seiner Handtasche gefunden, und frug ihn, wie lange er schon mit der deutschen und der griechischen Sprache vertraut sei. Midwinters feines Ohr entdeckte etwas ungewöhnliches in Mr. Brocks Stimme. Er wandte sich in dem sinkenden Abendlichte um und schaute dem Pfarrer plötzlich mißtrauisch ins Gesicht.
»Sie wünschen mir etwas zu sagen«, erwiderte er, »und es ist etwas Anderes als das, wovon Sie jetzt reden.«
Es blieb Mr. Brock nichts weiter übrig, als auf die Herausforderung einzugehen. Sehr zartfühlend und mit vielen einleitenden Worten, die der Andere mit ununterbrochenem Schweigen anhörte, näherte Mr. Brock sich dem Gegenstande. Doch lange, ehe er denselben erreicht, lange bevor ein Mann von gewöhnlichem Ernpfindungsvermögen etwas von dem Kommenden geahnt haben würde, stand Ozias Midwinter in der Allee still und sagte dem Pfarrer, er brauche nicht weiterzureden.
»Ich verstehe Sie, Sir«, sagte der Schullehrer. Mrs. Armadale hat eine bestimmte Stellung in der Welt; Mr. Armadale hat nichts zu verheimlichen, nichts, dessen er sich zu schämen braucht. Ich stimme mit Ihnen überein, daß ich kein passender Gefährte für ihn bin. Die beste Art und Weise, in der ich ihm für seine Güte gegen mich danken kann, besteht darin, daß ich dieselbe nicht mißbrauche. Sie dürfen sich darauf verlassen, daß ich diesen Ort morgen früh verlassen werde.«
Er sprach kein Wort weiter und wollte kein Wort weiter hören. Mit einer Selbstbeherrschung, die bei seinem Alter und seinem Temperament ans Wunderbare grenzte, nahm er höflich den Hut ab, verbeugte sich und kehrte allein nachdem Wirthshause zurück.
Mr. Brock schlief diese Nacht nur schlecht. Der Erfolg der Unterredung in der Allee hatte das Problem über Ozias Midwinter unlösbarer als je gemacht.
Früh am nächsten Morgen ward dem Pfarrer ein Brief aus dem Wirthshause gebracht und der Bote meldete, daß der fremde Herr abgereist sei. Der Brief enthielt eine unversiegelte Einlage an Allan und ersuchte Allan’s Erzieher, dieselbe, nachdem er selbst sie gelesen, nach seinem eignen Gutdünken entweder an den Adressaten abzugeben oder zu vernichten. Die Einlage war von einer überraschenden Kürze; sie ent hielt nicht mehr als ein Dutzend Worte: »Tadeln Sie Mr. Brock nicht; Mr. Brock hat Recht. Ich danke Ihnen; leben Sie wohl! – O. M.«
Der Pfarrer beförderte das Billet selbstverständlich an seine Bestimmung und schrieb zugleich ein paar Zeilen an Mrs. Armadale, um sie durch die Nachricht von der Abreise des Schullehrers zu beruhigen. Dann wartete er, nicht eben in besonderer Gemüthsruhe, den Besuch seines Zöglings ab, den dieser ihm nach dem Empfange des Billets höchst wahrscheinlich machen würde. Dem Benehmen Midwinter’s mochte vielleicht ein tieferes Motiv zu Grunde liegen – vielleicht auch nicht; doch war es unmöglich zu leugnen, daß sein bisheriges Verhalten der Art gewesen sei, um den Argwohn des Pfarrers als unbegründet erscheinen zu lassen und Allan’s gute Meinung von ihm zu rechtfertigen.
