Читать книгу Armadale - Уилки Коллинз, Elizabeth Cleghorn - Страница 5

Erster Band
Fünftes Kapitel

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Seit Mr. Neal das letzte Mal von seiner Lectüre aufgeblickt, hatten in dem Zimmer und unter seinen Zuhörern einige Veränderungen stattgefunden. Ein Sonnenstrahl fiel aus das Sterbelager, und das Kind, von Müdigkeit überwältigt, lag friedlich schlummernd in dem goldenen Licht. Das Gesicht des Vaters hatte sich merklich verändert; durch den gequälten Geist zur Thätigkeit gezwungen, hatten die bisher bewegungslosen unteren Gesichtsmuskeln jetzt sich zu verzerren angefangen. Der dichte Schweiß aus der Stirn des Sterbenden hatte den Arzt veranlaßt, sich zu erheben, um diesem ein Stärkungsmittel zu geben. Auf der andern Seite des Bettes stand der leere Sessel der Gattin, welche in dem Augenblick wo Mr. Armadale den Leser unterbrochen, hinter das Kopfende des Bettes zurückgetreten war, um seinen Blicken zu eingehen. Dort stand sie, sich versteckend, an die Wand gelehnt und heftete die Augen in gieriger Erwartung auf das Manuscript in Mr. Neal’s Händen.

Eine Minute später ward die Stille abermals durch Mr. Armadale unterbrochen.

»Wo ist sie?« frug er, indem er zornig auf den leeren Sessel blickte. Der Doctor deutete auf die Stelle, wo sie stand, und so blieb ihr nichts weiter übrig, als vorzutreten. Sie kam langsam und stellte sich vor ihn hin.

»Du versprachst zu gehen, wenn ich es Dir heißen würde«, sagte er. »Geh’ jetzt!«

Mr. Neal gab sich alle Mühe, seine Hand zu beherrschen, die zwischen den Blättern des Manuscripts die Stelle anmerkte; gleichwohl konnte er ein Zittern derselben nicht unterdrücken. Ein Verdacht, der inzwischen langsam in seinem Geiste aufgestiegen war, ward ihm zur Gewißheit, als er jene Worte hörte. Der Brief war von einer Enthüllung zur andern fortgeschritten, bis derselbe jetzt endlich bei einer letzten Offenbarung angelangt war, welche der Sohn erst in späteren Jahren, das Weib aber nie erfahren sollte. Deshalb hatte der Sterbende, noch bevor er seiner Gattin erlaubt hatte, die Erzählung mit anzuhören, bei sich beschlossen, der Stimme des Vorlesers Schweigen zu gebieten, wenn er zu dieser Stelle käme; und daß ihn in diesem Entschlusse die zärtlichsten Bitten seiner Gattin um keinen Zoll wanken gemacht hatten, dies erfuhr sie jetzt von seinen eigenen Lippen.

Ohne ein Wort zu erwidern stand sie da und blickte ihn an; mit ihren Blicken sprach sie ihr letztes Flehen aus – vielleicht ihr letztes Lebewohl. Seine Augen hatten keinen Blick der Erwiderung für sie, sondern wanderten erbarmungslos von ihr fort nach dem schlafenden Knaben. Sprachlos wandte sie sich vom Bette ab, und ohne einen Blick auf das Kind, ohne ein Wort zu den beiden Fremden, die sie athemlos beobachteten, verließ sie, ihrem gegebenen Versprechen getreu, in tiefem Schweigen das Zimmer.

Es lag etwas in der Art und Weise ihres Fortgehens, das die Selbstbeherrschung der beiden Männer erschütterte, welche Zeugen desselben waren. Als die Thür sich hinter ihr schloß, fühlten sie ein instinctmäßiges Widerstreben, sich noch ferner mit einer Sache zu befassen, deren Tragweite sie nicht im mindesten ermessen konnten. Der Doctor war der Erste, der diesem Gefühle Ausdruck gab, indem er von dem Patienten Erlaubniß zu erhalten versuchte, sich zurückziehen zu dürfen, bis der Brief beendet sei. Der Patient verweigerte ihm diese Erlaubniß.

Dann erhob Mr. Neal mit etwas ernsterem Nachdruck seine Stimme.

»Der Doctor«, begann er, »ist gleich mir in seinem Berufe daran gewöhnt, daß ihm von Andern Geheimnisse anvertraut werden. Doch ist es, ehe ich in der Sache weiter gehe, meine Pflicht, Sie zu fragen, ob Sie wirklich die außerordentliche Stellung begreifen, die wir Ihnen gegenüber einnehmen. Sie haben Mrs. Armadale soeben vor unsern Augen von Ihrem Vertrauen ausgeschlossen, welches Sie doch jetzt zwei Männern anbieten, die Ihnen völlig fremd sind.«

»Ja«, erwiderte Mr. Armadale, »eben weil sie mir fremd sind.« Diese wenigen Worte ließen einen Schluß zu, der nicht eben geeignet war, den Argwohn der beiden Männer zu beschwichtigen. Mr. Neal sprach denselben deutlich in folgenden Worten aus:

»Sie benöthigen dringend meiner und des Doctors Hilfe«, sagte er. »Habe ich Ihre Worte so aufzufassen, daß es Ihnen, solange Sie unseres Beistandes gewiß sind, völlig gleichgültig ist, welchen Eindruck der Schluß Ihrer Mittheilungen auf uns macht?«

»Ja. Ich schone Sie nicht. Ich schone mich selber nicht. Mein Weib aber schone ich.«

»Sie zwingen mich zu einer Schlußfolgerung Sir, die mir als eine sehr bedenkliche erscheint«, entgegnete Mr. Neal. »Falls Sie mir diesen Brief zu Ende zu dictiren verlangen, werden Sie mir, nachdem ich den größeren Theil desselben bereits vorgelesen, auch erlauben, den Rest noch in Gegenwart dieses Herrn als Zeugen vorzulesen.«

»Lesen Sie!«

Voll ernsten Zweifels ließ der Arzt sich wieder auf seinen Sessel nieder; voll ernster Zweifel schlug Mr. Neal das Blatt um und las weiter:

»Ehe ich den Todten ruhen zu lassen vermag, habe ich noch etwas zu berichten. Ich habe erwähnt, wie man seinen Leichnam fand, ohne jedoch der Umstände zu gedenken, unter denen er seinen Tod fand.

Es war bekannt, daß er sich auf dem Verdeck befunden hatte, als man die Mannschaft der Jacht in den beiden Booten dem Wrack zu rudern gesehen; aber in der Verwirrung, die durch die Angst der Mannschaft herbeigeführt ward, hatte man ihn später nicht beachtet. Zu jener Zeit stand das Wasser fünf Fuß hoch in der Kajüte und stieg mit großer Schnelligkeit. Es unterlag wenig Zweifel, daß er freiwillig in jenen vom Wasser erfüllten Raum hinuntergestiegen sei. Denn sowohl die Entdeckung des Schmuckkästchens seiner Gattin, das unter ihm auf dem Fußboden gefunden ward, als auch der Umstand, daß er das Herannahen unserer Rettungsboote bemerkt hatte, machten es vollkommen wahrscheinlich, daß er in die Kajüte hinabgestiegen sei, um einen Versuch zu machen, das Schmuckkästchen zu retten. Weniger wahrscheinlich war es, obgleich immer wohl anzunehmen, daß sein Tod durch irgendeinen Unfall beim Untertauchen herbeigeführt worden sei, der ihm für den Augenblick die Besinnung geraubt. Doch eine Entdeckung, welche von der Mannschaft der Jacht gemacht wurde, wies auf eine deutliche Lösung des Geheimnisses hin und erfüllte die Leute alle mit Entsetzen. Als sie im Verlauf ihrer Nachsuchung an die Kajüte kamen, fanden sie die Springluke verriegelt und die Thür von außen verschlossen. Hatte man die Kajüte zugeschlossen, ohne zu wissen, daß sich Ingleby dort befinde? Allein von dem angsterfüllten Zustande der Mannschaft gänzlich abgesehen, war durchaus kein Grund vorhanden, weshalb irgend Jemand, ehe er das Wrack verließ, die Kajüte hätte verschließen sollen. Deshalb blieb nur noch ein Schluß übrig. Hatte irgendeine mörderische Hand absichtlich den Mann eingeschlossen, damit er in dem schnell steigenden Wasser ertränke?

Ja. Eine mörderische Hand hatte ihn eingeschlossen, um ihn ertrinken zu lassen. Diese Hand war die meinige.«

Der Schotte sprang von seinem Sitze am Tische empor; der Doctor fuhr von dem Bette zurück. Von dem gleichen Abscheu erfüllt, durch dasselbe Grausen erstarrt, blickten beide auf den sterbenden Bösewicht. Dort lag er, mit dem Haupte seines Kindes an seiner Brust; von der Theilnahme der Menschen verlassen, von Gottes Gerechtigkeit verflucht – dort lag er, in der Vereinsamung eines Kain, und gab ihren Blick zurück.