Der Morgen verstrich und der junge Armadale ließ sich nicht sehen. Nachdem Mr. Brock ihn vergebens in dem Hofe gesucht, wo der Bau der Jacht vor sich ging, begab er sich nach Mrs. Armadale’s Hause und erfuhr dort von dem Stubenmädchen Dinge, die seine Schritte sofort nach dem Wirthshause lenken. Der Wirth bekannte augenblicklich die Wahrheit; der junge Mr. Armadale sei mit einem offenen Briefe in der Hand zu ihm gekommen und habe darauf bestanden, daß man ihn von dem Wege unterrichte, den sein Freund eingeschlagen. Der junge Herr sei sehr aufgebracht gewesen, und das Stubenmädchen, welches die Gäste bediente, habe einfältiger weise noch eines Umstandes erwähnt, welcher Oel in die Flamme gegossen. Sie habe nämlich erklärt, daß sie gehört, wie Mr. Midwinter nach seiner Heimkehr sich in sein Zimmer eingeschlossen habe und in ein heftiges Weinen ausgebrochen sei. Dieser unbedeutende Umstand habe dem jungen Mr. Armadale die Gluth ins Gesicht getrieben; er habe getobt und geflucht, sei nach dem Stalle gestürzt, habe den Stallknecht gezwungen, ihm ein Pferd zu satteln, und sei im vollen Galopp auf dem Wege davon geritten, den Ozias Midwinter eingeschlagen hatte.
Nachdem Mr. Brock dem Wirth ans Herz gelegt, Allan’s Benehmen geheim zu halten, falls von Mrs. Armadales Dienerschaft Jemand nach dem Wirthshause käme, begab er sich wieder nach Hause und erwartete voll ängstlicher Besorgniß, was der Tag mit sich bringen werde.
Zu seiner unaussprechlichen Erleichterung erschien sein Zögling spät am Nachmittage auf der Pfarrei. Allan verrieth in seinem Gesicht und seiner Stimme eine trotzige Entschlossenheit, die sein alter Freund bisher nie an ihm bemerkt hatte. Ohne Mr. Brocks Frage abzuwarten, erzählte er seine Geschichte in seiner gewohnten offenen Weise. Er hatte Midwinter auf der Landstraße eingeholt und, nachdem er vergebens versucht, zuerst ihn zum Umkehren zu bewegen, und dann, zu erfahren, wohin er gehe, hatte er gedroht, ihn den ganzen Tag begleiten zu wollen, und ihm dadurch das Bekenntniß abgezwungen, daß er sein Glück zunächst in London zu versuchen beabsichtige. Nachdem er einmal soviel erreicht, hatte Allan darauf bestanden, daß sein Freund ihm seine Londoner Adresse mittheile. Dieser hatte ihn angefleht, nicht weiter in ihn zu dringen; allein Allan hatte sich dessen ungeachtet nicht abweisen lassen und endlich seinem Freunde die Adresse dadurch abgetrotzt; daß er an dessen Dankbarkeit appelliert hatte, wofür er ihn später um Verzeihung gebeten, da er sich seines Benehmens sogleich geschämt »Ich habe den armen Burschen lieb und will ihn daher nicht aufgeben«, sagte Allan zum Schlusse, indem er mit geballter Faust auf den Tisch des Pfarrers schlug. »Fürchten Sie nicht, daß ich meiner Mutter Verdruß machen werde; ich überlasse es Ihnen, Mr. Brock, mit ihr darüber zu reden, wann und wie Sie wollen, für jetzt will ich nur noch Eins hinzufügen und der Sache damit ein Ende machen: Die Adresse befindet sich hier in mein Taschenbuch eingetragen, und hier stehe ich, für diesmal fest in einem Entschlusse. Ich will Ihnen und meiner Mutter Zeit geben, sich die Sache zu überlegen; nach Ablauf dieser Frist aber will ich, falls mein Freund Midwinter nicht zu mir kommt, zu meinem Freunde Midwinter gehen!«
Und dabei blieb es für den Augenblick. Dies also war die Folge davon, daß man den unglücklichen Unterlehrer abermals in die Welt hinausgestoßen hatte.