In demselben Augenblicke, wo die beiden Männer aufstanden, ward die Thür, die in das anstoßende Zimmer führte, heftig von der Außenseite erschüttert, und ein Geräusch, wie das eines schweren Falles, machte sie beide schweigen. Der Doctor, welcher der Thüre zunächst stand, öffnete dieselbe, ging hinaus und schloß sie augenblicklich wieder hinter sich. Mr. Neal wandte dem Bette den Rücken zu und wartete schweigend ab, was sich ereignet hatte. Das Geräusch, welches das Kind nicht aus dem Schlummer geweckt, hatte auch nicht die Aufmerksamkeit des Vaters erregt. Seine eigenen Worte hatten ihn weit von dem hinweg versetzt, was sich an seinem Sterbebette zutrug. Sein hilfloser Körper befand sich wieder aus dem Wrack, und das Gespenst seiner leblosen Hand drehte wieder den Schlüssel in der Kajütenthür um.

Im nächsten Zimmer wurde heftig geschellt – eifrige Stimmen redeten durch einander, eilige Schritte gingen hin und her – es vergingen einige Augenblicke, und dann kam der Doctor zurück »Hatte sie gelauscht?« flüsterte Mr. Neal auf Deutsch. »Die Frauen sind beschäftigt, sie zum Bewußtsein zurückzurufen«, erwiderte der Arzt ebenfalls leise. »Sie hat alles gehört. Sagen Sie mir um Gottes willen, was wir zunächst thun sollen?« Ehe es dem Schotten möglich war, zu antworten, erhob Mr. Armadale abermals seine Stimme. Die Rückkehr des Doctors hatte ihn zur Gegenwart zurückgerufen.

»Fahren Sie fort«, sagte er, als wäre nichts vorgefallen.

»Ich mag mich ferner nicht mit Ihrem schändlichen Geheimnisse befassen«, versetzte Mr. Neal »Sie sind Ihrem eigenen Bekenntnisse zufolge ein Mörder. Falls jener Brief beendet werden soll, verlangen Sie wenigstens nicht von mir, daß ich dazu die Feder ansetze!«

»Sie haben mir Ihr Versprechen gegeben«, war die Antwort, die mit derselben unbeweglichen Gelassenheit gesprochen wurde. »Sie müssen entweder für mich schreiben oder Ihr Wort brechen.«

Für den Augenblick war Mr. Neal zum Schweigen gebracht. Dort lag der Mann, durch den Schatten des Todes gegen den Abscheu seiner Mitmenschen geschützt, außer dem Bereiche aller menschlichen Verdammung, außer dem Bereiche aller irdischen Gesetze; nur eines einzigen letzten Entschlusses sich bewußt, des Entschlusses, den Brief an seinen Sohn zu beenden.

Mr. Neal zog den Arzt auf die Seite »Ein Wort«, sagte er auf Deutsch. »Bleiben Sie bei Ihrer Behauptung, daß er die Sprache verlieren kann, bis wir nach Stuttgart zu senden im Stande sind?«

»Sehen Sie seine Lippen an«, erwiderte der Arzt, »und urtheilen Sie dann selbst.«

Die Lippen des Sterbenden beantworteten die Frage; denn eine Verzerrung der Mundwinkel, die kaum bemerkbar gewesen war, als Mr. Neal zuerst ins Zimmer getreten, war jetzt deutlich sichtbar, und seine langsame Articulation ward mit jedem Worte, das er sprach, immer schwerer und mühsamer. Die Lage war eine fürchterliche. Nach einem Augenblicke des Zögerns machte Mr. Neal einen letzten Versuch, sich aus derselben herauszuziehen.

»Können Sie es wagen, mich jetzt, da mir die Augen geöffnet sind, an ein Versprechen zu binden, das ich in Unwissenheit gab?«

»Nein«, erwiderte Mr. Armadale, »ich lasse Ihnen die Freiheit, Ihr Wort zu brechen.«

Der Blick, welcher diese Antwort begleitete, versetzte dem Stolze des Schotten einen empfindlichen Stich. Als er das nächste Mal sprach, geschah dies von seinem Platze am Schreibtische aus.

»Es hat noch kein Mensch von mir sagen können, daß ich je mein Wort gebrochen«, entgegnete er aufgebracht, »und selbst Sie sollen dies jetzt nicht von mir sagen dürfen. Doch vergessen Sie nicht! Wenn Sie mich an mein Versprechen binden, so binde ich Sie an meine Bedingung. Ich habe mir unbedingte Freiheit in meinem Verhalten vorbehalten, und erinnere Sie hiermit daran, daß ich, sobald ich mich von Ihrem Anblicke befreit sehe, nach eigenem Gutdünken Gebrauch von derselben zu machen beabsichtige.«

»Bedenken Sie, daß er im Sterben liegt«, bat der Doktor sanft.

»Kehren Sie auf Ihren Platz zurück, Sir«, sagte Mr. Neal, auf den leeren Sessel deutend. »Ich will das, was mir noch zu lesen bleibt, nur in Ihrer Gegenwart lesen, und was noch zu schreiben ist, nur in Ihrer Gegenwart schreiben Sie haben mich hierher gebracht. Ich habe das Recht, daraus zu bestehen – und ich bestehe darauf – daß Sie bis zuletzt als Zeuge dableiben.«

Der Doktor fügte sich, ohne eine Einwendung zu machen, in seine Lage Mr. Neal nahm sein Manuscript wieder auf und las den Rest desselben ohne weitere Unterbrechung bis zu Ende.

»Ich habe, ohne ein Wort zu meiner Entschuldigung vorzubringen, meine Schuld bekannt. Ohne ein Wort zu meiner Vertheidigung zu sagen, will ich jetzt berichten, in welcher Weise das Verbrechen verübt ward.

Kein Gedanke an ihn beschäftigte mich, als ich seine Gattin bewußtlos auf dem Verdeck des Schiffes liegen sah. Ich that das Meinige, um sie sicher in das Boot zu schaffen. Erst nachdem dies geschehen, kam er mir wieder in den Sinn. In der Verwirrung, welche herrschte, während unsre Mannschaft die Leute des Schiffes zwang, ordentlich und der Reihe nach ins Boot zu steigen, fand ich Gelegenheit, unbeachtet nach ihm zu suchen. Nicht wissend, ob er sich mit im ersten Boote befunden oder noch an Bord des Wracks sei, näherte ich mich der Mitte des Verdecks und sah ihn mit leeren Händen und von Wasser triefend die Kajütentreppe herauskommen. Nachdem er, ohne mich zu bemerken, einen schnellen begierigen Blick aus das Boot geworfen, überzeugte er sich, daß ihm noch Zeit bliebe, ehe die Mannschaft abstoßen könne. »Noch einmal!« sprach er zu sich selber und verschwand wieder, um einen letzten Versuch zur Rettung des Schmuckkästchens zu machen. Der Teufel flüsterte mir ins Ohr: »Erschieße ihn nicht, wie einen Mann; ersäufe ihn, wie einen Hund!« Er befand sich unter Wasser, als ich die Springluke verriegelte. Aber sein Kopf tauchte aus der Wasserfläche empor, ehe ich die Kajütenthür verschließen konnte. Er blickte mich an, und ich ihn – und ich schloß die Thür vor seinen Augen. Im nächsten Augenblick stand ich wieder unter den Wenigen, die noch auf dem Verdeck harrten, und eine Minute später war es zu spät, um zu bereuen; der Sturm drohte uns mit Vernichtung und die Mannschaft ruderte mit aller Gewalt vom Schiffe fort.

Mein Sohn! Ich verfolge Dich aus meinem Grabe mit einem Bekenntnisse, womit meine Liebe Dich gern verschont hätte. Lies weiter, dann wirst Du erfahren warum.

Ich will nichts von meinen Leiden sagen, will Dich nicht um Mitleid für mein Andenken bitten. Während ich dies schreibe, fühle ich eine seltsame Mattigkeit des Herzschlags, ein seltsames Zittern der Hand, welches mich mahnt, zum Schlusse zu eilen. Ich verließ die Insel, ohne zu wagen, das Weib, welches ich in so jammervoller Weise verloren und dem ich ein so schmachvolles Unrecht zugefügt, noch einmal zu sehen. Als ich mich entfernte, lastete der ganze Verdacht, den Ingleby’s Todesart erweckt hatte, auf der Mannschaft des französischen Schiffes. Es konnte keinem derselben ein Beweggrund für diesen Mord untergeschoben werden; aber da sie meistens als geächtete und jedes Verbrechens fähige Missethäter bekannt waren, so fiel der Verdacht auf sie und man unterwarf sie einer gerichtlichen Untersuchung. Erst später hörte ich durch Zufall, daß sich der Verdacht auf mich gelenkt habe. Die Wittwe allein erkannte aus der undeutlichen Beschreibung, die man ihr von dem Fremden machte, welcher sich unter der Mannschaft der Jacht befunden hatte und am Tage nach der That verschwunden war, wer der Mörder gewesen; sie allein wußte auch, warum ihr Gatte gemordet worden sei. Als sie diese Entdeckung machte, hatte sich ein falsches Gerücht von meinem Tode auf der Insel verbreitet, und diesem Gerüchte verdankte ich vielleicht, daß ich von jeder gerichtlichen Verfolgung verschont blieb. Auch war es wohl möglich, da außer Ingleby kein menschliches Auge mich die Kajütenthür hatte verschließen sehen, daß es an hinreichenden Beweismitteln gebrach, um eine Untersuchung zu rechtfertigen; – vielleicht aber bebte die Wittwe selbst vor Enthüllungen zurück, welche die unvermeidliche Folge einer einzig und allein auf ihren Verdacht begründeten öffentlichen Anklage gegen mich gewesen wären. Doch, wie dem immer sein mochte, das Verbrechen, welches ich ungesehen verübt, ist bis auf diesen Tag unbestraft geblieben.

Ich verließ Madeira in einer Verkleidung und kehrte nach Westindien zurück. Die erste Nachricht, die mich traf, als das Schiff in den Hafen von Barbadoes einlief, war die von dem Tode meiner Mutter. Ich hatte nicht das Herz, zu der alten Heimath zurückzukehren. Die Aussicht, Tag und Nacht von meinem eigenen Schuldbewußtsein gemartert in Einsamkeit zu Hause zu leben, war mehr, als ich den Muth hatte zu ertragen. Ohne zu landen oder mich irgend Jemandem zu erkennen zu geben, reiste ich weiter, so weit, wie ich mit dem Schiffe gehen konnte – bis nach der Insel Trinidad.

Dort sah ich Deine Mutter zum ersten Male. Es war meine Pflicht, ihr die Wahrheit zu sagen – und ich bewahrte hinterlistiger Weise mein Geheimniß; es war meine Pflicht, ihr das hoffnungslose Opfer ihrer Freiheit und ihres Glücks für ein Dasein, wie das meinige, zu ersparen – und ich fügte ihr das Unrecht zu, sie zu heirathen. Sollte sie, wenn Du dies liest, noch am Leben sein, so habe Erbarmen mit ihr und verhehle ihr die Wahrheit. Der einzige Ersatz, den ich ihr zu geben im Stande bin, ist der, daß ich sie bis zuletzt nicht ahnen lasse, welch einen Mann sie geheirathet hat. Habe Mitleid mit ihr, wie ich es ihr bewiesen habe! Laß diesen Brief ein geheiligtes Geheimniß zwischen Vater und Sohn bleiben!

Zu derselben Zeit, da Du geboren wurdest, fing meine Gesundheit zu wanken an. Einige Monate später, in den ersten Tagen meiner Genesung, brachte man Dich zu mir und unterrichtete mich, daß Du während meiner Krankheit getauft worden seist. Deine Mutter hatte gethan, was die meisten liebenden Mütter thun; sie hatte ihrem Erstgeborenen den Namen seines Vaters gegeben. Auch Du hießest Allan Armadale. Selbst damals schon, als ich noch in glücklicher Unwissenheit über das lebte, was ich seitdem erfahren habe, fühlte ich mich von trüben Ahnungen erfüllt, indem ich Dich anblickte und an jenen unglückseligen Namen dachte.

Sobald ich mich hinlänglich erholt hatte, um die Reise zu wagen, ward meine Anwesenheit auf meinen Besitzungen in Barbadoes aufs dringendste verlangt. Es kam mir der Gedanke – wie unsinnig Dir derselbe auch erscheinen mag – die Bedingung zu brechen, die mich und meinen Sohn zwang, den Namen Armadale zu führen oder dem Armadale’schen Erbe zu entsagen. Schon damals verbreitete sich das Gerücht von einer beabsichtigten Emancipation der Sklaven – der Emancipation, die jetzt nahe bevorsteht. Es konnte Niemand sagen, in wie weit der Werth der westindischen Besitzungen von dieser drohenden Veränderung, falls sie in Wirklichkeit stattfände, berührt werden würde. Niemand konnte sagen – falls ich Dir wieder meinen eigenen väterlichen Namen gäbe und Dich für die Zukunft ohne jegliche andere Versorgung als die meiner eigenen väterlichen Besitzungen ließe – wie sehr Du etwa eines Tages die reichen Armadale’schen Besitzungen vermissen könntest oder zu welcher künftigen Armuth ich dadurch Dich und Deine Mutter verdammen würde. Bemerke wie ein Verhängniß dem andern folgte; wie Du zu Deinem Taufnamen kamst, und wie Dein Zuname, wider meinen Willen, Dir anhaftete!

Meine Gesundheit hatte sich in meiner Heimath gebessert; doch nur für kurze Zeit. Ich ward wieder krank, und die Aerzte verordneten mir das Klima von Europa. Indem ich England mied – Du wirst errathen, warum – reiste ich mit Dir und Deiner Mutter nach Frankreich und von da nach Italien. Dort nahmen wir unsern Aufenthalt; doch es war nutzlos! Der Tod hatte mich einmal gepackt und verfolgte mich, wohin ich auch gehen mochte. Ich ertrug es, denn ich besaß einen Trost, den ich nicht verdiente. Du magst jetzt voll Grausen vor meinem bloßen Andenken zurück beben; in jenen Tagen warst Du mein Trost, das einzige Labsal meines Herzens. Die letzten Lichtschimmer des Glücks, die mir in dieser Welt beschieden waren, waren die, welche mir aus meinem kleinen Sohne entgegen strahlten.

Wir verließen Italien und gingen nach Lausanne, von welchem Orte aus ich jetzt an Dich schreibe. Die heutige Post hat mir über die Wittwe des Gemordeten spätere und ausführlichere Nachrichten gebracht, als ich noch bisher erhalten. Der Brief liegt vor mir, während ich schreibe; er kommt von einem Jugendfreunde, der mit ihr gesprochen und sie zuerst davon unterrichtet hat, daß das Gerücht von meinem Tode in Madeira ein falsches gewesen. Er vermag sich nicht zu erklären, warum die Nachricht, daß ich noch am Leben, verheirathet und Vater eines Sohnes sei, sie in eine heftige Gemüthsbewegung versetzte, und fragt mich daher, ob ich dies zu erklären im Stande bin. Er drückt sich mit großer Theilnahme über sie aus: Ein junges schönes Weib, das sich in der Zurückgezogenheit eines entlegenen Fischerdorfes auf der Küste von Devonshire begräbt, deren Vater todt und deren Familie in unbarmherziger Unzufriedenheit über ihre Heirath ihr entfremdet ist. Seine Worte würden mir das Herz zerrissen haben, wenn nicht der Schluß seines Briefes, sowie ich denselben gelesen, meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch genommen und mir die Erzählung entrissen hätte, die in diesen Blättern enthalten ist.

Ich weiß jetzt etwas, wovon ich nie die leiseste Ahnung hatte, bis ich seinen Brief erhielt; ich weiß jetzt, daß die Wittwe des Mannes, dessen Tod auf meinem Gewissen lastet, ein nachgeborenes Kind zur Welt gebracht hat. Dieses Kind ist ein Knabe, ein Jahr älter als mein Sohn. In dem sichern Glauben, daß ich todt sei, hat sie dasselbe gethan, was die Mutter meines Sohnes that: Sie hat ihrem Sohne den Namen des Vaters gegeben. Es giebt in der zweiten Generation wie in der ersten zwei Allan Armadale. Nachdem die unglückselige Namensgleichheit so tödtliches Unheil zwischen den Vätern gestiftet, wird sie dasselbe zwischen den Söhnen herbeiführen.

Ein argloses Gemüth sieht in diesem allen vielleicht bis hierher nichts als die Folgen einer Reihe von Ereignissen, die eben zu nichts Anderem führen konnten. Ich aber, der für das Leben jenes Mannes Rede stehen soll; ich, der ich ins Grab hinabsinke, ohne die Strafe meines Verbrechens erlitten oder dasselbe gesühnt zu haben, ich sehe das, was einem schuldlosen Gemüth nicht erkennbar ist. Ich sehe Gefahr für die Zukunft, die in der Gefahr der Vergangenheit wurzelt; Trug, der seinem Trug entsprossen; Verbrechen, welches das Kind meines Verbrechens ist. Ist die Angst, die mich jetzt bis in die Seele erschüttert, ein Gespenst, das sich aus dem Aberglauben eines sterbenden Mannes erhebt? Ich blicke in das Buch, das die ganze Christenheit verehrt, und das Buch sagt mir, daß die Sünde der Väter an den Kindern heimgesucht werden soll. Ich schaue hinaus in die Welt, und erblicke rund um mich her die lebenden Zeugen jener fürchterlichen Wahrheit. Ich sehe, wie die Laster, die den Vater befleckten, auf das Kind vererbt werden und dasselbe ebenso beflecken; ich sehe die Schande, die den Namen des Vaters entehrte, auf das Kind fallen und dasselbe ebenfalls entehren. Ich werfe einen Blick in mein Inneres, und sehe wie mein Verbrechen unter denselben Umständen, unter denen der Same desselben in der Vergangenheit gesäet ward, für die Zukunft reift und in erblicher Befleckung von mir auf meinen Sohn übergeht.«

Mit diesen Zeilen endete das Geschriebene. Hier hatte der Schlag ihn getroffen und die Feder war seiner Hand entsunken.

Er kannte die Stelle; er erinnerte sich der Worte. In dem Augenblicke, wo die Stimme des Lesers schwieg, warf er einen verlangenden Blick auf den Arzt. »Ich habe das, was zunächst folgen soll, in meinem Geiste geordnet«, sagte er mit immer langsamer werdender Articulation »Helfen Sie mir, damit ich es aussprechen kann.«

Der Doctor gab ihm ein Stärkungsmittel ein und deutete Mr. Neal durch ein Zeichen an, er möge ihm Zeit lassen. Nach einer kleinen Weile flackerte die ersterbende Flamme seines Geistes nochmals in seinen Augen auf. Entschlossen mit seiner ihm versagenden Sprache kämpfend, forderte er den Schotten auf, die Feder zu ergreifen, und dictirte dann den Schluß seiner Erzählung, wie ihm sein Gedächtniß denselben darbot, in folgenden Worten:

»Verachte die Ueberzeugung eines Sterbendem wenn Du willst; aber gewähre mir, ich beschwöre Dich auf das feierlichste, eine letzte Bitte! Mein Sohn! Die einzige Hoffnung, die mir noch für Dich bleibt, hängt an einem großen Zweifel, an dem Zweifel, ob wir Herr über unser eigenes Schicksal sind oder nicht. Es ist möglich, daß der freie Wille des Menschen sein Geschick zu bezwingen vermag; es mag sein, daß wir, indem wir alle unfehlbar dem Tode entgegengehen, ebenso unfehlbar nur dem entgegengehen, was dem Tode nicht vorausgeht. Falls dem so ist, so achte, wenn Dir sonst nichts heilig sein sollte, auf die Warnung, die ich Dir aus meinem Grabe zurufe. Laß Dir bis zu Deinem Sterbetage nie eine lebende Seele nahe kommen, die je mittelbar oder unmittelbar mit dem Verbrechen in Verbindung gestanden hat, das Dein Vater beging. Meide die Wittwe des Mannes, den ich getödtet habe, falls sie noch am Leben ist. Meide das Mädchen, dessen gottlose Hand den Pfad zu ihrer Heirath ebnete, falls dieses Mädchen noch in ihrem Dienste ist. Und vor allem meide den Mann, dessen Name auch der Deinige ist. Beleidige Deinen besten Wohlthäter, falls der Einfluß dieses Wohlthäters Euch mit einander in Berührung gebracht hat. Verlasse das Weib, das Dich liebt, falls dieses Weib ein Verbindungsglied zwischen Dir und ihm ist. Verbirg Dich vor ihm unter einem angenommenen Namen. Mögen Gebirge und Meere Dich von ihm trennen. Sei undankbar, sei unversöhnlich; sei, ehe Du mit jenem Manne unter demselben Dache wohnst oder dieselbe Luft athmest, lieber alles, was Deiner besseren Natur am meisten zuwider ist. Laß die beiden Allan Armadale einander nie in dieser Welt begegnen, nie, nie, nie!

Dies ist der Weg, aus dem Du entkommen magst, wenn es überhaupt einen solchen giebt. Wenn Dir Deine Unschuld und Dein Glück werth ist, so schlage diesen Weg fürs ganze Leben ein!

Ich bin zu Ende. Hätte ich von einem gelinderen Mittel als dem dieses Bekenntnisses erwarten können, daß dasselbe Dich bestimmen würde, meinem Willen gemäß zu handeln, so würde ich Dir die Enthüllung erspart haben, welche diese Blätter enthalten. In diesem Augenblicke liegst Du in dem unschuldigen Schlummer eines Kindes an meiner Brust, während die Hand eines Fremden diese Worte für Dich niederschreibt, wie sie meinen Lippen entfahren. Bedenke, wie mächtig meine Ueberzeugung sein muß, wenn ich hier auf meinem Sterbebette den Muth habe, Dein ganzes Leben schon bei seinem Beginne durch den Schatten meines Verbrechens zu trüben. Bedenke dies – und laß Dich warnen! Bedenke es – und vergieb mir, wenn Du kannst!«

Dies waren die letzten Worte des Vaters an den Sohn.

Seiner ihm aufgedrungenen Pflicht unerbittlich getreu, legte Mr. Neal die Feder nieder und las die Zeilen, die er soeben geschrieben, laut vor. »Soll noch sonst etwas hinzugefügt werden?« frug er mit seiner mitleidslosen festen Stimme. Es sollte nichts mehr hinzugefügt werden.

Mr. Neal legte das Manuskript zusammen und schloß es in ein Couvert ein, das er mit Mr. Armadale’s Petschaft versiegelte. »Die Adresse?« sagte er mit unbarmherziger Geschäftsförmlichkeit »An Allan Armadale junior«, schrieb er, wie die Worte ihm vom Bette aus dictirt wurden. »Durch Güte des Herrn Godfrey Hammick, in Firma Hammick & Ridge, Lincoln’s-Inn-Fields, London.« Nachdem er die Adresse geschrieben, wartete er und überlegte einen Augenblick. »Soll Ihr Testamentsvollstrecker dies öffnen?« frug er.

»Nein! Er soll es meinem Sohne übergeben, wenn dieser alt genug ist, um es zu verstehen.«

»In dem Falle«, fuhr Mr. Neal mit der trockensten Geschäftsmäßigkeit fort, »will ich ein datiertes Schreiben beifügen, in welchem ich die Worte wiederhole, die Sie soeben gesprochen haben, und die Umstände auseinandersetze, unter denen meine Handschrift in dem Documente erscheint.« Er that dies in den kürzesten und deutlichsten Ausdrücken, las, was er geschrieben, wie das Vorhergehende laut vor, unterschrieb seinen Namen und seine Adresse, und ließ dann den Doctor als Zeugen des ganzen Verfahrens und als ärztliche Autorität in Bezug auf Mr. Armadales derzeitigen Zustand, ebenfalls unterzeichnen. Sobald dies geschehen, legte er alles in ein zweites Couvert, versiegelte dasselbe wie zuvor und adressierte es an Mr. Hammick, indem er »Zu eignen Händen« hinzufügte.

»Bestehen Sie darauf, daß ich dies auf die Post gebe?« frug er, indem er mit dem Briefe in der Hand aufstand.

»Geben Sie ihm Zeit, sich zu besinnen«, sagte der Doctor. »Um des Kindes willen, geben Sie ihm Zeit, sich zu besinnen! Eine Minute mag ihn anders stimmen.«

»Ich will ihm fünf Minuten geben«, erwiderte Mr. Neal, indem er, bis zuletzt unerbittlich gerecht, seine Uhr vor sich auf den Tisch legte.

Sie warteten, indem sie beide aufmerksam Mr. Armadale beobachteten. Die Anzeichen einer mit ihm vorgehenden Veränderung vermehrten sich schnell. Die Bewegung, welche die unausgesetzte geistige Aufregung seinen Gesichtsmuskeln mitgetheilt hatte, fing unter demselben gefährlichen Einflusse sich nach unten zu erstrecken an. Seine bisher regungslosen Hände lagen nicht länger still; sie bewegten sich in jammervollem Ringen auf der Bettdecke. Beim Anblicke dieses warnenden Zeichens wandte der Doctor sich mit einer Gebärde der Unruhe um und winkte Mr. Neal, näher zu kommen» »Legen Sie ihm sofort Ihre Frage vor«, sagte er; »falls Sie fünf Minuten verstreichen lassen, mag es zu spät sein.«

Mr. Neal trat ans Bett. Auch er hatte die Bewegung der Hände wahrgenommen. »Ist das ein schlimmes Zeichen?« frug er.

Der Doktor neigte ernst den Kopf. »Legen Sie ihm ohne Verzug Ihre Frage vor«, wiederholte er, »oder es dürfte zu spät sein.«

Mr. Neal hielt den Brief vor die Augen des Sterbenden. »Wissen Sie, was dies ist?«

»Mein Brief.«

»Bestehen Sie darauf, daß ich denselben auf die Post gebe?«

»Ja!«

Mr. Neal ging mit dem Briefe in der Hand der Thür zu. Der Deutsche folgte ihm ein paar Schritte und öffnete die Lippen, um ihn um ein längeres Verziehen zu bitten, begegnete jedoch dem unerbittlichen Auge des Schotten und trat schweigend wieder zurück. Die Thür schloß sich und schied sie von einander, ohne daß der Eine wie der Andere ein Wort gesprochen.

Der Doctor kehrte an das Bett zurück und flüsterte dem sterbenden Manne zu: »Lassen Sie mich ihn zurückrufen, es ist noch Zeit, ihn zurückzuhalten!« Es war nutzlos Es kam keine Antwort; nichts verrieth ihm, daß er verstanden oder nur gehört worden sei. Die Augen des Sterbenden schweiften von dem Kinde ab, ruhten einen Augenblick auf seinen eigenen zuckenden Händen und blickten dann flehend in das mitleidsvolle Antlitz, das sich über ihn hinbeugte. Der Doctor hob seine Hand auf, wartete einen Augenblick, folgte dem auf das Kind gerichteten sehnsüchtigen Blicke des Vaters und lenkte, den letzten Wunsch desselben verstehend, die Hand sanft nach dem Haupte des Kindes. Die Hand berührte dasselbe und zitterte heftig. Im nächsten Augenblicke ward der Arm von dem Zittern ergriffen, das sich dann dem ganzen Oberkörper mittheilte. Das bleiche Gesicht wurde roth, dann blau, dann wieder bleich. Endlich lagen die zuckenden Hände still und die Farbe wechselte nicht mehr.

Als der Doctor mit dem Kinde im Arm aus dem Sterbezimmer in das nächste Zimmer trat, stand das Fenster dort offen. Er schaute im Vorübergehen hinaus und sah Mr. Neal langsam nach dem Gasthofe zurückkehren.

»Wo ist der Brief?« frug er.

Drei Worte genügten dem Schotten als Antwort: »Auf der Post.«

Armadale

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